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Europa in Indien

Kein Land der Erde ist so reich an verschiedener Kultur wie Indien, längst Gestorbenes und eben zum Leben Erwachtes drängt sich da dicht aneinander. Die drei großen Mächte, die dort heute miteinander ringen, sind der Islam, das Hindutum und die Kultur Europas. Der Islam, stark im Nordwesten, mit seinen Hochburgen: Delhi, Agra, Ahmedabad, besiegt, politisch machtlos und dennoch langsam vordringend. Das Hindutum, mit dem Glühpunkte Benares und den südindischen Festen Tanjore, Trichinopoly, Madura, zäh, fanatisch, imponierend mit seinen ungeheuren gläubigen Massen und dennoch da und dort einen kleinen Fußbreit an Boden verlierend. Und endlich Europas Kultur.

Europäisch ist irgendein Viertel in jeder Stadt. Durchaus europäisch, sind die Höhenorte, wo der Weiße die heiße Zeit verbringt: Simla, die Sommerresidenz des Vizekönigs; Nuwara-Eliva, die Sommerresidenz des Gouverneurs von Ceylon, Ceylon ist zwar politisch völlig von Indien getrennt, es ist eine Kronkolonie mit durchaus eigener Verwaltung; daß ich es trotzdem hier zu Indien zähle, ist verständlich. Utacamund in den Nil-Giri, den blauen Bergen Südindiens, und endlich Darjiling am Fuße des Himalaya. Aber europäisch sind auch die vier gewaltigen Städte, die das Leben des Riesenreiches bedingen: Bombay, Kalkutta, Madras und Kolombo. Keine dieser Städte ist alt, keine hat irgendeine Vergangenheit; alle vier verdanken sie nur England ihre Blüte und ihre Macht.

Gewiß gibt es in Bombay viele Moscheen, viele Tempel der Hindus, der Parsen und Buddhisten. Gibt es die häßliche, nüchterne Verbrennungsstätte der Hindus, wo man in fünf Minuten enragierter Gegner der Feuerbestattung werden kann – gibt es das entsetzliche Tierasyl der Buddhisten – wo alte, kranke Tiere: Hunde, Katzen, Affen,, Ochsen, Hühner, Gänse, Schafe, Ziegen, Büffel und Esel das Gnadenbrot erhalten und sich langsam zu Tode quälen, und wo man in zwei Minuten ein erbitterter Feind der Tierschutzvereine wird. Gibt es endlich auf Malabar Hill die berühmten Türme des Schweigens, wo die Parsen, Zarathustras Jünger, die nackten Leichen ihrer Toten von den Geiern fressen lassen. Und dennoch, und obwohl unter dreiviertel Millionen Einwohnern nur 12 000 Europäer sind, ist diese Stadt vollkommen europäisch. Gotisch ist die schöne St. Johnskirche, gotisch sind die meisten der andern – sehr vielen – christlichen Kirchen. Frühgotisch sind der Höchste Gerichtshof, die Universität, das Bombay-Klubhaus, der Regierungspalast für öffentliche Arbeiten. Venezianisch-gotisch sind das prachtvolle Postamt mit seinen drei mächtigen Hallen und der Palast des Gouverneurs, moderngotisch ist das Telegraphenamt,; dann weiter die Kathedrale, das Rathaus, das Elphinstonecollege, das Naturhistorische Museum, die Münze, der Prachtbau »Victoria Terminus«, vielleicht der großartigste Bahnhof der Welt. Und dazu eine Menge Banken, Schulen, Regierungsgebäude, alles gewaltige Prachtbauten und fast alle in englisch-gotischem Stile. Und dann die weiten, herrlichen Parkanlagen, die nirgends fehlen, wo sich Briten niedergelassen haben, und die vielen mäßigen Denkmäler englischer Könige und Königinnen, Gouverneure und Admirale.

Und so ist auch Kalkutta europäisch, die Hauptstadt des Kaiserreichs und Residenz des Vizekönigs. Nur 5000 Europäer bei fast einer Million Einwohner, aber 30 protestantische und 8 katholische Kirchen und nicht ein einziger Hindutempel. Viele scheußliche Denkmäler in Bronze und Stein, Museen, schöne Parkanlagen, botanische und zoologische Gärten. Viele Prachtbauten auch von Banken, Schulen, Regierungsabteilungen. Dann, wie in Bombay, gewaltige Werftanlagen, Fabriken, schöne Läden, schlechte Hotels und viel Schmutz. Besonderes Merkmal: hier erinnert gar nichts mehr an Asien, es sei denn das bunte Völkergemisch auf den Straßen.

Madras, die dritte Großstadt Indiens, ist womöglich noch viel langweiliger. Hier fehlt die stolze Gotik Bombays ganz; einige Kirchen, dann langweilige Gebäude, mäßige Museen und Denkmäler, dazu ein paar minderwertige Parkanlagen wahren das Renommee Europas nur sehr schlecht. Indisches aber ist fast gar nicht da.

Wie ganz anders wirkt dagegen Kolombo. Zwar sind auch hier die öffentlichen Gebäude, Kirchen, Banken, Museen, Denkmäler durchaus nichts Hervorragendes, gewinnen nur durch die weiten und schönen Parkanlagen, die sich überall hinziehen. Im Grunde ist nur ein Ding da, das Kolombo von den andern europäischen Großstädten Indiens voraushat: das Galle-Face-Hotel, überhaupt das beste Hotel des ganzen Ostens. Es ist von einem Deutschen geleitet, wie alle wirklich guten Hotels – natürlich: denn ein Engländer wird es nie verstehen, für Fremde ein Haus wohnlich und komfortabel zu machen.

Alle diese vier Städte haben ihre großen Industrien, ihre Häfen, ihre Docks, schöne Läden und gewaltige Geschäftshäuser, ihre Kasernen mit indischen und europäischen Regimentern. Sie sind die Nervenzentren in dem Riesenleibe Indien.

Bombay ist die reichste der vier, sie macht einen fast parvenühaften Eindruck. Kalkutta hat etwas Offizielles, Bureaukratisches; Madras deucht den Besucher trostlos und verlassen, Kolombo macht den Eindruck großer, zielbewußter Arbeit und daneben den der Eleganz.

Alle vier Hauptstädte haben natürlich neben dem europäischen Geschäftsviertel und der europäischen Villenstadt das Gewirre der Straßen, wo die Farbigen wohnen: die schwarzen Städte, die Pettahs. Bunt genug ist das Straßenbild überall. In Bombay sieht man neben dem Hindu sehr viele Parsen, Jainas und Mohammedaner, daneben auch Goanesen und Afghanen. In Kalkutta bildet der freche Bengali den Hauptbestandteil, in Madras der Madrassi, daneben sind viele Mohammedaner in beiden Städten. Am buntesten ist die Pettah in Kolombo: Tamilen und Singhalesen, Malaien, Kaffern, Mohammedaner und Parsen drängen sich hier durcheinander. Auch der »Eurasier«, der Mischling zwischen Europäer und Asiaten, ist am stärksten in Kolombo vertreten; man nennt ihn hier »Burgher«, da er sich mit Vorliebe seiner holländischen Abkunft rühmt. Das einst starke portugiesische Element ist meist nur noch in den Namen vertreten, es sucht nach Möglichkeit bei den Burghern unterzukommen, wenn ihm auch sehr oft der Nachweis eines wenn auch noch so kleinen Tröpfchens europäischen Blutes sehr schwer fallen dürfte.

Neben dem Engländer spielt in Indiens europäischen Städten der Deutsche die größte Rolle. In den Häfen findet man die schwarz-weiß-roten Farben am häufigsten neben dem Union-Jack, in den Geschäftsstädten weisen stets eine Reihe deutscher Namen darauf hin, daß ein guter Teil der Industrie sowie des Imports und Exports sich in deutschen Händen befindet. Neben ihnen: Franzosen, Skandinavier, Schweizer. Unter den asiatischen Nationen sind zweifellos die Parsi, die Feueranbeter, die führenden, obwohl sie alles in allem kaum 150 000 Seelen zählen mögen. Besonders ist das in Bombay der Fall; es ist geradezu auffallend, wie viele prächtige gemeinnützige Gebäude reiche Parsen zu Stiftern haben. Der Mohammedaner ist ein Kaufmann wie der Parsi; während dieser aber meist sich dem eigentlichen Handel widmet, ist jener mit Vorliebe Juwelenhändler; fast alle Edelsteinhandlungen Indiens – und es sind viele Tausende – befinden sich in den Händen der Anhänger des Propheten.

Ein Charakteristikum für die europäischen Städte Indiens ist der Sport. Er steht in sehr hoher Blüte und ist durchaus nicht nur Alleingut der Europäer; längst haben die Eingeborenen sich aller Rasenspiele bemächtigt. Besonders die zur Arbeit so schlaffen und unwilligen Singhalesen leisten im Tennis, Kricket, Hockey und Fußball ganz Erstaunliches. Aber die großen Ereignisse im Sportleben sind doch die Pferderennen.

Nirgends ist die Leidenschaft für den Turf so ausgebildet wie in Indien. In allen anglo-indischen Städten sind ausgezeichnete Rennbahnen und finden während der Saison eine Menge Rennen statt, in Kalkutta fast jeden Tag. Ein nationales Ereignis – eigentlich neben des Königs Geburtstag das einzige nationale anglo-indische Fest – ist das große Kalkutta-Sweepstake. Durch ein ganzes Jahr geht der Wettmarkt zu diesem Rennen, jeder kleinste Clark beteiligt eich daran, nicht nur in Indien, sondern im ganzen britischen Weltreiche und weit darüber hinaus. Im Grunde ist es gar keine Wette mehr, die man abschließt, sondern eine Lotterie, die man spielt. Man schickt nach Kalkutta zehn Rupien und bekommt dafür ein Los; nun werden die Pferde, die laufen, ausgelost; der, der den Sieger gezogen hat, erhält die ganze Summe, meist etwa 750 000 Rupien: man hat also eine recht große Chance – zu verlieren.


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