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Zehntes Kapitel

Der Winter setzte plötzlich sehr scharf ein. Ein eisiger Ostwind pfiff durch den Hafen als erster Gruß des Gestrengen. Dann gab es trüben Winterhimmel, und nicht lange, da wirbelten die ersten Flocken herunter, und die Schuljugend bombardierte sich unter viel Geschrei mit Schneebällen, bis ein milderer Tag die ganze weiße Herrlichkeit wieder zu Wasser machte. Dann aber kam dauernde Kälte. Die Menschen trippelten vorsichtig, mit roten Nasen und Ohren über das Glatteis und schalten, wenn nicht vorschriftsmäßig gestreut war. Jan Tüt und Tetje Krahnstöver standen nicht mehr am Bollwerk und guckten in die Elbe. Da pfiff jetzt meist ein harter Wind, und waren die kleinen Eisschollen auch lustig anzusehen, wenn sie auf und abtanzten, mit Flut und Ebbe trieben und oft nicht zu wissen schienen, wohin sie eigentlich wollten, lange konnte man dieses Schauspiel nicht genießen. Man bekam kalte Füße und Sehnsucht nach einem heißen Grog oder einem kleinen Korn.

In Ohlsens Gang hingen sich lange Eiszapfen an die Dachrinnen und schmolzen langsam unter den spärlichen Mittagsküssen der Sonne wieder zusammen; wenn sie nicht ein Stoß mit dem Besen oder irgend einem andern zureichenden Gegenstand vorher traf, daß sie klirrend auf dem Pflaster zerschellten. An Schneetagen hatte der Besen noch mehr zu tun. Das schmale Gäßchen war bald eingeschneit. Da hieß es Bahn machen. Hui, wie der Wind manchmal den Schnee in den Torweg hineinfegte, als wollte er sagen: Da, fegts wieder heraus, wenn ihr könnt. Arbeit macht warm, tummelt euch! Und dann hatte die Cyriaks einen Ärger, die dem Tor am nächsten wohnte und immer den meisten Schnee vor ihrer Tür hatte. Sie mußte dann selbst mit Besen und Schippe dabei, und der große Michel sah mit seinem grünen Spitzhut, dessen Rand auch arg beschneit war, über die niedrigen Hinterhäuser herüber ihr zu. Er kannte sie gewiß genauer. Sie war ja die Einzige in Ohlsens Gang, die jeden Sonntag zu ihm kam, in einer fleißigen Frömmigkeit. So mochte er auch hier sich über ihren Eifer freuen. Lene Lerch konnte er nicht sehen, hätte auch keine Freude an ihr gehabt, denn sie war unwirsch und stieß manches böse Wort aus, wenn der Schnee die Treppe zum Keller herabfegte und dabei ein Spottlied sang. Wenn es recht ausgiebig schneite, mußte Lene wohl dreimal am Tag die Treppe fegen und die Straße dazu rein halten. Und mit der Aschenschaufel mußte sie laufen und streuen. Lene haßte den Winter. Sie litt an Frost, und ihre kleinen roten Hände sprangen auf.

Ein Gutes hatte es, daß der Winter mit einmal so scharf daher fegte, er kühlte die erhitzten Gemüter der Streikenden ab, die die bisherigen guten und milden Tage als willkommene Bundesgenossen gegen die Arbeitgeber mit ins Feld führen konnten. Aber jetzt streikten diese Hilfstruppen, und die kalten Tage fielen ihnen feindlich in die Flanke, stießen sie in den Rücken und sprangen ihnen ins Gesicht. Da war es doch wieder besser in warmen Stuben und Werkstätten und hinterm warmen Suppennapf. Man nahm die Arbeit wieder auf, ohne etwas erreicht zu haben. Hellmann und der älteste Geselle, der verheiratet war, waren froh, wieder arbeiten zu können, und kamen mit vergnügten Gesichtern in die Werkstatt. Nur der zweite, der kleine, krummbeinige Rehm, war unwirsch über den Ausgang des Streiks und kam mit einer roten Krawatte zur Arbeit. Karsten Drews sah ihn nur schief an, sagte aber nichts. Hellmann aber, immer spottlustig, sagte:

»Treck doch din Uniform ut, Rehm.«

»Wenn du n Kirl büst, givst du din Gesinnung öberall to erkennen,« sagte Rehm bissig.

»Ick hev min Gesinnung in de Tasch,« lachte Hellmann und zog ein rotes Schnupftuch hervor und brauchte es mit komischer Umständlichkeit.

Rehm steckte den Spott ein. Er wußte ja, daß Hellmanns Gesinnung nichts zu wünschen übrig ließ. Aber verärgert war er doch und ließ seinen Ärger bei jeder Gelegenheit aus. Anton, der unbefangen bei Hellmanns Spötterei gelacht hatte, bekam es auch zu spüren. Rehm, ein tüchtiger Arbeiter, aber mißgünstig und ehrgeizig, merkte bald, daß Anton sich während der Streiktage »Liebkind« zu machen gewußt hatte, wie er es nannte.

Anton, in diesen Wochen wirklich etwas verzogen, war empfindlicher gegen die absichtliche Art Rehms, ihn als Lehrjungen und Lausbuben zu behandeln. So gerieten sie über eine Kleinigkeit aneinander. Nehm bot ihm eins hinter die Ohren an.

»Fat mi mal an,« sagte Anton. »Du Lapps,« schalt Nehm.

Anton war kreideweiß. Der alte Drews und Hellmann, die zusammen vor der Esse standen, achteten nicht auf die beiden.

Rehm erschrak über Antons Aussehen, aber er war zu verärgert, um beizugeben. Er lachte ihm spöttisch ins Gesicht.

»Du Hund!« kam es langsam aus Antons schweratmender Brust.

Mit einem Sprung stand Nehm vor ihm.

»Wat seggst du?«

Und bevor Drews und Hellmann, die jetzt aufmerksam wurden, es hindern konnten, hatten sie sich gepackt.

Hellmann sprang zu.

»Lat mi,« keuchte Rehm.

»Rehm! Anton! Sünd ji dull!« rief Drews und zog Anton zurück. Aber der riß sich los und stürzte sich von neuem auf Nehm, warf ihn zu Boden und hämmerte wie sinnlos mit beiden Fäusten auf ihm herum. Erst Drews und Hellmann zusammen gelang es, ihn in die Höhe zu reißen.

Rehm richtete sich halb auf und blieb so einen Augenblick auf dem rechten Ellenbogen gestützt liegen und starrte wie abwesend auf einen Fleck. Er blutete aus der Nase, und seine rote Kravatte hing ihm zerrissen über die Brust. Langsam, ohne ein Wort zu sagen, erhob er sich, ordnete seine Kleider und wischte sich das Blut ab.

»Is got, is got,« sagte er mit heiserer Stimme und stellte sich an seinen Schraubstock.

»Du geihst no Hus,« befahl der alte Drews Anton.

»He is anfungn.«

»Gah na Hus, segg ick. Morgen kannst werrer kam.« Der Alte meinte, so wäre es für heute am besten.

»Ick will n Meister spreeken,« sagte Anton, der noch am ganzen Körper zitterte.

»Wat wullt du mit n Meister?«

»Ick lat mi nich schimpen.«

»Unsinn. Swig still und gah.«

Anton bestand darauf, den Meister zu sprechen. »Dann kam ick nich werrer,« sagte er zuletzt, als ihm das nichts half. »Schimpen lat ick mi nich.«

Er nahm seine Mütze und ging, so wie er war, ungewaschen.

»So n Dickkopp,« knurrte der alte Drews.

Mutter Krautsch war überrascht, als Anton vorzeitig und ungewaschen nach Hause kam.

»Ick hev kündigt,« stieß er hervor.

»Du hest kündigt? Wat is los? Wat kannst du kündigen? Steiht di jo garnich to.«

»Ick lat mi nich schimpen.«

»Wer hett die schimpt?«

»Rehm.«

»Und dann kündigst du? Anton, das glaub ich nich. Da steckt was hinter. Und wie siehst du aus! Nich mal gewaschen hast du dir. Und Jung, was, du blutst ja!«

Anton sah sie überrascht an.

»Ich blut? Wo?«

Er schnitt eine Grimasse, als wolle er sich selbst ins Gesicht sehn.

»An de Back, Anton. Dor sünd jo grote Schrammen. Jung, du hest wat hatt.«

Anton wischte sich das Blut mit dem Handrücken ab.

»Ick hev mi haut. Mit Rehm,« sagte er kurz.

»Haut hest di? In de Werkstatt? Anton!«

Mutter Krautsch lief aufgeregt im Zimmer hin und her.

»Lene, bleib draußen!« rief sie hinaus.

Anton, der von Zeit zu Zeit mit dem Rücken der Hand über die nur wenig blutende Backe fuhr, erzählte, was vorgefallen.

»Und da hat er dir nach Hause geschickt? Ich mein, du hast gekündigt?«

»Hin geh ich nicht wieder.«

»Gewiß gehst du wieder hin.«

»Nee, Mutter.«

»Da reden wir noch über, mein Sohn. Erst wasch dich mal man und mach dich ein bißchen ordentlich. Was soll Lene denken.«

Nach Feierabend kam Karsten Drews.

»Dat wär n grote Dummheit, Anton,« sagte er.

»Wat hett he mi to schimpen.«

»Ach wat. He is n oll'n Mann gegen di. Du büst mit schuld.«

Anton schwieg trotzig.

»Du bist gewiß wieder gleich so heftig gewesen,« sagte Mutter Krautsch.

»Er ist oft so heftig,« wandte sie sich an Karsten Drews. »Sein Vater konnte es auch sein. Ne Seele von Mann sonst. Aber mit einmal, und dann kannt er sich selbst nich mehr. Ach, was hat er nich geweint darum, seine hellen Tränen manchmal.«

»Ja, dat s schlimm, so n Jähzorn,« sagte Karsten Drews. »Da kann mal n grot Malör mit anricht wardn. Min Swestersöhn hett sin egen Broder op bisse Wies ünner de Eer bröcht.«

»Anton, hörst, Anton?« rief Mutter Krautsch und schlug die Hände zusammen.

»Mit n Stemmisen hett he na sin Broder smeten, so in de reine blinde Wut. Ja, lachen kann he nich mehr sit disse Tied.«

»Anton, hörst, Anton? Denk mal an,« jammerte Mutter Krautsch und dachte an Willi Mau und zitterte vor Erregung am ganzen Körper.

Karsten Drews redete auch weiter auf Anton ein. Er solle morgen Rehm um Verzeihung bitten »und so n Prügelei dörpt nich werrer vorkom. Süns is t ut.«

Anton wollte nicht. Rehm wäre angefangen.

»Wat anfungn. Wenn he di schimpt, denn seggst du mi dat. Aber so wat is ja n Schann.«

Mutter Krautsch gab Karsten Drews recht.

»Sagen Sie es ihm man ordentlich, Herr Drews. Von Sie nimmt er das wohl an. Sie wissen Wort zu führen. Anton, nimm dich an, was Herr Drews dich sagt, hörst du?«

So redeten sie auf Anton ein, und er gab endlich nach und versprach, Rehm um Verzeihung zu bitten.

»Sieh, nu acht ich dir hoch,« sagte Karsten Drews und gab ihm die Hand. »Dat is 'n Mannssache, in solchem Fall um Verzeihung zu bitten.«

Am andern Morgen bat Anton Rehm um Verzeihung. Hellmann und Kuntz, der erste Gesell, der bei der Prügelei nicht zugegen gewesen war, wußten nicht, wie ihnen geschah, und Rehm selbst sah ihn ganz verwirrt an.

»Wat wullt du?«

»Deiht mi leed, dat von gistern, wär unrecht von mi.«

Karstens Drews tat, als wisse er von nichts und sah nur mit einem halben Auge hin. Rehm stand da und nahm Antons Hand nicht an. Anton wurde blaß.

»Wenn du nich wullt,« brachte er schwer über die Lippen.

»Rehm, de Jung beedt di um Verzeihung, und du olle Mann wullt dat nich annehmen?«

Es war Kuntz, der erste Gesell, der das mit seinem tiefen Baß und in ehrlicher Entrüstung sagte.

»He hett mi de ganze Näs entwei slan,« knurrte Rehm.

»Dat deiht mi ja leed,« sagte Anton und hielt ihm die Hand wieder hin.

»Minwegen. Dann sallt god sin,« sagte Rehm und wandte sich ab.

»Ne, ne. De Hand müßt annehm,« sagte Hellmann.

Zögernd nahm der Gegner Antons Hand und streifte mit einem flüchtigen Blick von unten Antons Gesicht. Antons Augen schienen ihm naß zu sein, und der Blick aus diesen großen offenen Augen ehrlich und ohne Hintergedanken.

»Wenn ick mal Lapps to di segg, is dat doch nich ümmer bös meent,« sagte Rehm, und damit war der Frieden wieder hergestellt.

Als Anton zum Mittagsessen nach Hause kam, fand er nur geteiltes Interesse für seinen Versöhnungsbericht.

»Denk di, Hugo hett n Been braken!«

»Ne, n Arm,« verbesserte Lene Lerch.

»n Arm? So? Ich mein sein Bein.«

Lene wußte es besser, sie erzählte, was sie gehört hatte.

Hugo hatte Bretter über den Hof getragen, war auf Glatteis ausgeglitten und mit den Brettern hingeschlagen.

»Mitten durch,« schloß Lene ihren Bericht. »Grad hier oben. Der rechte Arm.« »Mußt wohl gleich mal vorspringen, Anton, und dich nach erkundigen,« meinte Mutter Krautsch.

Anton tats ungern. So etwas ward ihm schwer. Er mochte nicht viele Worte machen. Er kam denn auch gleich wieder.

»Der Doktor ist eben da, bin gar nicht erst rein gekommen, er wird eingeschient.«

»Watt n Stück doch,« sagte Mutter Krautsch wehleidig und schüttelte den Kopf. »Das alte Glatteis! Seh dich doch man ja vor, Anton. Und Lene, daß du das alte Glitschen läßt, immer vor der Tür in 'n Rinnstein.«

»Hab ich man einmal getan. Das tun die Jungens immer.«

»Geh gleich raus und streu, hörst du. Ich will das hier vor meinem Keller nicht haben.«

Und Lene ging mit Eimer und Schaufel auf die Straße, glitschte noch schnell mal längs und schüttete dann die Asche auf das schöne blanke Eis.


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