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Jeder auf seine Art


Zur Laughlin-Galerie«, befahl Ballinger dem Schofför, als sie aus dem Hause traten.

»Da treffen wir nämlich bestimmt den Rotbärtigen«, erklärte er, »und ich kann die Porträtgeschichte in Ordnung bringen«.

Luff suchte in seinem Notizbuch herum.

»Er wohnt in der 72. Straße«, entdeckte er schließlich. »Da wir ohnehin vorbei müssen, sehen wir lieber erst mal da nach.«

Ballinger schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie meinen, daß Berenson in seinem Hotelzimmer herumlungert, während ein paar hundert Meter weiter seine Bilder ausgestellt werden«, lachte er auf, »dann sind Sie auf dem Holzweg. Der Mann ist viel zu eingebildet, um jetzt woanders zu sein als in der Galerie. Es sei denn, er hätte sich beide Beine gebrochen.«

Er seufzte in scherzhafter Verzweiflung.

»Sie haben eine ausgesprochene Neigung, Inspektor, alle Menschen in Bausch und Bogen zu beurteilen. Sie meinen immer, alle Menschen müßten unter gegebenen Umständen genau so handeln wie Sie es täten. Das ist, milde gesagt, absurd. Diese allgemein verbreitete Neigung und dazu die Überzeugung, daß Sie in einem Kriminalfall nur die Menschen, die in Frage kommen könnten, tüchtig zu sondieren brauchen, um die Angelegenheit zu lösen, machen eure ganze kriminalistische Methode aus.«

Luff war keineswegs beleidigt.

»Na«, meinte er brummend, »vorläufig haben Sie mir noch keine bessere gezeigt. Daß Berenson jetzt in der Galerie herumlungert, das vermuten Sie doch bloß. Genau wie mein alter Großvater. Wenn bei dem eine Voraussage eintraf, dann triumphierte er sofort: ›Ich hab's ja gesagt!‹ Und wenn nicht, dann hat er schnell das Gesprächsthema gewechselt. Jaja, ich weiß schon Bescheid ... Machen Sie mir nichts vor, ich habe in meiner Praxis herausgefunden, daß die Menschen sich in ihren Handlungsweisen kaum unterscheiden, und mir sind schon ein Haufen Menschen vor die Flinte gekommen.«

Ballinger war damit beschäftigt, sein flackerndes Streichholz vor der Zugluft zu schützen.

»Na schön«, meinte er resigniert. »Jeder nach seiner Fasson.«

Sie fuhren eine Zeitlang, ohne zu sprechen. Als der Wagen in eine scharfe Kurve ging, kreischten plötzlich die Bremsen. Zwei Mädchen, Arm in Arm, standen mitten auf der Fahrbahn. Die eine machte einen schnellen Satz nach vorn; die andere stand vor Schreck paralysiert wie ein Steinbild kaum einen halben Meter vor dem Wagen. Wenn der Fahrer nicht so viel Geistesgegenwart gehabt hätte, Hand- und Fußbremse gleichzeitig zu gebrauchen, wäre sie unweigerlich überfahren worden.

Ballinger sah mit verstecktem Lächeln zu Luff. »Anscheinend handeln nicht immer alle Menschen gleich!«

Luff verzog den Mund. »Als wenn das jetzt etwas beweist.« Er versank wieder in Schweigen. Dann kam er wieder auf diesen Punkt zurück. »Sie können mir doch nicht erzählen, daß Sie genau wüßten, wie jeder einzelne in diesem verflixten Bancroftfall auf gewisse Dinge reagiert. Sie können das vermuten, aber das ist alles.«

»Nennen Sie es, wie Sie's wollen«, antwortete Ballinger gleichgültig. »Aber ich bin beispielsweise überzeugt, daß Porcell in Berensons Fall nicht einmal in die Nähe der Galerie kommen würde. Redstone in dieser Situation würde sich jeden Nachmittag einmal auf kurze Zeit sehen lassen, gerade so lange, um zu erfahren, wie die Sache geht. Ruth Raynor wäre natürlich dauernd da. Doris Nielan am Anfang und schließlich nur hin und wieder. Armando wäre in den ersten Tagen dauernd da, dann würde ihn die Geschichte langweilen, und er würde vollkommen fortbleiben. Von Oefele, nehme ich an, würde sich eine Staffelei an das nächste Fenster rücken, auf daß ihn ja jeder sehen kann.«

»Und wie ist das mit einem gewissen Herrn Ballinger?«

»Ballinger? Ach, der wäre so verliebt in seine Bilder, daß er gar nicht den Wunsch hegen würde, eines von ihnen zu verkaufen.«

Als sie in den Ausstellungsraum traten, sahen sie Berenson am entferntesten Ende mit einer Gruppe von Frauen. Durch das Deckenfenster strömte eine Kaskade flirrenden Sonnenlichtes. An den Wänden hingen Bilder über Bilder. Gemälde in seltsam stark leuchtenden Farben mit immer wieder den gleichen Motiven: mexikanische Frauen, Indianer, Cowboys zu Pferde, gegen den Hintergrund weiter Steppen, zerklüfteter Cañons und schneebedeckter Berge gestellt.

Ballinger schlenderte eine Zeitlang umher, examinierte das eine oder andere eingehender und ließ sich dann schließlich neben dem Inspektor nieder. Berenson war immer noch in eine angeregte Debatte mit den Frauen verwickelt. Gelangweilt griff Ballinger schließlich zu einem der vielen Kataloge, die auf dem Tischchen neben ihm herumlagen. Ohne besonderes Interesse blätterte er darin, als er plötzlich einen leichten Ruf der Überraschung ausstieß.

Er reichte dem Inspektor die Broschüre hinüber.

»Hier sind zwei Porträtstudien von da Vincis Kopf. Eine einfache, aber lehrreiche Illustration dessen, was ich Ihnen vorhin gesagt habe.«

Luff runzelte die Stirn, als er angestrengt auf das Kunstblatt sah: »Wieso?«

Ballinger lehnte sich zu ihm hinüber.

»Sehen Sie, diese eine Zeichnung da ist von da Vinci selber und die andere von seinem Schüler Salaino. Können Sie sie auseinanderhalten?«

Lange studierte der Inspektor die beiden Zeichnungen.

»Nein«, erklärte er dann bestimmt. »Und Sie können das auch nicht. Eine Zeichnung ist wie die andere. Genau das gleiche Gesicht. Ein bißchen Bart und Nase, und ein bißchen kahler Kopf.«

»Sehen Sie näher hin«, drängte Ballinger.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Luff nach erneutem Studium, »auch die Augen sind gleich und der Mund. Nicht der geringste Unterschied zwischen diesen beiden Bildern.«

»Doch«, erklärte Ballinger. »Das linke ist von da Vinci selbst, der bekanntlich linkshändig war. Das andere ist von einem rechtshändigen Mann, nämlich Salaino. Bemerken Sie, wie auf diesem links die schraffierten Linien der Schatten von oben links nach rechts unten laufen. Ein Künstler, der mit der rechten Hand arbeitet, hätte das nicht getan. Er hätte den Strich so geführt, wie Sie es auf dem anderen Bild sehen, nämlich von rechts oben nach links unten ...

Und auch in den Wellenlinien beim Bart können Sie einen Unterschied feststellen. Da Vinci legte die Hauptkraft in die Bögen, die von links nach rechts laufen, und infolgedessen sind diese Linien etwas dicker und auch etwas länger. Bei Salaino ist es gerade umgekehrt ...

Sonst besteht natürlich wenig Unterschied zwischen den beiden Bildern. Kein Kunstexpert, der diesen Namen verdient, könnte sie miteinander verwechseln. Und das«, er stand auf und ging zum nächsthängenden Bild von Berenson, »ist auch hier der Fall. Nachdem ich einmal diese Arbeiten hier gesehen habe, könnte ich sie niemals mit denen eines anderen Malers verwechseln. Berensons Leidenschaft für diese absonderlichen Schatten aus flammendem Rot, seine Neigung, bei seinen Landschaften den Horizont hinaufzuziehen, die besondere Note der Stirnherausarbeitung bei seinen Köpfen, die Farbauflage bei dem Malen von Händen – all diese Dinge sind einzigartige Charakteristika dieses Mannes. Es ist möglich, daß auch ein anderer Maler die eine oder andere besondere Neigung von ihm besitzt, aber niemals alle.«

Seinen Vortrag unterbrach Berensons Erscheinen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte«, entschuldigte er sich. »Aber warum haben Sie es mich nicht wissen lassen, daß Sie hier sind?«

Er sah die beiden Männer fragend an.

»Wollen Sie sich meine Bilder ansehen?«

»Nein«, sagte Ballinger ehrlich. »Herr Sanders hat uns gebeten, auf unserem Heimwege hier bei Ihnen vorzusprechen und Sie zu fragen, ob Sie für ihn das Bild von Frau Bancroft vollenden wollen.«

Berenson lächelte. »Aber gerne, sehr gern. Wann will er es denn haben?«

»So schnell wie möglich«, gab ihm Ballinger Auskunft. »Viel ist ja nicht mehr daran zu arbeiten, nicht wahr?«

Berenson schüttelte den Kopf.

»Nur noch ein paar Stunden.«

»Dann möchte ich vorschlagen, daß Sie morgen nachmittag so gegen zwei Uhr hinkommen und anfangen. Es ist dauernd ein Schutzmann im Hause, oder aber der Inspektor oder ich werde Sie hereinlassen.«

Berenson stimmte zu.

»Wenn es wirklich möglich ist, dann hätte ich es ganz gerne dort vollendet. Die Lichteffekte sind ziemlich wichtig, und wenn ich die Staffelei verrücken müßte, würde ich mir unnötige Schwierigkeiten machen.«

* * *


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