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Der Fund im Bücherschrank


Mit der auserlesenen Eleganz in Beverley Bancrofts Villa verglichen wirkte Porcells kleine Wohnung hoch über der 81. Straße geradezu schäbig. Hier hingen keine kostbaren Gobelins an den Wänden, hier gab es keine handgeschnitzten Möbel, keine unbezahlbaren Keramiken. Zwei kleine Zimmer und eine Miniaturküche im elften Stock, das war die Wohnung des Gatten der berühmten Beverley Bancroft. Im Wohnzimmer nahmen sich ein altes Sofa und zwei abgeschabte Ledersessel gegenseitig den Platz weg; auf einem kleinen Mahagonitischchen stand eine Lampe mit einem Glasschirm. Ein paar Jagdtrophäen an den Wänden und ein Bärenfell vor dem Fenster waren das einzig Luxusähnliche im ganzen Raum. Noch einfacher war das Schlafzimmer; nichts stand darin als ein schmales Bett und ein Schrank.

Luff stand mitten im Wohnzimmer und überschaute das alles mit einem Blick verblüfftester Überraschung.

»Puh!« meinte er. »Das habe ich mir aber anders vorgestellt.«

Während die drei Detektive eingehende Haussuchung hielten, sah Ballinger zum Fenster hinaus. Anscheinend stand bei ihm das Resultat der Nachforschungen in dieser Wohnung schon von vornherein fest.

Luff untersuchte den Schreibtisch, während Farland und Clavin in den Schubladen des Schrankes wühlten. Mit Ausnahme von ein paar Jagdgewehren und einigen Hirschfängern entdeckten sie nichts Besonderes.

Auch Porcells Garderobe gab keinen Hinweis irgendwelcher Art. Ein halbes Dutzend Anzüge, einige Jagdsachen dabei, Oberhemden und Kragen, das war alles. Nichts, was im entferntesten verdächtig erschien.

Aufseufzend sank Luff in eine Ecke des Sofas. Ballinger wandte sich vom Fenster ab.

»Na, was haben Sie denn hier zu finden erwartet?«

»Zu finden erwartet?« Luff war leicht gekränkt. »Alles mögliche natürlich. Vielleicht ein blutgetränktes Handtuch oder einen Brief, aus dem hervorgeht, daß er über die Scheidungsaffäre unterrichtet war, oder ...« Er unterbrach sich und zog unsicher die Schultern hoch. »Na also, wie gesagt, alles mögliche. Wenn Sie so lange wie ich in diesem Beruf wären, mein Bester, dann wüßten Sie, daß man nichts unversucht lassen darf. Das ist meine Methode, und wenn Sie etwas erfahrener wären, wäre es auch Ihre.«

Er winkte Farland.

»Sieh mal zu, mein Junge, ob der Liftboy da ist. Wenn ja, bring' ihn rauf.«

Ein paar Minuten später war Farland wieder da; hinter ihm trat der Liftboy ins Zimmer. Ein hochgewachsener junger Mann mit offenem Gesicht und in einer blaugoldenen Uniform.

»Sie also haben hier von Mittwoch auf Donnerstag Dienst gehabt?« begann Luff, als der junge Mensch unsicher in der Nähe der Tür stehen blieb.

»Jawohl«, nickte der ängstlich.

»Um welche Zeit kam Herr Porcell nach Hause?«

Die Augen des Burschen flatterten von Luff zu Farland und dann wieder zurück zum Inspektor.

»So gegen halb vier.«

»Und warum haben Sie zuerst drei Viertel drei gesagt?«

Der Junge sah zu Boden. Er scheuerte seine Hände verlegen an der Hosennaht und druckste erst einige Zeit, bis er mit der Antwort herauskam.

»Weil Herr Porcell mir es so befohlen hatte.«

»Aber da wußten Sie schon, daß seine Frau ermordet worden war?«

Der Boy nickte schweigend.

»Kam Ihnen das nicht verdächtig vor?«

Der junge Mensch sah ihn frei an.

»Nein, bestimmt nicht. Herr Porcell ist immer anständig zu mir gewesen. Und ... und ... Na, er hat mir gesagt, er hätte nichts mit der Geschichte zu tun, und es wäre bloß so spät geworden, weil er noch ein Stückchen spazierengegangen wäre.«

Bei einer nächsten Frage fixierte Luff den Jungen scharf.

»Wie sah denn Herr Porcell aus, als er in jener Nacht nach Hause kam?«

»Na, wie immer. Ich habe nichts Besonderes bemerkt.«

»War er aufgeregt?«

»Nein.«

»Seine Kleider in Unordnung?«

»Nein.«

Luff erhob sich.

»Na gut. Das ist alles.«

Er griff zu seinem Hut.

»Also jetzt weiter, Jungens. Zu Redstone.«

Wenn Porcells Wohnung im Vergleich mit der seiner Frau schäbig gewirkt hatte, dann erschien sie Redstones Heim gegenüber geradezu ärmlich. Hier protzte jedes Stück mit dem Reichtum seines Besitzers. Redstones riesiges Herrenzimmer mit seinem Ausblick auf den Hudson hätte ebensogut das Wohngemach eines Sultans, eines russischen Großfürsten oder eines spanischen Infanten sein können. Auserlesene Orientteppiche bedeckten jeden Zoll des Fußbodens, hingen an den Wänden und waren lose über Stühle und Diwane geworfen. Schwere flämische Eichenmöbel standen neben Mahagonisesseln der italienischen Renaissance, und vor einer imitierten altspanischen Kredenz neben einer riesigen französischen Empirekonsole baten verschüchtert ein paar Biedermeiersessel um Aufmerksamkeit. Ein mächtiges Sofa streckte sich vor dem Barockkamin, und einträchtig kauerte ein niedriger moderner Liegestuhl neben einem geschnitzten römischen Kardinalssessel. An den Wänden hingen auffällig signierte Schauspielerfotos, und eine ganze Ecke war von einer Gruppe alter Streitäxte ausgefüllt. In einer anderen thronte eine große griechische Vase.

Der Inspektor stieß Ballinger den Ellenbogen in die Seite.

»Das ist 'ne Sache, wie?«

Ballinger nickte mit indifferentem Gesicht.

»Ja, das ist 'ne Sache«, gab er zu. »Hier fehlt bloß noch ein Haussegen über der Tür, und dort zwischen den Fenstern ein Bild ›Morgenstunde hat Gold im Munde‹.«

Luff warf ihm einen verständnislosen Blick zu. Was dieser Ballinger doch manchmal für ein verworrenes Zeug daherredete!

»Sagen Sie mal!« trompetete er einen Augenblick später vom Schlafzimmer her. »Ich denke, der Kerl ist Junggeselle. Wozu braucht er denn dann ein Doppelbett?«

Die Haussuchung bei Redstone nahm beträchtlich mehr Zeit in Anspruch als die Durchsuchung von Porcells kleiner Wohnung. Hier waren zahlreiche Schubfächer zu durchsuchen, Schränke auszukramen, Dokumente und Briefe zu lesen. Und der Erfolg war der gleiche wie bei Porcell: Nichts!

Die Dunkelheit war schon lange eingetreten, als Luff endlich schnaufend zu Ballinger trat, der sich in dem Liegesessel unter einer Bridgelampe ausgestreckt hatte und in einem großen Lederband blätterte.

Ballinger sah auf.

»Na?«

Luff schüttelte verärgert den Kopf.

»Nichts. Aber auch reinweg nichts«, klagte er.

»Na«, Ballinger schlug mit der flachen Hand auf das Buch in seinem Schoß, »vielleicht wird Ihnen das hier helfen.«

Luff zwinkerte in das Licht.

»Was haben Sie denn da?«

Ballinger reichte ihm den Band.

»Ein Buch«, sagte er. »Stedmans medizinische Enzyklopädie ist es.«

Inspektor Luff studierte den Titel.

»Wo haben Sie denn das gefunden?«

Ballinger zeigte auf den Bücherschrank mit den langen Reihen schreiender Golddruckrücken.

»Da. Und das Buch ist vollkommen neu, wie Sie bemerken werden. Aber das Interessante ist die zusammenklappbare, illustrative Darstellung der menschlichen Anatomie auf Seite 530.«

Luff wendete gelangweilt die Seiten. Plötzlich zuckte er zusammen und beugte sich über das Buch. Am Fußende der erwähnten Illustration war in den Erklärungen eine Zeile durch einen Bleistiftstrich markiert. »Jugular (jugulu==Kehle)«, hieß es da. Des Inspektors Brauen zogen sich zusammen. »Darstellung eins: Darstellung vom Nacken aus. Darstellung zwei: Die Jugularvenen. Darstellung drei: eine vergrößerte Jugularvene ...«

Luff ließ das Buch sinken.

»Verdammt!« stieß er hervor.

Seine Stimme stieg zu einem grellen Krescendo. »Teufel noch mal, das ist ein Fund!«

Er lief zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein, dann ließ er sich in einen Sessel fallen und überlas noch einmal den angestrichenen Paragraphen. Clavin und Farland kamen herangeschlichen und spähten über seine Schulter.

»Die Jugularvene!« preßte Luff heraus und strich mit der flachen Hand über die auseinandergefaltete Illustration. »Und da! Er hat sie angezeichnet!«

Das Blatt zeigte den Durchschnitt durch einen menschlichen Kopf, Hals und Brust. Eine dicke rote Linie markierte den Lauf der Jugularis externa vom Kopf zum Herzen. Und quer durch den Hals, knapp unterhalb des Kinnes, war eine dünne Bleistiftlinie gezogen.

»Die Linie!« Luff konnte vor Erregung kaum sprechen. »Da! Genau die Stelle, wo der mörderische Stich geführt worden ist. Genau!«

Er packte Ballinger bei den Schultern. »Mensch, ist das ein Fund! Ist das ein Fund! Das beweist doch klar, daß er sich die ganze Sache vorher genau zusammengetüftelt hat.«Er sprang auf. »Mann! Wenn ich ihm das unter die Nase halte. Jetzt soll er sich erst mal herauslügen!«

Er klemmte überhastig das Buch unter den Arm und stülpte sich den Hut auf.

»Los. Jetzt aber zurück. Je eher ich den Burschen in den Schraubstock nehmen kann, desto besser.«

* * *


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