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Wie es der Hansl lernt, so treibt es der Hans« sagt ein altes Wahrwort, das sich an dem Meister unseres Geschichtleins erfüllen sollte. Geboren war er um das Jahr 1840 herum auf der Läxn. Das war aber kein Ortsname, sondern nur der allgemein übliche Hausname, denn das Gehöfte zählte noch zum Dörflein, obwohl es etwas abseits stand und demnach mehr die Form einer Einöde bot, wodurch leichte Gelegenheit gegeben war, unbesehen und unbeschrien von jeglichem Nachbar nach allen Seiten frei auswandern zu können auf guten oder üblen Wegen.
In die Zeit, wo sich unser Junge bereits mit dem Gottbüchlein, dem Kanisius und dem Einmaleins unter der Leitung des alten Schulmeisters vertraut machen mußte, fiel die Aufhebung der früheren Jagdvorrechte und deren Überlassung an die Gemeinden, dadurch hatte nun für einige Zeit jeder Gemeindebürger das Recht, sein altes Schießgewehr hervorzuholen und sein Glück auf der Jagd nach dem Getiere in Wald und Feld zu versuchen. Aber nicht bloß berechtigte Jäger durchstreiften die Gemeindeflur, auch unberechtigte mischten sich darein.
Das Wild gehörte ja niemandem zu eigen, unser Herrgott ließ es frei wachsen und herumlaufen, es nährte sich, wo und wie es Äsung fand und hatte keine bestimmte Heimstätte, also war es frei und jeder, der ein Stück davon erjagen konnte, schädigte keinen andern in seinem Rechte und darum machte man sich auch keinen Vorwurf daraus, wenn man auf heimlichen Wegen sich ein solches Beutestück verschaffen konnte. So gesinnte Gäste hausten aber fast jeden Winter auf der Läxn. Es waren von auswärts zugewanderte Maurer, welche im Sommer unter der Führung des Hausherrn ihrer gewerblichen Arbeit nachgingen, im Winter aber auch nicht mehr fortziehen wollten, weil ihrer ja keine traute Heimstätte wartete, und wenn ein Mensch keine Tagesaufgabe vor sich hat und nur sehen muß, wie er den lieben langen Tag in irgendeiner Weise verbringen kann, wird es leicht begreiflich, daß er auf Wege sinnt, welche ihm die Langeweile vertreiben helfen und noch dazu die Mittel bieten, den hungernden Magen zu füllen, ohne den mageren Inhalt der Geldbörse noch mehr zu schwächen. Dadurch kam es, daß die Phantasie des Jungen frühzeitig schon mit lebhaften Bildern erfüllt wurde, wenn er zuhören durfte, wie man bei dem Scheine des knisternden Kienspanes sich die Erlebnisse und Fährnisse des Wildererlebens gegenseitig erzählte oder neue Pläne und Schliche ausdachte. Doch nicht das Erschleichen und Erjagen des Wildes reizte seinen Sinn, er war und blieb vielmehr ein Tierfreund, wohl aber verfolgte er mit allem Eifer die Handhabung des Schießgewehres und aller Vorbereitungen dazu, namentlich das Gießen der Bleikugeln, eine Arbeit, die oft genug mit abergläubischen Zutaten und schaurigen Erzählungen von Freikugeln und ähnlichem begleitet ward. Diese Neigung des Jungen zu Pulver und Blei nährte sein Großvater erst recht. Dieser war nämlich schon als kräftiger, erst 16 jähriger Junge in das Heer Napoleons gepreßt worden und hatte bei der Artillerie den russischen Feldzug mitgemacht, aus dem nur er mit einem einzigen Kameraden wieder in das Heimattal halb erfroren zurückgekehrt war. Wenn nun der alternde Ahne und der junge Enkel an schönen Sommer- und Herbsttagen auf irgend einem Feldraine saßen und ihre Herde auf der Weide überwachten, dann erzählte der Alte dem Jungen nicht nur von gruseligen Geister- und Spukgeschichten, vom wilden Gejaid, das schon mehrmals über ihn selbst weggezogen war, von feurigen Männern, die ihn wiederholt begleitet hätten, von den Weißen, die da und dort noch umgingen und Ruhe suchten durch eine erlösende Seele, sondern auch von seinen Kriegserlebnissen, vom männermordenden Kampfe und vom Donner der Kanonen im Schlachtgewühle, aber auch von all den Schrecken und Fährlichkeiten der traurigen Heimkehr in schwerer Wintersnot. So ward das Herz des Jungen erfüllt und begeistert von den freudigen und traurigen Bildern des Krieges und das Feuer der Jugend entflammte wieder den Geist des Alten. Deshalb holte der Ahne auch eines Tages aus seinen Schätzen zwei Flinten herbei. Sein Bestes, eine neuere Radschloßflinte, sollte als Scheibenstutzen dienen. Gegenüber dem heimischen Anwesen war auf freiem Felde über den Quellen, welche das Wasser für die laufenden Brunnen des Schlosses lieferten, ein Holzbau aufgeführt; an dessen Vordergiebel malten sie nun mit Kalk einen weißen Fleck, der als Zielscheibe dienen sollte und nachdem der Ahne dem Enkel sorgsam die Einrichtung und Ladung des Gewehres gezeigt hatte, wagte er nach langer Zeit wieder den ersten Schuß und sein Arm war noch stark genug, die schwere Waffe gut zu führen, so daß die Kugel fast in der Mitte der Scheibe eingeschlagen war. Nun ließ sich aber der Eifer des Jungen nicht mehr länger zähmen, auch er wollte sein Können zeigen und unter Aufsicht des Großvaters lud er die Flinte von neuem. Aber trotz der ausdrücklichen Mahnung seines Lehrmeisters hielt er das Gewehr beim Abfeuern nicht fest genug, so daß es ihm bei dem Rückstoße der Entladung einen Backenstreich versetzte, der ihn taumeln machte, die weiße Scheibe war jedoch getroffen und so trug er die Schmerzen der stark anschwellenden Wange dennoch mit Freuden, wenn er sie auch als ernste Warnung für die Zukunft wohl vermerkte.
Aus einer alten, schweren Luntenflinte machten sie sich sogar eine Kanone zurecht. Tagelang arbeiteten und bastelten beide, bis sie sich Räder, Lafette, Wischer und alles andere Nötige hergestellt hatten. Als ihr Werk vollendet dastand, spannte sich der Junge wie ein vor Freude wieherndes Pferdchen davor und hinaus ging es ins Feld zum alten Scheibenstand, denn schon während der Vorbereitungen hatten sie sich schlüssig gemacht, gleich mit der Beschießung einer Festung beginnen zu wollen. Dafür sollte ihnen das Ziegeldach des Brunnenhäuschens dienen und bald waren beide so vertieft in ihr kriegerisches Spiel, daß sie alles andere um sich vergaßen. Wenn nach einem glücklichen Schusse ganze Reihen von Dachziegeln zerbröckelnd niederkollerten, dann jauchzte laut der Junge und auch der Alte schmunzelte dazu seelenvergnügt. Sie merkten dabei gar nicht, daß hinter ihrem Rücken die strafende Gerechtigkeit in der Gestalt des herrschaftlichen Verwalters herankam, bis dieser ob ihres schädlichen Tuns scheltend und polternd vor ihnen stand und zur Strafe die Kanone wegzunehmen drohte. Ob dieser Drohung erschrak der Junge bis ins Herz hinein, der jähe Wechsel von jauchzender Lust und tiefem Herzeleid über den Verlust der mit soviel Lieb und Mühe aufgebauten Kanone ließ dicke dichte Zähren über seine Wangen rollen und er bat und bettelte mit der ganzen Inbrunst eines gequälten Jungenherzens solange, bis der böse Mann sich erweichen ließ und das Spielzeug ihnen verbleiben sollte, wenn sie den Schaden selbst wieder gutmachen und fürderhin vor gleicher Torheit sich hüten würden. Das versprachen sie denn auch feierlich und damit war wieder ehrlicher Friede zwischen den Kämpfenden geschlossen. Schon am nächsten Tage gingen sie daran, die Friedensbedingung zu erfüllen und wenn ihnen auch die Arbeit sauer ward, weil die alten Beine das längere Stehen auf den schmalen Dachlatten schon entwöhnt hatten und auch die jungen Beine müde wurden, den neuen Ersatz über die Leiter zu schleppen, so bot ihnen doch die Mühe eine tröstende Genugtuung, weil jedes Loch, das sie auf dem zerschossenen Dache zuflickten, sie immer wieder an die Freude des vergangenen Tages erinnerte. Von da an verlebten Meister und Schüler noch manche frohe Stunde am Scheibenstand oder als Kanoniere in erträumter Siegesfreude über feindliche Heere und Festungen, die nun durch aufgestellte Bretter versinnbildet wurden, bis für den Enkel die schöne, sorglose Jugendzeit verrauscht war und des Lebens Ernst an ihn herantrat durch die Wahl eines nährenden Arbeitsberufes. Nach der Väter Art sollte er Maurer werden, aber nach kurzer Probezeit entschloß er sich zu dem seßhafteren Handwerke des Schusters. Das frohe Jugendspiel mit Gewehrfeuer und Kanonade hatte ein Ende. Es gab ja wohl auf jedem größeren Dorfe der Umgebung einen Schießstand, auf dem wenigstens einmal im Jahre ein Preisschießen abgehalten ward, aber dazu konnte er ob seiner Jugend noch nicht antreten und überdies war die Teilnahme daran ein teures Vergnügen. Der Volksmund kleidete diese letztere Wahrheit in das Sprichwort »Auch der beste Schütze verliert im Jahre eine Kuh« und als warnendes Beispiel erzählte man sich von dem Besitzer des großen Spannerhofes jenseits des Tales am Isarmoose, der wohl der beste Schütze weitum im Lande gewesen war, so daß er die weite Oberstube rings an den Wänden schmücken konnte mit all den vielen seidenen Preisfahnen, welche er sich durch seine Kunst fern und nah errungen hatte, die aber trotz der beigegebenen Geldgewinne noch so viel vom eigenen Besitz verschlungen hatten, daß die schwere Schuldenlast schließlich den reichen Bauern zum armen Inwohner niederdrückte.
Aus dem Knaben erwuchs im Laufe der Jahre allmählich der Mann, welcher zum Militärdienste einrücken mußte, weil er nicht reich genug war, um sich mit einer großen Geldsumme einen sogenannten Einsteher zu erkaufen und die Jahre dieses Dienstes wurden für ihn eine neue aber ernste Kanonierzeit. Daß er dabei in die ferne Rheinpfalz nach Germersheim gesteckt wurde, war weniger angenehm, aber immerhin war es ein kleiner Trost, daß er wenigstens zu jener Waffengattung kam, die seinem Fühlen und Streben am meisten zusagte. Über die Leiden und Freuden seiner Lern- und Meisterjahre in der edlen Kunst der Artillerie können wir weggehen, aber sein Wohlgefallen daran konnte man zeitlebens merken, wenn er, der sonst gerade nicht übergesprächig war, mit lebhaftem Eifer zu erzählen begann von den Hantierungen im Laboratorium, von Haubitzen und Mörsern, Granaten und Bomben, von der Festung und ihren Vorwerken, wie nicht minder vom »Alten Vater am Rhein«, wo er so manchesmal das lästige Wechselfieber im Rheinweine zu ersticken versucht hatte.
Bald nach Ableistung seiner Militärzeit wurde er durch Einheirat ehrsamer Schuhmachermeister und wenige Jahre später eröffnete sich ihm die dritte Periode seines langen, aber friedlichen Kanonierdienstes im Nebenamte. Die Dorfgemeinde besaß drei Böller und ihr Donnern mußte die Festesfeiern verschönern helfen, waren es nun religiöse Feste wie der Antlaßtag oder auch patriotische Feiern. Nun war aber seit längeren Jahren schon niemand Rechter mehr gewesen, der sich um ihre Bedienung angenommen hätte. Die einen verstanden nicht damit umzugehen, andern schien die Sache zu gefahrvoll, da trat er nun mit seiner Sachkenntnis und seiner Freude auf den Plan und blieb fast 40 Jahre lang der anerkannte Dorfkanonier, der schließlich über eine Batterie von zehn Geschützen verfügte, und mochte nun ein müder Feldzugssoldat mit der üblichen Salve von drei Böllerschüssen ins Grab geleitet werden, mochte eine Fahnenweihe sein oder ein anderes vaterländisches Fest, mochte die feierliche, kirchliche Prozession durch des Dorfes Straßen wallen, er verzichtete auf jede andere Festesfreude gern, wenn nur seine Böller krachten, daß die Luft des Tales weit ab und auf davon erdröhnte. Und mit welcher Liebe und Sorgfalt waltete er seines Amtes! Alle die 40 Jahre ging keiner seiner Lieblinge zugrunde, ihm selbst geschah nicht das mindeste Leid, so vorsichtig wußte er alles zu richten und die ganze Liebe, mit der er seine Aufgabe erfaßte, lernte ich erst recht verstehen, als er dem Studentlein auf vieles Bitten erlaubte, ihm bei der Bedienung der Geschütze zu helfen. Wenn am frühen Sommermorgen die Zeit des Aveläutens heranrückte, dann richtete er seine drei schwersten Böller in halb liegender Stellung so, daß ihr Gedonner voll über das Dorf hindröhnen und sich am gegenüberliegenden Hügel des Klausenerberges brechen mußte und kaum war der letzte Klang der Aveglocke verstummt, krachte sein absichtlich schwerer geladene Schuß, der alle Schläfer wecken sollte und wenn dann der Widerhall des Geschützdonners sich an den Wäldern und Höhen mit scharf geschnittenem Wumm, Wumm brach und von Tal zu Tal sich fortpflanzte, dann horchte seine Seele voller Freude hin bis es in weiter Ferne nur mehr summend verklang und wenn er im Dämmerschein des sinkenden Tages nach dem letzten Abendläuten noch einmal dem ganzen Tale seinen letzten Gruß hatte bieten können, dann löschte er mit Genugtuung sein Feuerlein für die Zündstange und barg seine Batterie frohgemut; es war für ihn wieder einmal ein schöner Kanoniertag gewesen und alle die Mühe, so es ihn gekostet, achtete er dafür gering.
Erst als die gewichtigeren Stücke seinem alternden Arme zu schwer zu werden anfingen, konnte er sich verstehen, einen Helfershelfer beizuziehen und ihn als Nachfolger anzulernen. Aber auch als er diesem sein Amt ganz überlassen hatte, blieb ihm der Klang des Böllerschusses noch eine vertraute Musik; mit kritischem Ohre horchte er auf deren Knall, um daraus die richtige Bedienung zu erkunden und stille für sich zu loben oder zu tadeln, und ich glaube, kein anderes Gebrechen und Entsagenmüssen des Alters legte sich ihm so schwer aufs Herz wie dieses, daß er nicht bis zum Grabe hatte Dorfkanonier bleiben können. Was das junge Hänschen im Spiele mit soviel Eifer erlernt und der junge Mann als Soldat mit vollem Ernste erfaßt hatte, entbehrte mit Schmerzen noch der altersgraue Hans.