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Den Unterschied zwischen Romane und Germane kann man in Rom und Florenz und Neapel wohl auch ein bißchen studieren. Aber wer da meint, ihm auf den Grund zu sehen, täuscht sich schwer. Zwischen den zwei Rassen vermischen sich viele Unterschiede, je größer und moderner das Gemeindebild ist. Die große Stadt tötet das Individuum. Wer jedoch das deutsche Städtchen mit dem italienischen vergleicht, das große Sachsendorf mit dem umbrischen Borgo, der merkt nun sehr innig, wieweit die Seele der beiden Völker auseinandergeht. Bei uns ein Sich-Rühren-und-Regen, ein Klatschen und Räsonieren, und ein Auf-die-Zehen-Stehen und Sich-hochstädtisch-Geberden – und am Ende und im Grunde doch Recht-dörflichen-Herzens-Bleiben: – hier aber eine majestätische Gleichgültigkeit, ein Unbekümmertsein um alle andere Welt, und nie die Frage, ob man Stadt ist oder Dorf. Ins kleinste Nest stellt man einen breiten, schweren Großstadtdom. Zwischen blinde oder einäugige Menschenhütten baut man einen Palast wie für einen Herrn der Welt. Man will Dorf und Flecken sein und hat doch die Seele der Stadt. Alles, was sie hier tun, wenn sie zum Beispiel nur zwei Steine aufeinanderbeigen, bekommt gleich einen großen urbanen Zug. Der Türbogen einer Kapelle ist so stattlich geschwungen wie der Eingang zum Papst oder Kaiser. Oft gibt es daneben nur noch elende Häuslein, zumal im Kalabrischen drunten, Höhlen, Ruinen, wo das Volk wohnt. Dann ist eben dieser einzige alte Bogen oder dieser Herrenpalast für die Leute die Stadt. Sie vergessen das Elend der übrigen Gassen und Mauern so sehr, daß sie überhaupt in weiten Landstrichen den Begriff Dorf gar nicht kennen. Und bei allem kleinen Leben und aller naiven Neugier für jedes fremde Bein, das über ihr Pflaster geht, haben sie doch eine große, echt römische Gebärde bewahrt. Und die behalten sie, selbst wenn ein Bauernweib auf dem Domplatz von Orvieto Schweine hütet oder wenn aus einer alten Bischofstadt der Basilicata das ganze verlumpte Volk auf zweirädrigen Karren auf die Acker hinaus graben und reuten und Vieh hüten geht.
Freilich, in den umbrischen Städtchen, von denen ich rede, wohnt eine solche südliche Armut und Blöße des Lebens noch nicht. Um so freier und größer und lebensfroher ist das ganze Gehaben. Gibt es ein Rom? Meinetwegen! – Ein Venedig oder Florenz? – Mag sein! Aber wir sind Leute von Spello! Das ist Narni, hier auf dem Fels! Seit Urzeiten nisten wir da oben. Nirgends sind wir so wohl daran wie hier. Von selbst muß das alles so entstanden sein. Das ist der Berg von Narni und das ist der Himmel von Narni, und das rundum ist die Aussicht von Narni, gleichsam auch noch Narni selber, und wir wissen und fühlen und sind nichts anderes als Narni!
Und so lebt man und macht sich keine Gedanken und Rechnungen, warum und wieso, ob mit Recht oder Unrecht, wie groß, wie klein? Es ist so! So und nicht anders, bravo!
O du helles, sicheres Latein!
Wie anders bei uns in der Provinz! Wie haben wir deutschen Menschen immer so etwas Ergrübeltes und Ersonnenes und Eingefädeltes in unserem Weichbildleben! Wie fern von uns ist meist Natürlichkeit und Unbefangenheit! Hier im Italienischen verstehen sich Dorf und Residenz, Hauptstadt und hinterstes Provinznest ohne weiteres, kraft dieses Natürlichen! Das italienische Herz ist einfach geblieben, und sein klares, scheiben- und spinnwebenfreies Auge packt darum gleich die Kanten und Ecken einer Sache. Wir nordischen Denker gehen zuerst durch die zehn Plagen der Theorien und Methoden hindurch, ehe wir endlich mit dem Finger an die Realitäten tupfen.
O du nebliges, augenverschlossenes, geduldiges und doch auch so liebes und reiches Deutsch!
Durch diese angebotene Fähigkeit und Freudigkeit an der reinen Sache sind der Hirte und der römische Patrizier, der Krämer in Spoleto und der geschminkteste Marchese von Turin sich viel verwandter und ebenbürtiger als wir germanischen Spintisierer mit unsern hundertundzwei Unterschieden untereinander. Zwischen dem ersten und zweiten Schreiber in einem Hamburger Geschäft besteht eine größere Kluft als zwischen dem Milchträger Federigo Spazzi und dem Großhändler Marozzo in Neapel. Selten sah ich einen vornehmen Jüngling auf dem römischen Korso hochnasig über einen gewöhnlichen Bettler hinwegschauen, oft aber mit ihm scherzen und Zigaretten anzünden. Und nie sah ich ein noch so armes und niedriges umbrisches Geschöpf vor einer städtischen Gold- und Buchstabenweisheit so auf dem Bauche kriechen, wie ich in der freien, geßlertötenden Schweiz das oftmals beobachtet habe. Es ist wahr, so ein Italienerchen kann auch unendlich kriechen und schmeicheln, aber immer wegen der Sache, nie wegen des Menschen. Also um der schönen Lira willen! Mit dem Silber hört auch das Kriechen auf. Wir aber, diesseits der Alpen, kriechen noch weiter wegen der Idee des Silbers. Bei uns ist es nicht die Sache so sehr als vielmehr ihre moralische Gewalt, die wir der Sache dazu oft noch andichten, wovor wir uns so gern in Kratzfüßen und Katzenbuckeln multiplizieren und potenzieren.
Der Archivar in Rom und der Archivar in dem winzigen Spello tragen ein gleiches Seidenkäppi, die gleiche gemütliche Amtsfalte in der Stirne und tun gleich wichtig und freundlich. Auf der Hauptpost in Rom kannst du am Schalter mit dem Beamten in ein so breites Geplauder geraten wie am kleinen Schiebfenster der Trevener Poststube. In Peglio, unweit Urbino, erzählte mir eine ganze Schule, sie hätten noch keine Eisenbahn gesehen. Nein, doch! –»Pietro Stessi sah eine kleine!« schrien einige Schüler schnell. »Sein Vater hat viel Geld. Und so ist er einmal mit ihm nach Cagli zum Schafmarkt gefahren.«
Pietro schüttelte energisch den Kopf. »Das ist nicht wahr! Lügt doch nicht so!« – Dann aber, als es ihm bewiesen wird, wird er rot wie eine Kirsche. Er schämt sich, daß er mehr als die andern gesehen hat. Denn er spielte vorhin doch nicht besser als die andern Boccia, und wird von den Mädchen darum nicht höher eingeschätzt, und er ringt und pfeift nicht feiner. Die andern sehen ihn fast mitleidig an. Keinen dünkt es eine große Sache, was der Stessi ihnen voraus hat. Im Gegenteil, sie waren ihm überlegen, weil sie bisher ohne Eisenbahn ausgekommen sind.
Und in Mailand sagte mir einmal ein witziger und geschliffener reicher Korsoschlingel, der schon aus allen feinen Zigarrenläden geraucht, in allen erstklassigen Cafés getrunken, jeden Verdi, Puccini, d'Annunzio und jede Rolle der Duse gehört hat, er sei noch nie über die Stadtgrenze hinausgekommen und habe noch nie den grünen Tessin bei Pavia oder einen andere Fluß und noch nie einen Berg bemerkt. Ja, vom Domdach aus habe er eines linden Abends gen Nordwest etwas fernes Weißes gesehen. Ob das Schnee war und Gipfel der Alpen? Man sagt es. Oder nur Gewölke? Nun, sei es so oder so, ihm sei der Dom Schneeberg genug.
Wenn Schweizer Bauern mit ihren braunen Unterwaldner Kühen und Urner Geißen vom Gotthard hinab durch die Mailänder Straßen trieben, sah so ein italienischer Range kaum hin. Das sonore Schellengeläute und das Hüst und Hoiho der Älpler und der ganze Berggeruch dieser wunderbaren Prozession bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Er schielt leichthin den Leitochsen an und horcht einen Augenblick auf das grobe Gejodel. Und er fühlt, daß es solche Dinge und Menschen geben muß, – selbstverständlich. Aber das Nachdenken darüber, das Sich-den-Kopf-darob-Zerbrechen, das verwunderte deutsche Augenaufreißen, das alles kennt er nicht. Gleich wendet er sich wieder dem Maueranschlag zu und liest gemütlich weiter, wie nun der Kinematograph der Fratelli Pagnatte von der Porta Braganza zum Castello übersiedelt ist. Und der Taugenichts rechnet aus, daß er nun in Zukunft zweihundert Schritte näher bei der Vorstellung ist. Fern gegen die Brera verhallt das Knallen der Geißeln, die Schellen und das schwerfällige Hufgetrappel und dumpfe Gemuhe der Schweizer Kühe! Bravissimo, zweihundert Schritte näher dem Cinema!
Mein lieber Italiener hat keinen Sinn für Geographie. Weil ihm jedes Plätzchen recht und gut genug ist. In Gubbio frägt niemand nach Rom, und in Rom keiner nach Gubbio. Fast alle Kinder über zwölf Jahre wissen, daß London die größte, aber Paris die feinste und Rom die berühmteste Stadt der Welt ist. Allein die Strecken da und dort hin sind für alle gleich weit, weil gleich unbekannt. Die Schweiz ist voll Schnee und das Deutsche Reich ist voll Nebel, und noch weiter oben herrscht fast immer Nacht. Dann kommt der Nordpol. Aber unter Neapel wird es heiß und heißer. Die Menschen werden vor so viel starker Sonne immer brauner und zuunterst und zuletzt sind sie schwarz wie Ruß. Das ist einmal so. Dagegen ist nichts zu machen. Und warum sollte es auch nicht so sehr gut sein?
Vielleicht gerade wegen dieser wenigen so allgemeinen Geographie kennt man weder in Rom noch im kleinen Gubbio unsere germanische Leidenschaft für die Heimlichkeit der Stube und unsere Versessenheit auf ein und die nämliche Scholle. Zügelt einer nach Narni oder Trevi hinauf oder nach Bari hinunter, gut, nun ist eben da sein Rom, sein Gubbio. Nicht der Ort, der Mensch macht die Heimat, am Namen hängt nichts. So kennt das italienische Gemüt denn wirklich eine großartige geographische Freizügigkeit. Nichts leichter, als sich ins Dorf gewöhnen für den Städter oder in die Stadt für den Dörfler! Diese Romanen hängen ihr Herz nicht an geographische Details, sondern an die Hauptsache: an ihren blauen Himmel, an ihre mächtigen Kastanien und Reisfelder und Reben und an ihre wie Orgelschlag schallende Sprache. Was dann weiter unter dieser Hauptsache in verschiedene Nebensachen auseinanderfällt, hat keinen Wert: Dorf oder Stadt, Schafhirt oder Senator, Gubbier oder Florentiner.
In ihren Schelmengeschichten und Liebesliedern kommen daher keine solche kleinwinklige und verschachtelte Traulichkeiten vor wie bei uns Romantikern der Giebelkammern und Erkernestchen. Sie singen nicht von der Mühle in einem verborgenen Wiesengrunde, noch vom versteckten Veilchen in einem Hag, noch von einem stillen Waldbrünnlein oder einer einsamen Linde oder einem verschwiegenen Kleeplatz im Münsterhof Unserer Lieben Frau. Solche dörfliche Sentimentalitäten kennt der Italiener, auch der Umbrier nicht. Und doch liebt er auch mächtig genug. Aber seine Liebe und Leidenschaft ist groß, klar und offen wie die Sonne. Er singt vom Kastell, aber Kastelle gibt es Tausende im Land; von einem Garten, aber es können Rosen, Tulpen oder auch Gänseblümchen, ja sogar Kohlköpfe darin wachsen –, er meint einfach einen der hunderttausend Gärten auf Erden. Oder er feiert eine Sposa, doch braucht es keine Müllerstochter oder Schenkwirtin oder ein Barbiermägdlein zu sein. Es ist einfach eine hübsche Jungfer. Basta! Ihm ist nicht die Hauptsache, ob Märzglöcklein oder Heideröschen am Stelldichein blühen, sondern ob sie kommt. Wo wir Germanen erst noch lange riechen, ißt der Romane schon. Wo wir malen, formt er schon. Wo wir träumen, lebt er schon. Wo wir sehnen, hat er schon. Wir sind viel mehr Lyriker, er ist viel mehr Epiker des Gemütslebens.
Die Umbrier würden mich auslachen, wenn sie zu lesen bekämen, was ich da über ihre Vogelneststädtchen an den Berghängen aufgeschrieben habe. Das alles kann nur ein Deutscher herausschnüffeln, würden sie sagen. Natürlich, sie haben recht. Sie erleben, also brauchen sie nicht zu dichten. Sie sitzen warm im Nest und können den Maler und Poeten draußen lustig auspfeifen.