Heinrich Federer
Umbrische Reisegeschichtlein
Heinrich Federer

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Wo liegt Italien?

Wo liegt Italien? – Die allermeisten wissen es nicht recht. – Von den sibyllinischen Bergen her aus dem Nera- ins Velinertal hinüber und auf Rieti und Aquila zu ist eine Strecke von wenigen kurzen, schönen Tagmärschen. Man läuft eine Straße ab, hart und schneeweiß wie alle Straßen da unten, an den Lehnen prachtvoll gemauert und schwungvoll über Bäche oder Runsen gehoben. Jedoch, sowie wir den weiten Verkehrsweg abkürzen und quer durch Nebentäler gehen wollen, sind es sogleich nur noch Sträßchen. Und übersetzt man nun gar eine Hügelkette – Berge nennt man sie hier –, um gleich ins jenseitige Tal zu gelangen, so hat man bald nur noch Fußtritte von Hirten oder Stapfen von Ziegen und Maultieren und befindet sich nach einer Stunde schon wieder in weglosen Steinhaufen oder an schlüpfrigen, dürren Ränften. Selten geht es höher, als achthundert Meter. Aber das genügt, um einen halben Tag und mehr toteneinsam durch eine gewaltige Stille des Lebens zu gehen. Im Norden haben wir das nicht. Steigt man dann hinab ins neue Tal, so grüßen schon nahe herauf schimmernde Kalkstädtchen, halb Stein, halb Mauerwerk, und noch einige Schleifen tiefer die alten Marmorvillen aus schweren, schwarzen Zypressengärten. Wo ein wenig Wasser die Bergfalte niederträufelt, da breiten sich unverweilt ganze Wälder von Büschen, wildem Obst und zahmen, gütigen Fruchtbäumchen aus. Und immer gelber, dünkt uns, werde die Sonne und immer würziger und dichter die Luft. Fast hört man schon den großen alten Atemzug Roms.

Wer solche Gänge nicht kennt, kennt Italien nicht. Italien präsentiert sich auf dem Markusplatz und prahlt vor Sankt Peter und predigt Geschichte vor dem Palazzo Vecchio und tanzt am Kai von Neapel. Aber das ist alles ein bißchen Bühnenitalien. Man hört den gelehrten Souffleur, der alles gar zu gut auswendig weiß, Historie, Kunst, Poesie, und man hört das Ah und Oh und Händeklatschen des internationalen Publikums vor den Kulissen. Das stört. Aber noch mehr, mitten in der Musik der Orlando di Lasso-Sprache fallen greuliche Mißtöne: englische Heiserkeit, französischer Nasenkatarrh, deutscher Husten. Und schließlich, bei all den Herrlichkeiten fragt man: ja, habt ihr denn nur Säle, liebe welsche Brüder, nur Kirchen und Museen? Besteht Italien aus alter Malerei, altem Marmor, Garibaldistatuen, Priestern, Kutschern, Bettlern und Trinkgeldern? Ist das alles?

Wo liegt Italien?

In der Tat, Neapel und Venedig sind seine schönen Augen, Rom ist seine ernste Stirne und Florenz sein blühender Mund. Bologna ist ein, Genua der andere Goldfinger seiner feinen Hände. Mailand und Turin sind seine rüstig ausholenden Füße. Die Riviera ist sein Lachen, und die Abruzzen sind seine wilden Krausen. Aber wo ist sein Herz, sein innerstes, tiefstes, warmes Herz?

Von Hunderten, die nach Italien gehen, haben vielleicht neunundneunzig das echte Italien nicht gesehen. Sie standen vor dem Gemälde Italien, aber nicht vor dem lebendigen, menschlichen Italien. Sie sahen den Salon, aber nicht die Stüblein und Kammern, nicht die Herzen Italiens.

Ich habe zuerst nicht das Spotten verhalten können, als ich die elenden Geographiekenntnisse der Italiener erfuhr. So viele wußten nicht, wo meine kleine Alpenrepublik liege, und es war schon wunderbar, wenn ein gescheites Mädchen, nachdem ich ihm meine Schweizerstadt genannt hatte, die Achseln fröstelnd zusammenzog und sagte-»Ach, ja, dort, Zurigo, unter finsterem Wald und Schnee und wildem Getier, puh, dort!«

Auch das eigene Land kennen sie nicht zum besten. Sie werfen Parma und Pisa und Padua und Pavia ungeniert untereinander. Selbst am Hauptbahnhof in Rom hat man mich von Schalter zu Schalter geschickt, als ich nach einem gar nicht fernen und gar nicht unbekannten Städtchen Anticoli Corrado über Tivoli und die Verzweigung Subiaco fahren wollte. Niemand wußte mir die Station, wo ich aussteigen mußte, anzugeben.

Aber was soll man sich darüber aufhalten? Wegen einer Stadt oder eines Dorfes? Wenn wir Nordländer mit einem jahrzehntelang abgerackerten Sümmchen Geld Südlandferien machen – nennt man es nicht so? – und Reisebücher kaufen und tischbreite Karten und Stadtpläne ausspannen, und wenn wir dann hinunterfahren ins mittägliche Land und schwitzen und hetzten und studieren und notieren und ein mühseliges italienisches Kauderwelsch dazu reden, – – und dann doch noch immer nicht wissen, wo Italien liegt, sind wir dann hellere Geographen?

Wahrhaft, ich übertreibe nicht. Wer von Basel nach Zürich und Luzern und Genf fährt, in jeder Stadt ein paar Tage hockt, durch Kirchen, Bibliotheken und Zeughäuser läuft und am Ende noch in Altdorf den Wilhelm Tell aufführen sieht, der kennt die Schweiz darum noch lange nicht. Hätte er sich für zehn Tage in ein Entlebucher Dorf eingenistet oder hätte er im Appenzellischen eine Woche unter Hirten und Geißen am Säntis zugebracht, bei Schotten, Käse und dürren Zwetschgen, und hätte er dann einer Alpstubete beigewohnt oder einem Meiringer Hosenlupf: er hätte mehr von der Schweiz gesehen, als aus sieben Münstern und siebzig Turmbesteigungen.

So verhält es sich auch mit Italien. Eine Wanderschaft durch Gebiete, wo keine Eisenbahn fährt und keine Kurorte sich breitmachen, offenbart dir das Herz des italienischen Volkes weit besser als das Straßenleben seiner gekuppelten und getürmten Hauptstädte.

Wo liegt Italien?

Abseits in Umbrien, in den kalabrischen Nestern, in den Dörfern der Marken, im zerstreuten toskanischen Hügelland, in den lombardischen Maisfeldern und den venetischen Fischerstädtlein, aber vor allem in den Abruzzentälern, wo ich jetzt auf und nieder gehe. Da hörst du kein anderes Wort als italienisch, und auch dieses kann nur der Pfarrer buchmäßig sprechen. Was man da ißt und trinkt und womit man sich kleidet, ist vom Eigenen. Was für einen Wein schluckt man da aus Tonkrügen! Es ist ein starker, blauroter, erdschwerer Saft, der wie dickes Blut in den Leib strömt. Und was für Bilder hängen da in den dunkeln Stuben! Die längst entschwundenen Päpste Gregor XIV. und Pius VIII., und Garibaldi als blutjunger Freischärling und ein zopfiger König von Turin. Auch das mutet eigen an, wie man sich nur beim Taufnamen auf der Straße anredet, und wie abends das ganze Dorf in die Gasse hinaushockt oder liegt und laut plaudert und nichts vor den Mitbürgern geheimhält. Die Straße ist die allgemeine Stube, voll Werktagsarbeit und Kindergeschrei schon am Morgen, voll Schnarchen und Träumen nachts. Im Kirchlein betet alles ordnungslos durcheinander, einzelne singen, ein Kätzlein miaut, und Vögel fliegen zwischen den Rippen des Chorgewölbes wie in einem Baumgeäst auf und nieder. Ei, wie führen sich da die Altarbuben um den Opfertisch herum auf! Einmal wie kleine Teufel und einmal wie kleine Cherube. Im ganzen Dorf hat nur der Wirt eine Uhr, aber eine steinschwere, an einem Lederriemen. Die Sekunden weist sie nicht. Der Pfarrer besitzt eine Stockuhr, deren Pendel seit Jahren stillsteht, und am Kirchenturm, den die Buben schon von außen an den vorspringenden Steinen und Haken bis zum Schalloch erklettert haben, sieht man nur eine Sonnenuhr. Die frechsten Kletterer haben sogar ins gemalte Zifferblatt ob dem Glockenfenster ihren Namen und eine spöttische Nase gekritzelt.

Das italienische Singen lernt man nur hier kennen. Es ist schwer, davon richtig zu reden. Tief und düster wie der Dudelsack klingt es zumeist, mit ein paar mehr schrillen als freudigen Pfiffen und Triolen dazwischen und einem flüchtig dreinfallenden Geplätscher und Geschäcker, als spotteten Gassenkinder. Aber der dunkle Strom von Mollakkorden erstickt den lautesten Kerl. Man versteht nur langsame, lange Wörter vom Text. Es ist mehr Naturlaut als satzlicher Vers im Lied, ähnlich dem Jodel der Alpen.

So singt man in den wilden Abruzzen.

Aber in den Tälern von Umbrien, auf Rieti und Rom zu, ist das Singen schon lebhafter, schon ein bißchen Oper. Ein Bursche fängt an mit der Kehlkopfstimme, dann choralen die Bässe drein, dann trillert eine Jungfer mit rotem Kopftuch hochauf wie ein Rotkehlchen, zum Necken oder Tändeln, man weiß es nicht. Tief und schwer antworten die Männer darauf, daß man an den Chor der Alten in der griechischen Tragödie denken muß. Der Vorsänger kann sich an dieses Maß nicht halten. Er ist der eigentlich Handelnde und Held und jubelt und jammert unbändig. Die Jungfer geht ihm mit ihren Soprannoten nach, einmal als suche sie ihn zu verstehen, einmal als äffe sie ihn nach, einmal als schmähe sie ihn mit klingend giftigen Worten. Er verzweifelt, sie lacht. Er droht, sie schmollt. Er wütet, sie duckt sich und schweigt zuletzt. Aber unter allem fließt die dunkle Männerbegleitung wie ein tiefer Fluß. Er und sie sind darauf das lichte und dunkle Schiff, die sich befehden, suchen, trennen und wiederfinden. Nach und nach geht das alte Thema in einen Stegreif über, alles wird Improvisation, der Sänger erfindet neue Strophen und Situationen, und sie sekundiert in ebenso geschickter Eingebung. Die Knaben auf den Knien lauschen mit offenem Mund und gleißenden Raubtierzähnen, und ihre runden Mohrenaugen glühen immer dunkler. Die Mädchen aber stehen auf der Mauer und versuchen leise mitzuspielen. Es wird schattig. Sterne flimmern auf die Köpfe nieder. Von den Bergen die Kühle und von den luftgefächelten Gärten der Pfirsichduft schweben über uns. Der Sang wird dünner. Die zwei Gegenspieler verstummen. Der Chor fließt langsam aus. Da und dort löst sich eine Gestalt vom Haufen, jetzt zwei, jetzt drei mitsammen. Gute Nacht!

Aber dann, wenn alles still ist und selbst die ewigen Zikaden schweigen, sieht man noch ein Knabenauge glühen. Unendliches Wachsein ist in ihm. Oh, Ernesto Bigio wartet aufs Leben, wo das alles wahr wird, was ihm jetzt vom Hassen und Lieben so abenteuerlich singt. Oh, er will mittun, an beiden mittun, daß einst die Dörfer abends auch von ihm singen und allen kommenden Buben die Zähne gleißen vor Durst nach gleicher Lieder- und Lauscherehre.

Das Leben ist von einer großartigen Einfachheit. Immer Reis oder Mais mit Öl und Wein oder wilden Früchten; hartes Brot, Kürbisse in Essig, Ziegenkäse und zuletzt etwas hartes, geräuchertes Fleisch. Du findest keine Zeitungen und keine Bücher hier, keine Brunnen als die Bäche und Zisternen, keine Musik als die Handorgel oder Holzpfeife, keinen Mann, vor dem man sich beugt als den alten Pfarrer, keinen Doktor als den Mesner mit seinen Kräutersalben, keine Laden, noch Handwerker, keine Arbeiter, nur Hirten. Und das geehrteste und ersehnteste Feierkleid ist ein schönes, feines, unbefleckt weißes Ziegenfell.

Man hat hier kein Zahnweh, kein Kopfweh, kurz keine Nerven. Stundenlang kann man im Steinflur des Hauses oder unter der Türe liegen und vom Mittag bis Vesper wie eine Katze schlafen.

Schreiben können in diesen oberen Tälern, von denen ich rede, nicht viele Hände. Nur wer will, geht zum Pfarrer oder Maestro in die Schule. Ein paar Wochen im Jahr. Was lernt man? Zehnmal zehn sind hundert. Die Erde ist eine Kugel. Der Mond ist nur ihr kleiner folgsamer Kamerad. Italien hat einen König und den Papst der ganzen Welt. Aber es ist weit zu ihnen nach Rom. London ist die größte Stadt der Erde. Die Russen sind ein Volk im Schnee. Sie tragen hohe Pelzmützen wie Türme. Aber die Chinesen sind gelb und haben Zöpfe. Jeder Brief fängt mit Herr an und endet mit Diener... Das lernt man und noch einige große Wahrheiten. Das ist genug. Bei dieser Kost behalten sie Nerven wie Seile.

Was ist ihnen Dieselmotor und Aeroplan und Stenographie und Kabinettsorder und Börsenfinessen? Dummheiten. Lieber nicht lesen und schreiben können, aber dafür gesund und stark und wohlauf sein. Das Leben ist ohnehin so kurz, und gar so ein Jahr dreht sich schnell wie ein Wagenrad. Soll man es noch mit Hitze und Hetze kürzer machen? Lieg auf dem Rücken und laß es kommen und gehen!

Was fehlt uns? fragen diese Glücklichen den Fremden. Kann man das Leben besser leben? Und lieben wir etwa nicht auch so tüchtig wie irgendwer und irgendwo? Geh hinunter zur Kirchhofmauer! Dort spazieren sie am Sonntag nach Vesper, Pietro und Maria, und schwören sich bei Sonne, Mond und dem größten Stern der Nacht ewige Liebe. Sie ist wie ein Feuer und er wie ein scharfer Wind. Das gibt eine hohe Glut. Rücken sie dem Pfarrhaus zu, so vergessen sie oft, früh genug umzukehren. Die alte Köchin Marina hat das Paar schon gesehen und schreit ihnen aus der Küche nach: »Schämt ihr euch nicht? He, auseinander!« Denn sie ist eine dürre, alte Pomeranze und sieht es nicht gern, wenn junge Pomeranzen anfangen zu blühen und zu duften. Und weil die zwei sie auslachen, wirft sie ihnen Seife und Bürste vom Gesims hinunter, trifft jedoch nie. Das Paar aber, nicht faul, hebt die Sachen auf und ruft: »Wir danken vielmal. Das ist das erste Hochzeitsgeschenk.« – Siehst du, Herr, was wir für Spaßvögel sind! – Da schreit Marina: »Ich sag's sogleich dem Hochwürdigen.« Und das Paar: »Geh! je bälder, je lieber! Müssen wir ja doch bald die Sponsalien ablegen.« – Da steckt die Alte den Kopf nicht mehr heraus und zerbricht ein paar Tassen vor Ärger. Sieht der Pfarrer die Scherben, so lacht er und sagt: »Ach, ich hab' ja so viel altes Geschirr im Haus!« Merkt ihr den Witz? Pietro und Maria aber spazieren übermütig weiter, und wenn sie wieder auf den Kirchplatz kommen, sind sie rot wie angeblasene Kohlen und lachen dunkel ins Pflaster hinein und reden kein Wort mehr. Ist das nicht schön? Oder sieh dir mal den Wirtssohn Michele an! Er ist vierzehnjährig und groß wie ein Baum. Da ging er zum Pfarrer und sagte: »Du, Priester Don Pol (Don Paolo), schreib' mir die Catarina Saldi auf! Schreib' sie dick in dein Kirchenbuch! Das ist meine Frau!«

»Ebben«, sagt der Pfarrer und gibt dem schlanken Schlingel eine Prise von seinem scharfen Schnupf. Da er ja schon eine Braut hat, wird er wohl auch schnupfen dürfen wie ein Erwachsener.


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