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Einleitung

Erstes Kapitel

Das Wesen des Menschen im allgemeinen

Die Religion beruht auf dem wesentlichen Unterschiede des Menschen vom Tiere – die Tiere haben keine Religion. Die ältern kritiklosen Zoographen legten wohl dem Elefanten unter andern löblichen Eigenschaften auch die Tugend der Religiosität bei; allein die Religion der Elefanten gehört in das Reich der Fabeln. Cuvier, einer der größten Kenner der Tierwelt, stellt, gestützt auf eigne Beobachtungen, den Elefanten auf keine höhere Geistesstufe als den Hund.

Was ist aber dieser wesentliche Unterschied des Menschen vom Tiere? Die einfachste und allgemeinste, auch populärste Antwort auf diese Frage ist: das Bewußtsein – aber Bewußtsein im strengen Sinne; denn Bewußtsein im Sinne des Selbstgefühls, der sinnlichen Unterscheidungskraft, der Wahrnehmung und selbst Beurteilung der äußern Dinge nach bestimmten sinnfälligen Merkmalen, solches Bewußtsein kann den Tieren nicht abgesprochen werden. Bewußtsein im strengsten Sinne ist nur da, wo einem Wesen seine Gattung, seine Wesenheit Gegenstand ist. Das Tier ist wohl sich als Individuum – darum hat es Selbstgefühl – aber nicht als Gattung Gegenstand – darum mangelt ihm das Bewußtsein, welches seinen Namen vom Wissen ableitet. Wo Bewußtsein, da ist Fähigkeit zur Wissenschaft. Die Wissenschaft ist das Bewußtsein der Gattungen. Im Leben verkehren wir mit Individuen, in der Wissenschaft mit Gattungen. Aber nur ein Wesen, dem seine eigene Gattung, seine Wesenheit Gegenstand ist, kann andere Dinge oder Wesen nach ihrer wesentlichen Natur zum Gegenstande machen. Das Tier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: bei dem Tiere ist das innere Leben eins mit dem äußern – der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältnis zu seiner Gattung, seinem Wesen. Der Mensch denkt, d. h. er konversiert, er spricht mit sich selbst. Das Tier kann keine Gattungsfunktion verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsfunktion des Denkens, des Sprechens – denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfunktionen – ohne einen andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst an die Stelle des andern setzen, eben deswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität Gegenstand ist.

Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion. Aber die Religion ist das Bewußtsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts andres sein, als das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen. Ein wirklich endliches Wesen hat nicht die entfernteste Ahnung, geschweige ein Bewußtsein von einem unendlichen Wesen, denn die Schranke des Wesens ist auch die Schranke des Bewußtseins. Das Bewußtsein der Raupe, deren Leben und Wesen auf eine bestimmte Pflanzenspezies eingeschränkt ist, erstreckt sich auch nicht über dieses beschränkte Gebiet hinaus; sie unterscheidet wohl diese Pflanze von andern Pflanzen, aber mehr weiß sie nicht. Solch ein beschränktes, aber eben wegen seiner Beschränktheit infallibles, untrügliches Bewußtsein nennen wir darum auch nicht Bewußtsein, sondern Instinkt. Bewußtsein im strengen oder eigentlichen Sinne und Bewußtsein des Unendlichen ist untrennbar; beschränktes Bewußtsein ist kein Bewußtsein; das Bewußtsein ist wesentlich allumfassender, unendlicher Natur. Das Bewußtsein des Unendlichen ist nichts andres als das Bewußtsein von der Unendlichkeit des Bewußtseins. Oder: im Bewußtsein des Unendlichen ist dem Bewußten die Unendlichkeit des eignen Wesens Gegenstand.

Aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen er sich bewußt ist, oder was macht die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen aus? Der geistlose Materialist sagt: »Der Mensch unterscheidet sich vom Tiere nur durch Bewußtsein, er ist ein Tier, aber mit Bewußtsein«, er bedenkt also nicht, daß in einem Wesen, das zum Bewußtsein erwacht, eine qualitative Veränderung des ganzen Wesens vor sich geht. Übrigens soll mit dem Gesagten keineswegs das Wesen der Tiere herabgesetzt werden. Hier ist der Ort nicht, tiefer einzugehen. Die Vernunft, der Wille, das Herz. Zu einem vollkommenen Menschen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens. Die Kraft des Denkens ist das Licht der Erkenntnis, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen, und der Zweck seines Daseins. Der Mensch ist, um zu erkennen, um zu lieben, um zu wollen. Aber was ist der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe. Des Willens? die Willensfreiheit. Wir erkennen, um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes, liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen, göttlich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille. Vernunft (Einbildungskraft, Phantasie, Vorstellung, Meinung), Wille, Liebe oder Herz sind keine Kräfte, welche der Mensch hat – denn er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie – sie sind, als die sein Wesen, welches er weder hat, noch macht, begründenden Elemente, die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte – göttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann. Toute opinion est assez forte pour se faire exposer au prix de la vie. Montaigne.

Wie könnte der gefühlvolle Mensch dem Gefühl, der Liebende der Liebe, der Vernünftige der Vernunft widerstehen? Wer hat nicht die zermalmende Macht der Töne erfahren? Aber was ist die Macht der Töne als die Macht der Gefühle? Die Musik ist die Sprache des Gefühls – der Ton das laute Gefühl, das Gefühl, das sich mitteilt. Wer hätte nicht die Macht der Liebe erfahren oder wenigstens von ihr gehört? Wer ist stärker? die Liebe oder der individuelle Mensch? Hat der Mensch die Liebe, oder hat nicht vielmehr die Liebe den Menschen? Wenn die Liebe den Menschen bewegt, selbst mit Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, ist diese den Tod überwindende Kraft seine eigne individuelle Kraft oder nicht vielmehr die Kraft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich stille, geräuschlose Macht des Denkens erfahren? Wenn du in tiefes Nachdenken versinkest, dich und was um dich vergessend, beherrschest du die Vernunft oder wirst du nicht von ihr beherrscht und verschlungen? Ist die wissenschaftliche Begeisterung nicht der schönste Triumph, den die Vernunft über dich feiert? Ist die Macht des Wissenstriebs nicht eine schlechterdings unwiderstehliche, alles überwindende Macht? Und wenn du eine Leidenschaft unterdrückst, eine Gewohnheit ablegst, kurz einen Sieg über dich selbst erringst, ist diese siegreiche Kraft deine eigne persönliche Kraft, für sich selbst gedacht, oder nicht vielmehr die Willensenergie, die Macht der Sittlichkeit, welche sich gewaltsam deiner bemeistert und dich mit Indignation gegen dich selbst und deine individuellen Schwachheiten erfüllt? Ob diese Unterscheidung zwischen dem Individuum – ein, wie freilich alle abstrakten Wörter, höchst unbestimmtes, zweideutiges, irreführendes Wort – und der Liebe, der Vernunft, dem Willen eine in der Natur begründete ist oder nicht ist, das ist für das Thema dieser Schrift ganz gleichgültig. Die Religion zieht die Kräfte, Eigenschaften, Wesensbestimmungen des Menschen vom Menschen ab und vergöttert sie als selbständige Wesen – gleichgültig ob sie nun, wie im Polytheismus, jede einzeln für sich zu einem Wesen macht, oder, wie im Monotheismus, alle in ein Wesen zusammenfaßt – also muß auch in der Erklärung und Zurückführung dieser göttlichen Wesen auf den Menschen dieser Unterschied gemacht werden. Übrigens ist er nicht nur durch den Gegenstand geboten, er ist auch sprachlich und was eins ist, logisch begründet, denn der Mensch unterscheidet sich von seinem Geiste, seinem Kopfe, seinem Herzen, als wäre er etwas ohne sie.

Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. Große, exemplarische Menschen – solche Menschen, die uns das Wesen des Menschen offenbaren, bestätigten diesen Satz durch ihr Leben. Sie hatten nur eine herrschende Grundleidenschaft: die Verwirklichung des Zwecks, welcher der wesentliche Gegenstand ihrer Tätigkeit war. Aber der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts andres, als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts. Ist derselbe ein mehreren der Gattung nach gleichen, der Art nach aber unterschiedenen Individuen gemeinschaftlicher Gegenstand, so ist er wenigstens so, wie er diesen Individuen je nach ihrer Verschiedenheit Objekt ist, ihr eignes aber gegenständliches Wesen.

So ist die Sonne das gemeinschaftliche Objekt der Planeten, aber so, wie sie dem Merkur, der Venus, dem Saturn, dem Uranus, so ist sie nicht der Erde Gegenstand. Jeder Planet hat seine eigne Sonne. Die Sonne, die und wie sie den Uranus erleuchtet und erwärmt, hat kein physisches (nur ein astronomisches, wissenschaftliches) Dasein für die Erde; und die Sonne erscheint nicht nur anders, sie ist auch wirklich auf dem Uranus eine andere Sonne als auf der Erde. Das Verhalten der Erde zur Sonne ist daher zugleich ein Verhalten der Erde zu sich selbst oder zu ihrem eignen Wesen, denn das Maß der Größe und der Stärke des Lichts, in welchem die Sonne der Erde Gegenstand, ist das Maß der Entfernung, welches die eigentümliche Natur der Erde begründet. Jeder Planet hat daher in seiner Sonne den Spiegel seines eignen Wesens.

An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen. Aus dem Gegenstande erkennst du den Menschen; an ihm erscheint dir sein Wesen: der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahres, objektives Ich. Und dies gilt keineswegs nur von den geistigen, sondern selbst auch den sinnlichen Gegenständen. Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wiefern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschlichen Wesens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die Sterne rufen dem Menschen das Γνωθι σαυτον, Erkenne dich selbst, zu. Daß er sie sieht und sie so sieht, wie er sie sieht, das ist ein Zeugnis seines eignen Wesens. Das Tier wird nur ergriffen von dem zum Leben notwendigen Lichtstrahl, der Mensch dagegen auch noch von dem gleichgültigen Strahl des entferntesten Sternes. Nur der Mensch hat reine, intellektuelle, interesselose Freuden und Affekte – nur der Mensch feiert theoretische Augenfeste. Das Auge, das in den Sternenhimmel schaut, jenes nutz- und schadenlose Licht erblickt, welches nichts mit der Erde und ihren Bedürfnissen gemein hat, erblickt in diesem Lichte sein eignes Wesen, seinen eignen Ursprung. Das Auge ist himmlischer Natur. Darum erhebt sich der Mensch über die Erde nur mit dem Auge; darum beginnt die Theorie mit dem Blicke nach dem Himmel. Die ersten Philosophen waren Astronomen. Der Himmel erinnert den Menschen an seine Bestimmung, daran, daß er nicht bloß zum Handeln, sondern auch zur Beschauung bestimmt ist.

Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist daher die Macht seines eignen Wesens. So ist die Macht des Gegenstands des Gefühls die Macht des Gefühls, die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht der Vernunft selbst, die Macht des Gegenstands des Willens die Macht des Willens. Den Menschen, dessen Wesen der Ton bestimmt, beherrscht das Gefühl, wenigstens das Gefühl, welches im Tone sein entsprechendes Element findet. Nicht aber der Ton für sich selbst, nur der inhaltsvolle, der sinn- und gefühlvolle Ton hat Macht über das Gefühl. Das Gefühl wird nur durch das Gefühlvolle, d. h. durch sich selbst, sein eignes Wesen bestimmt. So auch der Wille, so auch die Vernunft. Was für eines Gegenstandes wir uns daher auch nur immer bewußt werden: wir werden stets zugleich unsres eignen Wesens uns bewußt; wir können nichts anderes betätigen, ohne uns selbst zu betätigen. Und weil Wollen, Fühlen, Denken Vollkommenheiten sind, Wesenheiten, Realitäten, so ist es unmöglich, daß wir mit Vernunft die Vernunft, mit Gefühl das Gefühl, mit Willen den Willen als eine beschränkte, endliche d. i. nichtige Kraft empfinden oder wahrnehmen. Endlichkeit nämlich und Nichtigkeit sind eins; Endlichkeit ist nur ein Euphemismus für Nichtigkeit. Endlichkeit ist der metaphysische, der theoretische, Nichtigkeit der pathologische, praktische Ausdruck. Was dem Verstande endlich, ist nichtig dem Herzen. Es ist aber unmöglich, daß wir uns des Willens, des Gefühls, der Vernunft als endlicher Kräfte bewußt werden, weil jede Vollkommenheit, jede Kraft und Wesenheit die unmittelbare Bewahrheitung und Bekräftigung ihrer selbst ist. Man kann nicht lieben, nicht wollen, nicht denken, ohne diese Tätigkeiten als Vollkommenheiten zu empfinden, nicht wahrnehmen, daß man ein liebendes, wollendes, denkendes Wesen ist, ohne darüber eine unendliche Freude zu empfinden. Bewußtsein ist das Sich-selbst-Gegenstand-Sein eines Wesens; daher nichts Besonderes, nichts von dem Wesen, das sich seiner bewußt ist, Unterschiednes. Wie könnte es sonst sich seiner bewußt sein? Unmöglich ist es darum, einer Vollkommenheit als einer Unvollkommenheit sich bewußt zu werden, unmöglich, das Gefühl als beschränkt zu empfinden, unmöglich, das Denken als beschränkt zu denken.

Bewußtsein ist Selbstbetätigung, Selbstbejahung, Selbstliebe, Freude an der eignen Vollkommenheit. Bewußtsein ist das charakteristische Kennzeichen eines vollkommenen Wesens; Bewußtsein ist nur in einem gesättigten, vollendeten Wesen. Selbst die menschliche Eitelkeit bestätigt diese Wahrheit. Der Mensch sieht in den Spiegel; er hat einen Wohlgefallen an seiner Gestalt. Dieses Wohlgefallen ist eine notwendige, unwillkürliche Folge von der Vollendung, von der Schönheit seiner Gestalt. Die schöne Gestalt ist in sich gesättigt, sie hat notwendig eine Freude an sich, sie spiegelt sich notwendig in sich selbst. Eitelkeit ist es nur, wenn der Mensch seine eigne individuelle Gestalt beliebäugelt, aber nicht, wenn er die menschliche Gestalt bewundert. Er soll sie bewundern; er kann sich keine schönere, keine erhabenere Gestalt als die menschliche vorstellen. »Der Mensch ist das Schönste für den Menschen« (Cic. de nat. D. lib. I). Und dies ist kein Zeichen von Beschränktheit, denn er findet auch andere Wesen außer sich schön; er erfreut sich auch an der Schönheit der Tiergestalten, an der Schönheit der Pflanzenformen, an der Schönheit der Natur überhaupt. Aber nur die absolute, die vollkommene Gestalt kann sich neidlos an den Gestalten anderer Wesen erfreuen. Allerdings liebt jedes Wesen sich, sein Sein und soll es lieben. Sein ist ein Gut. »Alles«, sagt Bacon, »was des Seins würdig, ist auch würdig des Wissens.« Alles, was ist, hat Wert, ist ein Wesen von Distinktion; darum bejaht, behauptet es sich. Aber die höchste Form der Selbstbejahung, die Form, welche selbst eine Auszeichnung ist, eine Vollkommenheit, ein Glück, ein Gut, ist das Bewußtsein.

Jede Beschränkung der Vernunft oder überhaupt des Wesens des Menschen beruht auf einer Täuschung, einem Irrtum. Wohl kann und soll selbst das menschliche Individuum – hierin besteht sein Unterschied von dem tierischen – sich als beschränkt fühlen und erkennen; aber es kann sich seiner Schranken, seiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls, oder des Gewissens, oder des denkenden Bewußtseins. Macht es gleichwohl seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dies auf der Täuschung, daß es sich für eins mit der Gattung hält – eine Täuschung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbstsucht des Individuums aufs innigste zusammenhängt. Eine Schranke nämlich, die ich bloß als meine Schranke weiß, demütigt, beschämt und beunruhigt mich. Um mich daher von diesem Schamgefühl, von dieser Unruhe zu befreien, mache ich die Schranken meiner Individualität zu Schranken des menschlichen Wesens selbst. Was mir unbegreiflich, ist auch den andern unbegreiflich; was soll ich mich weiter kümmern? es ist ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an meinem Verstande; es liegt am Verstande der Gattung selbst. Aber es ist Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn, das, was die Natur des Menschen ausmacht, das Wesen der Gattung, welches das absolute Wesen des Individuums ist, als endlich, als beschränkt zu bestimmen. Jedes Wesen ist sich selbst genug. Kein Wesen kann sich, d. h. seine Wesenheit verneinen; kein Wesen ist sich selbst ein beschränktes. Jedes Wesen ist vielmehr in sich und für sich unendlich, hat seinen Gott, sein höchstes Wesen in sich selbst. Jede Schranke eines Wesens existiert nur für ein andres Wesen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren ist außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Tieren; aber gleichwohl ist für sie dieses kurze Leben so lang, als für andere ein Leben von Jahren. Das Blatt, auf dem die Raupe lebt, ist für sie eine Welt, ein unendlicher Raum.

Was ein Wesen zu dem macht, was es ist, das ist eben sein Talent, sein Vermögen, sein Reichtum, sein Schmuck. Wie wäre es möglich, sein Sein als Nichtsein, seinen Reichtum als Mangel, sein Talent als Unvermögen wahrzunehmen? Hätten die Pflanzen Augen, Geschmack und Urteilskraft – jede Pflanze würde ihre Blume für die schönste erklären; denn ihr Verstand, ihr Geschmack würde nicht weiter reichen, als ihre produzierende Wesenskraft. Was die produzierende Wesenskraft als das Höchste hervorbrächte, das müßte auch ihr Geschmack, ihre Urteilskraft als das Höchste bekräftigen, anerkennen. Was das Wesen bejaht, kann der Verstand, der Geschmack, das Urteil nicht verneinen; sonst wäre der Verstand, die Urteilskraft nicht mehr der Verstand, die Urteilskraft dieses bestimmten, sondern irgendeines andern Wesens. Das Maß des Wesens ist auch das Maß des Verstandes. Ist das Wesen beschränkt, so ist auch das Gefühl, auch der Verstand beschränkt. Aber einem beschränkten Wesen ist sein beschränkter Verstand keine Schranke; es ist vielmehr vollkommen glücklich und befriedigt mit demselben; es empfindet ihn, es lobt und preist ihn als eine herrliche, göttliche Kraft; und der beschränkte Verstand preist seinerseits wieder das beschränkte Wesen, dessen Verstand er ist. Beide passen aufs genauste zusammen; wie sollten sie mit einander zerfallen können? Der Verstand ist der Gesichtskreis eines Wesens. So weit du siehst, so weit erstreckt sich dein Wesen, und umgekehrt. Das Auge des Tieres reicht nicht weiter, als sein Bedürfnis, und sein Wesen nicht weiter, als sein Bedürfnis. Und so weit dein Wesen, so weit reicht dein unbeschränktes Selbstgefühl, so weit bist du Gott. Der Zwiespalt von Verstand und Wesen, von Denkkraft und Produktionskraft im menschlichen Bewußtsein ist einerseits ein nur individueller, ohne allgemeine Bedeutung, andrerseits nur ein scheinbarer. Wer seine schlechten Gedichte als schlecht erkennt, ist, weil in seiner Erkenntnis, auch in seinem Wesen nicht so beschränkt, wie der, welcher seine schlechten Gedichte in seinem Verstande gutheißt.

Denkst du folglich das Unendliche, so denkst und bestätigst du die Unendlichkeit des Denkvermögens; fühlst du das Unendliche, so fühlst und bestätigst du die Unendlichkeit des Gefühlsvermögens. Der Gegenstand der Vernunft ist die sich gegenständliche Vernunft, der Gegenstand des Gefühls das sich gegenständliche Gefühl. Hast du keinen Sinn, kein Gefühl für Musik, so vernimmst du auch in der schönsten Musik nicht mehr, als in dem Winde, der vor deinen Ohren vorbeisaust, als in dem Bache, der vor deinen Füßen vorbeirauscht. Was ergreift dich also, wenn dich der Ton ergreift? Was vernimmst du in ihm? was anders, als die Stimme deines eignen Herzens? Darum spricht das Gefühl nur zum Gefühl, darum ist das Gefühl nur dem Gefühl, d. h. sich selbst verständlich – darum, weil der Gegenstand des Gefühls selbst nur Gefühl ist. Die Musik ist ein Monolog des Gefühls. Aber auch der Dialog der Philosophie ist in Wahrheit nur ein Monolog der Vernunft: der Gedanke spricht nur zum Gedanken. Der Farbenglanz der Kristalle entzückt die Sinne; die Vernunft interessieren nur die Gesetze der Kristallonomie. Der Vernunft ist nur das Vernünftige Gegenstand. »Der Verstand ist allein für Verstand und was daraus fließt empfindlich.« Reimarus (Wahrh. der natürl. Religion IV. Abt. § 8). Alles daher, was im Sinne der übermenschlichen Spekulation und Religion nur die Bedeutung des Abgeleiteten, des Subjektiven oder Menschlichen, des Mittels, des Organs hat, das hat im Sinne der Wahrheit die Bedeutung des Ursprünglichen, des Göttlichen, des Wesens, des Gegenstandes selbst. Ist z. B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts andres aus, als das Wesen des Gefühls. Der wahre, aber verborgene Sinn der Rede: »das Gefühl ist das Organ des Göttlichen«, lautet: das Gefühl ist das Nobelste, Trefflichste, d. h. Göttliche im Menschen. Wie könntest du das Göttliche vernehmen durch das Gefühl, wenn das Gefühl nicht selbst göttlicher Natur wäre? Das Göttliche wird ja nur durch das Göttliche, »Gott nur durch sich selbst erkannt«. Das göttliche Wesen, welches das Gefühl vernimmt, ist in der Tat nichts als das von sich selbst entzückte und bezauberte Wesen des Gefühls – das wonnetrunkene, in sich selige Gefühl.

Es erhellt dies schon daraus, daß da, wo das Gefühl zum Organ des Unendlichen, zum subjektiven Wesen der Religion gemacht wird, der Gegen stand derselben seinen objektiven Wert verliert. So ist, seitdem man das Gefühl zur Hauptsache der Religion gemacht, der sonst so heilige Glaubensinhalt des Christentums gleichgültig geworden. Wird auch auf dem Standpunkt des Gefühls dem Gegenstand noch Wert eingeräumt, so hat er doch diesen nur um des Gefühls willen, welches sich vielleicht nur aus zufälligen Gründen mit ihm verknüpft; würde ein anderer Gegenstand dieselben Gefühle erregen, so wäre er ebenso willkommen. Der Gegenstand des Gefühls wird aber eben nur deswegen gleichgültig, weil, wo einmal das Gefühl als das subjektive Wesen der Religion ausgesprochen wird, es in der Tat auch das objektive Wesen derselben ist, wenn es gleich nicht als solches, wenigstens direkt, ausgesprochen wird. Direkt sage ich, denn indirekt wird dies allerdings dadurch eingestanden, daß das Gefühl als solches für religiös erklärt, also der Unterschied zwischen eigentümlich religiösen und irreligiösen oder wenigstens nicht religiösen Gefühlen aufgehoben wird – eine notwendige Konsequenz von dem Standpunkt, wo nur das Gefühl für das Organ des Göttlichen gilt. Denn warum anders als wegen seines Wesens, seiner Natur machst du das Gefühl zum Organ des unendlichen, des göttlichen Wesens? Ist aber nicht die Natur des Gefühls überhaupt auch die Natur jedes speziellen Gefühls, sein Gegenstand sei nun welcher er wolle? Was macht also dieses Gefühl zum religiösen? der bestimmte Gegenstand? Mitnichten, denn dieser Gegenstand ist selbst nur ein religiöser, wenn er nicht ein Gegenstand des kalten Verstandes oder Gedächtnisses, sondern des Gefühls ist. Was also? die Natur des Gefühls, an der jedes Gefühl, ohne Unterschied des Gegenstandes, teilhat. Das Gefühl ist also heiliggesprochen, lediglich weil es Gefühl ist; der Grund seiner Religiosität ist die Natur des Gefühls, liegt in ihm selbst. Ist aber dadurch nicht das Gefühl als das Absolute, als das Göttliche selbst ausgesprochen? Wenn das Gefühl durch sich selbst gut, religiös, d.h. heilig, göttlich ist, hat das Gefühl seinen Gott nicht in sich selbst?

Wenn du aber dennoch ein Objekt des Gefühls festsetzen, zugleich aber dein Gefühl wahrhaft auslegen willst, ohne mit deiner Reflexion etwas Fremdartiges hineinzulegen, was bleibt dir übrig, als zu unterscheiden zwischen deinen individuellen Gefühlen und zwischen dem allgemeinen Wesen, der Natur des Gefühls, als abzusondern das Wesen des Gefühls von den störenden, verunreinigenden Einflüssen, an welche in dir, dem bedingten Individuum, das Gefühl gebunden ist? Was du daher allein vergegenständlichen, als das Unendliche aussprechen, als dessen Wesen bestimmen kannst, das ist nur die Natur des Gefühls. Du hast hier keine andere Bestimmung für Gott als diese: Gott ist das reine, das unbeschränkte, das freie Gefühl. Jeder andre Gott, den du hier setzest, ist ein von außen deinem Gefühl aufgedrungener Gott. Das Gefühl ist atheistisch im Sinne des orthodoxen Glaubens, als welcher die Religion an einen äußern Gegenstand anknüpft; es leugnet einen gegenständlichen Gott – es ist sich selbst Gott. Die Verneinung des Gefühls nur ist auf dem Standpunkt des Gefühls die Verneinung Gottes. Du bist nur zu feige oder zu beschränkt, um mit Worten einzugestehen, was dein Gefühl im Stillen bejaht. Gebunden an äußere Rücksichten, unfähig, die Seelengröße des Gefühls zu begreifen, erschrickst du vor dem religiösen Atheismus deines Herzens und zerstörst in diesem Schrecken die Einheit deines Gefühls mit sich selbst, indem du dir ein vom Gefühl unterschiednes, gegenständliches Wesen vorspiegelst, und dich so notwendig wieder zurückwirfst in die alten Fragen und Zweifel: ob ein Gott ist oder nicht ist? – Fragen und Zweifel, die doch da verschwunden, ja unmöglich sind, wo das Gefühl als das Wesen der Religion bestimmt wird. Das Gefühl ist deine innigste und doch zugleich eine von dir unterschiedene, unabhängige Macht, es ist in dir über dir: es ist dein eigenstes Wesen, das dich aber als und wie ein anderes Wesen ergreift, kurz, dein Gott – wie willst du also von diesem Wesen in dir noch ein anderes gegenständliches Wesen unterscheiden? wie über dein Gefühl hinaus?

Das Gefühl wurde aber hier nur als Beispiel hervorgehoben. Dieselbe Bewandtnis hat es mit jeder andern Kraft, Fähigkeit, Potenz, Realität, Tätigkeit – der Name ist gleichgültig –, welche man als das wesentliche Organ eines Gegenstandes bestimmt. Was subjektiv oder auf seiten des Menschen die Bedeutung des Wesens, das hat eben damit auch objektiv oder auf seiten des Gegenstands die Bedeutung des Wesens. Der Mensch kann nun einmal nicht über sein wahres Wesen hinaus. Wohl mag er sich vermittelst der Phantasie Individuen anderer, angeblich höherer Art vorstellen, aber von seiner Gattung, seinem Wesen kann er nimmermehr abstrahieren; die Wesensbestimmungen, die er diesen andern Individuen gibt, sind immer aus seinem eignen Wesen geschöpfte Bestimmungen – Bestimmungen, in denen er in Wahrheit nur sich selbst abbildet und vergegenständlicht. Wohl gibt es gewiß noch außer dem Menschen denkende Wesen auf den Himmelskörpern, aber durch die Annahme solcher Wesen verändern wir nicht unsern Standpunkt – wir bereichern ihn nur quantitativ, nicht qualitativ; denn so gut dort dieselben Gesetze der Bewegung, so gut gelten auch dort dieselben Gesetze des Empfindens und Denkens, wie hier. Wir beleben auch in der Tat die Sterne keineswegs dazu, daß dort andere Wesen als wir, sondern nur dazu, daß mehr solche oder ähnliche Wesen wie wir sind. So sagt z. B. Christ. Huygens in seinem Cosmotheoros lib. I: »Es ist wahrscheinlich, daß sich das Vergnügen der Musik und Mathematik nicht auf uns Menschen allein beschränkt, sondern auf noch mehrere Wesen sich erstreckt.« Das heißt eben: die Qualität ist gleich; derselbe Sinn für Musik, für Wissenschaft; nur die Zahl der Genießenden soll unbeschränkt sein.


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