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Als sie in Paris ankamen, war Nicole zu müde, um, wie beabsichtigt, mit ihnen zur Illumination der Kunstgewerbeausstellung zu gehen. Sie ließen sie im Hotel Roi George zurück, und als sie zwischen den sich überschneidenden Flächen verschwand, die durch die hellen Glastüren der Halle gebildet wurden, wich der Druck von Rosemarie. Nicole stellte eine Macht dar – nicht unbedingt wohlwollend oder durchsichtig wie ihre Mutter –, eine unberechenbare Macht. Rosemarie fürchtete sich irgendwie vor ihr.
Um elf Uhr saß sie mit Dick und dem Ehepaar North in einem neueröffneten Hausboot-Café auf der Seine. Der Fluß spiegelte die Lichter von den Brücken wider und schaukelte viele kalte Monde auf seiner Oberfläche. Als Rosemarie und ihre Mutter in Paris gelebt hatten, waren sie manchmal am Sonntag mit dem kleinen Dampfer nach Suresnes gefahren und hatten Zukunftspläne geschmiedet. Sie hatten nur wenig Geld, aber Frau Speers setzte soviel Vertrauen in Rosemaries Schönheit und hatte ihr soviel Ehrgeiz eingeimpft, daß sie der festen Meinung war, das Geld vorteilhaft angelegt zu haben; Rosemarie ihrerseits sollte sie dafür entschädigen, wenn sie es geschafft haben würde.
Seit Abe North in Paris war, lag es wie ein weinseliger Rausch über ihm; das Weiße seiner Augen war von Sonne und Wein gerötet. Rosemarie merkte zum erstenmal, daß er ständig in Lokale ging, um etwas zu trinken, und sie fragte sich, wie sich Mary North wohl dazu stellte. Mary war still, abgesehen von ihrem häufigen Lachen so still, daß Rosemarie wenig von ihr wußte. Ihr gefiel ihr glattes, dunkles Haar, das nach hinten gebürstet war, wo es in natürlichen Wellen herabfiel – von Zeit zu Zeit lockerte sich eine Strähne über ihrer Schläfe und geriet ihr fast ins Auge, dann warf sie den Kopf zurück, so daß das Haar wieder glatt und richtig lag.
»Wir wollen heute früh nach Hause gehen, Abe, wenn wir ausgetrunken haben.« Mary sprach leichthin, aber in ihrer Stimme lag ein Unterton von Unruhe. »Du willst doch nicht hier auf dem Boot übernachten?«
»Es ist schon ziemlich spät«, sagte Dick. »Wir sollten lieber alle aufbrechen.«
Die vornehme Würde in Abes Gesicht machte einem gewissen Eigensinn Platz, und er bemerkte mit Entschiedenheit:
»O nein.« Er hielt ernsthaft inne. »O nein, noch nicht. Wir wollen erst noch eine Flasche Sekt trinken.«
»Für mich nicht mehr«, sagte Dick.
»Ich denke an Rosemarie. Sie ist von Natur Alkoholikerin, hält eine Flasche Gin im Badezimmer versteckt und lauter solche Sachen – ich weiß es von ihrer Mutter.«
Er goß, was noch in der ersten Flasche war, in Rosemaries Glas. Sie hatte an ihrem ersten Tag in Paris soviel Limonade getrunken, daß ihr ganz übel davon geworden war. Seitdem hatte sie nichts zu sich genommen, doch nun hob sie ihr Sektglas und nahm einen Schluck.
»Was soll denn das heißen?« rief Dick. »Du hast mir doch gesagt, du trinkst keinen Alkohol.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nie tun werde.«
»Und was wird deine Mutter sagen?«
»Ich trinke nur dieses eine Glas.« Sie fühlte, daß es nötig war. Dick trank, wenn auch nicht übermäßig viel, aber er trank, und vielleicht würde sie ihm dadurch näherkommen, würde besser gerüstet sein für das, was sie zu tun hatte. Sie trank hastig, verschluckte sich und sagte: »Im übrigen war gestern mein Geburtstag – ich bin achtzehn geworden.«
»Warum hast du nichts davon gesagt?« riefen sie empört.
»Ich wußte, ihr würdet große Geschichten und eine Menge Umstände machen.« Sie trank den Sekt aus. »Dies hier ist die Feier.«
»Das kommt nicht in Frage«, versicherte ihr Dick. »Das Dinner morgen abend wird deine Geburtstagsfeier, vergiß das nicht. Achtzehn Jahre – ein ungeheuer wichtiges Alter.«
»Ich glaubte früher immer, vor achtzehn sei nichts bedeutungsvoll«, sagte Mary.
»Richtig«, stimmte Abe zu. »Und hinterher ist es dieselbe Sache.«
»Abe meint, nichts sei von Wichtigkeit, bevor er nicht auf dem Dampfer ist«, sagte Mary. »Diesmal ist wirklich alles genau festgelegt, wenn er in New York ankommt.« Sie sprach, als sei sie es müde, Dinge zu sagen, die keinen Sinn mehr für sie hatten, als sei der Weg, den sie und ihr Mann verfolgten oder auch nicht verfolgten, in Wirklichkeit nur noch ein frommer Wunsch.
»Er wird in Amerika komponieren, und ich werde in München Gesang studieren, und wenn wir wieder zusammenkommen, wird es nichts geben, was wir nicht können.«
»Das ist herrlich«, sagte Rosemarie, die die Wirkung des Champagners spürte.
»Unterdessen noch einen Schuß Sekt für Rosemarie. Dann wird sie besser imstande sein, die Tätigkeit ihrer Lymphdrüsen zu rationalisieren. Die fangen erst mit achtzehn Jahren an zu arbeiten.«
Dick lachte nachsichtig über Abe; er liebte ihn und hatte, was ihn betraf, längst jede Hoffnung aufgegeben. »Das ist vom medizinischen Standpunkt aus inkorrekt, und jetzt gehen wir.« Abe fühlte das leicht Gönnerhafte heraus und meinte beiläufig:
»Irgend etwas sagt mir, daß ein neues Musikstück von mir auf dem Broadway laufen wird, lange bevor du mit deiner wissenschaftlichen Abhandlung fertig bist.«
»Hoffentlich«, sagte Dick ruhig. »Hoffentlich. Vielleicht werde ich sogar das, was du meine ›wissenschaftliche Abhandlung‹ nennst, aufgeben.«
»O Dick!« Marys Stimme klang erschrocken und empört. Rosemarie hatte Dicks Gesicht bisher nie so völlig ausdruckslos gesehen; sie spürte, daß diese Ankündigung einer augenblicklichen Stimmung entsprang, und hätte am liebsten wie Mary »O Dick!« gerufen.
Doch unvermittelt lachte Dick wieder und fügte seiner Bemerkung hinzu: »– aufgeben, um eine neue zu beginnen«, und damit erhob er sich vom Tisch.
»Dick, setz dich. Ich möchte wissen –«
»Ich sage es dir ein andermal. Gute Nacht, Abe. Gute Nacht, Mary.«
»Gute Nacht, lieber Dick.« Mary lächelte, als mache es sie vollkommen glücklich, weiterhin dort auf dem fast verlassenen Boot zu sitzen. Sie war eine tapfere, hoffnungsfreudige Frau, die ihrem Mann überallhin folgte und sich einmal in diese und einmal in jene Sorte Mensch verwandelte, ohne imstande zu sein, ihn auch nur einen Fußbreit von seinem Wege abzubringen, und mitunter kam es ihr voller Enttäuschung zum Bewußtsein, wie tief in ihm das von ihr ängstlich gehütete Geheimnis ihrer Führerschaft verborgen lag. Und doch haftete ihrem Wesen etwas Glückbringendes an, wie einem Talisman ...