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»Was wirst du aufgeben?« fragte Rosemarie und sah Dick im Taxi ernst an.
»Nichts von Bedeutung.«
»Bist du ein Wissenschaftler?«
»Ich bin Mediziner.«
»Oh.« Sie lächelte beglückt. »Mein Vater war auch Arzt. Aber wie kommt es, daß du nicht –« Sie hielt inne.
»Daran ist nichts Geheimnisvolles. Es ist nicht etwa so, daß ich mir auf dem Gipfel meiner Laufbahn etwas hätte zuschulden kommen lassen und mich an der Riviera verborgen hielte. Ich praktiziere einfach nicht. Man kann's nicht wissen – wahrscheinlich werde ich's eines Tages wieder tun.«
Rosemarie hob ihr Gesicht ruhig zu ihm auf, damit er sie küssen sollte. Er blickte sie einen Augenblick an, als verstünde er nicht. Dann legte er den Arm um sie, rieb seine Wange gegen die weiche Haut ihrer Wange und blickte eine ganze Weile auf sie herunter.
»Was für ein reizendes Kind«, sagte er ernst.
Sie lächelte zu ihm empor. Ihre Finger spielten unbewußt an seinen Rockaufschlägen. »Ich bin in dich und Nicole verliebt. Wirklich, das ist mein Geheimnis. Ich spreche schon mit niemand über euch, weil ich nicht will, daß andere merken, wie wunderbar ihr seid. Ganz ehrlich – ich liebe dich und Nicole – wirklich.«
Wie oft hatte er das schon gehört – sogar der Wortlaut war derselbe.
Plötzlich näherte sie sich ihm; ihre Jugend fiel von ihr ab, als sie in sein Blickfeld geriet, und er küßte sie atemlos, als besäße sie überhaupt kein Alter. Dann lehnte sie sich in seinem Arm zurück und seufzte:
»Ich habe mich entschlossen, auf dich zu verzichten.«
Dick erschrak – hatte er irgend etwas gesagt, woraus sich ein Besitzrecht an ihm ableiten ließ?
»Das ist aber sehr wenig nett«, gelang es ihm, leichthin zu sagen. »Gerade wo ich anfange, mich zu interessieren.«
»Ich habe dich so sehr geliebt.« Sie sprach, als kenne sie ihn schon seit Jahren. Sie weinte jetzt ein wenig. »Ich habe dich so–o–o geliebt.«
Er hätte eigentlich darüber lachen sollen, hörte sich aber selbst sagen: »Du bist nicht nur schön, du hast auch irgendwie Format. Alles, was du tust, ob du nun vorgibst, verliebt oder schüchtern zu sein – macht Eindruck.«
In dem dunklen Taxi duftete es stark nach dem Parfüm, das Rosemarie mit Nicole gekauft hatte; sie kam wieder näher heran und umschlang ihn. Er küßte sie, ohne daß es ihm Spaß machte. Zwar wußte er, daß da Leidenschaft war, aber in ihren Augen und in ihrem Mund lag nicht ein Schatten davon, nur in ihrem Atem war eine schwache Andeutung von Champagner. Sie schmiegte sich verzweifelt an ihn, und wiederum küßte er sie und fühlte sich abgekühlt durch die Unschuld ihres Kusses und durch ihren Blick, der, während ihre Lippen sich berührten, hinter ihm in der Dunkelheit der Nacht, in der Dunkelheit der Welt haftete. Sie wußte noch nicht, daß Glück eine Sache des Herzens ist; im selben Augenblick, da sie sich dessen bewußt geworden und ganz in der Leidenschaft der Welt aufgegangen wäre, hätte er sie ohne Frage oder Bedauern nehmen können.
Ihr Zimmer im Hotel lag schräg dem der Divers gegenüber und näher am Lift. Als sie an ihrer Tür waren, sagte sie plötzlich:
»Ich weiß, daß du mich nicht liebst und erwarte es nicht. Aber du meintest vorhin, ich hätte euch etwas von meinem Geburtstag sagen sollen. Ich habe es getan. Und jetzt wünsche ich mir als Geburtstagsgeschenk, daß du für einen Augenblick in mein Zimmer kommst, damit ich dir etwas sagen kann. Nur einen Augenblick.«
Sie gingen hinein; er schloß die Tür, und Rosemarie stand dicht bei ihm, doch faßte sie ihn nicht an. Die Nacht hatte ihrem Gesicht die Farbe genommen; sie war jetzt ganz blaß; sie war wie eine weiße Nelke, die nach einem Tanz liegengeblieben ist.
»Wenn du lächelst« – er hatte, vielleicht um Nicoles lautloser Nähe willen, seine väterliche Haltung zurückgewonnen –, »meine ich immer, ich müßte eine Lücke entdecken, wo dir die Milchzähne ausgefallen sind.«
Aber es war zu spät. Sie preßte sich an ihn und flüsterte in einer letzten verzweifelten Hoffnung:
»Nimm mich.«
»Wohin soll ich dich nehmen?«
Die Verblüffung ließ ihn eiskalt werden.
»Tu es«, flüsterte sie. »Oh, bitte, tu es, was auch die andern tun. Es ist mir gleich, wenn ich es nicht schön finde – das erwarte ich nicht – es war mir immer schrecklich, daran zu denken, aber jetzt nicht mehr. Ich möchte, daß du es tust.«
Sie wunderte sich über sich selbst, nie hätte sie für möglich gehalten, daß sie so sprechen könnte. Sie rief sich Dinge ins Gedächtnis, die sie während eines zehnjährigen Klosterdaseins gelesen, gehört, geträumt hatte. Und unversehens wurde es ihr bewußt, daß dies eine ihrer größten Rollen war, und sie stürzte sich mit um so größerer Leidenschaftlichkeit in sie.
»Das hätte nicht sein dürfen«, sagte Dick behutsam. »Ist es nicht bloß der Sekt? Wir wollen es mehr oder weniger vergessen.«
»O nein, gerade jetzt, jetzt sollst du es tun, mich nehmen. Ich gehöre dir ganz und gar, und ich will dir gehören.«
»Erstens: Hast du bedacht, wie sehr es Nicole kränken würde?«
»Sie wird es nicht erfahren, dies wird nichts mit ihr zu tun haben.«
Gütig fuhr er fort: »Dann ist da die Tatsache, daß ich Nicole liebe.«
»Aber man kann doch mehr als einen Menschen lieben, nicht wahr? So wie ich Mutter liebe und dich noch mehr. Denn ich liebe dich noch mehr.«
»Und drittens liebst du mich nicht, könntest es aber später tun, und das würde gleich zu Anfang eine schreckliche Verwirrung in dein Leben bringen.«
»Nein, ich verspreche dir, dich niemals wiederzusehen. Ich werde Mutter veranlassen, sofort mit mir nach Amerika zu fahren.«
Das aber wollte er nicht. Er entsann sich noch zu lebhaft der Jugend und Frische ihrer Lippen. Darum versuchte er es mit einer anderen Tonart.
»Das ist bloß so eine Stimmung bei dir.«
»Ach, bitte, ich mache mir nicht einmal etwas daraus, wenn ich ein Kind bekomme; dann könnte ich nach Mexiko gehen; ein Mädchen aus dem Studio hat es auch getan. Dies ist so ganz anders als alles, was ich mir vorgestellt habe. Bisher fand ich es immer scheußlich, wenn ich richtig geküßt wurde.« Er sah, daß sie immer noch unter dem Eindruck stand, es müsse geschehen. »Manche von ihnen hatten große, breite Zähne, aber du bist ganz anders und wundervoll. Bitte, tu es!«
»Ich glaube, du denkst, die Menschen küssen alle verschieden, und nun willst du, daß ich dich küsse.«
»Mach dich nicht über mich lustig, ich bin kein Kind. Ich weiß, daß du mich nicht liebst.« Plötzlich war sie zerknirscht, und ihre Erregung ließ nach. »Soviel hatte ich gar nicht erwartet. Ich weiß, daß ich in deinen Augen gar nichts bin.«
»Unsinn. Aber du scheinst mir sehr jung zu sein.« In Gedanken fügte er hinzu: ›Es gibt so vieles, was man dich lehren könnte.‹
Rosemarie wartete und atmete heftig, bis Dick sagte: »Und schließlich und endlich liegen die Dinge nicht so, daß das, was du willst, geschehen könnte.«
Bestürzt und enttäuscht ließ sie den Kopf hängen, und Dick sagte mechanisch: »Wir müssen einfach ...« Er hielt inne, folgte ihr zum Bett und setzte sich neben sie, während sie weinte. Mit einemmal fühlte er sich verwirrt, nicht vom moralischen Standpunkt aus, denn die völlige Unmöglichkeit war von allen Seiten beleuchtet worden, nein, einfach verwirrt, und einen Augenblick lang verließ ihn seine gewohnte Sicherheit, die Spannkraft seines inneren Gleichgewichts.
»Ich wußte, du würdest es nicht tun«, schluchzte sie. »Es war eben eine letzte, verzweifelte Hoffnung.«
Er erhob sich.
»Gute Nacht, Kind. Das ist eine verdammt peinliche Geschichte. Wir wollen sie aus dem Bild herauslassen.« Er gab ihr zwei Pulver zum Schlafen. »Du wirst von vielen geliebt werden, und vielleicht wird es schön für dich sein, deiner ersten Liebe unberührt gegenüberzutreten, auch in seelischer Beziehung. Eine altmodische Ansicht, nicht wahr?« Sie blickte zu ihm auf, als er einen Schritt auf die Tür zuging; sie sah ihm zu, ohne die leiseste Vorstellung von dem, was in ihm vorging; sie sah, wie er langsam einen zweiten Schritt machte, sich umdrehte und sie wiederum anblickte, und sie hatte eine Sekunde lang das Bedürfnis, ihn zu halten und sich seiner zu bemächtigen, es verlangte sie nach seinem Mund, seinen Ohren, seinem Rockkragen, sie hatte das Verlangen, ihn zu umschließen, ihn ganz in sich aufgehen zu lassen; sie sah, wie seine Hand sich auf die Türklinke legte. Dann erst gab sie es auf und sank aufs Bett zurück. Als sich die Tür geschlossen hatte, stand sie auf und ging zum Spiegel, wo sie, indem sie ein wenig schluckte, anfing ihr Haar zu bürsten. Hundertfünfzigmal strich sie darüber hin, wie gewöhnlich, dann noch einmal hundertfünfzigmal. Sie bürstete es, bis ihr der Arm wehtat, dann nahm sie den anderen Arm und bürstete weiter ...