Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Der Aktschluß.

An diesem Morgen war ganz London in Aufregung. Die Presseleute hatten während der Nacht kein Auge zugemacht. Immer wieder wurden Neuausgaben herausgebracht. Als die Frühstückszeit kam, wußte jedermann von der großen Verschwörung. Der Diebstahl des Geheimdokuments und die Übersetzung desselben in der französischen Zeitung war schon bekannt gewesen. Nun kannte man auch die Diebe. Darunter befand sich eine elegante Dame, die Schwester eines Pairs, die Frau eines verdienten Offiziers, und noch dazu eine stadtbekannte Schönheit, die hochgeborne Frau Tressingham.

Und auch der andere war in der ganzen Stadt bekannt, ein Franzose, Armand de Garnier. Ein romantischer Schimmer umwob ihre Verhaftung. Der Mann war an Bord eines Dampfbootes in Newhaven festgenommen worden. Die Frau hatte man beim Verlassen einer Spielhölle übelster Sorte erwischt.

Aber es gab noch mehr Interessantes. Man las verschleierte Andeutungen, daß auch der Besitzer dieses Amaranthklubs in die Angelegenheit verwickelt war und daß man mit ihm einen König der Verbrecher gefaßt hatte.

Wie überfüllt ein Gerichtssaal auch sein mag, es gibt immer Leute, die sich infolge ihrer Beziehungen noch Einlaß verschaffen können. Unter diesen Begünstigten befanden sich auch Banister King und Lydia Linkinshaw.

»Das ist so gut wie eine Premiere«, bemerkte Fräulein Linkinshaw. »In früheren Zeiten hätte man das Hochverrat genannt, nicht wahr?«

»So ähnlich«, erwiderte King. »Jedenfalls hätten sie früher mehr als die Freiheit verloren.«

Lydia seufzte.

»Es gibt keine Romantik mehr heutzutage. Denke dir, wenn man sie zum Tode verurteilen und ihre Köpfe vor dem Gerichtsgebäude auf Stangen spießen könnte wie früher. Das gäbe einen famosen Aktschluß.«

Lydias blutdürstige Bemerkungen wurden durch den Eintritt des Richters unterbrochen. Gleich darauf ging eine Bewegung durch die Menge. Hilda Tressingham kam in Sicht.

Sie trug einen kostbaren Pelz und hatte es verschmäht, ihr Gesicht hinter einem Schleier zu verstecken. Sie schaute auf die Anwesenden, als hätte sie eine Herde Vieh vor sich.

»Jetzt kommt der Franzose«, flüsterte King. »Ob Garnier den Kopf auch so hoch tragen wird?«

Aber kein Garnier kam. Statt dessen tauchte Barthelemys Patriarchenbart auf. Da war nichts von Stolz zu bemerken. Er sah aus wie ein Häufchen Unglück und wagte es kaum, seiner Mitschuldigen einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Und immer noch kam kein Garnier. Es schien überhaupt kein Angeklagter mehr hereingeführt zu werden, denn der Staatsanwalt begann bereits zu den Geschworenen zu sprechen.

»Was soll das bedeuten?« flüsterte King. »Warum fehlt Garnier, und warum ist Barthelemy hier? Was hat er mit dem Dokument zu tun?«

»Sei still, Banny, und höre zu, was der spitznasige Hans da zu sagen hat«, sagte Lydia.

Der spitznasige Hans hatte nichts zu sagen, was die Anwesenden nicht schon gewußt hätten. Er ging ausführlich auf die Geschichte des Dokumentendiebstahls ein, und kein Mensch hörte ihm zu. Aber aufmerksames Schweigen herrschte, als er seinem Beamten befahl, den Zeugen aufzurufen.

»Armand de Garnier!«

King fuhr heftig zusammen. Er deutete mit dem Finger nach der Anklagebank. »Sieh nur, sieh nur!« flüsterte er.

Hilda Tressingham war aufgesprungen. Ihr Gesicht, das sie der Tür zukehrte, durch die Garnier kommen mußte, war totenblaß geworden. Sie murmelte etwas vor sich hin und sah Barthelemy an. Aber dieser stand zusammengesunken da und blickte nicht einmal auf.

Garnier ging mit energischen Schritten auf den Zeugenstand zu. Er war sehr elegant gekleidet und sah aus wie ein Mann, der gut gefrühstückt hat und mit sich selbst und der Welt durchaus zufrieden ist. Ein Murmeln ging durch den Saal.

»Er ist Kronzeuge! Er ist Kronzeuge!«

Weil alle Anwesenden, selbst die Beamten, auf Garnier blickten, achtete niemand außer Banister King auf Hilda Tressingham. Und King sprang plötzlich auf und rief so laut er konnte:

»Achtung – der Revolver!«

Aber es war zu spät. Bevor jemand zuspringen konnte, hatte Hilda Tressingham die Waffe gezogen und geschossen. Garniers zuversichtliches Lächeln erstarb und verwandelte sich in einen Ausdruck von Entrüstung und Pein, als er tot zusammenbrach, die Kugel mitten im Herzen.

* * *

»Das war der beste Aktschluß, den ich jemals erlebt habe«, sagte Lydia, als sie zehn Minuten später mit ihrem Freund im Auto saß. »Bist du nicht auch der Ansicht?«

»Ja«, erwiderte King. »Aber das alles war nur das Vorspiel zu einem anderen Drama.«

 


 


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