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Die Familie des Kohlenbrenners. – Bedrucktes Papier.
Acht Tage waren vergangen, seit ich den Hof des Milch- und Eierhändlers mit dem des Herrn Selbstverständlich vertauscht, und ich hatte mich so gut als möglich eingerichtet. Des Morgens verließ ich den Zwinger, denn einen Hof konnte man meinen Aufenthaltsort kaum nennen, und kam erst des Abends wieder. Ich hatte Freundschaft geschlossen mit der Familie des Kohlenbrenners, dem das bei meinem ersten Ausfluge entdeckte Holz gehörte. Ohne daß mein Herr eine Ahnung davon hatte, verbrachte ich einen guten Teil des Tages bei diesen wackern Leuten, von deren Verkaufsstelle aus ich die Straße überblicken konnte. Da hatte alles schwarze Gesichter und Hände, von dem Meister an, einem echten Schwarzwälder, bis zu seinen! jüngsten Kinde, das noch nicht recht sprechen konnte, aber gleichwohl sich schon mit offenbarer Lust im Kohlenstaube herumwälzte. Die Frau des Kohlenbrenners versicherte ganz ernsthaft, daß das Kind damit Gefallen an seinem künftigen Berufe bezeuge. Bei diesen bescheidenen Leuten war ich immer wohl aufgenommen. Ich hörte dort nichts, was irgendwie mein Zartgefühl beleidigte. Allerdings hätte ich es gerne gesehen, wenn sie sich zuweilen das Gesicht gewaschen hätten; in der schwarzen Hülle blinkten die weißen Zähne gar zu eigentümlich. Aber ihr Handwerk war eben einmal ein anschwärzendes, und es war ein Glück für sie, daß sie gerne und freudig den Pflichten desselben nachkamen.
Die Kohlenbrenner fügten allerlei Leckereien den beiden Mahlzeiten bei, welche ich von Herrn Selbstverständlich erhielt. Letzterer blieb sich immer gleich; er war gut, sanft, seiner Mutter folgsam und für mich voller Aufmerksamkeiten. Trotz der Strenge der alten Dame gewann ich doch einen Einblick in das innere Familienleben, und ich besuchte häufig ihren Sohn, ohne daß sie etwas davon wußte.
Nach dem Frühstück sah ich, wie er über seinen Rock zwei weite Schreibärmel von schwarzem Zeug zog, und dann schrieb er den ganzen Morgen in große, eingebundene Bücher. Am Nachmittage begann er wiederum dieselbe Arbeit; dann besorgte er die Gänge für die kleine Haushaltung. Nur etwas erregte meine Neugierde und blieb mir unerklärlich. Jeden Tag, gegen Mittag, kam er in Pantoffeln und ohne Hut aus dem Hause. Er ging an meinem Korb vorbei, wobei er nie versäumte, freundlich auf den Deckel zu klopfen, da er meinte, ich säße unter demselben, und trat dann in das gegenüberliegende Haus; dort öffnete er eine Türe, welche die Aufschrift »Bureau« trug. Auf diesem Bureau blieb er eine halbe Stunde, manchmal auch eine Stunde, und wenn er herauskam, war sein Gesicht gerötet, er war aufgeregt, ja man konnte sagen, er war so wütend, als nur ein so sanftmütig angelegter Charakter werden konnte.
Er lief zur kleinen Pumpe, welche das Haus mit Wasser versorgte, und wusch an derselben Hände und Gesicht. Das kalte Wasser schien ihn ein wenig zu beruhigen; und er ging dann fort, allerlei zwischen den Zähnen murmelnd, ohne Buntscheckchen auch nur einen freundlichen Blick zuzuwerfen.
Ich mußte dahinter kommen, was einen so friedliebenden Menschen wie er so außer sich selbst bringen konnte. Eines Tages, da er wieder in das gegenüberliegende Haus schritt, sprang ich auf die Brüstung eines offenen Fensters und drückte mich zwischen zwei mit Levkojen besetzte Blumenkasten. In einem Augenblick hatte ich das Innere des Zimmers übersehen. Dasselbe war durch ein eisernes Gitterwerk in zwei ungleiche Teile geteilt. Im größeren Teile hing eine kleine Wanduhr; ferner waren da eine große Zahl Kalender, und an den Wänden reihten sich staubige Gestelle mit alten, grünen Pappdeckelkasten. Die Tische waren alt und abgenutzt, und in der Ecke stand ein Ofen, dessen dünnes Rohr in Schlangenkrümmungen nach der Decke lief. Drei Personen waren zugegen: ein alter Herr, der ein abgeschossenes Hauskäppchen trug, unter welchem dünne Büschel grauer Haare heraussahen; die beiden andern waren jung. Der kleinere hatte braunes, der größere blondes Haar; aber das war den Haaren beider gemeinsam, daß sie zerzaust aussahen. Der übrige Teil des Zimmers war leer; ich sah dort nur Holzbänkchen als Sitze, und den einzigen Schmuck bildeten große Anschlagzettel in farbigem Druck.
Man hörte, wie die Feder des alten Herrn über das Papier knirschte. Er sah mürrisch aus und verzog auf tausenderlei Arten den Mund; dabei schien er tief in seine Arbeit versenkt zu sein. Die jungen Leute blätterten gähnend in Registern, und wenn sie einen Augenblick innehielten, schauten sie gleichgültig vor sich hin.
»Die Menschen, welche in Bureaus schreiben, haben kein munteres Aussehen«, dachte ich. »Wenn Herr Rau mit seinem Fuhrwerk heimkam und von seinem Sitze aus, den Rücken gegen den großen Heuhaufen auf dem Wagen gelehnt, mit fester Hand den Braunen, meinen alten Bekannten, am Zügel hielt, dann sah er ganz anders aus als die Leute da; aber sie langweilten sich am Ende in Ruhe und Frieden, und so wird mein guter Herr wohl schwerlich bei ihnen so aufgeregt werden.«
Kaum war ich mit dieser Überlegung zu Ende gekommen, so öffnete sich die Türe, und Herr Selbstverständlich trat ein. Er ging in den abgeschlossenen Teil und bot den dreien einen freundlichen Gruß, den sie kaum erwiderten. Dies störte ihn aber durchaus nicht; er plauderte vom Regen und schönen Wetter und trug seinen schlaffen Körper und sein friedliches Gesicht im Zimmer hin und her. Plötzlich öffnete sich im Hintergründe eine Türe, und ein etwa zehnjähriger Knabe trat ein. Er trug einen alten Pappdeckelkasten unter dem Arm, wie solche in den Gestellen ringsherum standen. Bei seinem Anblick sprangen die jungen Schreiber auf; der Blonde, der zuvörderst war, öffnete hastig den Kasten und zog verschiedene Gegenstände heraus, welche er auf die Ofenplatte niederstellte.
»Achtung, Herr Ernst, Achtung«, sagte der kleine Springinsfeld, »da ist die Fleischwurst. In der Ecke liegen die Eier; geröstete Kartoffeln gab es keine, ich nahm dafür Salat.«
Der junge braune Schreiber stellte inzwischen auf dem niederen Ofen, der als Speisetisch diente, alles zurecht, und nachdem der ganze Kasten geleert war, ergriff der Blonde noch ein viereckig zusammengefaltetes, bedrucktes Papier, während der Braune ein Brötchen nahm und mit seinen glänzenden Zähnen in dasselbe tapfer einhieb.
Auch der alte Herr machte seinen Grimassen und Schreibereien ein Ende. Er erhob sich von seinem Schreibstuhle und setzte sich an den Ofen, um ein Frühstück zu beginnen, das nach Zeit und Umfang mehr einem Mittagessen glich. Mein guter Herr hatte sich wiederum den Speisenden genähert und leistete ihnen kleine Dienste. Er entkorkte die Flasche, goß die Gläser voll, schnitt Brot u. dgl.
Seitdem die Leute in dem Zimmer sich um den Ofen niedergelassen hatten, konnte ich sie nicht mehr so gut sehen, und ich hatte mich bereits entschlossen, sie ruhig frühstücken zu lassen, als ein plötzlicher Faustschlag auf den kleinen Ofen mich erbeben ließ. Ich hüpfte eilig auf den Blumenkasten, und selbst auf die Gefahr hin, gesehen zu werden, reckte ich meinen Hals nach der Ecke, in welcher sie saßen.
Der blonde Schreiber kaute auf beiden Backen; dabei las er immerfort in dem bedruckten Papier, welches, nun vollständig entfaltet, so groß war, daß es bis über seine Knie herabhing. Plötzlich erhob er sich; ein zweiter Faustschlag erschütterte den kleinen Ofen samt der Fleischwurst, dem Salat, dem Brote und was sonst noch darauf stand. Zugleich begann er laut vorzulesen.
Ich konnte nur vereinzelte Worte verstehen, und von diesen hatte ich keinen rechten Begriff; aber die Wirkung, welche das Gelesene hervorbrachte, konnte ich deutlich auf den Gesichtern bemerken. Alle diese Leute, die vorher so langweilig dagesessen, machten plötzlich finstere, mißvergnügte Gesichter, und bald erfaßte sie ein mir völlig unbegreiflicher Zorn. Der alte Schreiber riß sein Käppchen ab, zerknitterte es in der Hand und setzte es dann wieder verkehrt auf seinen kahlen Schädel. Der braune Schreiber, der bei jedem Zuge überaus tief ins Glas schaute, schrie drohend: »Es muß anders werden!« Der schmächtige blonde Schreiber fuchtelte mit seinen dünnen Armen äußerst aufgeregt in der Luft herum; mein armer Herr nahm die Miene unnahbarer Majestät an; aber auch seiner bemächtigte sich schließlich ein heftiger Zorn, als das bedruckte Blatt durch seine Hände ging. Nur der kleine Bursche, welcher das Essen gebracht, knupperte friedlich sein Brötchen und schaukelte sich sorglos auf seinem Stuhle.
Welches Rätsel für ein armes Huhn! Woher diese plötzliche Aufregung beim Anblicke eines Papieres, das doch niemand etwas zuleide tun konnte? Ich versuchte alle möglichen Erklärungen, aber keine befriedigte mich.
Es gibt in Wahrheit nichts Ärgerlicheres auf der Welt, als wenn jemand eine Tatsache vor sich sieht, welche seine Neugier erweckt und die er sich durchaus nicht erklären kann. Als ich mich von dem Bureau entfernte, war ich immer noch in tiefes Sinnen versunken. Welche Bewandtnis hatte es mit diesem Papier? Wer hatte es geschrieben?
Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte, und um mir die Gedanken darüber aus dem Kopfe zu schlagen, suchte ich meine Kohlenbrennersleute auf. Das Mittagessen war bei diesen Leuten gerade vorüber; der kleine Joseph zeigte sein schwarzes Gesicht mit Milch weiß gesprenkelt und saß ganz lustig auf seines Vaters Knie. Die Mutter begann gerade mit dem Spülen des Geschirres und lehrte Genoveva, ihr die Teller zu bringen, ohne dieselben zu zerbrechen. Der Lehrbube, welcher wie der Herr aus dem Schwarzwald stammte und ganz als zur Familie gehörig betrachtet wurde, vergnügte sich damit, vor Joseph sich auf die Fersen zu hocken und sein Gesicht hinter die Hände zu verstecken, worüber dann der kleine Schlingel auf seines Vaters Knie stets in ein unbändiges Gelächter ausbrach.
Als mich Genoveva bemerkte, hob sie mich hurtig auf den Tisch und streute mir Brot hin. Ich pickte die Krümchen friedlich auf, als plötzlich die Frau des Kohlenhändlers lachend sagte: »Da, da, sieh!« Ein dumpfer Lärm drang an mein Ohr. Ich sah auf die Straße hinaus und bemerkte, daß der Lärm aus der gegenüberliegenden Wirtschaft drang. Der große Wirtssaal derselben stieß an die Straße, und da die breiten Türen wegen der schönen Jahreszeit weit geöffnet waren, konnte man bequem das Innere des Saales überblicken. Außerdem stand längs des Hauses eine Reihe kleiner runder Tischchen, welche ebenfalls mit Gästen besetzt waren. Diese Gäste gehörten größtenteils der arbeitenden Klasse an; sie nahmen dort ihr Mittagessen zu sich, und die meisten pflegten dann noch ein Glas Wein oder Bier zu trinken. Da es gerade um die Mittagszeit war, befanden sich viele Leute dort. Im gegenwärtigen Augenblick nun herrschte unter den Gästen eine große Aufregung, und die Frau des Kohlenbrenners hatte ihren Mann auf dieselbe aufmerksam gemacht. Die auf der Straße sprachen lebhaft; sie schoben die Mützen auf den Hinterkopf und schlugen mit den Fäusten auf die Tische. Um den Schenktisch im Innern des Saales drängte sich eine dichte Gruppe; dort schien es stiller zu sein, und ich hörte nur eine einzelne tiefe Baßstimme, welche zu den übrigen zu reden schien. Aber es war auch nicht eigentlich der ungezwungene Ton der Rede; ich sah genauer hin – denn das Zimmer erschien bei dem hellen Tageslicht draußen düster – und bemerkte nun einen Mann mit einen: großen, dunkeln Barte hinter dem Schenktisch, der aus einem Blatt vorlas, und dieses Blatt glich auf ein Haar jenem andern Blatte, das schon die Schreiber so sehr in Harnisch gebracht hatte. Da stand ich vor einem neuen Rätsel; auch diese Leute, die alle friedlich und ruhig über die Schwelle gegangen waren, um ihr Mittagessen einzunehmen, erschienen plötzlich angesichts dieses Blattes wie rasend, und ihre Mienen wurden so wild, daß sich meine Federn sträubten.
Ich würde mich ernstlich beunruhigt haben, wenn nicht die mich umgebenden Gesichter so vollständig ruhig, meiner Ansicht nach sogar zu ruhig dreingeschaut hätten.
Ich wendete in raschen, nervösen Zuckungen den Kopf hin und her. Ich hätte gewünscht, daß man spräche, daß man über das eigentümliche Vorkommnis, dessen Zeuge ich war, sich erkläre.
»Mutter, Buntscheckchen zittert und will nichts mehr fressen«, sagte Genoveva.
Die Frau des Kohlenbrenners sah mich mit ihren gutherzigen Augen eine Weile an, und da sie beobachtete, daß ich beständig ängstliche Blicke nach den: gegenüberliegenden Hause warf, sprach sie: »Es fürchtet sich; das Geschrei dieser Säufer macht dem armen Tierchen angst. Jakob«, fuhr sie dann, zu ihrem Manne gewendet, fort, »sieh einmal da drüben, ich glaube, da droht einer mit der Faust gegen unser Ladenschild.«
»Oho, ich kümmere mich um seine Faust so wenig wie um ihn selbst«, erwiderte der Kohlenbrenner, seine muskelstarken Arme vor sich hinstreckend. Dann ergriff er den kleinen Joseph, schwang ihn hoch in die Luft und rollte dabei furchtbar mit den Augen, worüber der Kleine vor Lachen fast außer Atem kam.
»Hörst du, kleiner Bürger«, sagte er dabei, »du bist der Sohn deines Vaters und wirst dich hoffentlich niemals um Politik bekümmern!«
In dem Augenblicke, da er diese Erklärung abgab, trat eine Kundin ein. Der Kohlenbrenner gab seinen Joseph dem Lehrling und bediente die Magd, welche Kohlen verlangte. Genoveva half wieder der Mutter, und ich machte mich eiligst in meinen Hof. Ich hatte jetzt das Wort, wenn ich auch die Sache nicht begriff; diese Leute beschäftigten sich mit Politik.
Ohne Zweifel hatte dieses Wort einen tiefen Sinn; aber wie ich auch die Sache in meinem kleinen Gehirn hin und her erwog, ich fand denselben nicht. Sonder Zweifel war es etwas, was nur bei den Menschen vorkam; denn von meinesgleichen hatte ich nie etwas Ähnliches gehört oder gesehen. Es blieb für mich ein Geheimnis, und ich kann hinzufügen, nach dem, was ich bis jetzt davon sah, muß die Politik etwas Widerwärtiges sein.
Von Natur war ich sehr versöhnlich und konnte daher an dem, was solche Wutanfälle zu erzeugen schien, kein Gefallen finden. Ich fragte mich, ob diese Menschen denn dieses gedruckte Blatt zu lesen verpflichtet seien. Mußten sie ebenso Politik machen, wie sie Schriften, Häuser, Kohlen oder Fuhrwerke machen mußten? Ganz bestimmt nicht, denn Herr Rau hat nie Politik gemacht, und mein Kohlenbrenner wollte durchaus nicht, daß sein Sohn je Politik machen solle; es konnte nicht einmal in ihrem Vorteil liegen, denn Herr Rau und der Kohlenbrenner verstanden sich ganz ausgezeichnet auf ihren Vorteil, und sie würden gewiß auch Politik gemacht haben, wenn das für sie von Vorteil gewesen wäre. Was war nun aber Politik?