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Das Kind. – Die Falle. – Die Hütten.
Ich war eine zu gute Beobachterin, um nicht zu bemerken, daß auch in dem Leben der mich umgebenden Tiere nicht alles rosig sei. Um gleich mit mir zu beginnen, machte ich mir gar keine Skrupel darüber, daß ich von Mücken lebte, und tagtäglich konnte ich beobachten, wie immer ein Geschöpf das andere fraß. Ich sah Spinnen, welche sehr geschickt ihre Netze nach Fliegen ausspannten. Kriechende Tiere würgten andere im Dunkel; große Vögel plünderten die Nester der kleinen, und reizende kleine Tiere sah ich Eier ausschlürfen; so betrachtete ich auch nicht ohne Mißtrauen ein gar liebes Tier von rotbrauner Farbe, mit einem buschigen Schwanze und einem feinen, schlauen Gesicht. Es blickte mich auf meinem Zweig mit so begehrlichen Augen an, daß mich unwillkürlich ein Schauder überlief. Trotzdem beharrte ich bei meinem Beschluß, in der seitherigen Weise weiterzuleben.
Ich hatte seit langem kein menschliches Gesicht mehr gesehen, als eines Morgens auf einem Fußsteige ein junges Mädchen daherkam, das einen großen Pack Linnenwäsche auf dem Kopfe trug und an ihrer Hand einen etwa sechsjährigen kleinen Schlingel führte. Der Knabe hatte ein Tuchkleidchen an und eine violette Kappe auf dem Kopfe. Am Rande des Sees angekommen, nahm das Mädchen die Mütze des Kindes ab, wobei es nicht ohne Gewalt herging. Es begann dann, den Knaben zu waschen, was demselben gar nicht recht gefiel. Darauf kniete das Mädchen vor einem ziemlich glatten Steine nieder und begann sein Linnenzeug zu waschen. Ich empfand ein ganz eigentümliches Vergnügen, zuzusehen, wie sie ihre Wäsche einseifte und abrieb. Dabei ließ sie auch das Kind nicht aus den Augen, das glücklich war, Steinchen in den See werfen und die Ameisen im Grase verfolgen zu können. Es wälzte sich vor Vergnügen auf dem Boden herum; dann wechselte es mit seiner Schwester von Zeit zu Zeit einzelne Worte, aus welchen ich erfuhr, daß sie Lene und er Hans heiße.
Ich wäre den ganzen Tag dageblieben, um die beiden zu betrachten; aber ich mußte an das Frühstück denken. Ich stieg daher vorsichtig von meiner alten Eiche herunter und schlug mich, damit ich keine Gefahr laufe, ihnen zu begegnen, so weit als möglich abseits in die Büsche; dort ging ich meinem Futter nach.
Bei der Verfolgung eines dicken Käfers kam ich tiefer ins Gebüsch, als ich plötzlich einen so heftigen Schlag wider meine Beine bekam, daß ich das Bewußtsein verlor. Meine Bewußtlosigkeit mußte wohl einige Zeit gedauert haben, und als ich wieder zu mir kam, stak eines meiner Beine wie in einem Schraubstock. Bei der geringsten Bewegung empfand ich einen stechenden Schmerz, so daß ich mich nicht zu rühren wagte. Dabei wurde mein Geist von den quälendsten Befürchtungen bestürmt. Was sollte aus mir werden, wenn ich dieser höllischen Maschine, die mich gefesselt hielt, nicht entschlüpfen konnte? Ich mußte sicher vor Hunger oder Durst sterben, ja ich konnte nicht einmal das liebe Tier mit dem rötlichen Pelz fliehen, und das flößte mir gerade den größten Schrecken ein.
Ich dachte an die kleine Wäscherin, von welcher ich mich ungeschickterweise entfernt hatte, und um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, stieß ich ein heiseres Geschrei aus, Töne, bei deren Anhören mir vor mir selber bangte. Plötzlich sah ich die Blätter sich bewegen; ich dachte alsbald an das Tier mit dem glänzenden Fell. Unwillkürlich schloß ich die Augen; ein Krachen der Zweige ließ mich dieselben sogleich wieder öffnen, und, welches Glück! ich sah das lachende Gesicht des kleinen Knaben.
»Lene«, schrie er mit durchdringender Stimme, »es ist ein Huhn, komm, sieh einmal nach!«
Er blieb vor mir stehen, seine beiden Händchen hielten die Zweige des Gebüsches auseinander, aber das Kind wagte nicht, näher zu kommen, und rief von Zeit zu Zeit seiner älteren Schwester.
Endlich kam diese; sie trat ohne zu zaudern in das Dickicht, warf ihren Pack zur Erde und näherte sich mir.
»Das arme Tier steckt ohne Zweifel in der Falle«, sagte sie, den Boden untersuchend.
»Lene, Lene, sieh einmal dort!« schrie plötzlich das Kind.
»Was denn?« fragte Lene, die immer noch beschäftigt war, das Gras und die Blätter wegzuräumen.
»Da, vor uns, das Tier!«
Ich sah in der Richtung seines ausgestreckten Händchens und bemerkte, unter einen Felsen gekauert, das Tier mit dem glänzenden rötlichen Fell.
Lene nahm eine Handvoll Erde und warf damit nach dem Tiere, das rasch wie der Blitz verschwand.
»Es ist ein Fuchs«, sagte sie, »der Vater sagte ja, daß er Spuren hier herum gefunden hätte. Dieses böse Tier würde das arme Huhn aufgefressen haben, wenn du es nicht schreien gehört. O weh, das sitzt bös drin! Wie soll ich es aus der Falle bekommen?«
»Ich ziehe ja ganz leise, aber ich fürchte, ich reiße ihm den Fuß aus.«
Obwohl das Mädchen in der Tat so sanft als möglich mit mir umging, empfand ich doch, wie sich leicht denken läßt, unerträgliche Schmerzen. Um damit zu Ende zu kommen, machte ich selbst eine heftige Bewegung und wurde auch dadurch frei. Aber ach, um welchen Preis! der Fuß blieb in der Falle, und ich fiel verstümmelt auf das Moos.
»Die Falle hat ihm den Fuß abgeschnitten«, sagte Lene, »das war vorauszusehen. Es blieb ihm nichts mehr als die Nerven und die Haut. Armes Tierchen! Willst du es tragen, Hans?«
Der kleine Bursche wünschte nichts sehnlicher, er nahm mich aus den Arm, Lene hob ihren Pack wieder auf den Kopf, und nun ging es tiefer in den Wald. Unterwegs verschwendete Hans die zärtlichsten Liebkosungen an mich, und seine Schwester sprach mit ihm darüber, wie sie es anstellen wollten, daß ihre Eltern mich aufnähmen.
Was lag mir daran; ich war jetzt für das Leben ein Krüppel, und ein rascher Tod erschien mir als die größte Wohltat.
Endlich kamen wir in eine prachtvolle Lichtung, und auf derselben standen zwei Häuschen ohne Fenster, ohne Schornsteine, von Baumzweigen, die noch Blätter trugen, das Dach bestand aus Stroh. Diese Hütten glichen von außen einem ungeheuern Bienenstock, und aus der Mitte zog sich ein dünner Faden blauen Rauches gegen den Himmel. Lene und Hans traten zu gleicher Zeit in die kleinere Hütte, woselbst sich ein graubärtiger Mann befand, der Holzschuhe schnitzte.
»Vater, Hans hat im Walde in der Falle ein gar liebes Hühnchen gefunden«, begann Lene.
»Da sieh einmal«, fügte Hans bei, indem er mich dem Alten hinhielt, »es hat den einen Fuß verloren.«
»Sieh, sieh, wo hast du es gefunden?« fragte der wackere Mann. »Armes Tier, es bleibt, solange es lebt, verkrüppelt.«
»Vater, wir wollen es behalten! willst du?« fragte Hans.
»Es gehört aber doch nicht dir, Kleiner!«
»O ja«, sagte dieser, während ihm die Tränen kamen. »Ich hab' es schreien gehört! Gelt, Lene?«
»Und wenn wir es nicht entdeckt hätten«, fügte Lene bei, »dann würde es wahrscheinlich der Fuchs gefressen haben.«
»Zeigt es eurer Mutter«, erwiderte der Holzschnitzer, »sie mag darüber entscheiden.«
Wir kamen in die andere Hütte. Dort stand einiger Hausrat, auch ein Herd war angebracht, und eine schöne kleine Statue stand zwischen den Zweigen.
Eine Frau in ländlicher Tracht häufte Blätter auf dem Roste, und dieselben gaben ebensoviel Rauch als Feuer. Ich wurde der Frau vorgestellt, sie betrachtete mich mit Teilnahme, meinte aber schließlich, daß ich zu nichts mehr tauge als zu einer Suppe.
Bei diesen Worten begann Hans verzweifelt zu heulen. Der Vater, durch sein Geschrei herbeigezogen, kam in die Hütte und hörte nun mit ernster Miene die Ansicht seiner Hausfrau.
»Ohne Zweifel gäbe das Hühnchen ein gutes Sonntagsessen«, meinte er, »aber es gehört doch nicht uns; man könnte es uns abfordern, und ich habe kein Recht auf die Tiere des Waldes; sonst könnte ich mir jeden Tag mit einem Flintenschuß einen Braten holen.«
»Wie soll es dann leben, wenn's nicht gehen kann?« fragte die Mutter.
Der kleine Hans erblickte in dieser Frage eine Bedrohung meines Lebens und begann sein Geheul aufs neue.
»Man könnte ihm ein hölzernes Bein machen«, meinte der gute Alte. »Gräme dich nicht, Hans. Man wird es nicht töten, wir wollen sehen. Geh und suche mir einen Holunderstengel. Wenn ich ihm ein Beinchen machen kann, so wird es nicht umgebracht.«
Hans legte mich auf die Erde, verschwand und kam bald mit einem ganzen Holunderzweige wieder; der Holzschuhmacher säuberte ihn mit seinem Messer, brach dann aus einem Stückchen Zweig das Mark und nahm daraus das Maß. Ich ließ ihn machen; mein Beinstumpf wurde nun in die Röhre gesteckt, mit einem Hanffaden befestigt, und ich stand wieder aufrecht. Freilich fiel es mir schwer, meinen hölzernen Stelzfuß in Bewegung zu setzen; aber ich versuchte es doch, um meinen guten Willen zu zeigen, und nach einiger Übung brachte ich es fertig, um die Hütte herumzuhumpeln. Die ganze Familie mußte über mein langsames und gezwungen majestätisches Gehen lachen, und ich wurde einstimmig in ihren Kreis aufgenommen.
Der kleine Hans nahm aus der Asche des Herdes eine gebratene Kartoffel, deren würziger Duft unter andern Umständen meine Geruchsorgane in angenehme Aufregung gebracht hätte. Er streute dieselbe in kleinen Bröckchen vor mich, und um ihm eine Freude zu machen, pickte ich auch einige Bröckchen auf; denn von Eßlust konnte bei mir armen Krüppel noch nicht die Rede sein. Den Rest des Tages brachte ich in einem Winkel der Hütte zu, versuchte zuweilen mein hölzernes Bein, welches mir bleischwer am Leibe hing, und beweinte das elegante, bewegliche Füßchen, das ich in der im Walde aufgestellten Falle zurückgelassen hatte.