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Kamillas gutes Herz. – Die Überraschung. – Reich sein.
Lange blieb ich ohne Nachrichten von Melina. Herr Dauler hatte sich infolge einer Erkältung einen Rheumatismus zugezogen, und sein liebevoll besorgtes Töchterchen hielt darum stets die Balkontüre geschlossen; ich blieb daher von der Unterhaltung ausgeschlossen und war vollständig in Unkenntnis dessen, was sich zutrug. Mit um so größerer Teilnahme sah ich deshalb eines Morgens, als gerade die Balkontüre offen stand, Frau Dauler in den Salon treten und die Hand auf den Arm ihres Gatten legen, welcher, den Hut auf dem Kopfe, in herumliegenden Papieren stöberte.
»Ich bitte dich, Hermann«, sagte sie, »warte noch ein wenig. Es ist alles bereit, sie kommen.«
»Aber ich habe ungeheure Eile; der Bahnzug nach Karlsruhe geht ab, und du weißt, ich muß in die Kammer.«
»Einen Augenblick nur, einen Augenblick. Du kannst dieses Vergnügen deiner Tochter nicht abschlagen. Du weißt ja, was sie alles getan hat. Sie ist so lange in Herrn Sandel gedrungen, bis er sich entschloß, zu unserem alten Hausverwalter zu ziehen, der sich aus Barmherzigkeit mit ihm befassen will. Aus ihrer Sparbüchse hat sie das kleine Zimmer ausgestattet und Melina gekleidet. Alles Geld, welches du ihr gegeben und womit sie langgehegte Herzenswünsche befriedigen wollte, hat sie für Melina verwendet.«
»Das Kind hat ein Herz von Gold.«
»Und einen Willen von Eisen. Es hat ihr in der Tat Überwindung gekostet, alles herzugeben. Ich sah sie über ihrem Gelde sitzen und zählen; sie überlegte und zögerte, aber ich habe ihr nichts geben wollen; nein, keinen Pfennig; sie hat alles aus ihrer Tasche bestritten. Hermann, unsere Tochter ist ein wahrer Schatz.«
»Gott erhalte sie uns! Ihre Gesundheit ist wieder kräftiger; findest du das nicht auch, Cäcilie?«
»Etwas, ja; aber sie muß in die Berge. Burbach! dort wird sie wieder gänzlich gesunden. Ich bitte dich, mein Freund, stimme doch nicht weiter für die Verlängerung der Kammersitzungen. Mache doch endlich einmal Ferien!«
»Aber, Cäcilie, wie magst du nur so unbesonnen reden! Ich habe Burbach gerade so notwendig wie Kamilla; aber bei den wichtigen Fragen, die eben verhandelt werden, muß ich doch nach meinem Gewissen und nicht nach meinen Wünschen stimmen.«
»Welch abscheuliche Sache ist doch diese Politik!« murmelte Frau Dauler und legte dabei den Ton auf das mir in tiefster Seele widerwärtige Wort »Politik«. Herr Dauler beantwortete die Bemerkung seiner Frau nur mit einem tiefen Seufzer. Dann raffte er eiligst seine Papiere zusammen und wollte fort.
»Einen Augenblick, Hermann, ich bitte dich darum; ich glaube, sie sind da. Ja, das ist der Tritt Kamillas.«
Die Türe öffnete sich, und Kamilla trat mit freudestrahlendem Gesicht ein. An ihrer Hand führte sie ein Mädchen von etwa gleicher Größe, das ich kaum wiedererkannte. Aber das Herz läßt sich nicht täuschen. In diesem sehr einfach, aber mit vielem Geschmack gekleideten Kinde, mit schönen Stiefelchen an den Füßen, glattgekämmten Haaren und – warum sollte ich's nicht sagen? – rein gewaschenem Gesichte erkannte ich Melina, die kleine Sängerin mit den struppigen Haaren, den niedergetretenen Schuhen, dem zerfetzten Rocke und dem lieben, aber schmutzigen Gesichtchen.
»Ei, mein Kind, bist du das?« sagte Herr Dauler gütig.
Melina sah Kamilla an und ließ dann errötend den Kopf hängen.
»Und was gedenkst du jetzt aus ihr zu machen?« wendete sich Herr Dauler fragend an seine Gattin.
»Eine Arbeiterin, Vater«, rief Kamilla, ohne die Antwort ihrer Mutter abzuwarten.
»Die musikalischen Vorstellungen unter freiem Himmel sind also endgültig aufgegeben?«
»Natürlich«, erwiderte Kamilla; »Melina gehorchte überhaupt darin nur ihrem Vater, und er konnte wohl nicht anders. Da Herr Sandel blind wurde, blieb ihm ja nichts anderes übrig, als zur Geige zu greifen; jetzt ist das anders, und Mutter hat Melina in ihre Arbeitsschule eintreten lassen.«
»Wie? was?« fragte Herr Dauler erstaunt, »du hast jetzt eine Arbeitsschule, Cäcilie?«
»Ja, lieber Mann«, erwiderte diese lächelnd, »und nie habe ich den Nutzen dieser Anstalt besser eingesehen als heute. Da haben wir ein bereits heranwachsendes Kind aus achtbarer Familie, welches unterrichtet werden muß und dann auch ein Gewerbe erlernen soll. Wo fände ich nun eine Anstalt, der ich diese Waise anvertrauen sollte? Wo könnte sie zu gleicher Zeit die Schulkenntnisse sich erwerben und etwas lernen, wovon sie sich später ernährt? Ich kann mich nicht entschließen, dieses Kind mit jenen Arbeiterinnenkreisen in Berührung zu bringen, welche Vergnügungsplätze niederen Ranges besuchen, schlechte Bücher lesen und nicht einmal das kindliche Alter so weit berücksichtigen, um wenigstens in seiner Gegenwart einige Scheu zu empfinden. Es gib allerdings auch achtungswerte Werkstätten, aber die sind sehr selten, und man hat nie eine Bürgschaft. So nahm ich denn meine Zuflucht zu einer Einrichtung, deren unser industrielles Jahrhundert bedurfte, und in welcher die Schule mit der Lehre verknüpft ist. Ich gehöre zum Schutzvorstand einer solchen. Melina wird dort religiöse Unterweisung zur Kräftigung der Seele, einen soliden Unterricht zu Entwicklung ihrer Vernunft finden, und damit ist außer dem eine Unterweisung in Handarbeiten verbunden, welche durch gewissenhafte Arbeiterinnen gegeben wird; so vermeiden wir zugleich, daß unsere Lehrmädchen ausgebeute werden. Freilich wird es ein kleines Geldopfer kosten, denn diese Arbeitsschule ist nicht unentgeltlich und steht auch nicht geradezu jedem offen; es wird vielmehr unter den sich Anmeldenden eine sorgfältige Auswahl getroffen. Um das betreffende Schulgeld aufzubringen, hat deine Tochter ihre kleinen Vergnügen geopfert. Wir haben Herrn Sandel die Mittel gegeben, welche seine Familie für ihn ausgeworfen; aber Kamilla, und sie allein, beschäftigt sich mit Melina. Sieh, das Hütchen, das Melina trägt hat deine Tochter aufgeputzt.«
Herr Dauler nahm das kleine schwarze Strohhütchen mit blauem Bande tief bewegt in seine Hand und betrachtete es eine Weile mit ernster Miene.
»Welchen Lohn forderst du dafür, Kamilla?« fragte er, als er das Hütchen wieder auf das braune Köpfchen Melinas setzte.
»Die Erlaubnis, einen Kursus für Blumenmalerei in der Arbeitsschule mitmachen zu dürfen, woselbst Mutter auch Unterricht gibt. Ich treffe dann dreimal in der Woche mit Melina zusammen.«
»Ist das angänglich, Cäcilie?«
»Nichts leichter als das; wenn fromme Nonnen und Frauen, die ihre Zeit und ihr Geld angenehmer verwenden könnten, sich mit Arbeiten zur Veredelung anderer beschäftigen, dann dürfen wir wohl unsere Kinder die heilige Gleichheit im Guten lehren. Was Frauen aus fürstlichen Häusern tun, das können auch wir. Unser demokratisches Jahrhundert mißachtet allzusehr die Handarbeit; man muß das Gewerbe in der öffentlichen Achtung heben, und es ist gerade die Sache derjenigen, die dessen nicht bedürfen, ein Beispiel zu geben.«
»Wenn ich dich nicht kennte, liebes Weib, so würde deine Beredsamkeit mir ein gewisses Mißtrauen einflößen; aber ich kenne dich, und so tue denn darin, was du für gut hältst.« Mit diesen Worten umarmte er seine Tochter und ging eiligst weg.
»Mutter, darf ich mit dir gehen, wenn du Melina einführst?« fragte Kamilla.
»Mein Kind, im Augenblick wird dein Musiklehrer kommen. Sei also vernünftig wie bisher; du siehst, ich habe deinen Wunsch bei dem Vater durchgesetzt, aber du mußt nicht zuviel verlangen.«
Kamilla neigte den Kopf zum Zeichen ihrer Zustimmung, und als sie ihre Mutter die Handschuhe anziehen sah, winkte sie Melina, worauf beide an das Vogelhaus traten, in welchem ich der Unterhaltung beigewohnt.
Ich ging aus einer Hand in die andere, und beide Mädchen streichelten und liebkosten mich um die Wette, bis Frau Dauler Melina rief und ihr sagte:
»Es regnet sehr stark; hast du einen Regenschirm, mein Kind?«
»Ja, gnädige Frau«, erwiderte Melina und brachte ein schwarzes Stöckchen zum Vorschein, an welchem einige Fetzen alter Seide hingen.
»Das wird dich aber wenig vor dem Regen schützen, mein Kind, und so kannst du in der Tat unmöglich gehen.«
»Mutter«, rief Kamilla und nahm das Schirmchen mechanisch an sich, »ich habe ja erst einen neuen Regenschirm bekommen.«
»Ganz richtig; ich will Melina den alten geben lassen. Leb wohl, liebes Kind! ich werde bald wiederkommen.«
Frau Dauler ging mit Melina weg, nachdem sie Kamilla umarmt hatte. Die letztere blieb in tiefem Sinn versunken, den zerfetzten Regenschirm in der Hand, stehen. Sie öffnete ihn und ging einige Male unter dem durchlöcherten Dach, das keinen Schutz mehr gewähren konnte, im Zimmer auf und nieder. Mit eigentümlichem Ernst betrachtete sie die herabhängenden Lappen und den halbzerbrochenen Griff. Plötzlich schleuderte sie das Schirmchen in die Ecke, warf sich auf die Knie und rief mit gefalteten Händen! »Mein Gott, ich danke dir, daß ich reich bin.«
Das gute Mädchen! Wenn ich ein Mensch wäre und kein Huhn, so würde ich seinem Beispiele folgen; aber ich kann nicht hinknien und auch nicht meine Klauen falte ich kann nur seufzen und denken: »Welches Glück, einer Herrin anzugehören, die ein so gutes Herz hat!«