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IX.
Aachen.

Lage von Jülich. Verminderte Volksmenge von Aachen und deren Ursachen. Kaiserliche Commission seit 1786. Neuer Constitutionsplan des Herrn von Dohm. Das Zunftwesen mit seinen Folgen. Verfall der Tuchmanufactur. Flor der benachbarten Fabriken. Armuth und Bettelstand in Aachen. Mögliche politische und sittliche Freiheit.

Wir rissen uns aus den Umarmungen unserer Freunde Unter diesen Freunden ist J. G. Jacobi zu verstehen, der Romanschriftsteller und Philosoph, welcher mit seinem anziehenden Familienkreise zu P., d. h. Pempelfort, unweit Düsseldorf hauste. Anmerkung d. Hg. und reisten von P. bei Mondschein die ganze Nacht hindurch nach Jülich. Die Gegend ist flach, aber vortreffliches Saatland, und besonders wird sie jenseit Jülich sehr schön durch Haine von hochstämmigen Ulmen, Eschen und Hagebuchen; in diesen ist fast jedes der naheliegenden Dörfer gleichsam vergraben oder ragt nur mit der Kirchthurmspitze daraus hervor. Jülich ist eine kleine Festung von der unbedeutenden Art, die man Bicoque nennt. Gegen einen Feind, der auf der Anhöhe, von welcher wir von Düsseldorf hinabkamen, seine Batterien anlegte, könnte es sich keinen Augenblick halten.

Die Dörfer und Flecken in dieser Gegend sind zum Theil von Steinen und Ziegeln sehr dauerhaft erbaut und bezeugen den Wohlstand ihrer Bewohner. Dahin kann es leicht mit dem Flor eines Landes kommen, wenn man es nicht unter dem Vorwande der landesväterlichen Sorgfalt aussaugt, dem Unterthan nicht durch vervielfältigte Verordnungen die Hände zu fest bindet und ihm nicht durch drückende Steuern den Muth benimmt. Den Ständen der Herzogthümer Jülich und Berg gebührt das Lob dieser guten Administration. Sie scheinen in der That den höhern Sinn jenes tiefgedachten Spruchs, »daß die Welt sich am besten durch ein ganz kleines Fünkchen Weisheit regieren lasse« ( mundus regitur parva sapientia), zu Herzen genommen und in Ausübung gebracht zu haben. Beide Extreme des Egoismus, falsche Ruhmbegierde sowol als gefühllose Verachtung der öffentlichen guten Meinung, sind traurige Eigenschaften eines Regenten oder Administrators; wer sich begnügen kann, recht zu handeln ohne glänzen zu wollen, wird zwar kein Aufsehen erregen, aber das Glück genießen, zufriedene und wohlhabende Menschen um sich her zu sehen. »Das Gute, was ich hier gethan habe«, sagt die Regentin im »Egmont«, »sieht gerade in der Ferne wie nichts aus, eben weil es gut ist.«

Die Menschen in dieser Gegend sprechen eine weit plattere Sprache als die oberhalb Köln; mir schien sie sogar platter zu werden, je weiter wir uns vom Rhein hierherwärts entfernten. Alle Mannspersonen, die uns begegneten, waren wohlgewachsen und von einer bestimmtem, ausdrucksvollern Gesichtsbildung. Die Weiber hatten nicht die eckigen, hervorstehenden Backenknochen, die in den obern Rheingegenden und weiter hinauf im Reiche so charakteristisch sind. Manche, die wir sahen, hätten einem flamändischen Maler zu Nymphen und Göttinnen sitzen können. Arbeitsamkeit erhält diese Menschen nüchtern und macht sie verhältnißmäßig gegen die Oberländer wohlhabend. Das feuchte Klima, die stete Anstrengung beim Ackerbau, vielleicht auch das ursprüngliche Temperament des blonden, niederdeutschen Bluts macht sie phlegmatisch, gleichgültig, ungesellig, störrig; und die Religion, wenigstens so, wie man sie ihnen nach hierarchischen Grundsätzen beibringt, trägt eben nicht viel dazu bei, sie geistreich und aufgeweckt zu machen. Ihr Wohlstand gibt ihnen Unabhängigkeit, und dieses glückliche Verhältniß gegen den Nebenmenschen trägt vielleicht auch das Seinige dazu bei, die Gleichgültigkeit gegen den Fremden bis zur rohen, unwirthbaren Ungezogenheit zu treiben. Selbst bei denen, die noch Höflichkeit zu bezeigen geruhten, hatte sie einen so kecken Anstrich, daß ich mich ihrer im Namen der Menschheit freute, so wenig sie für mich, als einzelnen betrachtet, Einladendes und Schmeichelhaftes haben konnte. Die Einförmigkeit der Beschäftigungen des Ackerbaues und die strenge Ordnung, in welcher sie aufeinanderfolgen, gibt demjenigen, der sich blos davon nährt, eine Einseitigkeit, welche in vielen Fällen bis zum hartnäckigsten Eigensinne geht, zumal wenn es auf die Einführung einer verbesserten Cultur ankommt; auch trägt sie vieles dazu bei, eine habituelle Langsamkeit hervorzubringen, welche man jedoch sorgfältig von Faulheit und Müßiggang unterscheiden muß. Der Müßiggänger, wenn er Munterkeit und einigen Ideenvorrath besitzt, kann ungleich unterhaltender sein als dieser kalte Alltags- und Gewohnheitsmensch; allein seine Abhängigkeit macht ihn verächtlich und untergräbt seine Sittlichkeit. Der langsame, gleichgültige, in seinem Kreise sich fortwälzende Dummkopf, wenn er sich und die Seinigen redlich ernährt, ist dem Staate wichtiger, als Mensch glücklicher und moralisch besser, ob er gleich auf der Leiter der Erdenwesen, nach ihren Fähigkeiten geordnet, tiefer steht. In den Städten der hiesigen Gegend, wo sich auf das angeborene Phlegma und den damit verbundenen Stumpfsinn die Faulheit, die Unsittlichkeit und der Aberglaube pfropfen, findet man allerdings die menschliche Natur in ihrer empörendsten Entartung.

Aachen liegt sehr anmuthig. Die Hügel rund umher sind schön geformt und reich an Waldung, Aeckern und Gebäuden; daher gewähren sie unter jedem Gesichtspunkt einen verschiedenen, das Auge erquickenden Effect. Um die Stadtmauern ziehen sich schöne Gänge von hohen schattenreichen Bäumen. Gewisse Theile der Stadt sind ziemlich gut gebaut; ihr ganzer Umfang ist sehr beträchtlich, denn ehedem faßte sie mehr als hunderttausend Einwohner, deren jetzt aber nur dreißigtausend vorhanden sind. Was ist die Ursache dieser auffallenden Entvölkerung? wirst Du fragen; denn ich fragte ebenso, und ich glaube, jedem, der davon zum ersten mal hört, muß dieselbe Frage auf der Zunge schweben. Die Antwort, die ich darauf erhielt, ist einleuchtend, ob sie gleich nicht befriedigt. Es wäre bald von der Sache zu kommen, wenn man alles einer fehlerhaften Constitution zur Last legen wollte, deren Mängel und Gebrechen jetzt so klar am Tage liegen; allein geübtere Augen erkennen, daß eine Complication von Ursachen eintreten mußte, um den Verfall dieser vor alters so blühenden Stadt allmählich zu bewirken; und Complicationen dieser Art nachzuspüren, ist keine so leichte Sache, daß ein jeder in wenigen Worten den Knoten lösen könnte. Karl's des Großen Residenz, der Krönungsort so vieler Kaiser, war lange der Sitz nützlicher Künste und Gewerbe, ein wichtiges Handelsemporium, ein Mittelpunkt, wo vielfältiges Interesse Menschen aus allen Klassen und aus den entferntesten Gegenden des Reichs zusammenführte, wo dieser Zusammenfluß einen schnellem Umlauf des Geldes, einen raschern Tausch der Waaren, einen wenigstens für jene Zeiten wichtigen Grad des Aufwandes verursachte, und zwar dies alles schon, als in der umliegenden Gegend noch keine Nebenbuhlerin sich organisirt hatte und zur Vollkommenheit gediehen war.

Jetzt verhält sich alles anders. Aachen ist nicht einmal mit der Gegenwart eines Kaisers für den Moment der Krönung beglückt, und noch viel weniger dessen beständiger Aufenthalt; der Glanz, den diese Gegenwart ihr geben konnte, ist von ihr gewichen. Um sie her, auf allen Seiten, sind nach und nach ansehnliche Staaten entstanden; der Fleiß, die Freiheit und das Glück haben im Wetteifer miteinander vielen neuen Städten einen Grad von blühendem Wohlstand geschenkt, den Handel in andere Kanäle gekettet, den Geist der Menschen entwickelt und gebildet, wie er an einem vereinzelten Orte und bei hartnäckiger blinder Anhänglichkeit an altes Herkommen nicht mit fortrücken konnte. Sodann aber haben die Tyrannei des Aberglaubens, die noch immer gegen andersgesinnte Religionsparteien wüthet und die Nichtkatholiken von manchen Vorrechten des Bürgers ausschließt, die Wuth der Parteien, die unaufhörlich um die Alleinherrschaft einer nur dem Namen nach freien Reichsstadt kämpften, und endlich der finstere Despotismus der Zünfte zur Sittenverderbniß, zur Verblendung über das wahre Beste des gemeinen Wesens und des einzelnen Bürgers, zum Müßiggang, zur Bettelei und zur Entvölkerung kräftig mitgewirkt. Wo ist der Wohlstand, der so vielen ihn untergrabenden Feinden widerstehen könnte? Was echte Bürgertugend allein wider die übrigen ungünstigen Umstände vermocht hätte, steht dahin; mit ihr hat man die Probe nicht gemacht, und ohne sie verblühen die Staaten, selbst im Schoße des Glücks!

Die Unordnungen, welche aus der fehlerhaften Constitution von Aachen entsprangen, hatten bereits vor drei Jahren ihren höchsten Punkt erreicht; denn so lange ist es her, daß die streitenden Parteien in offenbare Gewaltthätigkeit gegeneinander ausbrachen, daß eine kaiserliche Commission zur Untersuchung und Abstellung der Misbräuche niedergesetzt ward, und daß fünfhundert Mann Pfälzer die Ruhe in der Stadt erzwingen und den Verordnungen der Commissarien Nachdruck geben mußten. Die Commission versammelt sich in eben dem Saale, wo im Jahre 1748 der Aachener Friede geschlossen ward. Sie wird den Zweck ihrer Sendung wahrscheinlich bald erreicht haben; denn endlich sind die Aachener ihrer eigenen Thorheiten müde, und je näher ihnen der Zeitpunkt entgegenrückt, wo sie die nachtheiligen Folgen der unter ihnen herrschenden Verbitterung in ihrem ganzen Umfange fühlen werden, desto geneigter lassen sie sich finden, die vorgeschlagenen Mittel zu einem dauernden Vergleich anzunehmen. Man sollte denken, die ungeheuern Kosten der Einquartierung und des Processes müßten die hiesige Bürgerschaft schon längst zur Besonnenheit gebracht haben; allein diese Summen, die sich in die Hunderttausende belaufen, scheinen um deswillen auf den ergrimmten Parteigeist weniger gewirkt zu haben, weil man sie durch Anleihen bestreitet, die erst der künftigen Generation zur Last fallen werden. Hätte man den redlich gemeinten Vorschlag, sie durch eine Steuer zu tilgen, genehmigt, so würde man sich eher gehütet haben, sie zu hoch heranwachsen zu lassen. Was indeß kräftiger auf die Gemüther wirkt, als selbst der Eigennutz, das ist in diesem Augenblicke die Macht der Wahrheit. In einer Angelegenheit, wo es so leicht möglich ist, sich für die eine oder die andere Partei einnehmen zu lassen, hat die strenge Unparteilichkeit des Herrn von Dohm Christian Wilhelm von Dohm, geb. 1751 zu Lemgo, Kriegsrath im preußischen Ministerium des Auswärtigen, beschäftigt in den aachener und lütticher Händeln, als bedeutender Staatsmann in den Ereignissen der nächsten Jahrzehnte mitthätig. Später königlich westfälischer Staatsrath und Gesandter in Dresden, bat er 1810 um seine Entlassung und lebte fortan bis zu seinem Tode (1820) staatsmännischen Studien auf seinem Gute Pustleben in der Grafschaft Hohenstein. Anmerkung d. Hg. das völlige Vertrauen beider gewonnen, und sein neuer Plan zur Verbesserung ihrer Constitution, der bis auf den letzten Bogen abgedruckt ist, wird vermuthlich bei ihrem bevorstehenden Vergleiche nicht blos zum Grunde gelegt, sondern in allen wesentlichen Stücken wirklich angenommen werden. Alle Schwierigkeiten zu heben, allen Mängeln abzuhelfen, ist vielleicht eine Aufgabe, welche die Kräfte eines jeden politischen Reformators übersteigt. Wenn es auch anginge, die Bande der Gesellschaft auf einen Augenblick gänzlich aufzuheben und so zu Werke zu gehen, als ob noch keine Verfassung existirt hätte, so sind doch die Verhältnisse der Menschen untereinander zu mannichfaltig verwickelt und ihre Gemüther zu vielen Localeindrücken unterworfen, um nicht aus dem Besten, was man ihnen in abstracto zur Richtschnur vorschlagen könnte, etwas sehr Mangelhaftes und sogar Nachtheiliges in concreto zu machen. Mehrentheils aber läßt sich eine gewaltsame Auflösung der Verfassungen gar nicht einmal denken, und man sieht sich genöthigt, alle Bemühungen lediglich auf die Abstellung einzelner Misbräuche, auf die Verbesserung einzelner ins Große wirkenden und alles zerrüttenden Fehler zu richten. Vielleicht ist es in den meisten Fällen wirklich rathsamer, eine alte fehlerhafte Constitution zu bessern, als eine ganz neue zu organisiren und sich der Gefahr auszusetzen, daß durch die Gärung, die bei der Einführung alles Neuen unvermeidlich ist, das Ganze eine andere als die gehoffte Form gewinne, oder daß nun Lücken und Gebrechen sich offenbaren, welche vielleicht größeres Unheil stiften als jenes, dem man abhelfen wollte.

Mäßigung ist die Tugend, welche unserm Zeitalter vor allen andern am meisten zu fehlen scheint. Vielleicht hat es so sein müssen, daß gerade jetzt gewaltsame Bewegungen von einem Extrem zum andern eine gefährliche Stockung in dem großen Gange der Menschheit verhüten; allein was der Philosoph als unausbleiblich und nothwendig anerkennt, ist darum in seinen Wirkungen nicht weniger traurig, und allein von der ruhigen, bescheidenen, ohne alle äußere Gewalt, blos durch Gründe sanft überredenden Vernunft ist Rettung zu erwarten. Ueberall sind die Leidenschaften aufgeregt, und wo sie immer Gesetze geben, da ist jederzeit Gefahr, daß Ungerechtigkeiten eine Sanction erhalten, sie mögen gerichtet sein gegen welchen Theil der bürgerlichen Gesellschaft sie wollen. Das Volk ist selten zurückhaltender oder billiger als der Despot; denn moralische Vollkommenheit konnte ihm ja der Despotismus nicht geben, und mit welchem Rechte will man Mäßigung von ihm erwarten, wenn man es geiselt, bis es in Wuth geräth und seinen unbarmherzigen Treiber nun zu zertreten droht? Unter solchen Umständen ist allerdings die Dazwischenkunft eines unparteiischen, billigen Dritten die wesentlichste Wohlthat, die einem zerrütteten Staate widerfahren kann. Weises Nachgeben von beiden Seiten, wozu er sie auffordern muß, kann alsdann eine dauerhafte Wiederherstellung bewirken. Allein die schwerste Aufgabe von allen besteht wol darin, wie die Stimme der Mäßigung sich in leidenschaftlichen, aufgebrachten Gemüthern Eingang verschaffen könne. Dies gehört unstreitig zu den vielen Dingen in der Oekonomie des Menschengeschlechts, welche sich durch keine Vorschrift bestimmen und mittheilen lassen, weil sie ihren besonders dazu gebildeten Mann erfordern. Von dieser Seite werden die Schicksale der Erdbewohner von menschlicher Klugheit immer unabhängig und einer höhern Willkür oder der Nothwendigkeit und ihrer Ordnung unterworfen bleiben. Welch eine Verkettung nicht vorher zu berechnender Begebenheiten ist es, die gerade den anspruchslosen, tugendhaften Mann, dessen höchstes Ziel die Beförderung des gemeinschaftlichen Besten aller ist, den gründlichen, durch Erfahrung gebildeten, von allen Theorien zurückgekommenen Denker in Eine Person mit dem politischen Organ der Könige vereinigt und ihn jene Gewalt, die, wo sie sich ins Spiel mischt, nur Zwang gebiert, nur die Symptome ändern, nicht aber die Krankheit heben kann, mit einer Größe, deren nur die Weisheit fähig ist, zurückhalten läßt, um die Würde seiner Mitgeschöpfe zu schonen!

Nicht nach Idealen, die man sich aus philosophischen Compendien abstrahiren kann, sondern nach dem Bedürfnisse der Zeit und der Umstände wird der Werth der vorgeschlagenen neuverbesserten Verfassung von Aachen geschätzt werden müssen. Die Ideale aller Art sind, was schon ihr Name anzudeuten scheint, Schöpfungen des Verstandes und viel zu zart gewebt, um für die Wirklichkeit sich zu schicken. Das praktisch Anwendbare muß aus gröberm Stoffe gebildet, materieller wenn man will, aber ebendarum natürlicher und menschlicher sein. Daß ich dabei den Nutzen des Idealisch-Vollkommenen in sittlicher Rücksicht nicht verkenne, verbürgt Dir mein Enthusiasmus für dasselbe in Beziehung aus Sinnlichkeit und Kunst. Ahnen müssen wir wenigstens die Vollkommenheit, die wir nicht erreichen; sonst versinken wir bald in einen Grad der innern Unempfänglichkeit, welche unserer höchsten Bestimmung entgegenläuft. Freiheit und Gesetz sind beide die Heiligthümer der Menschheit; und dennoch wäre es kurzsichtig geträumt, dort, wo die Natur Ungleichheit setzte, gleiche Rechte fordern, oder auf der andern Seite aus Gerechtigkeitsliebe das fehlende Geschlecht sogleich vertilgen zu wollen. Wie tief mußten Menschen nicht sinken, wie unfähig, sich an die Stelle anderer zu versetzen und die Würde eines freien denkenden Wesens zu empfinden, mußten sie nicht geworden sein, ehe sie das fürchterliche Fiat justitia et pereat mundus! (Gerechtigkeit! und ginge die Welt darüber zu Grunde!) nur ohne Schauder aussprechen lernten! Und wenn nun vollends Menschen das, was ihnen Gerechtigkeit dünkt, nach diesem Wahlspruch handhaben wollen, dann, guter Himmel! wäre freilich wol jener Zustand des ungebundenen Wilden noch vorzuziehen, der sich nie von solchen Träumern, was gerecht sei, vordemonstriren ließ und gleichwol das Unrecht so lebhaft empfindet und es so muthig aus allen Kräften zurückstößt. Auch das Ideal der Levellers Gleichmacher, eine schwärmerische, in der Zeit der englischen Republik unter Cromwell (um 1650) emporgekommene religiös-politische Sekte, welche alle Unterschiede der Stände, des Vermögens, der Macht aufheben und alles gleichmachen, nivelliren ( level) wollte. Anmerkung d. Hg., wenn es zur Ausführung käme, entrisse uns alle Vortheile der sittlichen Cultur, wiewol es seines Ursprungs wegen immer noch verzeihlicher bleibt; denn es entstand aus einer allzu vortheilhaften, hingegen das Ideal der Rechtsgelehrten aus einer allzu schlechten Meinung von unserer Natur. Zwischen den Gedankenbildern dieser entgegengesetzten Phantasien liegt ein Mittelweg, der um so weniger trügt, je sorgfältiger derjenige, der ihn wandelt, bei jedem Schritte auf diese hinblickt und, was sie Gutes haben, benutzt.

Die vierzehn Zünfte von Aachen mußten also beibehalten werden, wenn man sich nicht aus dem einmal angenommenen Zuschnitt einer deutschen Reichsstadt hinausträumen wollte, so verderblich an sich, so nachtheilig allem Flor und aller Vervollkommnung der Fabriken und Handwerker auch das Zunftwesen bleibt. Was man thun konnte, bestand lediglich darin, die Zünfte selbst untereinander so zu organisiren, daß eine gleichförmigere Repräsentation durch sie bewirkt werden konnte. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts wählen die Bürger von Aachen, die in den Zünften eingeschrieben sind, ihren Magistrat. Vor diesem Zeitpunkte tyrannisirte ein sogenannter Erbrath von lebenslänglichen Bürgermeistern und andere Beamten die Stadt. Allein bald fand man wieder Mittel, die alljährliche Wahl zu lenken, wohin man wollte, und selbst das Gesetz, daß niemand zwei Jahre lang hintereinander Bürgermeister sein darf, wußte man so geschickt zu umgehen, daß derselbe Mann oft zwanzig bis dreißig Jahre lang regierte, indem er sich ein Jahr ums andere wählen ließ und in den Zwischenräumen zwar einem andern den Namen, jedoch nicht auch zugleich die Macht dieser wichtigen, beinahe uneingeschränkten Magistratur überließ. Wie dieser Misbrauch sich einschleichen konnte, begreift man nur, wenn man die bisherige Beschaffenheit der Zünfte näher untersucht. Da jede Zunft vier Rathspersonen wählt, so hat die Intrigue gewonnenes Spiel bei einer so auffallenden Ungleichheit in der Zahl der Wählenden, wie sie hier in verschiedenen Zünften stattfindet. Die Krämerzunft z. B. besteht aus zwölfhundert Köpfen, und die Kupferschmiedemeisterzunft nur aus zwölf. Wie leicht konnte man also nicht in solchen kleinen Zünften eine Mehrheit der Stimmen erkaufen und mit derselben der Mehrheit der Bürgerschaft spotten! Ein nicht minder auffallendes Gebrechen der Verfassung besteht darin, daß ein großer Theil der Bürgerschaft auch nicht einmal zum Scheine im Rathe vorgestellt wird und von allem Antheil an der gesetzgebenden Macht gänzlich ausgeschlossen ist. So verhält es sich mit der zahlreichen Weberzunft, die wirklich keine Repräsentanten wählt und in jener obenangeführten Zahl von vierzehn Bürgercorporationen nicht mitbegriffen ist. Dagegen entschädigt sie sich aber bisjetzt durch einen Handwerksdespotismus, welcher zum Verfall der Tuchfabriken in Aachen die nächste Veranlassung gibt. Das Werkmeistergericht, welches zum Theil aus dieser Zunft besteht, zwingt unter andern jeden Webermeister, sich auf vier Weberstühle und ebenso viele Gesellen einzuschränken. Bei dieser Einrichtung wird es dem Fabrikanten unmöglich, nur den redlichen, fleißigen und geschickten Arbeiter zu beschäftigen; er sieht sich gezwungen, da er außer den Ringmauern der Stadt nicht weben lassen darf, auch unter die Nachlässigen, Unwissenden und Gewissenlosen Wolle zu vertheilen und, da diese zugleich bei weitem die zahlreichsten sind, größtentheils nur schlechte Waare zu liefern. Ebendiesem Zunftzwange, welcher auch das Weber- und Schererhandwerk trennt und den Protestanten, die doch den größten Theil der Tuchfabrikanten ausmachen, dabei weniger Nachsicht als den Katholiken gestattet, ist die Entstehung der sogenannten Kauftücher, die aus gestohlener Wolle fabricirt werden, zuzuschreiben. Unter dem Vorwande, ihre eigene Wolle wiederzukaufen, treiben manche Fabrikanten einen öffentlichen Handel mit dieser Waare, die ihnen von den Arbeitern geliefert wird. Was die Strenge des Zunftgeistes auf einer Seite schon verdarb, das richtet die Gelindigkeit der Polizei und des Raths nun völlig zu Grunde. Die gegen den Unterschleif mit gestohlener Wolle vorhandenen Gesetze sind gänzlich außer Observanz; die Stadt hält über die Eigenschaft der in ihren Mauern verfertigten Waaren keine Aufsicht; sie gestattet in Fallitsachen statt des Concurses ein Präferenzrecht, welches allen Credit untergräbt und durch Vervielfältigung der Bankrotte bis ins Unendliche die Schande des Betrugs hinwegnimmt; sie duldete noch vor kurzem die Hazardspiele; sie privilegirt das Lotto und schützt die Wucherer. Kaum wird man glauben, daß ein kleiner Staat, der außer der Abhängigkeit von der Reichsverfassung keine andere Einschränkung erkennt, so muthwillig auf dem geraden Wege zu seinem Verderben fortschreiten konnte. Allein wo es an einem gesunden und umfassenden Ueberblick fehlt, da lassen sich auch die Bessergesinnten durch Schein von Betriebsamkeit täuschen, an einen vermeintlichen Flor des Staats zu glauben, der zuletzt wie eine Traumgestalt plötzlich verschwindet, wenn eine heftige Erschütterung, wie die im Jahre 1786, ihnen die Augen nun öffnet. Weil noch jährlich neue Fabrikanten in Aachen sich niederließen, so schmeichelte man sich, daß die Vortheile, welche sich ihnen hier darböten, nirgends überwogen werden könnten, und bedachte nicht, daß die einzige Aufmunterung zur Errichtung einer Manufactur in Aachen lediglich in der Menge von bequemen Häusern besteht, die man um billige Preise miethen kann. Weil noch alljährlich eine nicht geringe Anzahl von Cur- und Badegästen die Stadt besucht, um die reelle oder eingebildete Wohlthat ihrer mineralischen Quellen zu genießen, so ließ man sich von dem Schimmer des beschleunigten Geldumlaufs und Waarenabsatzes, den diese Besuche hervorbringen, durch die Bewegung, welche die Gegenwart der Fremden auch den Einwohnern mittheilt, durch die Lustbarkeiten, womit sie sich die Zeit verkürzen, durch das Spiel, welches noch täuschendere Scheingestalten von Reichthum und Ueberfluß herbeizaubert, zum Glauben an ihr wirkliches Dasein hinreißen.

Nicht daran zu denken, wie wenig Wesentliches diesen angeblichen Vortheilen bei einer nähern Beleuchtung übrigbleibt, so konnte wol nichts unbesonnener sein als die Hoffnung, immerdar auf ihren ausschließenden Besitz rechnen zu dürfen. Schon jetzt, dicht vor den Thoren von Aachen, in dem Flecken Burtscheid, werden die heißen Quellen denen in der Stadt von vielen vorgezogen. Die Landluft, die schöne Gegend, die Verbannung alles Zwanges aus den Sitten ziehen die Fremden haufenweise dorthin, indem die Nähe von Aachen ihnen alle Annehmlichkeiten eines städtischen Aufenthalts ohne das Ungemach desselben gewährt. Doch diese Rivalität wäre in der That unbedeutend, wenn sich nicht eine zweite, im Punkt der Fabriken, hinzugesellte. Rechtschaffene, unternehmende Männer, die dem Unsinn des Zunftwesens nicht länger fröhnen und durch Verfertigung schlechter Tücher ihren Credit nicht länger aufs Spiel setzen wollten, zogen sich allmählich von Aachen zurück und ließen sich in der umliegenden Gegend auf holländischem oder kaiserlichem Boden nieder, wo es ihnen freistand, ihre Fabriken vollständig einzurichten, und wo sie keine andere Einschränkung als das Maß ihrer Kräfte und den Umfang ihres Vermögens kannten. Zu Burtscheid, Vaals, Eupen, Montjoie, Verviers und überhaupt in ganz Limburg entstanden unzählige Tuchfabriken, wovon einige jährlich ein Vermögen von einer halben Million in den schnellsten Umlauf bringen und ihre Comptoire theils in Cadix, theils in Konstantinopel und Smyrna errichtet haben, dort die spanische Wolle ausführen, hier die reichen Tücher wieder absetzen.

Die Folgen einer in allen Stücken so gänzlich verfehlten Administration sind auch dem blödesten Auge sichtbar. Die Straßen von Aachen wimmeln von Bettlern, und das Sittenverderbniß ist, in der geringern Volksklasse zumal, so allgemein, daß man die Klagen darüber zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften hört. Wie konnte sich auch bei dem gemeinen Manne die Spur von Rechtschaffenheit und von Grundsätzen erhalten, wenn er das Beispiel der schändlichsten Verwaltung öffentlicher Gelder ungeahndet vor Augen behielt? Seine Kinder wurden Wolldiebe, Müßiggänger und Lottospieler, folglich bald auch die verderbteste Gattung von Bettlern. Unter diesen Umständen mußte der Gesetzgeber ein ungleich schwereres Problem zu lösen suchen als seine Vorgänger in alten Zeiten; denn rohe Menschen zur Tugend anführen, ist ein ganz anderes und meines Bedünkens ungleich leichteres Geschäft, als gefallenen, zur Gewohnheit des Lasters herabgewürdigten die Tugend wiederzugeben. Daß eine weise Verfassung in einem hohen Grade auf diesen Zweck hinwirken könne, ist unleugbar, wenn man nicht allen Unterschied zwischen guten und schlechten Verfassungen wegdisputiren will; allein ich mag nicht berechnen, wieviel der Druck ungünstiger Umstände, die eine Reform von Grund aus nicht gestatten, an dem gewünschten Erfolge schmälern könne. Die Folge der Zeiten entscheide und rechtfertige den Redlichen, der, wo er das Beste nicht anwenden durfte, noch den Muth behielt, unter dem minder Guten das Bessere zu empfehlen.

Genehmigt die Stadt Aachen den ihr vorgeschlagenen Constitutionsplan, so wird sie in dem darin bestimmten Bürgerausschuß das Bollwerk ihrer bürgerlichen Freiheit finden. Zwischen das Volk und die vollziehende Gewalt diese Mittelspersonen hinzustellen, die das Interesse des erstern gegen alle Bedrückung sichern und zugleich den unzeitigen Ausbrüchen des Freiheitseifers, der so selten seine Schranken anerkennt, durch ihr Alter und das Ansehen ihrer Tugend wehren sollen – dies konnte, so einleuchtend und allbefriedigend es auch ist, dennoch hier nur von dem Geiste der Mäßigung herstammen, dessen Rathschläge sich auf tiefe Menschenkenntniß und auf den großen Erfahrungssatz gründen, daß keine moralische Freiheit je so vollkommen gedacht werden könne, um die Zulassung einer absoluten bürgerlichen zu rechtfertigen. Von der Masse des Menschengeschlechts, nach ihrer jetzigen Sittlichkeit zu schließen, ist nur unausbleiblicher Misbrauch der reinen, absoluten Freiheit, sobald sie ihr verliehen würde, zu erwarten. Nur der Tugendhafte im erhabensten Sinne verdient diese Freiheit; allein kann sie, kann die völlige Gesetzlosigkeit ihm wol mehr eben, als was er in der Unabhängigkeit seines Geistes von allem Bösen schon besitzt? Wenn es ein Ideal dieser Art oder auch nur daran grenzende Menschen gibt, so ist doch ihre Anzahl viel zu unbedeutend, um bei dem Entwurfe gesellschaftlicher Verträge in Anschlag gebracht zu werden. Alle solche Verträge sind Nothbehelfe unserer Unvollkommenheit und können ihrer Natur nach nichts anderes als einen relativen, erreichbaren, ich möchte sagen mittlern Grad der bürgerlichen sowol als der moralischen Freiheit durch eine zweckmäßige Vertheilung der Kräfte und das dadurch entstehende künstliche Gegengewicht der Theile des Staats untereinander bewirken. Wie sanft muß das Haupt dessen ruhen, der einem zerrütteten, seiner Auflösung nahen Staate zur Wiedererlangung dieser Freiheit neue Kräfte und Organe schuf!



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