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XI.
Lüttich.

Aussicht der Stadt. Französische Nationalzüge in Bildung und Charakter der Lütticher. Wallonische Sprache. Reise von Aachen nach Lüttich. Ansicht des Limburgischen. Brabantische Miliz. Abstich der lütticher Nationaltruppen dagegen. Stimmung des Volks. Freiheitssinn. Apologie der uneingeschränkten Denk- und Sprechfreiheit. Definition der Bestimmung des Menschen. Abweichung des wirklich Existirenden vom hypothetischen Unbedingten. Politische Verfassung von Lüttich seit 1316 bis 1789. Misbrauch der Gewalt. Von willkürlicher Gewalt nicht zu unterscheidender rechtmäßiger Zwang. Grund der wirklich bestehenden Verfassungen. Unveräußerliche Rechte des Menschen. Ursachen von dem Unbestande der Verfassungen. Antinomien der Politik. Gleich unausführbare Entwürfe zur Universalmonarchie und zum allgemeinen Staatenbunde. Ringende Kräfte im Menschen und in der ganzen Natur. Blick über Lüttich von der Citadelle. Politik der Nachbarn. Vertheidigungsanstalten. Unfall, der den preußischen General betroffen hat.

Es kommt mir vor, als wären wir durch den Schlag einer Zauberruthe in ein anderes Land versetzt, so unendlich verschieden ist alles, was ich hier um mich sehe, von demjenigen, was ich noch vor wenigen Stunden in Aachen verließ. Schon der erste Anblick der Stadt war überraschend. Man wird sie aus der Ferne nicht gewahr, denn sie liegt in einem tiefen Thal an der Maas, die in mehrere kleinere Arme zerspringt. Es gibt wenig schönere Aussichten auf eine gleichsam unter den Füßen liegende Stadt als diese, die ich von der Kartause hinunter, indem wir hineinfuhren, genoß. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich hatte mich auf ein kleines Städtchen gefaßt gemacht; und wie erstaunte ich nun, als ich eine große Stadt erblickte, die hunderttausend Einwohner enthalten kann und wirklich enthält. Wunderschön schlängelt sich die Maas, die hier noch von mittlerer Breite ist, hindurch und nähert sich bald auf der einen, bald auf der andern Seite dem Abhange der Berge, zwischen denen sich das Thal als eine Ebene, so weit das Auge trägt, mehrentheils mit Hopfen bepflanzte und mit einigem Wiesewachs vermannichfaltigte Fläche zieht. Nach allen Richtungen ist die Stadt mit Steinkohlengruben umgeben, ja sie steht zum Theil auf den bereits abgebauten, ausgehöhlten Kohlenbergwerken. Zu beiden Seiten des Flusses, jedoch so, daß auf die Exposition nach Süden Rücksicht genommen wird, an den in einiger Entfernung sich erhebenden Gehängen des Thals erstrecken sich weitläufige Weinberge, die also wieder, wie die bei Hochheim, auf Steinkohlen liegen. Die Flötze sind sehr beträchtlich und an manchen Stellen tief unter dem Bette der Maas bereits ausgeleert. Die entferntern Hügel sind mit Ulmen, Pappeln und andern Bäumen bewachsen und mit Landhäusern, Schlössern u. s. w. reichlich verziert. Am Ufer des Flusses erstreckt sich ein Quai, der sich in eine schöne hochstämmige Allee endigt.

Die Straßen von Lüttich sind enge, winklicht, krumm und nicht sehr reinlich; es gibt indeß doch mehrere schöne Gebäude; an dem Quai, an den offenen Plätzen und auf der sogenannten Insel hinter der St.-Jakobskirche bemerkte ich eine Menge guter neuer Häuser. Der bischöfliche Palast ist ein Viereck, dessen inwendiger Hof rundum einen Säulengang hat, wenn man anders die abscheulichen, kurzen, bauchigen Dinge mit Capitälern und Fußgestellen so nennen will. Die äußere Facciate hingegen, nach der Kathedralkirche zu, ist desto schöner, in einem guten Geschmack, mit rein ionischen Pilastern. Die Dominicanerkirche mit einer schönen, runden, einfachen Cupole, die nach einer in Rom copirt ist, zeichnet sich ebenfalls vortheilhaft aus. Die alte gothische Kathedralkirche bot uns dafür desto weniger Bemerkenswerthes dar.

Der beständig fortdauernde Lärm und das Gewühl in den Straßen zeugt von einer außerordentlichen Betriebsamkeit. Dieses Schauspiel von durcheinanderlaufenden geschäftigen Menschen, so schmuzig auch die meisten aussehen, gewährt mir einen außerordentlichen, sehr lange entbehrten Genuß. Die Köhler, die Messer- und Waffenschmiede und die Spiegelmacher sind ein rohes, aber rüstiges, lebhaftes, heftiges Volk, deren Thätigkeit mit dem Phlegma der Aachener schneidend contrastirt. Die Volksphysiognomien haben hohe, gerade in die Höhe gehende, an den Seiten zusammengedrückte Stirnen, breite Jochbeine, schwarze, nicht gar große Augen, wohlgebildete, zuweilen ein wenig aufgeworfene Nasen und dicke Lippen, bei einem nicht gar reinen Teint. Sie nähern sich also den französischen und unterscheiden sich auffallend von den jülichschen, die, gewöhnlich bei einer sehr weißen Hautfarbe und blondem Haar, durch die länglichtfleischige Form des Gesichts und die weichern Züge eine gewisse Verwandtschaft mit den Niederländern verrathen. Die Lütticher können ihr französisches Blut nicht verleugnen; sie sind ebenso leichtsinnig-fröhlich, ebenso gutmüthig, ebenso mit einer, ich möchte sagen, angeborenen Höflichkeit begabt und sprechen auch einerlei Sprache, wiewol so durchaus mit Provinzialismen verdorben, daß ein Mitglied der pariser Akademie sie schwerlich für Brüder erkennen würde. Außerdem spricht das gemeine Volk eine Art Kauderwelsch, welches man unter dem Namen der wallonischen Mundart kennt. Dieses ist den Fremden völlig unverständlich, indem die ursprünglich altfranzösischen Wörter ganz verunstaltet, bald abgekürzt, bald mit andern Endungen und in einer ganz besondern Construction erscheinen. So zum Beispiel heißt: lei po wei, laßt mich sehen, statt des französischen laissez-moi voir; und wieder: serre l'hou, mach die Thüre zu, statt ferme la porte. In dem letztern Ausdruck ist hou das altfranzösische huis, wovon noch à huis clos und huissier übrig sind. Französische Eleganz habe ich in den Kleidertrachten, zumal der geringern Klasse, freilich nicht bemerkt; doch diese würde man auch in Frankreich selbst bei dieser Klasse vergebens suchen. Die lütticher Weiber tragen kurze gestreifte Röcke, Leibchen oder auch eine Art weiter Jacken von Kattun mit Aermeln, die mit demselben Zeug frisirt sind, und Kattunmäntel, die aber nur bis an die Taille reichen. Wenn sie ausgehen, binden sie ein roth- und gelbgeflecktes Baumwollentuch über die Haube um den Kopf; doch gehört dieser Putz vermuthlich nur zu den Verwahrungen, die der noch immer fortdauernde scharfe Nordwind nothwendig macht.

Unsere Fahrt von Aachen hierher, auf der Diligence, zeichnete sich wenig aus. Wir hatten die ersten Plätze, allein beim Einsteigen fanden wir drei Frauenzimmer darauf; folglich schwiegen wir von unsern Ansprüchen und setzten uns, wo wir zukommen konnten. Einmal saßen elf Personen in diesem ungeheuern Wagen, weil unterwegs einige Passagiere abstiegen und mehrere hinzukamen. Die Gespräche über politische Gegenstände nahmen kein Ende. Es freute mich indes, die erstaunliche Menge neuer Ideen in Umlauf anzutreffen, da sie vor zehn Jahren zuverlässig allgemeines Aufsehen oder gar die Indignation der Majorität auf den Postwagen in Deutschland und Brabant erregt hätten.

Nachdem wir durch einen schweren Sandweg in einer tiefen Schlucht die Höhe des Bergs, der das Gebiet der Stadt Aachen von der Provinz Limburg scheidet, erreicht hatten, lag dieses herrliche Land wie ein Garten vor uns, und je weiter wir hineinkamen, desto reizender ward die Aussicht auf die kleinen umzäunten Wiesen und Viehweiden, welche die sanften, wellenförmigen Hügel bedecken. Ueberall ist diese Gegend mit einzelnen oder höchstens zu drei und vier beisammengestellten Hütten gleichsam besäet, die zum Theil massiv oder von Backsteinen, zum Theil von Fachwerk gebaut, ein wohlhabendes Völkchen andeuten, das hier von der Viehzucht und vom Wollspinnen lebt. Auf viele Meilen weit sieht man die wogichten Hügel überall mit lebendigen Heerden und hier und dort auch mit hochstämmigen Bäumen geziert; auf Meilen weit liegen ein paar gute Büchsenschüsse voneinander die einzelnen Bauerhütten. Es ist unmöglich, sich hier etwas anderes als Einfalt und Gleichheit der Einwohner zu denken; man irrt in Gedanken von Haus zu Haus und erblickt überall fleißige Spinner, frohe Hirten und reinliche Käsemacher. Die Ufer der Maas begrenzen endlich diese Aussicht, indem sie unweit Mastricht in der Ferne den jähen weißen Absturz dem Auge darbieten, der mit seinen häufigen Petrefacten den Naturforschern unter dem Namen des Petersberges bekannt ist. Clermont, ein artiges Dörfchen, liegt am Wege, und in dieser Gegend schien uns die limburgische Landschaft vorzüglich reich und schön. Auf den ersten Blick hat es etwas Einladendes, wenn man so die zerstreuten Wohnungen sieht, wo jeder um seine Hütte her sein Fleckchen Landes besitzt, sein Vieh darauf weiden läßt oder auch, wie es weiterhin nach Lüttich zu der Fall ist, seinen Weizen säet. Man denkt sich dabei eine natürliche Bestimmung des Menschen, die Erde zu bauen und zu besitzen. Allein diese Vereinzelung kann ihn nicht bilden, und der zehnte Theil aller in ihn gelegten Kräfte wäre für den Hirten hinreichend gewesen. Sollte der Mensch inne werden, was es sei, das sich in ihm regt, so mußte sich in verschiedenen einzelnen bald diese, bald jene Fähigkeit entwickeln auf Kosten jener allzu einfachen Bestimmung, welche die Wohlthaten des geselligen Lebens nicht kennt, weil seine Bedürfnisse ihm fremd sind. Ich habe die guten Limburger nicht in der Nähe beobachten können; allein ihre Vereinzelung gibt mir Ursache zu vermuthen, daß ihr Ideenkreis äußerst eingeschränkt sein müsse.

In den Städten mag es indeß schon anders beschaffen sein. Hier sahen wir zum ersten mal die brabantische Cocarde, dieses furchtbare, nun aber so oft ohne echten Freiheitssinn nachgeahmte Freiheitszeichen; auch begegneten uns einige brabantische Truppen, deren Anblick indeß keine Ehrfurcht einflößte. Sie schienen völlig undisciplinirt, wußten ihr Gewehr nicht zu regieren und sollen auch von der im Dienste unentbehrlichen Subordination gar keine Begriffe haben. Ihre Kleidung ist ein bloßer Ueberrock, der schlechterdings kein militärisches Ansehen hat. Außer diesem einzigen Stücke, welches ihnen eine gewisse Uniformität gibt, sieht ihr übriger Anzug buntscheckig und oft zerrissen aus. Die meisten, die uns zu Gesicht kamen, waren junge Leute, und einige konnte man beinahe noch Kinder nennen. Ihre Erscheinung in der Provinz mag indeß die Staaten von Limburg über ihre eigene Sicherheit ein wenig beruhigt haben; denn weil sie sich gewisse Rechte anmaßten, die das Volk ihnen nicht zugestehen will, zogen sie bisher von einem Ort zum andern, von Herve nach Battice und von da noch näher an Aachen, in das Dorf Henri-chapelle, wo sie in einer elenden Schenke ihre Versammlungen halten.

Der Abstich von jenen erbärmlichen Rotten des brabantischen Pfaffendespotismus zu diesen rüstigen Lüttichern gehörte mit zu den Dingen, die uns gleich bei dem Eintritt in die Stadt in Erstaunen setzten. Sowol die eigentlichen besoldeten Stadttruppen als die Freiwilligen sind gut und zum Theil recht schön gekleidet. Es ist ein allgemeines Regen und Gären unter ihnen und im Volke wegen des bevorstehenden Abmarsches der Preußen. Vielleicht hat auch die Gegenwart und das Beispiel dieser musterhaften Truppen dazu beigetragen, ihnen die Begriffe von Disciplin, Subordination und Taktik näher zu bringen, als sonst geschehen wäre; vielleicht haben sie ihnen das Exerciren abgesehen und sich geschämt, im Beisein ihrer Meister schlecht zu bestehen; vielleicht kann man endlich auch vermuthen, daß Menschen, deren Gewerbe in der Fabrikation von Gewehren und in den anstrengenden Köhlerarbeiten besteht, einestheils mit den Waffen selbst vertrauter, anderntheils aber beherzter und gleichgültiger gegen die Gefahr sein müssen als die brabantischen Bauern und die limburgischen Hirten. Wirklich scheint es, wenn Muth den Mangel an Disciplin ersetzen kann, daß sie nur eines geschickten Anführers bedürfen, um für die Verfassung, die sie sich selbst gegeben haben, mit Nachdruck zu streiten.

Wir wanderten durch die Straßen und suchten uns soviel als möglich mit dem Volk in Unterredung einzulassen, um uns durch eigene Erfahrung von der herrschenden Stimmung zu überzeugen. Es bedurfte keiner Künste, um die Leute zur Sprache zu bringen. Sie waren durchgehends von ihren politischen Verhältnissen bis zum Ueberströmen voll, hingen daran mit unglaublichem Eifer und schienen sich im gegenwärtigen Zeitpunkte, wie alle freie Völker, mit den öffentlichen Angelegenheiten beinahe mehr als mit ihren Privatbedürfnissen zu beschäftigen. Ueber die damaligen politischen Verhältnisse von Lüttich vgl. den Aufsatz »Der lütticher Executionszug 1789 und 1790«, von H. L., in Raumer's »Historischem Taschenbuch«, 1866, vierte Folge, siebenter Jahrgang. Anmerkung d. Hg. Die Namen des Königs von Preußen, des Grafen von Herzberg Ewald Friedrich Graf von Herzberg (1725-95), berühmter preußischer Staatsmann, Minister unter Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. Anmerkung d. Hg., des Generals von Schlieffen Martin Ernst von Schlieffen, geb. 1732 auf dem pommerschen Familiengut Pudenzig bei Gollnow, trat in hessische Dienste, stieg bis zum Generallieutenant und Minister; 1790 in preußische Dienste tretend, nahm er als commandirender General am Zuge nach Lüttich theil und lebte schließlich lange Jahre auf seinem Gut Windhausen bei Kassel, wo er 1825 starb. Anmerkung d. Hg. und des Herrn von Dohm wurden nicht anders als mit einem Ausdruck der Verehrung und Liebe, mit einer Art von Enthusiasmus genannt. Man hatte uns schon in Aachen erzählt, und hier bestätigte es sich, daß der letztere den Umarmungen der Köhlerweiber, welche hier die pariser Poissarden die Fischhändlerinnen in Paris, machten sich in der Französischen Revolution durch Roheit und Grausamkeit berüchtigt. Anmerkung d. Hg. vorstellen können, mit Noth entgangen sei. Zum Lobe der preußischen Truppen und ihrer vortrefflichen Mannszucht vereinigten sich alle Stimmen. » Ils sont doux comme des agneaux«, sagten sie, und hinterdrein erscholl die wahre französische Ruhmredigkeit mit der Betheuerung, daß, wenn sie es nicht wären, on leur feroit voir du païs; denn die Zuversicht, womit sie auf ihre eigenen Kräfte trotzen, geht ins Hyperbolische und reißt sie zu Aeußerungen hin, die in ihrem Munde nichts bedeuten, aber doch wie Beleidigungen klingen. Bei dem natürlichen Hange der Menschen, das Langgewohnte für etwas Nothwendiges und Gutes zu halten, folglich ihre Vorgesetzten, blos weil es die ihrigen sind und man es ihnen so gelehrt hat, zu ehren und zu lieben, muß in der That eine schrecklich empörende Mishandlung des Volks hier vorhergegangen sein, um dieses Band zu zerreißen und den hohen Grad von Erbitterung, der sich durchgängig äußert, gegen den Bischof zu erwecken. Die Wuth – man kann es kaum anders nennen, was sie bei dem Nennen seines Namens augenblicklich entflammt – die Wuth ging so weit, daß sie sich gegen ihn der härtesten Ausdrücke bedienten und ohne alle Zurückhaltung von ihm als von einem verworfenen, des Fürstenstuhls unwürdigen Menschen sprachen. Ebenso kühn und trotzig wütheten sie gegen das wetzlarische Kammergericht und die deutschen Fürsten, die ihre vermeinte Nothwehr gegen die Tyrannei wie einen Aufruhr behandeln; diese wurden nicht ohne Verwünschungen genannt, und wir sahen die eifrigen Patrioten auffahren bei dem Gedanken, daß ihnen eine unwillkommene Coadjutorschaft bevorgestanden habe. Mit dem Fürstenhasse verbindet sich zugleich ein allgemeines Misfallen an dem ganzen Priesterstande, das beinahe in Verachtung und Indignation gegen diese Klasse und, weil der rohe Haufe weder unterscheidet noch prüft, bei vielen auch gegen die Religion übergeht. Wie das Volk seine Religionsbegriffe blos auf Treu und Glauben, nicht nach vernünftiger und freiwilliger Prüfung angenommen hat, so muß seine Anhänglichkeit an dieselben endlich geschwächt werden, wenn das Vertrauen auf seine Lehrer verschwindet. Der état primaire, worunter das Domkapitel verstanden wird, hat sich durch den Vorschlag einer Kopfsteuer, welche auf die ärmern Volksklassen zurückfallen würde, statt des von ihm erwarteten Darlehns, bei den Einwohnern nicht zum besten empfohlen.

In den Wirthshäusern und Kaffeehäusern sahen wir fleißige Zeitungsleser, und selbst der gemeine Mann politisirte bei seiner Flasche Bier von den Rechten der Menschheit und allen den neuen Gegenständen des Nachdenkens, die seit einem Zeitabschnitte von ein paar Jahren endlich auch auf dem festen Lande in Umlauf gekommen sind. In den müßigen Zwischenräumen, welche die Sorge für die Befriedigung des physischen Bedürfnisses übrig läßt, fordert der Geist Beschäftigung. Entweder muß er seine Phantasie mit hyperphysischen Träumen wiegen, die er nicht zergliedern und nach dem Gesetz des Widerspruchs beurtheilen kann, oder ein Wort, zum Beispiel: Freiheit, das ohne Metaphysik unverständlich ist, muß sich seiner bemächtigen und ihn im Kreise umherwirbeln, das Spiel einer fortwährenden petitionis principii. Indeß so unfähig die Lütticher auch sind, einen Streit über die Grundsätze des geselligen Lebens, den die Philosophen selbst noch nicht ins Reine brachten, abzuurtheilen: so genau sind sie doch von den Thatsachen unterrichtet, welche ihre gegenwärtigen Angelegenheiten betreffen, und hier wie überall entscheidet das Gefühl augenblicklich, ehe noch die Vernunft, die das Vergangene und das Zukünftige bis an die äußersten Grenzen der Zeit mit in ihre Entscheidungsgründe einschließt, sich aus dem Chaos entgegengesetzter Verhältnisse herauswirren kann.

Die wichtigen Fragen, worüber wir hier deraisonniren hörten, kann zwar ein Köhler oder ein Schwertfeger nicht entscheiden, allein unter allen Menschen, denen diese Fragen zu Ohren gekommen sind – wie viele gibt es, deren Vernunft für competent zur Entscheidung gelten kann? Und werden diese competenten Richter unter sich einig sein? Wahrhaftig, wenn niemand sich unterstehen dürfte, über Dinge zu sprechen, oder vielmehr seine Verstandskräfte in Dingen zu üben, die er nicht rein bis auf die letzten Gründe sich entwickeln kann, so gehörte die große Masse der fürstlichen Automaten, des ungebildeten und ausgearteten Adels, der juristischen Tröpfe, der Theologen, die ihre Dogmatik nur auswendig wissen, zu den ersten, denen man Stillschweigen gebieten müßte, indeß nur wahre Weise sprechen und – was mehr ist – regieren dürften. Neben so vielen Rechten, welche die Menschen veräußern und übertragen konnten, um den Vortheil der Vereinigung zu einem Staate zu genießen, gibt es auch andere, welche ihrer Natur nach unveräußerlich sind; und unter diesen steht das Recht, ihre Geistesfähigkeiten durch Entwickelung, Uebung und Ausbildung zu vervollkommnen, obenan. Wenn ein Vertrag die Sklaverei gutheißen und den unumschränkten Willen eines Tyrannen für rechtmäßig erklären könnte, so darf doch selbst das Leibeigenthum, welches jemand besitzt, ihm nicht zum Vorwande dienen, seine Sklaven an der Erreichung ihrer Bestimmung als Menschen zu verhindern. Oder geht die Anmaßung der Tyrannei so weit, daß sie ihren Opfern auch diese Bestimmung abspricht? Darf sie im Ernste der Natur so schrecklich spotten und ohne Hehl den Sklaven zum Thier herabwürdigen wollen? Darf sie sich das Recht zusprechen, einem Menschen Vernunft und Menschheit auszuziehen? Dann regte sich alles, was noch Menschheit im Busen fühlt, gegen das Ungeheuer, das seine Größe nur auf Zerstörung baut.

Wenn wir nicht auf Inconsequenzen verfallen wollen, die alle Bestimmung unmöglich machen und den Grund aller Verträge und aller Rechte untergraben, so muß selbst die despotische Regierungsform eben den Zweck haben, den die Natur mit einem jeden einzelnen Dasein eines vernünftigen Wesens erreicht wissen wollte, den Zweck, den unsere Vernunft uns unaufhörlich vor Augen hält, den höchstmöglichen Grad sittlicher Vollkommenheit durch die Entwickelung aller in uns gelegten Anlagen zu erreichen. Dem Bande der Gesellschaft, durch welches diese Entwickelung auf eine vollkommenere Art als im gesetzlosen Zustande erreicht werden kann, opfern wir gewisse Mittel zur Ausbildung freiwillig auf. Wir leiden gewisse Einschränkungen unserer äußerlichen Freiheit, unserer Handlungen; wir thun Verzicht auf die vollkommene Gleichheit unserer Rechte, um, im Staate vereinigt, mit desto größerer Sicherheit auf dem Wege der moralischen Vervollkommnung ungehindert fortzuschreiten. Die Erbärmlichkeit, womit unzählige Menschen, durch falsche Vorstellungen geleitet, an der bloßen Existenz als an dem höchsten Gute hangen, mag vielleicht dazu mitgewirkt haben, bei den unumschränkten Herrschern den hohen Grad von Verachtung gegen ihre Unterthanen zu erregen, vermöge dessen sie ihnen unendlich viel Gnade zu erzeigen glauben, wenn sie ihnen nur das Leben und die Mittel zu seiner kümmerlichen Erhaltung schenken. Allein wie gesagt, hier ist nicht die Rede von den Irrwegen, auf welche der menschliche Geist gerathen kann, wenn er sich selbst als alleinigen Zweck und alles andere, die Menschen sogar nicht ausgeschlossen, als um seinetwillen geschaffen wähnt; sondern wir suchen hier den einzig möglichen Grund, auf welchem die schon bestehenden Verträge zwischen den Gliedern der Gesellschaft beruhen und auf welchen die Herrscher im Staate vor dem Richterstuhle der Vernunft ihr Recht beziehen können. Ein Vertrag ist nichtig, der die Sittlichkeit verletzt, und eine Staatsverfassung hat keinen Augenblick eine rechtmäßige Existenz, wenn sie sogar ihren Gliedern die Möglichkeit einer sittlichen Vervollkommnung raubt. Diese Vervollkommnung aber setzt den uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft und des gesammten Erkenntnißvermögens voraus; sie heischt sogar Freiheit des Willens, worauf nur da Verzicht gethan werden darf, wo gewisse Handlungen der fremden Willkür zum gemeinschaftlichen Besten aller, das heißt zur Beförderung der allgemeinen Vollkommenheit, unterworfen werden müssen. Jede Einschränkung des Willens, die nicht zur Erhaltung des Staats unentbehrlich ist, wird der Sittlichkeit seiner Glieder gefährlich, und die Gefahr einer solchen Verwahrlosung der eigentlichen Herrscherpflicht ist groß genug, um weisen Despoten ihren Weg vorzuzeichnen und sie aufzufordern, ihren Unterthanen die uneingeschränkte Religions-, Gewissens-, Unterredungs- und Preßfreiheit zuzugestehen, ja sogar über die Verhältnisse des Staats, über seine Mängel und die Mittel ihnen abzuhelfen, keines Menschen Nachdenken und Bemühung, sich und andere zu unterrichten, ein Ziel zu stecken. Friedrich der Einzige war auch in diesem Stücke consequent und allen künftigen Alleinherrschern ein Muster.

Immerhin mögen die Vertheidiger des Despotismus über die gehoffte Vervollkommnung des Menschengeschlechts lachen! Ich lache gern mit ihnen, wenn von der Realisirung eines Ideals der sittlichen Vollkommenheit die Rede ist. Wie das Ideal des sinnlichen Vollkommenen kann es nur in der Phantasie des Philosophen existiren und hat nicht einmal den Grad von Realität, den der Künstler im Bilde dem Idealisch-Schönen geben kann. Allein es heißt zu früh gelacht, wenn nicht der höchste denkbare Punkt der Vollkommenheit als wirklich erreichbar angenommen, sondern nur die Freiheit, in der Entwickelung jedes einzelnen so weit zu kommen, als Organisation, inneres Kraftmaß und natürliche Beziehungen es jedesmal gestatten, von dem Staate und seinen Herrschern gefordert wird. Erfahrung und Geschichte lehren unwidersprechlich, daß die Menschen zu allen Zeiten von den Vorschriften, die sich aus dem Wesen der menschlichen Vernunft ableiten lassen, abgewichen sind, um einem willenlosen Begehrungsvermögen zu gehorchen; überall sehen wir die Vernunft im Streite mit blos thierischen Kräften, und in unzähligen Fällen bemerken wir den Sieg der gesetzlosen Sinnlichkeit. Aber im innersten Grunde unsers Wesens liegt der Maßstab, womit wir alles messen und würdigen können, das eigenthümliche moralische Gefühl, welches keinem einzigen Vernünftigen fehlt und in welchem die Unterschiede des Guten und Bösen, wie die Unterschiede des Schönen und Häßlichen im Sinnengefühl, ursprünglich gegründet sind. Auf ein solches allen gemeinschaftliches Gefühl, welches den Operationen der Vernunft eine unabänderliche Norm ertheilt, nicht auf einzelne Erscheinungen aus der wirklichen Welt lassen sich die unbedingten, allgemein bindenden Bestimmungen gründen, ohne welche die physische Gewalt nicht blos ein untergeordnetes Mittel wäre, rechtmäßige Ansprüche geltend zu machen, sondern selbst zum höchsten Gesetz und zur alleinigen Quelle des Rechts erhoben werden müßte. Wie furchtbar aber wäre dieses Recht des Stärkern allen Staatsverfassungen, die nicht auf eine gleichförmige Vertheilung der Kräfte gegründet sind, sondern in denen wenige schwache Einzelne ihr Herrscheramt von der unsichern Trägheit oder Convenienz der Menge abhangen lassen und dem Volke beim ersten Erwachen des Bewußtseins seiner Uebermacht weichen müßten?

Es schmälert nichts an der Vollkommenheit und Allgemeinheit der Regel, daß sie unaufhörlich übertreten wird. Willkürliche Gewalt mischt sich in die meisten Handlungen der Völker und der ungleichartigen Bestandtheile eines Staats gegeneinander. Auch kann nichts anderes erwartet werden, solange es keine vollkommen vernünftigen Menschen gibt, die aller Vorsicht ohnehin entübrig sein könnten. Wir haben inzwischen doch den großen Fortschritt gewonnen, von der rohen Thierheit zur Anerkennung der Majestätsrechte der Vernunft. Alles erweist der Vernunft die höchste Ehre keiner will sich der Gewalt bedient haben, blos weil er sich stärker fühlte, sondern weil er besser, richtiger, weiser dachte und es dem anerkannten Rechte schuldig zu sein glaubte, dem blinden Gegner mit derben Faustschlägen die Augen und das Verständniß zu öffnen. Mit diesem feinen Unterschiede ist es aber im Grunde noch nicht weit her; denn weil die allgemein gültige Vernunft nirgends geltend gemacht ist, so trifft das Compliment jedesmal nur die eigene Vernunft des einzelnen Menschen; ihr huldigt er, denn sie ist das Höchste, was er hat, so unvollkommen sie auch sein mag. Von den Prämissen, die sie ihm darbietet, muß er ausgehen; denn sie sind ihm in Ermangelung des Bessern unfehlbar, und was er daraus fortschließt, das sind ihm ebenso unfehlbare Schlüsse. Wie entscheidet man nun aber zwischen zwei streitenden Parteien, die sich beide auf ihr in Vernunft gegründetes Recht berufen? Wo man nicht überreden kann, braucht man Gewalt; und siehe da! – der Stärkere behält recht. Ist die Vernunft also wol mehr als ein bloßer Vorwand, sie nämlich, die sich im einzelnen Menschen nach dem Maße von Empfindungskräften, welche Natur und Zeit und Umstände ihm verliehen, so leicht von seinen Leidenschaften bestechen oder wenigstens besiegen läßt? Vielleicht dürfte man aber auch ebendeswegen mit gutem Fug behaupten, daß in der natürlichen Ungleichheit der Menschen, in Absicht auf Organisation, physisches Kraftmaß und Seelenvermögen, und in ihrer, von keines Menschen Willen gänzlich abhängigen Verschiedenheit der Ausbildung, welche ganz verschiedene Grade von Leidenschaft und alle die unendlich nuancirten Charaktere des wirklichen Lebens hervorbringen, der große Kunstgriff liegt, vermöge dessen die Natur den Menschen einzig und allein vor dem Herabsinken in einen todten Mechanismus von Formeln und Schlüssen bewahren konnte. Ein jeder soll nur Kräfte zur Vollkommenheit ausbilden; darum wird er mit bloßen Anlagen ohne alle Entwickelung geboren. Leuchtete allen schon dieselbe moralische Sonne im Busen, erfüllte und wärmte sie alles mit ihrer unüberwindlichen Wahrheit, dann glichen wahrscheinlich auch unsere Handlungen dem Sternentanze, der nach »großen, ewigen, ehernen Gesetzen« abgemessen, nicht die kleinste Spur von Freiheit und eigener Kraft des Willens zeigt, sondern auf ewige Zeiten hin vorausberechnet werden kann. Ach, daß uns ja das edle Vorrecht bleibe, inconsequent und incalculabel zu sein!

Die politische Lage von Lüttich veranlaßte diese Streiferei in das philosophische Gebiet und mag sie nun auch entschuldigen. Du weißt, daß der General von Schlieffen mit 6000 Mann Preußen seit ungefähr vier Monaten die Stadt Lüttich und ihre Citadelle besetzt; jetzt muß ich Dir erzählen, warum das geschehen sei, und Du wirst Dich wundern, daß die Sache, von der man so viel Aufhebens macht, so einfach ist. Der im Jahr 1316 zwischen allen Ständen und Klassen des lütticher Volks abgeschlossene Vertrag oder Friede ( paix) von Fexhe enthält die Grundverfassung dieses Hochstifts. Wie zu jenen dunkeln Zeiten ein Vertrag zu Stande gekommen sein mag, dessen Vortrefflichkeit man sogar mit der britischen Constitution zu vergleichen wagt, will ich unerörtert lassen; genug, er ward mit Gewalt errungen und mit vergossenem Bürgerblute besiegelt und war nicht das Werk einer allgemeinen, freien, zwanglosen Ueberzeugung. Ein mächtiger Bischof, der zugleich Kurfürst von Köln und Bischof von Hildesheim war, that im Jahre 1684 einen gewaltsamen Eingriff in diese Verfassung, indem er den dritten Stand gänzlich von sich abhängig machte und in politischer Rücksicht gleichsam vernichtete, das Recht die Magistratspersonen in den Städten zu ernennen, dem Volk entriß und an sich zog, also zugleich den andern höhern Ständen furchtbar ward. Indeß besaß die Geistlichkeit zwei Drittheile des Bodens im ganzen Hochstift und war von Abgaben frei: ein Umstand, welcher mit der behaupteten Aehnlichkeit zwischen der hiesigen Verfassung und der englischen lächerlich contrastirt. Die Geistlichkeit sah also bei ihrem sichern Genusse gleichgültig zu, daß die Lasten des Volks sich täglich vermehrten. Allein der Zeitpunkt rückte heran, wo zur Erleichterung desselben geschritten werden mußte. Der jetzige Fürstbischof sah sich genöthigt, im vorigen Jahre (1789) eine Versammlung der Stände zusammenzuberufen und zugleich der Geistlichkeit für die Zukunft die Uebernahme ihres Theils an den Abgaben anzumuthen. Wiederholte Aeußerungen der immer mehr um sich greifenden Eigenmacht des Bischofs hatten während der Zeit den Bruch zwischen ihm und den Ständen so sehr erweitert, daß das Beispiel von Frankreich und Brabant kaum nöthig war, um eine von jenen gewaltsamen Krisen zu bewirken, welche allenthalben, wo es dem Despotismus noch nicht gelungen ist, die unterjochten Völker um alle Besonnenheit zu bringen und unter die Thierheit hinabzustoßen, früher oder später die unausbleibliche Folge des zu weit getriebenen Druckes ist.

Das Domkapitel sah wohl ein, daß dies nicht der Zeitpunkt wäre, wo es sich weigern dürfte, zur Tilgung der auf ungeheuere Summen angehäuften Staatsschuld beizutragen, und beschloß auf den ersten Wink des Fürsten, seinen bisherigen Exemptionen zu entsagen. Das Volk von Lüttich aber drang bei dieser Veranlassung der Quelle der Malversationen näher, und um das Uebel mit der Wurzel auszurotten, forderte es die Abschaffung des Edicts von 1684, zwang den bisherigen Stadtmagistrat, seine Aemter niederzulegen und ernannte seit mehr als hundert Jahren zum ersten mal wieder neue Magistratspersonen.

Eine Veränderung von dieser Wichtigkeit, so heftig auch die Bewegung war, die sie in den Gemüthern voraussetzt, konnte dennoch ohne irgendeine das Gefühl empörende That vollbracht werden, sobald das Volk Einigkeit mit sich selbst hatte und niemand es wagte, ihm Widerstand zu leisten. Dies war hier wirklich der glückliche Fall. In der Nacht vom 17. auf den 18. August schrieb der Fürstbischof ein Billet, worin er zu allem, was man vornehmen möchte, vorläufig seine Einwilligung gab, und noch an dem Tage der neuen Wahl begab er sich auf die Einladung einer Deputation aus dem Magistrat von seinem Lustschlosse Seraing nach dem Rathhause, wohin das Volk seinen Wagen zog.

Diese Freude und der Taumel, den sie verursachte, waren jedoch von kurzer Dauer; denn bereits am 27. August entwich der Bischof heimlich aus seinem Lustschlosse Seraing nach der bei Trier gelegenen Abtei St.-Maximin. Hatte er also auch zehn Tage lang die Maßregeln seines Volks gebilligt, die Wahl der neuen Bürgermeister als rechtmäßig anerkannt, diese an seine Tafel eingeladen, sie in seinem Wagen fahren lassen, mit ihnen Rath gepflogen und den Ständen schriftlich bezeugt, daß er um seiner Gesundheit willen verreisen müsse, aber im Angesicht der ganzen Welt alle Klagen, die vielleicht in seinem Namen angebracht werden könnten, für null und nichtig erkläre: so bleibt es doch immer möglich und wahrscheinlich, daß er zu allen diesen Schritten durch Furcht vor unangenehmen Folgen gezwungen zu sein glaubte. Das Reichskammergericht in Wetzlar mochte wol den Vorgang in Lüttich aus diesem Gesichtspunkte angesehen haben, indem es bereits am Tage der Entweichung des Bischofs, aus eigener Bewegung und ohne daß ein Kläger aufgetreten wäre, gegen die Lütticher, als Empörer, Execution erkannte. Da auch der Bischof nicht säumte, die kreisausschreibenden Fürsten um die unbedingteste Vollstreckung dieses Urtheils zu ersuchen, so leidet es weiter keinen Zweifel, daß er aufhörte, die Rechtmäßigkeit des Verfahrens seiner Untergebenen anzuerkennen, sobald er sich vor ihrer Ahndung sicher glaubte.

Gewalt also, nicht der sanft überredenden Vernunft, sondern der physischen Ueberlegenheit, brachte in diesem kleinen Staate wie in jedem andern alle Veränderungen hervor, soweit sie sich hinaufwärts in das dunkle Mittelalter verfolgen lassen und wie sie noch vor unsern Augen entstehen. Gewalt begründete den Frieden von 1316, den Despotismus von 1684 und die wiedererrungene Volksfreiheit von 1789; Gewalt soll den Richterspruch von Wetzlar unterstützen; und sie ist es eben, nicht die Vortrefflichkeit und innere Gerechtigkeit der Sache, die vielleicht den Lüttichern ihre Verfassung zusichern wird. Das ist der Lauf der Weltbegebenheiten, wobei sich nichts so zuträgt, wie es sich nach der a priori entworfenen Vernunftregel zutragen sollte. Gesellschaften und Staaten bildeten sich schon zu der Zeit, da die Vernunft im Menschen noch unentwickelt lag, da sie seinen thierischen Kräften unterworfen war, Kampf ging den Verträgen zuvor. Siegte auch die billigste Partei, so ward dennoch den Anmaßungen der Besiegten Zwang angethan. Waren Herrschbegierige die Sieger, so entstanden tyrannische Unterschiede im Volk und die feudalische Abhängigkeit verwandelte sich nur langsam in eine hartgemischte Verfassung von mehrern Ständen, die immer nicht in gleichem Maße die Last des gemeinschaftlichen Bundes trugen. Selbst in England, bei einer Verfassung, zu welcher die Völker Europens mit Neid und Begierde hinaufsehen, wird das Volk nicht vollkommen repräsentirt, und seine beinahe uneingeschränkte bürgerliche Freiheit ist bei den Gebrechen der politischen immer noch in Gefahr. Allerdings hing es nicht von der Willkür des Volks ab, sich eine vollkommenere Verfassung zu geben; alles entstand nach und nach unter mehr oder minder günstigen Umständen; da es die Macht in Händen hatte, mangelte es ihm an Einsicht, und als es Einsicht erlangte, war die Gelegenheit ihm entschlüpft.

Wohin führen uns diese Erfahrungssätze? Etwa zur Festsetzung des Begriffs von Recht? Nein; dieser ist bestimmt und unerschütterlich auf die uns bewußten Formen der Sittlichkeit gegründet, nach welchen wir Befugniß zu allen Handlungen haben, die zu unserer sittlichen Vollkommenheit unentbehrlich sind, ohne der Vervollkommnung anderer im Wege zu stehen. Aber das können und sollen hier jene aus der Erfahrung entlehnten Thatsachen beweisen, daß der Zwang, wodurch ein Recht behauptet werden muß, von willkürlicher Gewalt nicht unterschieden werden kann, sobald das Recht nicht außer allem Zweifel anerkannt ist. Wenn aber die Parteien, die zusammen einen Vertrag geschlossen haben, über ihre Rechte in Streit gerathen, wer soll dann oberster Schiedsrichter sein? Wessen Vernunft sollen beide für weiser und vollkommener als die ihrige erkennen? Wessen Aussprüche sollen sie als wahr und der Natur der Dinge gemäß befolgen? Wie, wenn die eine Partei durch die Gründe des Schiedsrichters nicht zu überzeugen ist, wenn sie ihn für ungerecht, bestochen oder nicht für aufrichtig und mit sich selbst einig hält? Wird sie, wenn er der andern Partei das Zwangsrecht zugesteht, jedes Bestreben, sie zu zwingen, nicht für unerlaubte Gewaltthätigkeit halten? Wo bleibt alsdann die Entscheidung? Ist es alsdann genug, daß die eine Partei zahlreicher und stärker ist, um alle Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, daß das Recht auf ihrer Seite sei? Ist es zum Beispiel hinreichend, daß in dem Falle von Lüttich die ganze Nation gegen Einen Menschen streitet, um zu beweisen, daß er wirklich unrecht habe? Oder tritt der Fall nicht mehrmals ein, wo der Philosoph und der Geschichtschreiber mit dem Dichter ausrufen müssen: Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni! Die vom Schicksal begünstigte Partei hatte den Rechtschaffenen zum Feinde? Gibt es überhaupt ein anderes untrügliches Kennzeichen eines gegründeten Rechts als die freiwillige Anerkennung desselben von demjenigen selbst, gegen den man es behauptet? Dies ist der große, himmelweite Unterschied zwischen den unbedingten Sätzen einer theoretischen Wissenschaft, und ihrer Anwendung auf das praktische Leben; so schwer, so unmöglich ist es, in bestimmten Fällen apodiktisch über Recht und Unrecht zu entscheiden!

Welcher Mensch, dem ein Unrecht geschehen ist, oder – was hier gleich gilt – der fest überzeugt ist, daß man ihm unrecht gethan habe, wird warten, bis er seinem Widersacher dieses Unrecht begreiflich machen kann, wird sich auf Ueberredung einschränken, wenn sich ihm andere, kräftigere Mittel darbieten, sein Recht zu behaupten? Ist das Unrecht von der Beschaffenheit, daß es ihm mit Verlust des Lebens, oder mit Verstümmelung, oder mit Beraubung der Zwecke des Lebens, mit der Unmöglichkeit seine wahre sittliche Bestimmung zu erreichen droht, so versteht es sich von selbst, daß er es nicht darauf ankommen läßt, ob die Drohung in Erfüllung gehe, wenn er es anders noch verhindern kann. Es muß also von einem Augenblick zum andern im menschlichen Leben geurtheilt und gerichtet sein, ohne daß man abwarten kann, ob das Gericht und Urtheil von allen Menschen gebilligt und als übereinstimmend mit der allgemein gültigen Vernunft anerkannt werde.

Auf dieser Nothwendigkeit beruhen ja wirklich alle Gesetzgebungen und politischen Verträge. Freiwillig oder aus Noth, zu Vermeidung eines größern Uebels, erkannte man eine weisere Einsicht als die eigene, die jeder selbst besaß; man wollte nun nicht länger in der Ungewißheit leben, nicht länger Recht gegen Recht aufstellen und sich in endlosen Zwist verwickeln; Eines Mannes Vernunft sollte nun einmal allen für untrüglich gelten; oder man schuf sich auf die möglichen Rechtsfälle, die zur Entscheidung vorkommen möchten, eine wörtlich bestimmte Vorschrift und setzte die Verhältnisse aller Glieder im Staate untereinander fest. Man bevollmächtigte sogar denjenigen, dessen Einsicht man sich anvertraute, jeden, der sich etwa weigere, diesem Vertrage gemäß zu handeln und den Gesetzen Folge zu leisten, mit Gewalt dazu zu nöthigen und durch Strafen jede Uebertretung zu ahnden. Wenn indeß ewiges Beharren in einem und demselben Gleise die Absicht dieser Verabredungen war, so beweist nicht nur der Erfolg die Vergeblichkeit eines solchen Bemühens, sondern es läßt sich schon aus dem unsteten Grunde, worauf wir hier die Verfassungen und Gesetzgebungen ruhen sehen, ihre Vergänglichkeit voraus verkündigen. Nicht einmal eine Verfassung, welche auf vollkommene Sittlichkeit wirklich abzweckte, würde ihrer Dauer sicher sein, sobald sie mächtige Nachbarn hätte, die nicht auf diesen Zweck hinarbeiteten; wie viel weniger kann man solchen Verfassungen Dauer versprechen, die auf die sittliche Vollkommenheit des Menschen nicht ihr vorzüglichstes Augenmerk richten! Je weiter sie sich davon entfernen, desto unsicherer ist ihre Existenz; denn die Zeitfolge entwickelt Begebenheiten, verändert innere und äußere Verhältnisse, bringt Krisen hervor, welche dem unvollkommen organisirten Staate allemal gefährlicher sind und früher auf ihn eine nachtheilige Wirkung äußern als auf einen solchen, dessen Bürger, da ein gemeinschaftlicher Zweck sie fest verbindet, miteinander im Gleichgewichte stehen.

Was aus Noth oder Ueberdruß am Streite und mit Aufopferung der eigenen Einsicht sowol als der eigenen Rechte entstand, das liegt als unverbrüchliches Gesetz, als heilig zu bewahrende Form, unter dem Siegel des Vertrags und drückt auf diejenige Hälfte der Bürger im Staate, die von ihren Rechten das meiste fahren ließ. Waren nun unter den Punkten, die sie aus Kurzsichtigkeit versprachen, auch unveräußerliche Rechte, solche nämlich, deren Aufopferung schlechterdings der Erreichung ihrer sittlichen Bestimmung widerstreitet, so ist die Verfassung schon ihrer Natur nach vor dem Richterstuhl der Vernunft null und nichtig und kann sich nur durch verübte Gewalt, ohne alles Recht, gegen die bessere Einsicht behaupten, die der unterdrückte Bürger schon mit schmerzlicher Erfahrung erkaufen wird. Hier tritt also der Fall ein, wo das buchstäbliche, verabredete, positive Recht dem wahren, in den ursprünglichen Denkformen des Verstandes fest gegründeten, natürlichen Rechte widerspricht, wo also der Zwang, der zur Behauptung des erstern verübt werden darf, die Gestalt der Gewaltthätigkeit annimmt und, insofern ein jeder auf seinem Rechte besteht, nicht von demselben unterschieden werden kann. Viel muß man zwar gutwillig erdulden, um nicht durch voreilige Widersetzlichkeit, indem man dem kleinern Uebel abhelfen will, das größere, den Umsturz des Staats und die gänzliche Auflösung der Bande der Gesellschaft, zu bewirken. Die Erfahrung lehrt auch, daß aus Unwissenheit, aus Liebe zum Frieden, aus Trägheit und Gewohnheit, aus Scheu vor den Folgen, aus religiösem Vorurtheil unendlich viel geduldet wird. Die Erfahrung lehrt wol noch mehr. Durch sie werden wir inne, daß, so lange die Gebrechen des Staats noch nicht zu einer unheilbaren und dem blödesten Auge sichtlichen Krankheit herangewachsen sind, es ungleich leichter ist, den einmal vorhandenen Umschwung der Staatsmaschine zu erhalten, als ihn gänzlich zu hemmen und eine andere Bewegung an seiner Stelle hervorzubringen. Das Geheimniß aller anmaßenden Regenten, aus dessen Untrüglichkeit sie getrost fortsündigen, liegt in dem Erfahrungssatze, daß der Mensch, der einmal ein unveräußerliches Recht aus den Händen gegeben hat, sich unglaublich viel bieten läßt, was er als Freier nimmermehr geduldet hätte. Er fühlt sich ohnmächtig gegen die herrschende Gewalt; wo er hinblickt, sieht er seine Brüder erniedrigt wie sich selbst, durch Vorurtheil und Sklavenfurcht und Anhänglichkeit an das Leben vielleicht schon außer Stande, zu ihrer Befreiung zu wirken; endlich sinkt er selbst in seiner eigenen Achtung durch die Verleugnung seines Verstandes, oder er zweifelt, daß eigene Empfindung und Einsicht ihn richtig leiten, wenn er einsam dasteht und niemand auf seinem Wege erblickt, der ihn verstände.

Die strengsten Herrscher hüten sich indeß, wenn sie nur ihr Interesse kennen, daß sie das göttliche Fünkchen Vernunft, welches den Menschen vor allen leblosen Werkzeugen und vor allen Lastthieren den entschiedensten Vorzug gibt, nicht ganz und gar ersticken. Unter allen Nationen in Europa haben die Polen allein die Unwissenheit und Barbarei so weit getrieben, in ihren Leibeigenen beinahe die letzte Spur der Denkkraft zu vertilgen; dafür aber tragen sie selbst die härteste Strafe, theils indem der viehische Unterthan ihnen kaum den zehnten Theil der Einkünfte liefert, den der freiere, glücklichere, vernünftige Bauer ihnen eintragen würde, theils weil sie selbst, ohne alle Unterstützung und Beihülfe von der unterjochten Volksklasse, durch ihre Ohnmacht der Spott und das Spiel aller ihrer Nachbarn geworden sind. Die weitaussehende Verschmitztheit der gewöhnlichen Despoten läuft also darauf hinaus, der Vernunft des Volks gerade nur so viel Spielraum zu lassen, als zur Beförderung ihres selbstsüchtigen Genusses nöthig scheint, übrigens aber sie mit Nebel zu umhüllen, durch furchtbare Drohungen ihr Schranken zu setzen, durch Zeitvertreib sie zu zerstreuen und durch allerlei Gespenster sie in Schrecken zu jagen.

Diese armselige Politik treibt ihr inconsequentes Spiel, solange es gehen will; glücklich, wenn sie das Wesentliche von dem Unbedeutenden abzusondern versteht und das Volk nicht blos zu amusiren, sondern auch zu füttern weiß. Im entgegengesetzten Falle wird doch zuletzt der Druck unerträglich; er bringt den Grad schmerzhafter Empfindung hervor, welcher selbst das Leben wagen lehrt, um nur des Schmerzes los zu werden; und wenn dann alle Gemüther reif und reizbar sind, so bedarf es nur jenes Menschen, der im Palais-Royal zu Paris auf einen Schemel stieg und dem Volke zurief: »Ihr Herren, ich weiß, man hängt mich auf; aber ich wage meinen Hals und sage euch: greift zu den Waffen!«

Buffon erklärte sich die abstoßenden Kräfte in der Physik, indem er voraussetzte, sie würden nur alsdann wirksam, wenn die Theilchen der Materie, die einander anziehen, solange sie in gewisser Entfernung voneinander bleiben, plötzlich allzu nahe, innerhalb des Kreises der Anziehung aneinandergeriethen; alsdann, meinte er, stießen sie sich mit eben der Gewalt zurück, womit sie sonst zusammenhielten. Dies kann wenigstens als Bild auch für die Erscheinungen gelten. Es gibt einen Kreis, innerhalb dessen die Macht des Herrschers nie muß fühlbar werden, bei Strafe, ihren Namen zu verändern und negativ zu heißen, so positiv sie vorher war. Der Funke, der auf einer gleichartigen Substanz erlischt, kann einen Brand erregen, wenn er brennliche Stoffe schon entwickelt findet, und heterogene Materien können sich unter Umständen sogar von selbst entzünden. Ich erinnere mich hierbei einer Stelle im Cardinal Retz Jean François Paul de Gondi, Cardinal von Retz (1614-79), stand mit an der Spitze jener Erhebung des Adels gegen den Cardinal Mazarin, welche um 1648 unter dem Namen der Fronde in der französischen Geschichte bekannt ist. Verhaftet, entwich er, lebte lange im Ausland und kehrte erst nach Mazarin's Tod (1661) nach Frankreich zurück. Er starb zu Paris. Seine Memoiren sind sehr bedeutsam zur Kenntniß der Zeitgeschichte. Anmerkung d. Hg., wo er sagt: zur Entstehung einer Revolution sei es oft hinreichend, daß man sie sich als etwas Leichtes denke. Die ganze Stelle ist so schön, daß ich sie wieder nachgeschlagen habe und hier einrücke: »Ce qui cause l'assoupissement dans les états qui souffrent, est la durée du mal, qui saisit l'imagination des hommes et qui leur fait croire qu'il ne finira jamais. Aussitôt qu'ils trouvent jour à en sortir, ce qui ne manque jamais lorsqu'il est venu à un certain point, ils sont si surpris, si aises et si emportés, qu'ils passent tout d'un coup à l'autre extrèmitè et que bien loin de considérer les révolutions comme impossibles, ils les croient faciles, et cette disposition toute seule est quelquefois capable de les faire.« In der That, welche Auflösung, welche Gärung setzt diese Stimmung der Gemüther nicht voraus? Ueber wie viele sonst abschreckende Ideenverbindungen muß ein Volk sich nicht hinausgesetzt haben, ehe es in seiner Verzweiflung diesen Gedanken faßt? Alle jene Uebel, welche vor alters zur Vereinigung in einem Staat, zur Unterwerfung unter die Gesetze, vielleicht unter den Willen Eines Herrschers so unaufhaltsam antrieben, werden vergessen; das gegenwärtige Uebel verschlingt diese Erinnerung; jede Partei reclamirt ihre Rechte mit Gewalt, und der Kampf geht wieder von vorn an.

Die Gebrechen einer Staatsverfassung können indeß ebenso wohl auch ohne eine heftige Erschütterung gehoben werden, wenn man sich in Zeiten guter Vorbauungsmittel bedient und unvermerkt dem ganzen Staate die rechte Richtung nach seinem wahren Ziele sittlicher Vervollkommnung gibt. In Despotien haben wir das Beispiel, daß weise Regenten es ihre vorzügliche Sorge sein ließen, die bürgerliche Gesetzgebung zu vervollkommnen, und sich dann selbst den neuen Codex zum unverbrüchlichen Gesetze machten, damit auch einst, wenn eingeschränktere Einsichten den Staat regieren sollten, eine Richtschnur vorhanden sein möchte, um ihnen ihren Weg vorzuzeichnen und das Gefühl von Recht und Unrecht bei dem Volke zu schärfen. Allmählich bilden sich in solchen mit Weisheit beherrschten Staaten neue, von der obersten Gewalt immer unabhängigere Kräfte; die verschiedenen Volksklassen dürfen die ihnen im Gesetze zugestandenen Vorrechte behaupten; der Wohlstand, der eine Folge milder und zweckmäßiger Politik ist, gibt ihnen Muth und Kräfte, jedem eigenmächtigen Eingriffe Widerstand zu leisten; Stände und Municipalitäten erhalten einen Wirkungskreis, und es geht zwar langsam, aber desto sicherer eine allgemeine und allen Gliedern des Staats gleich vortheilhafte Veränderung der Verfassung vor sich. Offenbar zwecken viele Einrichtungen sowol des verstorbenen Königs als seines Nachfolgers in den preußischen Staaten dahin ab; und dies ist der Grund, weshalb in jenen Staaten auch nicht die entfernteste Besorgniß einer Gärung im Volke vorhanden ist.

Ich habe mir es nicht versagen können, Dir wenigstens etwas von den Ideen mitzutheilen, die mir zuströmen, seitdem ich über die jetzige Lage von Lüttich nachdenke. Von allen jenen Vordersätzen wage ich indeß nicht, die Anwendung auf diesen individuellen Fall zu machen und die eine oder die andere Partei zu verdammen. Um das zu können, müßte man in die Geheimnisse der Cabinete eingeweiht und bis zur Epoptie Forster schreibt unrichtig Epopsie – (griechisch), das Schauen, letzte und höchste Einweihung der Epopten, d. i. der Schauenden, in die Eleusinischen Mysterien. Anmerkung d. Hg. darin gekommen sein, ein Punkt, wo nach dem Ausspruche der Geweihten die Entscheidungsgründe, womit wir Laien uns so gern befassen, in tiefes Stillschweigen begraben, die Urtheile hingegen mit der unfehlbaren Autorität von Orakelsprüchen der profanen Welt verkündigt werden. Demüthiger, als ich bin, will ich mich gleichwol nicht stellen; Du weißt, ich halte nichts von Tugenden, die sich mit Gepränge anmelden, und, Scherz beiseite, wenn ich alles erwäge, was ich soeben hingeschrieben habe, kommt es mir mehr als problematisch vor, daß diese Sache so von der Hand sich aburtheilen lasse, wofern man nicht gewohnt ist, mit Machtsprüchen um sich zu werfen oder auf morsche Grundlagen zu bauen. Der wüthigste Demokrat und der eigenmächtigste Despot führen heutigestags nur Eine Sprache; beide sprechen von der Erhaltung und Rettung des Staats, von Recht und Gesetz; beide berufen sich auf heilige, unverletzbare Verträge; beide glauben eher alles wagen, Gut und Blut daransetzen zu müssen, ehe sie zugeben, daß ihnen das geringste von ihren Rechten geschmälert werde. Mich dünkt, etwas Wahres und etwas Falsches liegt auf beiden Seiten zum Grunde; beide haben recht und unrecht zugleich. Ein Staat kann nicht bestehen, wenn jeder sich Recht schaffen will. Ganz richtig; aber nicht minder richtig ist auch der Gegensatz der demokratischen Partei: ein Staat kann nicht bestehen, wenn kein Geringer Recht bekommt. Gegen den Landesherrn sich auflehnen, ist Empörung; die Herrschermacht misbrauchen, ist unter allen Verbrechen das schwärzeste, da es in seinen Folgen dem Staate tödlich und gleichwol selten ausdrücklich verpönt ist, sondern weil man auf die sittliche Vortrefflichkeit des Regenten volles Vertrauen setzte, seinem zarten Gefühl von Pflicht anheimgestellt blieb. Jeder unruhige Kopf kann die verletzten Rechte des Bürgers zum Vorwande nehmen, um einen Aufstand zu erregen und seine ehrgeizigen Absichten durchzusetzen; jeder Despot kann aber auch unter der Larve der Wachsamkeit für die Erhaltung des Staats die gegründeten Beschwerden des Volks von sich abweisen und dessen gerechtestes Bestreben, seine Vorrechte zu erhalten oder wiederzuerlangen, als einen Hochverrath oder einen Aufruhr ahnden. In erblichen Monarchien kann der Fürst, wenn seine Unterthanen ihm den Gehorsam aufkündigen, vor Gott und Menschen gerechtfertigt, sein Erbrecht behaupten und die Rebellen als Bundbrüchige zur Rückkehr unter seine Botmäßigkeit zwingen. Allein die Insurgenten werden ihn erinnern, daß der Erbvertrag die Bedingung voraussetzt: der Herrscher solle der weiseste und beste Mann im Staate sein; wenn es sich nun aber fände, daß der Wechsel der Zeiten und Generationen die Beherrschten weiser und besser gemacht, den Regenten hingegen hätte an Herz und Verstand verarmen lassen, wenn sie sich nicht so schwach an Geiste fühlten als ihre blödsinnigen Vorältern, so frage es sich: müsse sie da der Vertrag noch binden, oder müsse nicht vielmehr der Fürst mit ihnen seine Rolle vertauschen? Du siehst, die Politik hat ihre Antinomien, wie eine jede menschliche Wissenschaft, und es gibt in der Welt nichts Absolutes, nichts Positives, nichts Unbedingtes, als das für sich Bestehende, welches wir aber nicht kennen. Nur Bedingnisse des Wesentlichen können wir wahrnehmen, und auch diese modificiren sich nach Ort und Zeit. Die Philosophie darf daher jene Einfalt belächeln, womit mancher die einseitigsten Beziehungen für unabänderliche Normen hält, da ihn doch ein Blick auf das, was von jeher geschah und täglich noch geschieht, so leicht von dem blos relativen Werthe der Dinge überzeugen kann.

Kein Mensch verstände den andern, wenn nicht in der Natur aller Menschen etwas Gemeinschaftliches zum Grunde läge, wenn nicht die Eindrücke, die wir durch die Sinne erhalten, eine gewisse Aehnlichkeit bei allen einzelnen Menschen beibehielten, und wenn nicht wenigstens, unabhängig von allem objectiven Dasein, die Bezeichnung der Eindrücke, nach welcher wir gut und böse, recht und unrecht, widrig und angenehm, schön und häßlich unterscheiden, in uns selbst als Form aller Veränderungen, die in uns vorgehen können, schon bereit läge. Welche bestimmte Eindrücke nun aber diese oder die entgegengesetzte Empfindung in uns hervorbringen sollen, das hängt von Organisation und zum Theil auch von Erziehung oder Gewöhnung ab, und man begreift wohl, wie am Ende die Verschiedenheit der Gefühle und folglich der Gesinnungen bei manchen einzelnen schlechterdings nicht zu heben oder auf einen Vereinigungspunkt zurückzuführen ist. Aus einem gewissen Standorte betrachtet, kann es allerdings nicht gleichgültig scheinen, ob dergleichen unüberwindliche Unterschiede fortexistiren sollen oder nicht; es kann sogar einen Anstrich von höherer Vollkommenheit für sich haben, wenn alle Meinungen sich nach einer gemeinschaftlichen Vorschrift bequemten und dann durch das ganze Menschengeschlecht nur Ein Wille herrschen und nur Ein Pulsschlag in der großen sittlichen Welt, wie in der kleinen physischen des einzelnen Menschen, regelmäßig alles in Umtrieb erhalten dürfte.

Den kürzesten Weg zur Hervorbringung dieser Gleichförmigkeit hatten unstreitig diejenigen erfunden, die den großen Entwurf einer Universalmonarchie mit dem kräftigen Glauben an eine geistliche Unfehlbarkeit des höchsten Alleinherrschers und an sein überirdisches Dasein, als eines sichtbaren Stellvertreters der Gottheit, zu einem der Zeit und der unruhigen Vernunft trotzbietenden Ganzen verschmolzen zu haben wähnten. Ein Wille, Eine Weisheit, Eine moralische Größe über alles, deren Macht zu widerstreben, Thorheit, deren Recht zu leugnen, Unvernunft, deren Heiligkeit zu bezweifeln, Gotteslästerung gewesen wäre, konnten, wenn es überhaupt möglich ist, bis auf den Punkt sich aller Gemüther zu bemeistern, zuerst das Ziel erreichen, welches auch die ausschweifendste, von dem Schicksal auf Einen kleinen Planeten gebannte Herrschgier sich stecken mußte: das Ziel eines über alle die Tausende von Millionen vernünftiger Wesen, über alles, was sich regt, was hervorsproßt und was ruht auf dieser runden Erde, unumschränkt gebietenden Scepters!

Planlos war diese Macht herangewachsen; ohne tief in die Zukunft zu blicken, hatten die stolzen Halbgötter die Gegenwart genossen. Zu spät ging endlich das vollendete System hervor; denn die Kraft des Glaubens war von ihm gewichen, dieser zarte, flüchtige Hauch, der sich in dem schwachen und immer schwächern Gefäße der menschlichen Natur nicht länger aufbewahren ließ. Die neue Theokratie scheiterte endlich an der Verfassung von Europa. Ihre Vasallen waren Könige; ein anderes Mittel, zu herrschen, vergönnten ihr die Zeitläufte nicht; allein die mächtigen Satrapen spotteten zuletzt der geistlichen Zwangsmittel, wodurch sie ehedem allmächtig war.

Seitdem die Unfehlbarkeit und mit ihr die Möglichkeit einer Universalmonarchie verschwunden ist, bliebe der Versuch noch übrig, ob ein entgegengesetztes System von republikanischen Grundsätzen etwa leichter eine allgemeine Verbrüderung des Menschengeschlechts zu einem allumfassenden Staatenbunde bewirken könnte, und ob sich endlich alle Menschen bequemen möchten, den allgemein gültigen Grundsätzen, die eine solche Verbindung voraussetzt, ohne Widerrede zu huldigen. Die Folgen dieser, wenn sie möglich wäre, höchst wichtigen Zusammenstimmung hat wohl schwerlich jemand in ihrem ganzen Umfang und Zusammenhang überdacht. Bei der vollkommenen Gleichförmigkeit in der praktischen Anwendung jener Grundsätze scheint mir diejenige Einseitigkeit und Beschränktheit der Begriffe unvermeidlich, welche wir schon jetzt an Menschen wahrnehmen, die unter sich über gewisse Regeln einverstanden oder an eine besondere Lebensweise gebunden sind. Ein politischer Mechanismus, der durch alle Individuen des Menschengeschlechts ginge, würde den Bewegungen aller eine Bestimmtheit und Regelmäßigkeit vorschreiben, welche sich mit der Art und Weise, wie unsere Kräfte sich entwickeln, nicht wohl zusammen denken läßt. Je auffallendere und mannichfaltigere Abweichungen wir in der Denkungsart der Menschen bemerken, um so viel reicher sind wir an Ideen und ihren Verknüpfungen; ein großer Theil dieses Reichthums aber ginge unwiederbringlich für ein Zeitalter verloren, welches mehr Einstimmiges in unsern Gedankengang brächte. Wie viele Kräfte unsers Geistes fordern nicht zu ihrer Entwickelung außerordentliche Veranlassungen! Dort, wo alles einen gemessenern Schritt als bisher halten müßte, dort würden diese Kräfte schlummern oder doch nie zu ihrer Reife gelangen; Geister, wie die eines Perikles, eines Alexander, eines Cäsar, eines Friedrich, hätten keinen Schauplatz mehr. Wo die Spontaneität der Handlungen wegfällt, verliert man auch die Uebung der Verstandeskräfte; nur im Streit entgegengesetzter Begierden und Vorstellungsarten offenbart sich die Vernunft in ihrer erhabenen Größe; durch ihn bewährt sich die Vollkommenheit des sittlichen Gefühls als die rührend schöne Blüte der Menschheit. Nehmen wir die Contraste des menschlichen Charakters hinweg, geben wir allen einzelnen mehrere Vereinigungspunkte und einerlei Bestimmung: wo bleibt dann die Spur jener Götterweide, die Lactanz Lactantius, ein berühmter Kirchenschriftsteller in der Zeit Constantin's, gest. um 330 n. Chr. Anmerkung d. Hg. darin setzte, einen großen Mann gegen ein feindseliges Geschick ankämpfen zu sehen? Wo wir aufhören zu unterscheiden, da sind die Grenzen unserer Erkenntnis; wo nichts Hervorstechendes ist, kann die Einbildungskraft keine Kennzeichen sammeln, um ihren Zusammensetzungen Größe, Erhabenheit und Mannichfaltigkeit zu geben. Excentricität ist daher eine Bedingung, ohne welche sich der höchste Punkt der Ausbildung gewisser Anlagen nicht erreichen läßt; ein allgemein vertheiltes Gleichgewicht der Kräfte hingegen bleibt überall in den Schranken der Mittelmäßigkeit. Eine Verfassung des gesammten Menschengeschlechts also, die uns von dem Joche der Leidenschaften und mit demselben von der Willkür des Stärkern auf immer befreite, indem sie allen dasselbe Vernunftgesetz zur höchsten Richtschnur machte, würde wahrscheinlich den Zweck der allgemeinen sittlichen Vervollkommnung dennoch ebenso weit verfehlen, wie eine Universalmonarchie. Was hülfe es uns, daß wir Freiheit hätten, unsere Geistesfähigkeiten zu entwickeln, wenn uns plötzlich der Antrieb zu dieser Entwickelung fehlte?

Doch dieser Antrieb wird uns nimmermehr entrissen werden, wenigstens nicht in dieser einzigen, uns denkbaren Welt, wenigstens nicht solange sich alle dreißig Jahre das Menschengeschlecht verjüngt und wieder emporwächst von den blos vegetirenden Keimen zu der thierischen Sinnlichkeit und von dieser zu der gemischten physisch-sittlichen Bildung. Buchstaben, Formeln und Schlüsse werden nie im jungen Sprößling den mächtigen, dunkeln Trieb überwiegen, durch eigenes Handeln die Eigenschaften der Dinge zu erforschen und durch Erfahrung zur Weisheit des Lebens hinanzusteigen. In seinen Adern wird sich, ihm unbewußt, ein Feuerstrom der Macht und des Begehrens regen, den nichts als Befriedigung bändigen und kühlen, den der Widerstand fremder Selbstheit nur reizen und erzürnen, dem ihre Gewalt allein Schranken setzen und durch diese das Bewußtsein wechselseitiger Befugniß wecken kann. Die erwachsene Vernunft mag ringen mit diesem Sporn zur Wirksamkeit; Auflösung folgt ihrem Siege und in jedem neuen Organ fesseln sie des frischen Lebens stärkere Bande. Ewig schwankt daher das Menschengeschlecht zwischen Willkür und Regel; und wenngleich in wenigen großen Seelen beide vereinigt liegen und aus ihnen beide vereinigt in angeborener stiller Harmonie hervorgehen, so werden sie dennoch nur vereinzelt die Götzen der halbempfänglichen Menge. Auch Schwung und Anziehung stellte die Natur einander so entgegen; ewig ringen auch diese Urkräfte des Weltalls. Darf diese hier und jene dort der andern etwas abgewinnen; dürfen sie, in gleichen Schalen gewogen, die wunderähnliche Harmonie der Sphärenbahnen erzeugen; sind die Phänomene der Auflösung und der in neuen Bildungen sich wieder verjüngenden Natur die Folgen ihres unaufhörlichen Kampfes: so darf ja dieser nicht enden, wenn nicht das Weltall stocken und erstarren soll!

Schön ist das Schauspiel ringender Kräfte, schön und erhaben selbst in ihrer zerstörendsten Wirkung. Im Ausbruch des Vesuv, im Gewittersturm bewundern wir die göttliche Unabhängigkeit der Natur. Wir können nichts dazu, daß die Gewittermaterie sich in der Atmosphäre häuft, bis die gefüllten Wolkenschläuche der Erde Vernichtung drohen, daß in den Eingeweiden der Berge die elastischen Dämpfe sich entwickeln, die der geschmolzenen Lava den Ausweg bahnen. Das Zusehen haben wir überall; glücklich, daß Zeit und Erfahrung uns doch endlich von dem Wahne heilten, der diese großen Erscheinungen nur für Werkzeuge der göttlichen Strafgerechtigkeit hielt. Wir wissen, daß Calabrien ruht, indeß der Mongibello Name des Feuerbergs Aetna in der Volkssprache der Sicilianer. Anmerkung d. Hg. wüthet; wir wünschen unsern Pflanzungen Gewitterregen, wenngleich zuweilen durch den Blitz ein Dorf zum Raube der Flammen wird, ein Menschenleben früher welkt, oder ein Hagel die Saaten niederstreckt.

Mit den Stürmen in der moralischen Welt hat es genau dieselbe Bewandtniß, nur daß Vernunft und Leidenschaft noch elastischer sind als Schießpulver oder elektrische Materie. Die leidenschaftlichen Ausbrüche des Kriegs haben ihren Nutzen wie die physischen Ungewitter; sie reinigen und kühlen die politische Luft und erquicken das Erdreich. Wenn die Selbstentzündungen der Vernunft in einem ganzen Volke nichts als den erstickenden Dampf zurücklassen, so wäre es zwar allerdings erfreulicher, den Witz nur zu rechter Zeit als ein unschuldiges Freudenfeuer auslodern oder in schönen Schwärmern steigen zu sehen; doch wer weiß, was auch in solchen Fällen noch Gutes in dem Caput mortuum Aelterer Ausdruck der Chemie: unbrauchbarer Rückstand bei einem chemischen Proceß, besonders bei einer Verbrennung. Anmerkung d. Hg. übrigbleibt? Auch hier ist es daher verzeihlich, Begebenheiten, an denen man nichts ändern kann, als Schauspiele zu betrachten. Beleidigte etwa diese anscheinende Gleichgültigkeit eine weichgeschaffene Seele? Im Ernst, sie sollte es nicht; denn ob Heraklit von Ephesus, um 500 v. Chr., ein sehr dunkler griechischer Philosoph von besonders ernster und schwermüthiger Lebensauffassung, während der etwas später lebende Demokrit von Abdera, » der abderitische Weise«, die Welt heiter und materialistisch leicht erfaßte. Man hat daher jenen den weinenden, diesen den lachenden Philosophen genannt. Anmerkung d. Hg. über alles weint, oder der abderitische Weise über alles lacht, ist im Grunde gleichgültig, weil es nur auf eine gewisse maschinenmäßig angewöhnte Ideenverbindung ankommt. Warum rührt uns die Schilderung eines Unglücks, das irgendein Dichter seinen Helden erleben ließ, und warum weinen wir nicht, wenn wir lesen, so viele blieben dort in der Schlacht, so viele flogen mit ihrem Schiff in die Luft, so viele hauchten ihr elendes Leben aus in Feldhospitälern, alles um den Geier Ehrgeiz zu mästen? Allerdings wird es uns leichter, uns mit Einem als mit vielen zu identificiren. Gewöhnten wir uns aber, die Idee des menschlichen Elends immer gegenwärtig zu haben, so würden uns nicht nur diese Begebenheiten Thränen entlocken, sondern wir würden beinahe allem, was wir sehen und hören, eine traurige Seite abgewinnen und einen jammervollen Roman aus den alltäglichsten Ereignissen des Lebens machen.

Es ist nun Zeit, noch einen Blick auf Lüttich zu werfen. Am letzten Tage unsers Aufenthalts genossen wir die Aussicht von der Citadelle. Das westliche Ufer springt hier in einem Winkel vor, und zwischen dieser Höhe und dem Flusse liegt die Stadt. Die Espen am Wege, wo wir hinausfuhren, blühten so dicht und grün, daß man sie für belaubt halten konnte. Der Umfang der Citadelle ist nicht beträchtlich; ihrer Lage hingegen fehlt es nicht an Festigkeit, der man mit trockenen Gräben noch zu Hülfe gekommen ist. Die preußischen Truppen halten jetzt diese Festung sowie die äußern Barrieren der Stadt besetzt; in der Stadt selbst aber und an den Thoren stehen die lütticher Nationaltruppen. Von der Spitze eines Bastions genossen wir den Anblick der kleinen Welt von Wohnungen unter unsern Füßen und der umliegenden Gegend. Die Maas schlängelte sich durch das Thal, wirklich romantisch schön, hier hellgrün, wo die Sonne sich darin spiegelte, und dunkelblau in der Ferne gegen Norden, wo sie sich in vielen Krümmungen verliert und immer wieder zum Vorschein kommt. An ihren Ufern sahen wir, soweit das Auge reichte, die Hopfenstangen in pyramidalische Haufen zusammengestellt. Der Hopfenbau gibt den Lüttichern Anlaß, ihr gutes Bier sehr stark mit dieser Pflanze zu würzen; bekanntlich gehört auch dieses Bier zu den berühmtesten hiesigen Ausfuhrartikeln. Die Weinberge um die Stadt sind zwar auswärtig nicht bekannt, denn wer hätte je den Wein von Lüttich nennen gehört; allein man kauft den Burgunder und den Champagner hier sehr wohlfeil, und der böse Leumund sagt: nicht die Schiffahrt auf der Maas sei die Ursache dieses billigen Preises, sondern die Lütticher wüßten aus dem Safte ihrer Trauben jene französischen Sorten zu brauen. Dies ist indeß nicht die einzige Art, wie man sich hier die Nähe von Frankreich zu Nutze macht. Der hiesige Buchhandel wird ebenfalls mit lauter Producten des französischen Geistes getrieben, den die Nachdruckerpresse viel echter als die Kelter darzustellen vermag. Die besten pariser Werke werden hier gleich nach ihrer Erscheinung neu aufgelegt und in Holland, in den österreichischen Niederlanden und zum Theil auch in Deutschland statt der Originalausgaben verkauft. Dieser Zweig der hiesigen Betriebsamkeit beschäftigt eine große Anzahl von Handwerkern und einige Künstler, die ihre reichliche Nahrung bei den Verlegern finden. Was er zur Aufklärung sowol des lütticher Staats als seiner Nachbarn gewirkt hat, liegt am Tage und war auch wol vorauszusehen. Doch mit den eigenen Producten des Geistes, die hier fabricirt werden, dürfte es wol etwas schlechter stehen, wenigstens wenn man den zum Sprichwort gewordenen hiesigen Almanach zum Maßstab nehmen darf.

Wir mußten endlich wieder hinuntersteigen in die engen schmuzigen Gassen. Unser Weg führte uns bei einem Hause von gutem Aussehen vorbei, welches das Eigenthum einer sehr zahlreichen Lesegesellschaft ist, und man wollte uns zu verstehen geben, daß hier die bedenkliche Lage der öffentlichen Angelegenheiten des Hochstifts zuerst ventilirt worden sei. Wie es sich aber auch damit verhalten mag, so ist wol nicht zu zweifeln, daß Privatleidenschaften einzelner Menschen hier so gut wie bei einer jeden Revolution im Spiele gewesen sind. Das wenige, was wir aus der alten Geschichte wissen, läßt uns die kleinen Triebfedern so mancher großen Veränderung in Athen und in Rom noch jetzt erkennen und lehrt uns, zwischen diesen und der allgemeinen Neigung sowol als dem allgemeinen Bedürfnisse zu einer Revolution, ohne welche sie nicht wirken können, genau zu unterscheiden. Die äußerst kritische Lage der Lütticher wäre in diesem Augenblicke noch ungleich bedenklicher, wenn ein solches Bedürfniß und ein lebhaftes Gefühl von unerträglichen Lasten sie nicht wirklich zu einem gemeinschaftlichen Zwecke verbände, wenn nur Parteigeist und Privathaß das Volk ohne hinreichende Ursache in der Bewegung zu erhalten suchten, die es sich einmal gegeben hat. Das Schicksal von Lüttich hängt zu fest an dem Schicksal Deutschlands, um sich davon absondern zu lassen, und das Interesse der Nachbarn wird es nicht leiden, daß die Lütticher ihre Sache allein ausfechten dürfen. Unser bisheriger Standpunkt war überhaupt für die Politik des Tages viel zu hoch; wir übersahen dort zu viel, unser Horizont hatte sich zu sehr erweitert und die kleinern, nähern Gegenstände entzogen sich unsern Blicken. Hier unten ist von allem, was uns dort so klar, so hellglänzend vor Augen schwebte, von den Rechten der Menschheit, der Entwickelung der Geisteskräfte, der sittlichen Vollendung, vor lauter Gewühl der Menschen und ihrer kleinen eigennützigen Betriebsamkeit wenig oder gar nichts mehr zu sehen. »Wie, erinnert nicht der Anblick fremder Kriegsvölker – –« woran? doch nicht an den Schutz, den die Großmuth des Mächtigen dem Schwachen angedeihen läßt? an die seltene Freiheitsliebe eines unumschränkten Herrschers, der die gerechte Sache des Volks gegen die Anmaßungen des Despotismus vertheidigt? an den Patriotismus eines Reichsstandes, womit er der Verzweiflung wehrt, daß sie, durch ein strenges Verdammungsurtheil gereizt, sich vom deutschen Staatssysteme nicht losreiße, sich der benachbarten Empörung nicht in die Arme werfe? Oder erinnert uns etwa nichts an die Klugheitsregeln einer in die Zukunft schauenden und die Zukunft selbst bereitenden Politik? an Verkettungen von Begebenheiten in allen Enden von Europa, die es bald erheischen können, dem nahen Brabant zu Hülfe zu eilen, seine Unabhängigkeit zu befestigen, sie durch die Vereinigung mit Lüttich zu stärken und dagegen Handelsvortheile und Arrondissements zu ernten? Fast möchte man glauben, diese letztern Antriebe lägen näher, wären dem gebieterischen Bedürfnisse des Augenblicks angemessener und, wenigstens in der Sprache des Staatsmannes, dem Scharfblicke der Cabinete rühmlicher als die Schwärmerei für demokratische Freiheit.

Wie aber das individuelle Interesse eines Hofs sich vollkommen mit der Begünstigung der Volkspartei reimen läßt, so zeichnet die Selbsterhaltung andern einen entgegengesetzten Gang der Affairen vor. Mit jedem Eingriff in die Rechte eines geistlichen Fürsten, mit jedem Vortheil, den sich der dritte Stand erringt, mit jedem Schritte, wodurch er sich dem Kapitel und dem Adel an die Seite zu stellen und neben ihm geltend zu machen sucht, wird die Verfassung geistlicher Wahlstaaten in ihren Grundfesten erschüttert und mit einem nahen Umsturz bedroht. Gesetzt also, das Volk von Lüttich hätte wirklich nur in der Form gefehlt, indem es aus eigener Macht und Gewalt die Usurpation des Edicts von 1684 aufhob und nicht durch regelmäßige Wahl, sondern im Enthusiasmus des Augenblicks durch eine allgemeine Acclamation sich selbst neue Magistratspersonen schuf, so wird doch, wo so viel, ja wo alles von Heiligung der Form abhängt, die Unregelmäßigkeit der Procedur ihre Aufhebung und Annullirung bewirken müssen. Das preußische Cabinet scheint diese Nothwendigkeit endlich einzusehen; und weil es weder mit dem deutschen Fürstenbunde brechen, noch auch plötzlich gegen die Lütticher, die es bisher beschützte, Zwangsmittel brauchen mag, zieht es endlich seine Truppen in wenigen Tagen zurück und überläßt den andern niederrheinischen Fürsten die Ausführung des wetzlarischen Executionsdecrets. Die Kosten einer Execution, die ein so starkes Corps von Truppen erforderte, häufen sich zu sehr beträchtlichen Summen an, deren Abbezahlung das Hochstift mit neuen Schulden belasten wird, wiewol der König, wie es heißt, die eigentlich sogenannten Executionsgelder, die sich täglich auf dreizehnhundert Thaler belaufen und worin der Unterhalt der Truppen nicht mitbegriffen ist, dem armen Lande großmüthig erlassen hat.

Bald dürfte man nunmehr ernsthaftern Auftritten als den bisherigen entgegensehen. Das Gefühl mag tief erseufzen über die bevorstehende Verheerung dieses blühenden Landes und die schrecklichen Ungerechtigkeiten, welche von jedem feindlichen Ueberzug unzertrennlich sind; Uebel, deren Wirkung unendlich schmerzhafter ist als das Unrecht, dem man steuern will, auf wessen Seite das auch immer sei; der gesunde Menschensinn mag einsehen, daß, wer auch Recht behält, die Entscheidung auf alles, was zur wesentlichen Zufriedenheit und Perfectibilität eines jeden Lüttichers, vom Bischof bis zum Köhler, gehört, keinen sichtbaren Einfluß haben werde; die Philosophie mag betheuern, daß, auf ihrer Wage gewogen, ein Menschenleben mehr werth sei, heiliger geachtet zu werden verdiene als die ganze Rechtsfrage, worüber man streitet; das zarte Gewissen frommer Religionsbekenner mag endlich erbeben vor der schrecklichen Verantwortung über das bei einer so frivolen Veranlassung vergossene Menschenblut: so wird doch die Politik, von den Furien des Ehrgeizes und der Selbstsucht gegeiselt, beide Parteien mit Wuth gegeneinander erfüllen und keine zur Nachgiebigkeit stimmen lassen, bis nicht Bürgerblut geflossen ist. Armes Menschengeschlecht! so spottet man deiner, indem man Gefühl und Vernunft, Philosophie und Religion im Munde führt, und deine heiligsten Güter, Leben und Endzweck des Lebens, für nichts achtet, sobald es auf elendes Rechthaben ankommt!

Das lütticher Volk sehen wir jetzt sich mit Eifer zur Gegenwehr rüsten. Alles trägt das Freiheitszeichen, eine aus Schwarz, Grün, Weiß und Roth zusammengesetzte Cocarde; man spricht einander Muth und Vertrauen ein, indem man sich schmeichelt, der König von Preußen werde mit seinen Truppen dem Volke nicht zugleich auch seine Gunst und seine Fürsprache im Nothfalle entziehen. Der Bürgermeister von Fabry, ein siebzigjähriger Greis, für dessen Rechtschaffenheit und Einsicht das allgemeine Zutrauen seiner Mitbürger spricht, arbeitet bei diesen bedenklichen Umständen mit unermüdeter Thätigkeit, um das Beste seiner Mitbürger zu bewirken. Dies ist keine leichte Sache, wenn man den erhitzten, gewaltsamen Zustand der Gemüther und die dunkle Aussicht in die Zukunft erwägt. Die Ausschweifungen des Pöbels lassen sich nicht berechnen, sobald er einmal aufgeregt ist und das mit Zügellosigkeit so leicht von ihm zu verwechselnde Wort Freiheit! zu seinem Wahlspruch genommen hat. Der Auflauf vom 7. October, welcher einem jungen Freiwilligen das Leben kostete und wobei der Pöbel vom Kirchspiel St.-Christoph den Magistrat nöthigte, eine milde Stiftung, deren Interessen sonst jährlich vertheilt wurden, auf einmal unter die jetzt lebenden Armen auszuspenden, beweist, was man von dem lebendigen Werkzeuge befürchten müsse, dem man das Bewußtsein seiner Kräfte leichter beibringen kann als den Begriff von gesetzmäßigem Betragen.

Außer jenem Todesfalle scheint bisjetzt der härteste Schlag, den das Schicksal hier austheilte, den vortrefflichen Anführer des preußischen Heeres getroffen zu haben. Auf dem Marsche von Lüttich nach Mastricht glitt sein Pferd an einer abschüssigen Stelle, wo unter dem aufgethauten Schnee noch eine Eisrinde lag, sodaß es zweimal überschlug und seinem Reiter das Bein zerschellte. Dieser Vorfall, der nur schmerzhaft und unangenehm wegen der gehemmten Thätigkeit war, hätte dem General leicht tödlich werden können, da er seine Arbeiten in Mastricht mit unablässigem Eifer betrieb und sich dadurch eine schwere Krankheit zuzog, die indeß über seinen heitern philosophischen Sinn nichts vermochte und endlich seinem guten Naturell weichen mußte. Ich habe ihn hier wiedergesehen. – Unter den Empfindungen, welche Menschengröße weckt und Worte nicht entheiligen dürfen, gibt es eine so zarte, daß sie selbst die Dankbarkeit verstummen heißt.



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