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3. Kapitel

Eine sehr beherrschte junge Dame saß am anderen Morgen neben Alexander Hagedorn am Frühstückstisch.

Er bemerkte die Veränderung sofort, und merkwürdig, er freute sich sogar darüber!

Leichte Siege hatten ihn nie gereizt. Außerdem sprach es für ihren guten Charakter, daß sie sich nicht von der Stimmung dieser Tage fortreißen ließ.

Er tut auch nichts, um die unsichtbare Schranke, die sie aufgerichtet hatte, gewaltsam einzureißen. Unbefangen und heiter plauderte er mit ihr und machte Pläne für den Tag.

»Veitshöchheim?« Ihre Augen strahlten. Sie war freudig zusammengezuckt, als er den Namen dieses Schlosses nannte, es schien, als wolle sie begeistert ihre Zustimmung geben, aber dann richtete sie sich leicht auf und sagte langsam und sehr damenhaft:

»Wie schön. Die Besichtigung ist sicher sehr lohnend.«

»Sicher«, nickte er ernsthaft und versteckte ein Schmunzeln.

»Also Veitshöchheim«, fuhr er fort, als sie ihn mit schiefgeneigtem Kopf etwas mißtrauisch anblickte, »und dann fahren wir einfach ins Blaue und lassen uns überraschen. Einverstanden?«

»Ich bin nicht sehr für Überraschungen, Herr Hagedorn«, wandte sie ein. Es klang sehr würdig und deshalb sehr drollig.

Sie mochte das selbst spüren, denn ohne sich im geringsten verletzt zu zeigen, stimmte sie in sein Lachen ein.

»O Aurikel – Sie sind selbst die größte Überraschung«, sagte er immer noch lachend, »wie alt sind Sie eigentlich?«

»Vierundzwanzig ... hören Sie, Herr Hagedorn, so etwas fragt man einfach nicht! Sie haben eine ganz gräßliche Art, die Menschen auszuquetschen!«

Sie machte ein ärgerliches Gesicht, weil sie wieder unbedacht seine schnelle Zwischenfrage beantwortet hatte.

»Bitte, nicht böse sein. Noch können Sie Ihr Alter verraten. Ich war wirklich etwas neugierig, man kann Sie so schwer einschätzen.«

»Als ob das so wichtig wäre«, sagte sie mißbilligend, »aber nun muß ich schnell noch telefonieren.«

Sie entnahm ihrem Handtäschchen das Portemonnaie und ging schnell hinaus, die Tasche auf ihrem Stuhl liegen lassend.

Hagedorn blickte ihr nach. Er freute sich über ihre Ungezwungene, anmutige Haltung. Dann glitt sein Blick durch den großen Raum, in dem junge Menschen lachend und lebhaft plaudernd beim Frühstück saßen. Bisher hatte er wenig darauf geachtet, aber jetzt sah er, wieviel überquellendes, junges Leben hier beisammen war.

Deutsche und Ausländer unterhielten sich miteinander so gut sie es vermochten. Die Namen von Ländern, Städten und Sehenswürdigkeiten schwirrten durcheinander, man beriet sich anscheinend gegenseitig über Reiseziele und Unterkünfte.

Einige machten sich auch schon zum Aufbruch bereit. Die schwerbepackten Rucksäcke über die Schultern werfend, gingen zwei junge Männer dicht an ihm vorbei. Der eine stieß an Ulrikes Stuhl ohne es zu bemerken. Ihr Handtäschchen fiel herunter.

Hagedorn bückte sich, um es aufzunehmen.

Es hatte sich beim Herunterfallen geöffnet. Er packte den verstreut auf dem Boden liegenden Inhalt wieder hinein. Achtlos griff er nach einem Brief. Unwillkürlich blieben seine Augen auf der Anschrift haften.

›Herrn Eduard von Demin – Überlingen«, las er.

Überrascht zuckte es in seinen Augen auf, während er den Brief, als müsse er ihn wägen, einen Augenblick in der Hand behielt, bevor er ihn in die Tasche steckte.

Er kannte diesen Herrn von Demin, aber daß er auch seiner jungen Reisegefährtin bekannt zu sein schien, fand er nicht nur sonderbar, sondern eher unangenehm.

Er konnte seinen Gedanken nicht länger nachhängen, Ulrike kam zurück. »Denken Sie, mein Wagen ist heute abend schon fertig, was bin ich froh! Nun kann ich doch gleich morgen früh weiterfahren«, sagte sie lebhaft.

»Daß Sie es auch so eilig haben«, meinte er vorwurfsvoll. »Ich hätte wirklich gewünscht, die alte Kiste sei endlich reif für den Schrotthaufen.«

»Ich weiß nur nicht, welchen Nutzen Sie von diesem frommen Wunsch haben könnten«, entfuhr es ihr und ehe er antworten konnte fügte sie hinzu: »Aber wenn wir nach Veitshöchheim wollen, sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. – –

Wieder fuhren sie Seite an Seite durch das lachende Land, das in einem Meer von Blüten zu schwimmen schien, und wieder bewunderten sie mit schönheitstrunkenen Augen die Wunderwerke vergangener Meister und Zeiten.

Am Nachmittag zogen sie träge durch ein kleines Landstädtchen. Die Sonne meinte es recht gut, ungewöhnlich heiß schien sie vom Himmel. Ulrike mußte daran denken, daß es jetzt, Ende April, daheim noch immer ziemlich kalt war.

Sie hatte das Gefühl, als müsse sie nun immer nach diesem heiteren, gesegneten Land, das wie ein einziger großer Garten war, Sehnsucht haben, wenn sie in den kühlen Norden zurückkehrte.

»Bei uns ist alles viel nüchterner, strenger – hier erscheint das kleinste Dorf so beseelt«, sagte sie aus diesen Gedanken heraus träumerisch, »ich weiß nicht, ist es nur die Landschaft oder die Bauweise ...?«

»Beides klingt zusammen. Aus der Heiterkeit dieser Landschaft wurde die beschwingte Form des Bauens geboren. Ihre Anmut regte die Menschen zu immer neuen Einfällen an. Die paradiesische Natur verlieh ihnen eine fast kindliche Verspieltheit und eine ebenso kindliche Frömmigkeit. Schauen Sie dort ... an die wunderwirkende Kraft dieser kleinen Heiligen über der Haustür, glauben die Menschen hier. Sie fühlen sich in ihrem Schutz geborgen.«

Er wies mit der Hand auf eine kleine Heiligenfigur, die in einer Nische über der Tür eines Hauses stand und segnend ihre Hände ausbreitete.

Ulrike blieb stehen, ihre Augen weiteten sich entzückt. Sie hatte in diesen Tagen viele solcher Schutzheiligen gesehen, aber diese hier war besonders schön. Ein kleines Kunstwerk des Barock.

»Sie ist ganz reizend«, sagte sie versonnen. Und nach kurzem Schweigen: »Ob die Leute sie wohl verkaufen würden?«

Verdutzt schaute er sie an. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Verkaufen?« fragte er gedehnt. »Aber Ulrike, wo denken Sie hin? Ideen haben Sie!«

Er schüttelte den Kopf. Ihre Frage war ihm unbegreiflich.

»Die Kunsthändler würden sich um diese kleine Heilige reißen«, sagte sie nachdenklich, ohne auf seine Worte zu achten.

Empört fuhr er auf.

»Also hören Sie, so etwas dürfte man nicht einmal denken! Vor allem Sie dürften das nicht. Es ist schon schlimm genug, daß die geldgierigen Aufkäufer jetzt durchs Land ziehen und versuchen, das Land auszukaufen. Die Zeitungen sind voll davon, daß sich immer wieder dumme habsüchtige Menschen finden, die solche Schätze um ein bißchen dreckiges Geld verhökern. Der Teufel soll diese Art von Kunsthändlern holen, die deutsche Kulturgüter ins Ausland verschachern. Mir dürfte keiner von diesen Kerlen in die Finger fallen!« schloß er grimmig und sehr erregt.

Ulrike fuhr erschrocken zusammen und schaute ihn entsetzt an.

»Habe ich Sie erschreckt?« Er lachte leise und immer noch etwas ärgerlich. »Sie haben mich aber wirklich in Harnisch gebracht, Aurikel, das ist eine Sache, die mich jedesmal auf Hochtouren bringt. Wie kamen Sie nur darauf?«

In peinlicher Verlegenheit blickte sie an ihm vorbei.

»Ach – wahrscheinlich auch durch diese Zeitungsnotizen. Es wird jetzt öfter darüber berichtet«, sagte sie unsicher. Ihre Stimme klang rauh und unfrei.

»Diese Notizen sind nur dazu da, um immer mehr Leute, die nicht arbeiten wollen, zur Jagd auf Kulturgüter zu hetzen. Eine leichte und bequeme Art, durch die Dummheit anderer Geld zu verdienen.«

Er war noch immer sehr gereizt.

Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Sogleich zwang er sich zur Ruhe.

»Entschuldigen Sie bitte – wir wollen uns damit den schönen Tag nicht verderben. Sie sehen aus wie ein verängstigtes Kind. War ich denn gar so schlimm?«

»Nein, bestimmt nicht. Sie haben ja nur zu recht mit dem, was Sie sagten.« Ein schwerer Seufzer folgte ihren Worten.

Er legte seine Hand leicht unter ihren Ellenbogen und führte sie weiter.

»Kommen Sie, wir fahren wieder ein Stückchen, Aurikel, dann vergessen wir diese dummen Geschichten am schnellsten.«

»Ja – man darf gar nicht daran denken«, sagte sie seltsam schwer, daß es ihm auffiel und er sie prüfend anblickte.

In ihren Augen lag ein tiefer Ernst, es schien, als sei sie blasser als zuvor.

»Sie müssen sich die Sache nicht so sehr zu Herzen gehen lassen. Wir können die Entwicklung leider nicht aufhalten, und vielleicht wird doch einmal etwas getan, um diesen Kunsträubern Einhalt zu gebieten«, glaubte er sie trösten zu müssen.

Da sah sie ihn traurig an. Es schien, als wolle sie etwas sagen, aber dann preßte sie die Lippen ganz fest zusammen.

»Aurikel ...«

Seine Stimme war voller Zärtlichkeit. Er preßte ihren Arm leicht an seine Brust.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Denken wir nicht mehr daran. Der Tag ist so schön, man sollte ihn genießen. Wer weiß, was morgen ist?«

Sie war plötzlich wie ausgewechselt, ihre Stimmung schlug jäh um und wurde fast übermütig.

Singend saß sie neben ihm im Wagen und wenn sie nicht sang, neckte sie sich mit ihm. Sie sprühte förmlich vor Witz und Heiterkeit.

Am späten Nachmittag bestand sie darauf, daß sie nach Würzburg zurückfuhren, damit sie ihren Wagen abholen könne.

»Das hätte doch Zeit bis morgen früh«, wandte er ein.

»Morgen hält es mich zu sehr auf, ich habe schon zuviel Zeit verloren. Man erwartet mich.«

Da fügte er sich. – –

Mit unbewegtem Gesicht bezahlte sie die ziemlich hohe Rechnung. Sie riß ein gewaltiges Loch in ihre Reisekasse.

Hagedorn ging inzwischen wartend vor dem Büro der Werkstatt auf und ab.

Er dachte angestrengt darüber nach, von wem sie wohl erwartet würde. Sollte es etwa der Herr von Demin sein?

Unsinn, beruhigte er sich selbst, er wäre ja viel zu alt. Und dann, einer Eingebung folgend, schrieb er sich schnell die Kennzeichen ihres Wagens auf. Er kannte ja noch immer nicht ihren vollen Namen.

Getrennt fuhren sie dann bis zur Jugendherberge, in deren Nähe sie die beiden Wagen parkten.

Nachdem sie ausgestiegen waren, sagte sie lustig:

»Ich werde mich jetzt schnell umziehen und Sie können inzwischen überlegen, wohin Sie mich heute abend führen wollen. Denken Sie sich etwas recht Hübsches aus.«

Verblüfft schaute er ihr nach, als sie leichtfüßig davoneilte.

Sie gab ihm wirklich Rätsel auf, die reizende Ulrike. Heute morgen diese damenhafte Zurückhaltung – und jetzt? In ihren Augen hatte etwas gelegen – ja, er konnte sich unmöglich so sehr irren – es war etwas Aufforderndes in ihrem Blick gewesen.

Aber – wozu?

Grübelnd schritt er auf und ab. In schnellem Entschluß ging er dann ins Haus, um die sportliche Kombination, die er auf der Reise trug, mit einem grauen Anzug zu vertauschen.

Als er wieder hinunter gegangen war, mußte er noch ein wenig warten bis sie erschien.

»Wie schön sind Sie, Aurikel.«

Seine Augen leuchteten in ehrlicher Bewunderung auf.

Sie trug ein enganliegendes, kurzärmeliges Kleid aus zartgelbem Wollstoff. Der miederartige Gürtel aus dem gleichen Material unterstrich die Zierlichkeit der Taille und endete vorn in einer breiten Schluppe. Mit lachender Koketterie schaute sie ihn an.

»Gefalle ich Ihnen?«

»Sehr. Wie ein Sonnenstrahl sehen Sie aus, so schmal und leuchtend. Ich fürchte, Sie werden mir den Kopf verdrehen.«

»Das wäre freilich schlimm«, lachte sie voller Übermut.

»Ich weiß nicht, ob es schlimm wäre.« Er gab ihren Blick lachend zurück, aber auf dem Grunde seiner Augen war ein dunkles Glühen. Ein lichtes Rot überflutete ihr Gesicht.

»Fahren Sie, Herr Hagedorn. Ich denke, Sie wollten mir noch etwas Hübsches zeigen«, lenkte sie ab.

Er nickte stumm. Schweigend gingen sie zum Wagen.

Während der Fahrt schaute sie auf ihre Uhr. In drei Stunden mußten sie wieder in der Jugendherberge sein.

Noch drei Stunden – dann ist alles vorbei. Von ihm zu mir führt kein Weg, dachte sie und hatte das Gefühl, als müsse sie schreien vor Qual.

Sie lehnte sich weit zurück, damit er nicht sehen konnte, wie sie ihn betrachtete und sich sein Bild einprägte.

Bald werde ich ihn nicht mehr sehen. Dieser Gedanke trieb ihr fast die Tränen in die Augen.

Er hielt vor einem schloßartigen Gebäude, das inmitten eines herrlichen alten Parkes lag.

»Recht so?« fragte er leise, während er ihr beim Aussteigen half. Sie nickte.

»Wundervoll – so hatte ich es mir gewünscht.«

In der Halle kam ihnen ein Ober entgegen und begrüßte respektvoll das elegante Paar.

Die Innenausstattung dieses Schloßhotels paßte sich dem architektonischen Äußeren an. Es war mit erlesen kostbaren Stilmöbeln aus der Zeit des Rokoko und Barock eingerichtet. Von den Wänden schienen Putten mit ihrem Lächeln die Gäste zu heiterem Lebensgenuß aufzufordern. Aufatmend nahm Ulrike in einem bequemen Sessel Platz.

»Darf ich Sie bitten heute mein Gast zu sein, Ulrike?« fragte Hagedorn.

»Gern.« Ihre Antwort kam ohne Zögern, und wieder beschlich ihn eine sonderbare Unruhe. Sie hatte sonst energisch darauf bestanden, selbst für sich zu zahlen.

Sie speisten mit einer gewissen Feierlichkeit und sprachen nur wenig dabei.

Ulrike erschien nun wieder ganz so wie am Morgen – eine tadellos erzogene junge Dame. Ihre Bewegungen waren voll gemessener Anmut, ihr Gesicht war fast bildhaft ruhig. Nur die Augen glänzten in einem tiefen Licht voller Bewegung und starken Lebens. Sie zeigten, daß sie nicht so ruhig war, wie sie sich gab.

Ihre Verhaltenheit übertrug sich auf den Mann. Er spürte, wie jeder Nerv in ihm vibrierte und wie er mit jeder Minute stärker ihrem Zauber verfiel.

Er hob das Glas. Der Wein schimmerte wie blasses Gold. Er räusperte sich leicht.

»Wollen Sie mich nicht auch beim Vornamen nennen – ich würde mich freuen.«

Sie nickte. In zartem Glockenton klangen die Gläser aneinander.

»Alexander ...«

Eine kleine heisere Stimme sprach den Namen voller Zärtlichkeit. In den Augen des Mädchens saß eine unergründliche Wehmut.

»Ulrike – süße kleine Aurikel ...« der Mann griff nach ihrer Hand, die so leicht und zart auf dem Tisch lag und führte sie, als hebe er eine Kostbarkeit, an seine Lippen.

Er spürte ihr Erbeben.

Besorgt schaute er sie an. In seinen Augen lag offen das Bekenntnis seiner Liebe.

»Aurikel – was ist mit Ihnen? Sie sind so ganz anders als sonst?«

»Nichts – es ist nur so schön, Alexander.«

Was sie noch sprachen, Ulrike hätte es später nicht zu sagen vermocht. Sie lauschte nur seiner warmen, dunklen Stimme und vermochte kaum die Augen zu wenden von seinem Gesicht.

Ziemlich früh drängte sie zum Aufbruch.

Er folgte sofort ihrem Wunsch.

Als sie das Schloßhotel verließen, fächelte ihnen ein sanfter Wind den Duft unzähliger Blüten entgegen. Eine fast unwirkliche Stille umfing sie.

»Wir haben noch Zeit, wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen?«

Sie nickte zustimmend.

Als er ihren Arm in den seinen legte, zitterte sie, aber sie wehrte ihm nicht.

Arm in Arm schritten sie hinein in den dunklen Park, gingen die gleichen Wege, die schon vor Jahrhunderten Liebende gegangen sein mochten. Der Mann verhielt den Schritt.

Fragend blickte sie zu ihm auf, als müsse sie die Dunkelheit durchdringen.

Kam es jetzt, was sie sich so sehnlichst wünschte? Was ihr das Schicksal schuldig war, wie sie glaubte?

Ja – er zog sie in seine Arme, sein Gesicht neigte sich ihr zu, er küßte sie.

In ihr war eine unnennbare Seligkeit. Fester schmiegte sie sich an ihn, mit schrankenloser Innigkeit erwiderte sie seinen Kuß.

»Aurikel, süße kleine Aurikel«, sagte er erschüttert und nahm voll unsäglicher Zärtlichkeit ihr Gesicht in seine Hände, suchte wieder ihren Mund.

Sie legte beide Arme um seinen Nacken, ein schluchzender Laut drang an sein Ohr.

»So lieb hast du mich, kleine Aurikel?« fragte er erschüttert.

»So lieb – denke immer daran, Alexander.« Es klang wie eine Beschwörung.

Er streichelte sie sanft.

»Wie sollte ich das je vergessen, mein Liebes?«

Irgendwo schlug eine Uhr.

Sie löste sich aus seinen Armen.

»Wir müssen gehen ...«

Ehe sie in den Wagen stieg, blickte sie noch einmal um sich,, als müsse sie sich Schloß und Park genau einprägen. Sie seufzte leise.

Gerührt nickte er ihr zu. Wie tief und schwer sie empfand, seine kleine Aurikel, die doch sonst so fröhlich war und so gern lachte. Es war beinahe unbegreiflich. Ja – irgendwie war es bedrückend.

»Mach nicht so ernste Augen, Liebste, fröhlich müßt du sein.«

»Ich bin ja fröhlich, Axel ...« sie haschte nach seiner Hand. Im Schein des Tachos sah er, wie sie ihm zulächelte.

Kurz vor der Jugendherberge bat sie ihn: »Laß uns hier Abschied nehmen, Lieber, ja?«

»Abschiednehmen? Ach, du Dummes, glaubst du denn, ich ließe dich morgen allein fahren?« Er lachte leise und ließ den Wagen auslaufen.

»Ich möchte dir aber nicht vor allen den fremden Menschen Gute Nacht sagen ...«

»Das ist allerdings ein Grund, kleine Aurikel, niemand soll es sehen, wenn ich meine Liebste küsse«, sagte er zärtlich.

Mit scheuer Leidenschaft erwiderte sie seine Liebkosungen und riß sich dann ganz plötzlich los.

Ehe er es bedachte, hatte sie die Tür geöffnet und sprang hinaus. »Gute Nacht, Alexander!« rief sie mit erstickter Stimme und lief dann, ohne sich noch einmal umzuschauen, davon.

Verwirrt schaute er ihr nach, seine Hand glitt unruhig über seine Stirn.

Was hatte sie nur? Irgend etwas erschien ihm rätselhaft.

Bis er endlich glaubte, die Lösung gefunden zu haben.

Sie kannten sich erst drei Tage – vielleicht glaubte sie, er könne sie falsch beurteilen, weil sie ihm so schnell ihr Herz geschenkt. Vielleicht war sie deshalb so ernst, weil sie fürchtete, von ihm als leichtfertig angesehen zu werden.

Sicher, das würde es sein, dachte er erleichtert. Und kurz darauf flog es ihm durch den Kopf – wie sehr muß sie mich lieben, daß sie all ihre Ängste überwand, daß es ihr nicht möglich war, seinem Werben zu widerstehen.

Alexander Hagedorn machte ein sehr glückliches Gesicht, als er ihr langsam folgte.

*

Am nächsten Morgen wartete er vergeblich auf seine kleine Aurikel. Der Speisesaal leerte sich schon, und noch immer war sie nicht da. Unruhig stand er auf und ging zur Anmeldung.

Er wollte den Hausmeister nach ihr fragen, aber da fiel ihm ein, daß er ja nicht einmal ihren Namen wußte.

Verblüfft blieb er stehen. Daß er daran nicht gedacht hatte! Gestern hätte sie es ihm bestimmt nicht mehr verschwiegen, wenn er sie gefragt hätte.

An dem Schalterfenster das Hausmeisters drängten sich die Abreisenden, um sich abzumelden.

Geduldig wartete er. Immer wieder, sowie er einen Schritt auf der Treppe hörte, wandte er sich um, und jedesmal machte er ein enttäuschtes Gesicht. Die – auf die er wartete, kam nicht.

Verschlafen konnte sie bei dem geschäftigen Lärm nicht haben. Nach einer Zeit, die ihm endlos lang dünkte, schloß der Hausvater das Schalterfenster.

Alexander Hagedorn klopfte an die Tür des Büros und trat ein.

»Na, Herr Doktor, bleiben S' noch eine Nacht?« fragte der Herbergsvater freundlich.

Der Schriftsteller hatte auch hier seine Anwesenheit damit begründet, daß er Studien machen wolle.

»Ich bin noch unschlüssig«, der weltgewandte Mann fühlte sich sehr unsicher und suchte nach Worten. Gewaltsam raffte er sich auf, als ihn der Herbergsvater verwundert ansah.

»Ich hätte gern eine Auskunft von Ihnen, aber die Sache ist etwas schwierig. Es handelt sich um eine junge Dame, die auch bei Ihnen zu Gast war oder noch ist. Ich ... ja, ich traf sie wiederholt auf meinen Streifzügen durch Würzburg. Sie stammte aus Norddeutschland und hieß, wenn ich mich nicht irre, mit dem Vornamen Ulrike.«

Hagedorn machte eine kurze Pause – es war doch eine recht peinliche Situation. Er kam sich vor wie ein Schulbub, den der Lehrer bei einem Streich ertappt hatte.

Hastig sprach er weiter und gab eine Beschreibung Ulrikes.

»... könnten Sie mir wohl sagen, ob die junge Dame hier ist?« Der Herbergsvater überlegte einen Augenblick, dann ging er bedächtig zu seinem Schreibtisch und schlug das Gästebuch auf. Seine Finger glitten über die einzelnen Reihen.

»Hier, das müßte sie sein. Aber sie ist gestern abend noch abgereist.«

»Abgereist? Gestern abend?«

»Die junge Dame kam gegen zehn Uhr aus der Stadt und erklärte, sie müsse sofort abreisen. Sie sprach von einem Telefongespräch und war ziemlich aufgeregt.«

»Hm – davon hatte ich freilich keine Ahnung.« Er brach ab und versuchte zu lächeln.

»Sie war bildhübsch und machte einen guten Eindruck. Sie können sich gern ihre Adresse aufschreiben.«

Hagedorn nickte, obwohl er in diesem Augenblick überzeugt war, daß er ihr nie schreiben würde. Sie hatte ihn zu sehr enttäuscht.

Niemand wußte besser als er, daß sie kein Telefongespräch am Abend geführt hatte.

Kurze Zeit später verließ er aber doch in schnellem Tempo Würzburg in südlicher Richtung und spähte immer wieder nach einem alten, schwärzlich-grauen DKW aus.

Er vermutete, daß sie die Nacht in irgendeinem der die Stadt umgebenden Dörfer verbracht hatte und deshalb vermutlich keinen großen Vorsprung habe. Irgendwo hoffte er sie zu treffen.

Sie sollte ihm Rede stehen, weshalb sie heimlich fortgefahren war, weshalb sie ihn belogen hatte.

Seine Empfindungen schwankten zwischen sehnsüchtiger Liebe und heftiger Erbitterung.

In schneller Fahrt rollte der schnittige Wagen über die Straßen, eilte durch Dörfer und Städte. Ohne sich eine Rast zu gönnen saß Alexander Hagedorn am Steuer, bis er vor seinem Haus in Meersburg hielt. Ulrike Arnstein hatte er nirgends gefunden.


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