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Der Adjutant des Fürsten Hurralski ritt durch eine mondlose, feuchtkühle Nacht über Land, um dem Rittergutsbesitzer Kammerherrn Grafen von Schweinewitz einen Auftrag zu überbringen. Der Adjutant liebte derartige Nachtritte, in denen er sich Abenteurer fühlen konnte: – gehörte er doch zu jenen geistreichen Leuten, denen die Welt erst um die Geisterstunde herum interessant und unheimlich wird. Wir anderen freilich sind ordinär genug, sie unter allen Umständen recht sonderbar zu finden.
Der Adjutant ritt auf einer Chaussee, welche tagsüber prosaisch erschien, jetzt aber, gesäumt von hohen, rauschenden, in der Finsternis nur hörbaren Bäumen, gespenstisch wirkte. Der wackere Rappe des Adjutanten verriet eine den Reiter angenehm bänglich prickelnde Nervosität. Plötzlich wurde das Tier stät und stutzig und setzte kein Bein mehr vorwärts. «Allons, Hebe!» ermunterte der Adjutant und klopfte den Hals des zitternden Geschöpfs, erreichte aber nichts als ein Zurücksträuben. Die Zügel über den Arm nehmend, sprang er ab und griff nach seinem Revolver. Es regte sich aber nichts. Das widerstrebende Roß am Zügel zerrend, tat er einige Schritte vorwärts, und vor ihm geisterte eine riesenhohe bleiche Gestalt. Ihre Konturen schwankten im Winde; sie breitete ihre Arme weit aus, als ob sie das Pferd umfangen wollte. Das hatte nun der Adjutant davon! Er kalkulierte blitzschnell, daß er vor einer Unerklärlichkeit stehe, und kriegte arges Herzklopfen. Endlich lockerte er den Degen, zog blank und vollführte einen raschen Streich nach jenem flattrigen Gebilde. Der Degen fuhr mit einem Geräusch wie von zerreißendem Linnen durch den Spuk, und dieser schien noch wilder zu werden, indem er im Winde noch drohender flatterte.
Der Adjutant band sein Roß mit dem Zügel an einen Baum, holte aus einer seiner Taschen eine kleine Laterne 106 hervor und ließ deren Lichtkegel aufflammen: Hilf Gott, Herr Adjutant! Es war nichts als ein hoher Wegweiser, aber allerdings, mit den Ärmeln über dessen in einem vorgeneigten Winkel schräg ausgestreckte Arme war ein weißes Gewand gezogen. Der Adjutant untersuchte: – ein Nachthemd? – Der Fund reizte seine Neugier; er untersuchte. Nach mancherlei Sprüngen und Klimmzügen hielt er die weiße Hülle, ein wenig zerfetzt zwar, in seinen Händen. Im Schein der Laterne erwies sich der weiße Zauber als ein Damennachthemd aus feinstem Linnen, mit auserlesenen Spitzen garniert. Aber halt! hier las man ein Monogramm: Th. v. H. Das Hemd machte einen reinen, frischgewaschenen Eindruck; ja, es duftete nach einem Parfüm – wo hatte der Adjutant . . . eine vage Erinnerung . . . das schon einmal gerochen? Er konnte sich nicht besinnen. Unwillkürlich kam er sich mit dem Damenhemde in der Faust lächerlich vor. Er geriet auf närrische Einfälle; stellte sich vor, wie es wäre, wenn er als Gespenst in den Gutshof sprengte. Der Laune nachgebend, zog er das Linnen über seine Uniform, schwang sich wieder aufs Roß und ritt in tollem Gelächter davon.
Allein, die sonst so sanfte Hebe spürte nicht so bald den weißen Reiter, als sie aus leichtem Galopp in rasende Karriere verfiel, welches, da der Adjutant ein sehr sattelfester Herr war, nur wegen der Dunkelheit zum Unheil ausschlug. Der Reiter mußte sich schließlich, da unter solchen Umständen die Zügelung des Rosses unmöglich geworden war, mit Willen auf gut Glück abwerfen lassen. Der Reiter ließ Zügel und Steigbügel zugleich fahren, gab sich einen Schwung nach hinten, sauste aber leider schräg mit dem Hinterkopf gegen eine den Weg überkrallende Baumwurzel und blieb regungslos liegen. Das Roß dagegen schnellte mit verdoppelter Kraft nach vorwärts, geradeaus, bis es mit weißschäumendem Gebiß vor einem herrschaftlich Schweinewitzschen Stallburschen jählings zum Stoppen kam, der ihm auch sofort in den Zaum griff. Im elektrisch erleuchteten Stall riefen fünf Bedienstete zugleich: «Hebe!»
107 «Der Adjutant muß verunglückt sein», sagte der erschrockene erste Kutscher; «Kinder, nehmt eure Laternen. Stellt Hebe unter; die ist jetzt verdonnert.» Er pfiff ein paar Hunden, die freudig loskläfften. Eine Leiter befahl er zur Tragbahre herzurichten; man umwand sie mit weichen Decken. Nach einer guten Stunde emsigen Suchens stieß man auf eine weiße Gestalt, welche wie tot am Boden lag. «Herrgott», sagte der erste Kutscher, «Leute, das ist der Adjutant – aber wieso hat er denn ein Nachthemd über?» «Das ist ja ein Fräuleinshemd», wunderten sich die Leute. Wenn es ihnen nicht unheimlich vorgekommen wäre, hätten sie gern gekichert. Sie unterdrückten ihren Lachkitzel, luden den Leutnant, ohne ihm das Hemd auszuziehen, auf die Leiter und wanderten mit der bleichen Last nach dem Schloßgut Schweinewitz.
Der Morgen graute, als sie dort anlangten. Der Kammerdiener des Grafen wurde geweckt und angehalten, das gewohnte Quartier für den Adjutanten herzurichten. Bei dieser Gelegenheit befremdete ihn der Anblick des Damennachthemdes, in dem der Adjutant geblieben war, nicht wenig. Man überzeugte sich aber, daß der Scheintote keinerlei äußere Verletzungen erlitten hatte und in einer dem Anscheine nach gesunden Ohnmacht dalag. Ein Bursche wurde zum nächsten Landarzte gesandt.
Als dieser anlangte, fand er die gräfliche Familie, die Eltern und zwei allerliebste jungfräuliche Komtessen, bereits um den Frühstückstisch versammelt und in eifriger Debatte über den Unfall des Adjutanten begriffen. Den Komtessen hatte man das Nachthemd wohlweislich verschwiegen. Als nun aber der Graf sich mit dem Arzte ins Krankenzimmer begab, stürmten, ehe die Gräfin es verhindern konnte, die Töchter den langen Korridor entlang, hinter beiden her, und als sich die Tür einen Moment lang öffnete, gewahrten sie zu ihrer Überraschung den Adjutanten im Damenspitzenhemd lang ausgestreckt auf dem Bette liegend. Sie sahen sich rotwerdend an, schlichen in den 108 Speisesaal zurück und nahmen gesenkter Häupter den mütterlichen Tusch in Empfang.
«Ach, maman», sagte Komtesse Netti, «denke dir! Bertie hat es auch gesehen, der Adjutant trägt ein Mädchennachthemd über der Uniform –!» «Ja», bestätigte Bertie, «au, Mama! fein, mit Spitzen.» «Ob er auch Mädchenstrumpfbänder anhat?» sann Netti holdselig nach und legte dabei ihren Zeigefinger unters Kinn. «Kinder», rief die Gräfin chokiert, «trollt euch in den Park, turnt, badet Luft, spielt Tennis! Ihr verderbt mir die Laune mit euren Frivolitäten – hinaus!» Sie selber aber wartete mit gespanntester Neugier die Lösung des Rätsels ab.
Da erschien ihr Kammerkätzchen und entfaltete vor ihrer Dame das Adjutanten-Damenhemd: «Der Herr Graf lassen Frau Gräfin bitten, das Monogramm zu beachten.» Die Gräfin nahm ihr Lorgnon und las: «Th. v. H.» Sie erstaunte maßlos: «Schon gut, Dorette; lege das hier hin», sie winkte ab; das Mädchen ging. «Monogramm mit Fürstenkrone?» überlegte die Gräfin – «Th. v. H.» – «Großer Gott! Thila v. Hurralski! Die Prinzessin! Wie kommt der Adjutant in das Nachthemd der Prinzessin? Man findet ihn darin ohnmächtig?? – Das ist unsagbar!!» Der Graf kam mit dem Arzte. Der Arzt empfahl sich devotest; er erachtete den Adjutanten als außer Gefahr: «Er wird sehr bald mit bestem Appetit erwachen; sonst fehlt ihm gar nichts.» Der Graf fragte die Gräfin: «Hein?» – Die Gräfin wies ihm das Monogramm: «Prinzessin Thila – kein Zweifel!» Der Graf ließ seine Augäpfel hervorspringen und blieb als stummes Fragezeichen vor der Gräfin stehen. «I cannot help it», sagte diese. «Weiß keinen Reim darauf.» Sie schellte: «Ein Paket machen, Dorette!» befahl sie, auf das Hemd hinzeigend. «Adresse, Frau Gräfin?» «Besorge ich.» Dorette eilte hinweg.
Der Adjutant erschien, schlug die Hacken vor Graf und Gräfin zusammen, küßte der Gräfin die Hand und schüttelte die des Grafen. «Ich verdanke Ihnen, meine Gnädigsten, 109 nicht Geringeres als mein Leben!» «Trinken Sie einen Glühwein, mein Lieber», riet der Graf, «die Nacht war kühl und feucht.» Die Gräfin bereitete das Getränk im elektrischen Apparat und präsentierte es dem Adjutanten: «Man hat mir gesagt, Baron», lächelte sie malitiös, «daß Sie glücklicherweise warm eingewickelt gewesen seien – wer war denn so rührend um sie bemüht?» Jetzt erst erinnerte sich der junge Herr, und die glühende Röte, welche sich bis in seine Stirn zog, rührte nicht nur vom Glühgetränk her: «Gnädigste Gräfin, ein veritables Mysterium; für mich besonders!» «Ich wüßte nicht», sagte die Gräfin, etwas böse (sie verachtete dieses vermutliche Gemisch aus Diskretion und Theater); «was war es denn?» «Auf meine Ehre, Graf», beteuerte der Adjutant, «es ist mir so unfaßlich wie Ihnen!» Dann erzählte er offenherzig, wie er am Wegweiser zu dem Nachthemde gekommen war. «Was denken Sie?» fragte die Gräfin, «ist Ihnen das Monogramm aufgefallen?» «Ganz recht! Ja, ja!» Er suchte in seinem Gedächtnis; er hatte es ehrlich vergessen.
Im Kabinette des Grafen entledigte er sich des Auftrags, den ihm der Fürst erteilt hatte. Nach dem Diner verabschiedete er sich von der gräflichen Familie. Die Gräfin händigte ihm ein kleines Paket für Prinzeß Thila ein: «Zu eigenen Händen!» Den Kaffee nahm man, bevor der Adjutant wegritt, auf der Veranda und kroquettierte noch ein wenig im Park. Netti sagte: «Herr Leutnant, ich kenne eines Ihrer Geheimnisse: Weiß kleidet Sie so gut.» «Herr Leutnant», fragte Bertie mit unschuldiger Miene: «wie würden Ihnen Spitzen zu Gesicht stehen?» Der Adjutant war wie vernichtet. Er bestieg sein Pferd und sprengte davon. Am Sattelknopf hatte er das Paketchen befestigt. –
Nun erwartet man endlich die berühmte Aufklärung, die Lösung des geschürzten Knotens, die Erledigung der Anspannung, welche bereits der Titel enthielt. Aber schließlich ist der Autor ja auch nur ein Mensch, nur ein Leser, ein Ableser seiner Erfindungen. Ich gestehe, ich weiß hier keinen 110 rechten Rat. Ich sehe hier nicht klar. Was ist denn nur geschehen? Fortsetzung und Schluß wäre doch, daß der Adjutant (oder Baron oder Leutnant) der Prinzessin das Paket übergibt, und diese, nachdem sie des Inhalts ansichtig geworden wäre, dem Adjutanten gegenüber unsicher werden würde. Sie darf ihn, schicklicherweise, nicht einmal fragen, ob er wüßte, was das Paket enthalten habe. Wahrscheinlich stürzt sie zur Gräfin. Aber diese moralinsaure Dame läßt sich verleugnen. Zwar Netti und Bertie kichern verstohlen mit Thila; der Graf aber scheucht sie garstig auf; er verabschiedet die Thila mit dürren Worten; ja er warnt den Fürsten schriftlich.
Der Fürst setzt ein ganzes Regiment Detektive in Bewegung. Der Wegweiser wird untersucht. Hebe kriegt einige Abführmittel; ihre Exkremente probiert der bekannte Gerichtschemiker Jeseriech. Am Spitzenhemde schnüffeln mehrere Spürhunde. Einer sagt: «Wau!» und schnappt nach dem Adjutanten. Der fällt selbstverständlich in Ungnade. «Aber wie wird mir denn!» seufzt er, fern von Madrid, «jetzt erinnere ich mich: ‹Th. v. H.› mit Fürstenkrone war mit silberner Seide ins Hemd gestickt!» Auf einmal siedet eine Liebe zu Thila in ihm auf. –
Aber wie? – Sollte Thila nicht selber –? Sie wußte doch, der Adjutant werde nachts des Weges kommen – und sie liebt ihn längst . . . ein zarter Wink mit dem Wegweiser als Zaunpfahl!!! –
Oder eine ganz andere Kombination: Thilas intrigante Kammerzofe hat ihre freche Hand im Spiel. Sie bringt die Prinzessin durch das offiziell aufgehängte Hemd in aller Leute Munde? – Überhaupt könnte Thila nicht eine Art Messalina sein? – Herrlich! Und ein Bauernbursch oder Lakai, mit dem sie es hielt, und dem sie kurzerhand den Laufpaß gibt, rächt sich auf jene drastische Weise. –
Warum, frage ich, läßt denn der Leser den Autor allein die volle Verantwortung tragen? Er übernehme gütigst die halbe und hier also die Aufhellung des finstern Problems! 111 Ein Problem auch nur aufzuwerfen, bedeutet in der Philosophie eine gewaltigere Leistung, als es zu lösen: – warum nur in der Philosophie? Werde jeder Leser doch zum Löser! Der Autor biete prinzipiell nur Probleme. Das «Nachthemd am Wegweiser» braucht also durchaus nicht weniger problematisch zu sein als «Hamlet». Und eine Frage in der Hand ist immer noch kostbarer als die schönste Antwort auf dem Dache. Vielleicht badete Thila in der Nähe des Wegweisers? Ein Keckling findet ihre abgelegten Kleider und bugsiert das Hemd (aber warum Nachthemd? – sie schlich sich also nachts zum Bade?) – auf den Wegweiser??
Ich beneide die Leser nicht um diese schwierige Aufgabe! Aber wie kann man mir, einem armen alten klapperigen Remington-Schriftsteller, schwere Leistungen zumuten? – es wäre eine Schamlosigkeit, eine Ausnutzung! Geht mir ab! Das Nachthemd am Wegweiser wächst mir schon zum Halse hinaus! – 113