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II.

Den Herbst und seine Schauer voll kühler Vorahnung fürchten die alten Leute. Da legt sich's ihnen auf Brust und Herz, die Säfte stocken, trübe Spinneweben verhängen den Blick in die Zukunft, mahnend klingt das müde Gebetläuten in die Seele: Nebel ist alles, ungewiß, unwahrscheinlich und verloren, der kommende Tag, die nächste Stunde.

Aber in der heimseligen Winterstubenwärme, wenn draußen der Wald starrt und der Schnee schweigt und Haus und Ingesind sich fürs heraufdämmernde Jahr sammeln – in der heimlichen Winterwärme schmilzt das wieder weg, und die entblätterte Seele treibt neue Knospen und erschließt sich zur wunderweißen Christrose, und die Hoffnung fängt doch wieder den zerrissenen Faden ein und spinnt und spinnt.

Bricht aber erst der dunkelmächtige Frühling los, dann geht es den Alten ans Leben. Das jache Einschießen der Säfte, das wilde Aufbrechen der Quellen und Wunden, das sprengt ihnen die Brust. Sie vermögen den Tausturm nicht zu atmen, er bannt sie an den Schragen und bedrängt sie, rüttelt ihre Glieder und braust in ihrem Blut, und dann läßt er die Wogen der Ewigkeit über ihnen zusammenschlagen.

Der Frühling ist die tödlichste unter den Jahreszeiten. –

Den Hartbauern warf er diesmal, einen Morschen und Wurzelkranken. Seit dem Tage, da ihm das Rad über den Fuß gegangen, fand sich der Hartbauer nicht mehr recht ins Leben hinein. Wunde und Bruch heilten; aber nach der hinzugetretenen Entzündung wurde die Lunge nimmer wie sie sollte, sie blieb steif und schwer und rauschte wie welkes Laub und knisterte wie sinkender Brand, und die auf dem Hofe vorgesprochen, die Nachbarn und Neugierigen, die straften im Weggehen ihren Trost Lügen und stellten untereinander fest, der Hartbauer mache nicht mehr lang.

Er half und bettelte und hoffte sich dann doch noch durch ein Jahr hin, der Hartbauer, und die Schlüssel hatte er trotz allem nicht aus der Hand gegeben, getreu seinem Grundsatze, daß Austausch von Totenlicht und Hausherrenrecht allerweg der sicherste Übergang.

Nun dachte er freilich nimmer daran, wie er so zwischen den schwülen Kissen saß und mit den Schatten rang.

Im Schragen hatte er's nicht ausgehalten, da stickte die Luft so schwer auf der Lunge, und die verzweifelte Unrast der Hände fand in den Pfühlen keinen Halt.

So hatten sie den Keuchenden aufgerichtet und mit Federbetten umbaut, daß er darin lehnte wie in einem Armstuhle, und unter seine gespannt angeschwollenen Füße hatten sie einen Schemel geschoben. Nun ließ sich der furchtbare Kampf doch etwas leichter überstehen.

Aber trotz alledem wogte die aufgetriebene Brust des Siechen beängstigend schwer, und seine Blicke suchten wild in der Stube umher.

Der Valentin, der Älteste, war nicht da. Der baute den Habern auf der Jochbreiten; das ging vor. Und der Vater konnte wohl noch lange so machen. Mein Gott, wie's so ist mit alte Leut, die nicht sterben können und nicht leben.

Aber dafür stand der Alte im Mantel am Zaun und machte einen langen Hals nach den Fenstern hinüber, die den Flammenschein zweier Kerzen rötlich spiegelten; und der Meßner von Sankt Korbini spuckte sich schon in die Hände; der Hartbauer, der zog mit einem großen Geläut aus.

Von der buntgeblümten Uhr am Fußende des Bettes tropften grell die Pulsschläge der bangen Stunde. Der kleinere Zeiger rückte eben in den Zweier hinein. Die schmelzwarme Märzensonne zeichnete große Schatten der Fensterkreuze auf die weißen Dielen, ein schräges Bild des Kruzifixes auf das blanke Linnen. Mit so kräftigem Lichte erfüllte sie die Stube, daß der zage Schein der beiden geweihten Kerzen dagegen verlosch und die rötlichen Armenseelenflämmchen selbst glastige Geisterschatten warfen.

In grollenden kurzen Wogen ging der Atem des Sterbenden. Die Bäuerin rang zwischen den Händen die Schürze, aber sie hielt sich und sprach mit der Totenpackerin und der Altmagd zusammen die letzten Gebete. Die anderen waren alle nacheinander an ihre Arbeit gegangen. Es konnte ja noch bis zum Abende währen, bis zum nächsten Morgen. Und am Ende richtete sich der Bauer auch wieder zusammen.

Der Doktor aber wußte wohl, wie spät es für den Hartbauern geworden sei. Er kannte diese Leute und ihr Sterben. Einen Axthieb über den Kopf oder einen Streifschlag vom fallenden Baume hätte der Mann seinerzeit überstanden wie der Hirsch den schlechten Schuß, ohne groß Weh und Behandlung. Aber der Wurm fraß von innen her am Holze. Da war nichts zu machen, höchstens daß starke Gifte das Leiden um einige Stunden verlängerten. So lauschte der Arzt schweigend dem schweren Schmieden des Herzhammers, der binnen kürzestem zerspringen mußte.

Eben öffnete der Doktor seine Taschenapotheke, um es doch wenigstens mit einer Linderung zu versuchen, da kam zarter Silberglockenton über den Hof heran, der Rochett des Geistlichen leuchtete unterm Fenster vorüber, Schritte und Schellenklang im Hausflur, an der Türe, der junge Priester trat schweratmend ein.

»Friede sei mit diesem Hause und mit allen, die darin wohnen …«

Der Arzt sah nach dem Sterbenden hinüber.

»Schnell, Hochwürden.«

Benedikt stellte das Ziborium eilends zwischen die beiden brennenden Kerzen, dann trat er an den Verscheidenden heran.

»Durch diese heilige Salbung und durch seine mildeste Barmherzigkeit verzeihe dir Gott, was du gesündigt hast durch das Gesicht …«

Der Hartbauer vernahm nicht mehr die Worte der Gnade, noch verspürte er das Zeichen des Kreuzes an seiner Stirn. Seine Augen sahen stier, seine Hände ballten sich über den Kissen zusammen. Dann, ganz plötzlich, bäumte er sich auf und griff ins Leere, als wolle er den Priester mit hinab in den Abgrund reißen …

Der Alte im Mantel, der solange am Zaune gestanden, war in die Stube getreten, des Arztes und des Priesters Gefolgsmann. Nun schob er den Riegel zurück und ließ die kleine Zeit in die dunkle Ewigkeit hinausströmen.

Benedikt, selbst noch nicht bei Herz, stand starr. Er hatte bisher noch kein Sterben gesehen, und nun richtete es sich mit einem Male so ungeheuer vor ihm auf. Die Kühle einer eisigen Tiefe wehte ihn an; es war doch etwas Furchtbares um diese Geburt zum ewigen Leben, um diesen Ausgang zur großen Stille.

Und nun wunderte er sich mit Grauen, wie der Arzt, dieser herbe, hagere Mann, ruhig seine Taschenapotheke ordnete und verschloß und sich zum Gehen rüstete; wie die Totenpackerin, ohne eine Runzel zu verziehen, fast gierig sich ans häßliche Geschäft schickte, den Leichnam hob, wendete und damit umging wie mit einem alltäglichen Gegenstande; wie selbst Christoph Licht, der Meßner, weniger Erschütterung als vielmehr sachliche Neugier bezeigte und allsogleich eine gemurmelte Unterhaltung mit der Leichenfrau anspann. Nur die Bäuerin weinte still in ihr Fürtuch.

Der Arzt trat auf sie zu, den breitkrempigen Hut in der Hand.

»Mir tut's leid, Hartbäuerin. Aber es war doch eine Gnad. Andre, die plagen sich Tage und Wochen und jammern nach Erlösung, und ihnen will die Stund nicht schlagen. Da hat's der Bauer besser getroffen. Zu kurieren war da nichts mehr, grad daß man da dem Tod ins Handwerk pfuscht, wo er's doch gut meint mit einem …«

So sprach der Arzt, und seine Worte klangen hart in Benedikts Seele. Aber die alte Bäuerin nickte unter Tränen, als habe sie bei sich längst schon das Gleiche gedacht.

»Freili, die Gnad is vom Himmel. Nur daß ein' so hart ankommen tut, man denkt halt net auf den anderen, der den Frieden hat. Dem Bauern is gut, nur daß so leer wird um einen. Und i möcht mich halt schön bedanken beim Herrn Doktor …«

Der Arzt klopfte der Alten freundlich auf die Schulter.

»Dazu ist der Doktor nicht da, daß die Leut sterben, das treffen's am End allein am besten. Also nichts zu danken, Hartbäuerin. Ihr wißt's, Wunder kann man nicht wirken, und mit dem Hartbauern war's halt wie mit dem zundrigen Baum, da gibt's kein Spreizen und Flicken. Gott tröst Euch, Mutterl, dankt's ihm, daß er's gnädig gemacht hat.«

Der Doktor nahm seine Taschenapotheke auf und schritt mit leichtem Gruße am jungen Priester vorüber, hinaus in den lebendwarmen Märznachmittag.

* * *

Doktor Wendt wanderte gemächlich durch den schönen Sonnenschein dahin, der Bergstraße folgend, die auf dem Firste eines breiten Rückens von den hochgelegenen Weilern und Ödhöfen aus nach dem Kirchdorfe hinabführte. Die Luft roch nach brauner Erde, nach Jugend und herber Fruchtbarkeit. Dann und wann murrte ferner Donner durch die Nachmittagsstille. Zeitig gingen die Lahnen ab in diesem Jahre.

Nein, dem Hartbauern wäre nicht mehr zu helfen gewesen. Fristen ließ sich ja manchmal solche arme Flackerflamme, stundenlang, tagelang; allein wozu die Qual des Ertrinkens noch einmal erleiden lassen, da doch der Strudel sein Opfer nicht mehr freigab? Die Leute vom Berg waren auch nicht so krumm und feig, wie die in den Städten drunten; sie starben, wenn es eben ans Sterben ging, wie der Baum, wie das gesunde, wilde Tier, wie die Natur selbst. So gerne sie lebten und blühten, so voll demütiger Stärke traten sie den letzten Weg an, war ihre Stunde einmal gekommen. Darin hatten sie sich nicht geändert in den achtzehn Jahren, die er ferne der Heimat zugebracht, auf Hochschulen, in Spitälern, auf Studienreisen, in Laboratorien und Kliniken, an den offenen Wundquellen der Menschheit.

Da draußen, da ihm mit den Stürmen der neuen Zeit so manches angeflogen, was haften blieb und zum festen Gute seiner Seele wurde, da draußen in der gewaltsam sich umbildenden, umschichtenden Welt, deren Bilder und Kräfte sich mit jedem Tage umfärbten und überholten – dort hatte er bisweilen in banger Sehnsucht daran gedacht, ob von diesen Fluten ein Wellenschlag die Gestade auch dieser stillentrückten Bucht erreichen, bespülen, vielleicht gar unterwaschen würde. Und als er dann heimgekehrt war, um unter den Menschen, mit deren Art und Glück und Not er von Kindheit an vertraut gewesen, im Bereich seiner geliebten alten starken Berge sein eigentliches Leben zu begründen – da hatte er alles gefunden, wie er's gelassen, so eng, so gleichmäßig, so unerschütterlich. Ein paar neue Wörter waren der Mundart zugewachsen, eingepflanzt von ausgedienten Soldaten oder von den Zeitungen, die nun da und dort etwas eifriger gelesen wurden; der Eisenstrang führte durch das Haupttal, Altes abbauend, Neues niederschichtend wie der galvanische Strom; im Städtel drunten war neben anderen Dingen eine Industrie entstanden, Turbinen brausten, Stahlspindeln surrten dort: – aber die Leute vom Berg waren unentwegt geblieben, die sie einst gewesen, unentwegt im Guten wie im Bösen, des Glaubens wie des Aberglaubens Hort, fleißig und hart, mißtrauisch und schwerflüssig, brütend und jäh, unzugänglich und unergründlich tief wie der steilumfelste Hochsee. Ewig ist das Wesen der Leute vom Berge, wie Glaube, wie Aberglaube, wie Licht und Nacht.

Die Hartleute hielten es wenigstens nicht geradezu mit der mitternächtigsten Finsternis; sie waren nicht von jenen, um deren Seelen er nun schon ins zweite Jahr mit den Dämonen rang. Ein herzinnerster Grund von Geheimnis und Brauch gehörte ja ins Gemüt des Bauern, wie der heilige Wacholderrauch zu den Rauhnächten, wie dämmernde Sage zur klaren Geschichte. Das wußte Werner Wendt, das gab er zu, das gab dem Bauern Bestand und Würde und Adel. Diese raunenden Stimmen aus dem Zwielicht hätte er in der Seelensprache dieser Kinder einer drohend gewaltigen Natur gar nicht missen mögen. Aber die Sanktrainer drunten, die Staudacher und Sterzener und Moosbacher, die trieben es zu arg. Zu weitab irrten sie von den gesunden Quellen der Tiefe, zu blind waren sie gegen den Sinn der Zeit und zu sündhaft in ihrem Vertrauen.

Aus dem Ackergelände zu beiden Seiten des Weges tauchten nickende Gespanne empor; überall im quellenden Frühling regte sich die bunte, unsterbliche Arbeit.

Der Arzt blieb stehen und sah über das hügelige Feld hin, das hier zwischen einer Breite zartgrünen Weizenflaums und einem fettglänzenden Sturz nach dem schwarzen Fichtenwalde sich hinzog. Ein Mann kam eben mit weitausgreifenden Schritten heraufgegangen; sein großer Nachmittagsschatten strich schräg vor ihm her über die bläulichbraune Erde. Es war der junge Hartbauer; Wendt erkannte ihn von weitem. Er war ihm vor einigen Stunden begegnet, da jener mit dem Saatgute in der Schiebtruhe hinabfuhr, den Hafer zu bestellen.

Ohne des Wartenden auch nur mit einer Miene zu achten, wanderte der Säemann hinter seinen geräumigen, schimmernden Würfen heran. Erst da er am Ende der Breite angelangt war, ließ er den geleerten Schurz fallen. Gelassen nickte er dem Arzte zu.

»Is woll vorüber?« fragte er dann schwer.

Wendt streckte ihm die Hand hin.

»Mir tut's leid, Hartbauer. Aber jetzt leidt er keine Not mehr – der Vater.«

Der Jüngere, selbst ein gestandener Mann von guten Jahren, sah eine Weile vor sich hin. Dann fuhr er sich mit den Handrücken rauh über Augen und Stirn.

»Is eh wahr,« seufzte er; »besser aso als wira langs Sterben, wo keins was davon haben tut, der eine net und der andre net. Und verpaßt is nix worden, gelt? Alsdann.«

Er zuckte die breiten, kantigen Schultern.

Wendt sah ihm über die blinkenden Augengläser hinweg ernsthaft in den Blick.

»Verpaßt ist schon was worden,« sagte er beinahe finster. »Aber nicht heut und nicht in diesem Winter – jetzt war's freilich zu spät.«

»Wollwoll,« machte der Jüngere. Er bückte sich beiseite nach der Schiebtruhe und begann aus dem noch halbvollen Sacke in den Schurz zu schöpfen. »Hat si eh ang'meldt vor drei Täg auf die Nacht. Und was das Rindvieh is, rein narrisch, wie's g'rasselt hat mit die Ketten und brüllt. Da is er scho dag'wesen und hat umanandg'spürt.«

Tiefatmend richtete er sich wieder auf.

Der Arzt trat auf ihn zu und pochte ihm auf die Brust.

»Dadrin hat sich's aber auch angemeldet beim Vatern, Hartbauer, und das viel früher. Das hättet Ihr auch hören müssen, da drin hat's auch gerasselt und gestampft, rein narrisch.«

Der andere machte ein hartes Gesicht.

»Mei ja. Einmal muß sein, net? Mit dem Wehdam am Fuß hat's halt ang'fangt, dann is das andre dazukommen … Das Wachsherzl in Sanktrain drunten und die Kräutln, mei na, ein Jahrl und die paar Monat hat's ja g'holfen, ohne dem wär's leicht schon dazumal aufs End gangen, aba sixt, bald eins sterben muß, nacha stirbt's halt, da kannst nix machen.«

Der Arzt spielte mit der spitzen Stockzwinge in der Rasennarbe des Feldrains.

»Und jetzt habt's Ihr halt doch den Doktor gerufen?«

Der Bauer zog die Brauen hoch.

»Mei na, man probiert's halt.«

Wendt lachte grimmig in seinen goldbraunen Bart.

»Am End habts Ihr ja recht, Hartbauer. Das letzte Wort hat freilich ein anderer. Aber der andere hat uns auch den Verstand und die Mittel gegeben, zu helfen, solange zu helfen ist. Und der, der hilft, und der, dem geholfen wird, die müssen den Glauben an die Hilfe haben, alle beide. Sonst kommt man nicht weit.«

»Sein aber doch viele, die wo der Heilige g'sund g'macht hat oder das Gnadenbild, und wo kein Doktor hätt was ausrichten können.«

Der Arzt zerbiß etwas zwischen den Zähnen.

»Richtig Frommsein und ehrlich Beten hat gewiß noch keinem geschadet,« sagte er dann … »Ist der Weizen da auch Eurer? Der ist aber schön gekommen … Und da kommen die Grundbirn hin? … Ja, der Vater hat seine Sach schön zusammengehalten, eine gute Wirtschaft, die Ihr übernehmts … Alsdann s'God, Hartbauer, und laßt's Euch die Klag nicht ans Herz gehn. Hat alles seine Aussaat und seine Ernte, das ganze Leben auf und ab.«

Damit ließ Wendt den neuen Herrn des Ackers seiner Arbeit und seinen Gedanken und wanderte rüstig weiter gen Tal, wo schon die milden Abendschatten sich zu breiten anhuben. Den Schimmel und das Wägelchen hatte er drunten in Unzing beim Tafernwirte eingestellt. Aber er gedachte bei Lehrer Kathrein noch auf einen heißen Trunk Kaffee vorzusprechen, denn die weiche Schmelzluft des Fastenfrühlings zehrt.

* * *

Beim Totenkreuz auf der Höhe des Kritzenberges hielt er noch einmal an, das Bild der weiten Sicht zu genießen, die hier dem Wanderer sich bot, bevor er auf der dachsteilen Straße nach den Dörfern des Hügelvorlandes hinabstieg.

Unweit dieser Stelle hatte sich einst ein schweres Unglück ereignet, zu dessen Gedächtnis vom zuständigen Tuifelemaler ein anschaulich Bild nebst frommen Erläuterungsversen verfertigt worden war. Die verwitterte Martertafel hing ob der Straße am Stamme einer alten, starken Rottanne, zu Häupten einer minder künstlerischen, doch mindestens ebenso wichtigen Verwarnung, so dem christlichen Fuhrmann eindringlich empfahl, doppelten Radschuh und für alle Fälle noch eine Kette einzulegen; damit es ihm nicht also ergehe wie jenem unseligen Ignaz Oberzechner, dem zur Strafe für sein lästerlich Fluchen und Vermessen der Teufel mit heimtückischem Krallengriff die Kette gesprengt – welchen Vorgang die Schilderei des Künstlers schauerlich packend darstellte – so daß Mann, Rösser und Wagen kopfüber in die Schlucht und die glosende Verdammnis hinabrasten. Zur Sühne für des Ignaz Oberzechner wilden Lebenswandel aber war von der Wittib überdies noch das Kreuz gestiftet worden, das Werk eines guten Bildschnitzers. So wachte das Zeichen der Barmherzigkeit und Gnade auf der weitspähenden Höhe, dem Wanderer ein Mahner zu kurzem Rastgebet, dem Gefährdeten eine tröstliche Verheißung, dem Sünder ein Ruf zur Einkehr, jedermann ein gütiger Willkomm und allen ein heiliges und liebes Mal auf ihren Wegen bergauf und bergab durchs Leben.

Wie in dankbarer Andacht nahm Wendt seinen breiten Hut vom Kopfe, als er so in den hereinheimelnden Lenzabend der Täler hinaussah. Da drunten das Kirchdorf Unzing mit dem gemütlich altersgrünen Zwiebeldache des Pfarrturmes; dort hinten rechts Sanktrain mit der berühmten Wunderkirche auf dem Gipfel des vorspringenden Kanzelhügels, den die Giebel des Marktfleckens als demütige Beter umscharten; links drüben endlich, im Schlusse des Tales, wo dieses sich verengte und zu verdüstern schien, das feste alte Turmstädtel, dicht angenistet den fichtenstruppigen, felsgestirnten Bergen, aus deren dunkler Enge der eisgrüne Gletscherfluß mit gischtendem Schuß in das fruchtbare Becken hinausbarst.

Der Strahlenspeer der rüstenden Sonne traf eben den Kreuzknauf auf dem Turme der Propstkirche, daß er golden herüberblendete und so mit seinem Blitz das Städtel verriet. Ansonst aber hätte ein Fremder das Mauernest leichtlich übersehen können, so graubraun hockte es vor den grauen und braunen Schrofen und Kanzeln der Klamm, deren wichtige Straße, seine eigene Herzader, es seit eiserner Fehdezeit scharf belauerte und weidlich nutzte. Eine eulenfinstre Burg, voreinst eines weitgebietenden Grafen und Minnesängers Sitz, nachmals Zeughaus, darin die Zünfte ihre Hellebarden, Spieße, Stücke und Handrohre verwahrten, brütete ob der Stadt auf vorkragender Bergstufe. Die dahintropfenden Jahre hatten dem vierschrötigen Trutzgequader freilich manchen Schaden angebröckelt, und auch sonst war das Geschick mit dem Heim des erlauchten Dichters nicht eben glimpflich verfahren. Die guten Bürger, in deren Eigentum nach Verlöschen des Edelgeschlechts das Schloß übergegangen, hatten es durchaus nicht standesgemäß behandelt, sondern nach ihren werktäglichen Grundsätzen gemeiner Nützlichkeit, wozu noch ihr eingefleischter Haß und ihr dumpfes Haustiermißtrauen wider den Falken und seinen Zwinghorst kam. So war aus dem Zeughause, da die Rüstkammern der Zünfte verfielen, ein Spinnhaus geworden, darin ungeratne Frauenzimmer das grobe Garn der Tugend zu zwirnen lernten, und aber aus diesem das Armen- und Pfründnerhaus der Gemeinde. In solchem Berufe hatte Werner Wendt das düstere Gebäu kennen gelernt, da er, der faulste Schüler durch vier Unter- und acht Mittelklassen, Gassen und Umgebung seiner Vaterstadt nach abenteuerlichen Geheimnissen ablungerte, anstatt seine goldne Jugend auf toter Sprache unfaßbar krause Zeitwörter und die grauenvollen Mysterien des Kosinussatzes zu vergeuden. An Wundern und Rätseln aber bot die Pfründnerburg mehr als genug, mehr noch als die rauhe Mauer, die hinterm Rücken der breiten Häuser am Flusse hinlief, oder die tiefen Höfe, in deren anziehende Dämmerung man durch die niedrigen, freigebigen Torgewölbe hineinsah. Hier oben, am steilgeschrägten Sockel der Veste, sonnten sich zu guter Stunde die Eidechsen, wo einst das Rosen- und Zimtgärtlein geblüht, wucherten wunderschöne Klettenstauden von Dreiviertelmannshöhe, aus den Dachluken schwärmten im Zwielicht Käuze und Fledermäuse auf Jagd aus. Und hatte man Glück, so konnte man hinter einem der hohläugigen Fenster einen wackeligen alten Kopf erspähen oder man wurde gar von einer schmutziggrauen Gevatterin aus hallender Höhe her angekrächzt und hatte sich vorzusehen. Eben deswegen aber war die solchermaßen verwahrloste Pfalz des weiland Minnegrafen dem Pfadfinder eine Burg der Geheimnisse und Monsalvatsch – und da Werner Wendt nach achtzehn Lehrjahren als Doktor Wendt aus den Armen- und Siechenhäusern, den Kliniken, Asylen und Gefängnissen der Welt heimkehrte, da wußte er, daß gerade die Bresthaften und Heimgesuchten, daß die Müden und Verfinsterten des Grales Hüter sind.

An dem erdschweren Bauernvolke freilich war in dieser Frist keine tiefere Veränderung geschehen; das Städtel aber hatte sich mittlerweile den großen Eisenströmen angeschaltet, unter der aschengrauen Pfründnerburg weg lief durch den Berg die eherne Ader, die im Wege dieses Tales zwei große Völkerherzen miteinander verband, und im Gefolge dieser Ereignisse waren auch manche liebe Züge aus dem Antlitze der Straßen und Plätze unbarmherzig getilgt worden. Die Auswertung der bedeutenden Wasserkraft durch die Spinnerei hatte in natürlichem Zusammenhange zur Verabschiedung der alten, traulichen, doch mangelhaften Beleuchtung geführt; und obschon gerade der rötlichtrübe Armenseelenschein eines Öllämpchens sichere Wegverhältnisse erheischen sollte, so war doch von den Stadtvätern in Weisheit befunden worden, daß der unwürdige Gegensatz zwischen elektrischem Licht und zunftzeitlicher Pflasterung zu beseitigen sei. Auch für den Aspekt des Städtleins, in Sicht des Bahnhofes zumal, hatte man Löbliches ins Werk gesetzt, sowohl was Ausrichtung der Hauptstraßen und Erweiterung der Plätze betraf, als auch in bezug auf Errichtung neuer, eitler, selbstüberheblicher Baulichkeiten.

Darin war man allerdings zu weit gegangen: so stellte wenigstens Doktor Wendt mit heimlichem Ingrimm bei sich fest. An Stelle des breitbehäbigen Gasthofes zur Post, wo sein Urgroßvater Wirt und Posthalter gewesen, einen marktschreierischen Logierpalast zu zwei Stöcken aufzuprotzen, das war zumindest verfrüht; die alte Apotheke zum heiligen Geist, wo noch sein Großvater Pillen gedreht und Pflaster gestrichen, zusamt dem dauerhaften, kerngesunden Eckhause einzureißen, um dafür einen hoffärtigen Backsteinbau ohne Geschichte und Schönheit aufzuführen, das war überhaupt überflüssig, maßen die Gifte, Schmerzen, Latwergen, Tinkturen und Narren bei Glühlicht und Kienspan doch dieselben blieben. Am schlimmsten aber waren sie mit dem Hause seines Vaters verfahren, das er, der einzige Erbe, nach dessen Ableben voreilig und mehr oder minder aus Überdruß verkauft hatte: dies hauptsächlich, um sich der nicht unbedeutenden Lasten, die auf dem Objekte lagen, zu entledigen. Trotz großer Praxis war der alte Herr niemals zu Reichtümern gelangt; seine unerschöpfliche Gutmütigkeit spielte den Grundsätzen der Sparkunst täglich einen Streich. Die Schuld stammte noch vom Ankaufe des Grundstückes her: Großvater Apotheker war von Hirschhorn und Theriak mächtig begütert worden, aber unter seinen zahlreichen Kindern war gerade der Arzt das jüngste. So verblieb immer eine Bürde auf dem lieben Dache, und das wurde zur Ursache dafür, daß der junge Doktor, um nur aller Fesseln frei zu sein und um nicht aus der Ferne geschäftliche Sorgen spinnen zu müssen, Haus und Garten kurzerhand und schweren Herzens veräußerte, nicht gewahr der Dinge, aus denen der Stadt eine reißende Spannung ihres Wertes erwachsen sollte. Und nun hatte jener Verwandte sich gewaltigen Vorteil aus den günstigen Zusammenhängen gemünzt, das hübsche altfränkische Haus mit den grünen Läden und dem Schopfdache und dem tiefschattigen Gärtchen war verschwunden, und an seiner Stelle stand großmächtig, gierig und neuzeitlich ein Sparkassengebäude da, wo das schärfste aller Gifte gesammelt, umgebraut und bald als Stimulans, bald als Narkotikum unter die Menschheit dispensiert wurde.

Heute belächelte Doktor Wendt die gallige Enttäuschung, die ihm damals das Wiedersehen so gründlich verdorben – und das nicht etwa aus verdrießlicher Scheelsucht gegen den glücklichen Verkäufer, sondern aus Groll wider den schonungslosen Maklergeist der Zeit –, heute belächelte er die Ohnmacht solch grimmiger Stimmungen und ihre blinde Ungerechtigkeit. Schließlich gelangt auch der Moränenschutt zutal und ins Geschiebe der großen Flüsse und wird nach jahrtausendelangen Verfeinerungen als Weizenschlamm von höchster Fruchtbarkeit in irgendeiner Niederung abgelagert. Auf dem Bogen einer ungeheuren Brücke steigt das Leben an und nieder über dem schaudernden Abgrund, in dessen Wassern seine bunten Gewänder sich trügerisch spiegeln; alles wächst, reift, schwindet, und hatten sich die Nachfahren einfacher Bergbauern allmählich zu Ärzten hinaufstudiert, weshalb sollte eine alte Spießbürgerstadt in der Stille ihrer Vergangenheit erstarren?

Ein Unterschied blieb freilich bestehen, so versöhnlich man die Dinge aus hohen und fernen Gesichtspunkten her betrachtete. Die da drunten, Menschen, Häuser, Straßen, sie alle vergaßen nur zu gerne ihrer Herkunft, suchten diese zu vertünchen, wo immer es nur anging, ihre dumpfen braunen Höfe hinter ansehnlichen Zierfassaden zu verbergen, wo immer es galt, des Nachbarn oder des Fremden Spähblick zu täuschen. Er aber war stolz auf seine stolze bäurische Abstammung, wie sein Vater es gewesen, und das Gedächtnis seiner Ahnherrn, des Postwirtes, dessen Vaters, der Kalender- und Wettermacher, Allheilkünstler, Erfinder und unfehlbares Orakel, dessen Vaters, der noch Ödbauer und Querkopf gewesen, hielt er wert wie irgendein Edling seines Geschlechtes Wappenbrief und Schild. Daß ihm der eigentliche Name seiner Sippe abhanden gekommen, hatte er sowenig verschuldet wie sein Vater oder der Apotheker zum heiligen Geist oder der Postwirt, der erste Schreibkundige der Reihe; der Hofname besaß eben mehr Geltung und Ruf als der des Bürgers, und deshalb trug er über diesen den Sieg davon, insgleichen zurzeit, die auf der Wendt in der Sanktrainer Gemeinde saßen, nicht etwa Winkler, sondern nach dem uralten Anwesen geheißen wurden. Krist, der wirkliche Sippenname, fand sich nur noch in verstaubten Tauf- und Totenbüchern der Pfarre; im übrigen war er verschollen, da nach Absterben des führenden Stammes der Hof an den Tochtermann des letzten Wendtbauern gekommen war und die Nachfahren des Kalendermachers mit dem nun einmal unveräußerlichen Hausnamen zu zeichnen sich gewöhnt hatten. Vielleicht, daß noch irgendwo in der Welt ein versprengter und entfremdeter Krist lebte; die Überlieferung, die der alte Doktor zärtlich gepflegt und auf Grund eigener Nachforschungen gefestigt hatte, wußte zwar von einem abgewanderten Urohm, einem Bruder des Wunderarztes, allein nichts von dessen Schicksalen und Erben.

Gerade wegen solcher Unterschiede, bei denen sein Innerstes erregt mitsprach, war nicht Vertragens zwischen Werner Wendt und seinen Vaterstadtleuten. Das empfand er heute viel klarer als vorm Jahr, da er aus der lehrreichen Welt zurückgekehrt war, voll Sehnsucht, zu wirken, wo er sein Leben aufgetan, zu schaffen, wo sein Vater begonnen, zu bessern, wo die geliebten alten Wunden der Heimat seiner Pflege bedurften. Allein er hatte nicht mit Gevatter Krämer und Ohm Giftmischer und Vetter Propst und Base Baurätin gerechnet, diesen ehrenhaften Magistratsmenschen, denen er wohl so etwas wie ein eher bedenklicher Emporkömmling oder Bummler zu sein schien und die ihren – anderorts gerne zu Gehör gebrachten – Grundsatz von der redlichen Nahrung im eigenen Lande auf ihn offenbar nicht angewendet wissen wollten.

Anfangs, da sie den Ernst und die Absicht seiner Heimkehr noch nicht begriffen, hatten sie ihn wie eine erfreuliche Merkwürdigkeit behandelt und dem kleinen Werner von einst allerlei gastliche Ehrungen erwiesen: es war doch schön und selten, so einer über Glück und Geschäft seiner Anfänge nicht vergaß – wobei nicht selten deutliche Anspielungen auf seines Vaters unglücklichen Hausankauf, auf die Unmöglichkeit der Schuldentilgung, auf den dadurch bedingten Verkauf, zu dem er selbst sich ja leider habe verstehen müssen, vornehmlich aber auf die große geschäftliche Tüchtigkeit des Wiederverkäufers hindurchtauten.

Und bald genug kam hinter diesem Wohlwollen eine andere Miene zum Vorschein. Als er deutliche Anstalten traf, zu bleiben und zu gründen, wurde der zuerst Gefeierte sofort unwillkommen und verdächtig, vorzüglich seitdem er mit Bezug auf die neuen Anlagen – diese glänzenden Zeugnisse stadtväterlicher Einsicht und bürgerlicher Opferwilligkeit – etliche harte Bemerkungen hatte fallen lassen, darunter ganz besonders ein gehässiger Hinweis auf das mangelhafte, beschränkte und unverändert armselige Hospital übel ins Gehör gedrungen war. Hier, wenn irgendwo, sei Luxus, Neubau, Aufwand und Besserung jeder Art vonnöten, hatte er ganz offen herausgesagt; hier hätte man beginnen müssen, während manches andere besser unterblieben wäre; hier werde er sofort seine ganze Kraft und seine ganze Erfahrung einsetzen, und Hand in Hand mit bezüglichen Neuerungen müsse die Kanalisierung auf die Höhe der Zeit gebracht werden; gewiß verlange er kein großstädtisches Krankenhaus von modernem Zuschnitt, aber doch eine Anstalt, deren Einrichtung in jeder Beziehung den Erkenntnissen und Forderungen der weit vorgeschrittenen Wissenschaft und dem ärztlichen Gewissen gerecht werde … Der Widerhall blieb nicht aus. Mit solcherlei unberufenen Nörgeleien machte man sich jedenfalls nicht beliebt. Das Hospital erfüllte seinen Zweck immer noch vollauf, zumal ja die Gesundheitsverhältnisse von Stadt und Umgebung ganz ausgezeichnete waren, so ausgezeichnete, daß man einer neuen ärztlichen Kraft wohl kaum bedurfte; dies um so weniger, als man in den beiden Herren Doktoribus Steiger und Dreythaller höchst gewiegte, erprobte und verläßliche Ratgeber besaß, denen man das verdiente Vertrauen schwerlich entziehen würde … So sehr man trachtete, mit der Zeit und ihren Anforderungen Schritt zu halten, die elektrische Beleuchtung und die Pflasterung bewiesen es schlagend, so war man doch nicht gesonnen, von einem aus weiß Gott welchem Grunde heimgekehrten Fremdling, der für seine Vaterstadt bisher nicht das Geringste getan, sich tadeln, belehren, beirren und aus dem ruhigen Gange der Entwicklung bringen zu lassen … Es sind ja fast immer die unlauteren Abenteurer, die gestrandet die Heimgekehrten spielen und in der Trübung friedlicher Zustände ihre Rettung suchen – und von diesem Werner Wendt hatte man eigentlich nie Gutes vernommen, gerade, daß seine mehr verworrene als starke Begabung und die Rücksicht auf den Beruf seines Vaters ihn vor den Folgen seiner Faulheit bewahrten …

Und weil man mit vernehmlichen Beweisen solcher Gesinnung keineswegs sparte und dem unbequemen Gaste die Lästigkeit seines Aufenthaltes auf jede Art zu verstehen gab, so packte Werner Wendt eines Tages seine Habseligkeiten zusamt seinen guten Absichten ein und siedelte damit hinüber nach Sanktrain, wo er den Herren Doktoribus Steiger und Dreythaller nicht leicht auf die Praxis fallen, sicherlich aber Nutzen wirken konnte. Der Marktflecken lag mehreren Berggemeinden zugänglich, und überdies war der zuständige Arzt, ein alter Herr von rauhen Universalmethoden, vor ganz kurzem gestorben. So trafen die Umstände glücklich zusammen, und so kam es, daß in Sanktrain nun wieder einer von der Wendt sich niederließ, ein Nachfahr des Kalendermachers und Wunderheilkünstlers, dem freilich der Sech, den jener im eigentlichen Berufe noch wacker geführt, zum Skalpell sich verfeinert hatte.

Werner Wendt beklagte es nicht, daß alles ihm so in Erfüllung gegangen war. Nun fühlte er sich wahrhaft daheim, weit tiefer und inniger daheim, als er es je in der Alltagsenge des Vaterstädtchens hätte werden können. Rings standen die feierlichen Berge, nach deren steiler Gewitterpracht er sich so manches Mal aus den Niederungen der Welt da draußen gesehnt; hier auf den Höhen und drunten im Talgrund bestellte das schwere Volk, dessen Blutes er selbst einen starken Puls in den Adern führte, den alten treuen Boden, seinen Wurzelboden. Die Wälder orgelten im Föhn, von den Hängen grollten die Lahnen; auf allen Wegen begegnete man dem allgestaltigen Erreger, der allen Wandel in sich begreift und jedes Geschehen in seiner Ewigkeit beschließt und selbst an jeglichem geschieht von Stern zu Stern ins Unermeßliche.

Doch über alles das hinaus, Landschaft, Leute, Stille und Ferne, über all dieses Wiedersehen und Wiedersuchen und Wiederfinden hinaus gab es hier noch etwas, dessen der Heimgekehrte sich dankbar freute: den Kampf um das wahre Brot des Lebens, um das Heil, um das Licht! Ein mannswerter Kampf, würdiger als jener mit dem gewinnstlichen Stumpfsinn der städtischen Gevattersleute, doch heikel und gefährlich: denn der Feind war alt wie der Abgrund. Der Arzt fuhr sich mit der Hand über die Stirne; würde er ihn ausringen, diesen schleichenden Krieg? Er sah am Kreuze hinauf; ein bitteres Lächeln spielte über seinen bärtigen Mund hin. Aber zu kämpfen war er ja letzten Endes gekommen, nicht um in gleichmütigem Frieden sein Leben versanden zu lassen. Diesen Kampf auf sich zu nehmen, hatte er gelernt und sich bereitet. So wollte er sich seiner nun auch mutig freuen; sonst hätte er gerade so gut in der Fremde bleiben können, wo es Reichtümer und fette Triften in Fülle gab für einen, der Geschick mit Ausdauer und Treue verband.

Und er wies die wolkigen Gedanken unmutig von sich ab; gewaltsam erweckte er sich aus seinen Erinnerungen. Feinsilberner Schellenton kam die Bergstraße herabgeklingelt. Die heilige Wegzehrung kehrte ungenossen nach dem Altarschrein zurück. Dort leuchtete schon der weiße Chorrock im braunen Ackergelände auf. Der Arzt löste sich vom Kreuze ab und überlegte, einen Augenblick lang: gleich als müßte er sich seiner selbst wieder gegenwärtig werden. Dann schritt er auf dem steilen Waldpfade, den Weg nach dem Kirchdorfe kürzend, in die frühe Vesper des Tales hinab.

* * *

Florian Kathrein hatte eben erst Feierabend gemacht, als der Arzt in den weitläufigen Schulhausgarten trat.

»Was gibt's?« fragte der Lehrer nach der Begrüßung, während seine sorgfältigen Hände die Sichelklinge des Veredelungsmessers säuberten.

Wendt sah ihm über den goldenen Kneifer hinweg zu.

»Nichts gibt's,« sagte er dann hart; »genommen hat's.«

Kathrein nickte. »Den Hartbauern, was?«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Wassersucht, Dampf, alles verschleppt.«

Mit einem Seufzer lud er die Erinnerung ab. Dann wies er auf die frisch veredelten Jungbäumchen. »Ist's nicht zu früh?«

Kathrein klappte die Klinge unter sanftem Gegenzug ein und warf das zur Reinigung benutzte Moosbäuschchen weg.

»Was wird es zu früh sein?« sagte er zuversichtlich; »Hafer in die Erde, Honig in die Kammer, Edelreis auf den Wildling. Hafer, Kirsche und Wachs, das gehört zusammen wie Kosmas und Damian.« Und er prüfte wohlgefällig die verpichten Kopulierbänder nach. »Ein gutes Jahr wird es, kein Frost zu den vierzig Märtyrern, das bringt Segen.«

»Du bist auch so einer,« schalt Wendt; »Lehrer, und gibt dem Aberglauben ein Beispiel! Aber es muß schon was dran sein.«

»Ist auch was dran,« belehrte Kathrein; »nicht an den Heiligen, die machen's nicht, aber an der Sonne, die macht's, die bestimmt den Heiligen ihren Tag und dem Himmel das Wetter.«

Wendt betrachtete gedankenvoll die zarten Stämmchen. Behutsam, fast liebkosend strichen seine ruhigen Finger über die Bastwickel, als tasteten sie die Festigkeit eines Verbandes und die frische Wunde darunter.

»Ja, wenn man das mit Menschen machen könnte.«

»Wäre am Ende nicht gut,« widersprach Kathrein behaglich; »die ganze Welt wär ein langweiliger Obstgarten, der sich bald austrägt und ausblüht. Wir brauchen aber auch Wälder und Wildlinge zur Auffrischung. Der zahme Edelbaum ist zart und vergänglich, der Wildling allein ist stark und ewig. Spät bringt er Frucht, wenn man ihm das Zuchtreis aufsetzt, aber dafür lang und treu und gesund.«

Wendt kraute seinen knisternden Bart.

»Alles verwildert schließlich zurück, das ist noch das Gute.«

Kathrein schüttelte den Kopf.

»Ist aber dann nicht dasselbe. Verwilderte Unterlage und harter Wildstamm, ist ein Unterschied. Gerade die Halbgepelzten, das sind die schlechtesten, neigen immer zum geilen Wuchern.«

»Ihr Herren von der Fibel müßt das eigentlich wissen,« sagte der Arzt; »das heißt, in Wirklichkeit könnt ihr auch nur oberflächlich pfropfen.«

»Kommt auf die Hand an,« versetzte der Lehrer, während er den übriggebliebenen Bast säuberlich zusammenwand; »auf die Hand kommt's an, auf den Griff, und immer wieder auf die Unterlage.«

»Schon,« gestand Wendt zu; »aber den eigentlichen Schnitt, den fruchtbaren, der auf Tod und Leben geht, den führt doch ein anderer, der große Gärtner.«

»Dem die Herren Ärzte gar so gerne in die Klinge fallen,« spottete Kathrein.

»Ist nicht wahr,« verwies der Doktor ernst; »wir sind nur Gesellen und ästen und verpichen, wo es zu erhalten gilt. Was wir nicht retten können, das befiehlt der Meister seinem alten Holzknecht zu schlagen.«

Kathrein wunderte sich. »Heut auf einmal redst du so fromm daher?«

Wendt zog die Brauen zusammen. »Ich trag's nicht auf der Zunge, schau. Und ist ein Unterschied zwischen großem Glauben und kleinem.«

Der Lehrer nickte. »Ist auch.«

Langsam schritten die beiden Männer durch den Frieden des Gartens, dem Hause zu, aus dessen blanken Fensterscheiben ihnen der Goldbrand des Sonnenuntergangs entgegenspiegelte. Da und dort verweilte Kathrein, um auf den kleinen Pfädchen zwischen die sauber aufgehügelten Beete zu treten, in denen schon der zarte Gemüsefrühling verheißend am Werke war. Dann wieder blieb er an den drei kleinen Treibbeeten stehen und hob eines der schrägen, mit Pflöckchen gelüfteten Fenster. Ein junger, reiner Wohlgeruch erwachte und ward eins mit dem herben, gesunden Erddufte, der wie segnend durch die leise Dämmerung strich.

»Veilchen!« sagte Wendt gerührt, mit einer Stimme, als grüßte an sonnigem Morgen ein genesenes Kind.

Der Lehrer lachte still in sein Herz hinein.

»Warum nicht? Die gute Sonne scheint hier so stark wie irgendwo.« Er pflückte einige der süßen kleinen Blüten und reichte sie dem Freunde. »Es muß doch nicht alles Rettig und Salat sein in der Welt. Das Gleichgewicht zwischen Blume und Frucht, das ist ja das Glück.«

Und er schloß vorsorglich die Fenster der Beete und spreitete die Strohmatten darüber aus.

»Ja, du hast's gut,« seufzte der Arzt; »so ein Stück Gottesland und die Sorge darum und immer wieder einen ruhigen Tag vor sich – das ist der Friede.«

Kathrein rückte die Matten zurecht. Dann richtete er sich auf.

»Ja, schau, ich hab die Dinge eben kommen lassen,« sagte er bescheiden; »viel ist gekommen, Gutes und Böses, und das hier ist geblieben, das Tagwerk mit den Buben und die Feierabende in Garten und Werkstatt und Haus. Ist mir eins so lieb wie das andre. Die jungen Menschenpflanzen und die Bäumlinge und die Beete hier und drüben die Immen und der alte Nußbaum und meine Kinder und die Hobelbank und die Bücher für die Winterstunden und meine Violine – schau, das ist meine Welt, und ist mir Welt genug. Ich bin einer, der gerne wachsen sieht und wachsen hilft und die Sonne nimmt, wie sie scheint. Darum bin ich im engen still geworden; es gibt so Menschen, die ihr ganzes Leben lang nur horchen und nie selber klingen, zu denen gehör ich. Nur die Alte – die Alte geht mir ab. Aber die hast du ja nicht gekannt. Seitdem ist vieles nur mehr halb und stumpf.«

Wendt senkte den Kopf mit der mächtigen, breiten Stirn.

»Manchmal möcht ich, ich wär wie du,« bekannte er; »manchmal. Und dann wieder nicht. Ist eben nicht meine Art, mich treibt's, und ich selber muß treiben.«

»Ja; ja, so ein Sinnierer und Minierer, das warst immer,« nickte der Lehrer; »schon damals, unterm gottseligen Gampert, von dem her wir Schulbrüder sind. Gelernt hast nie viel. Aber den alten Gampert nach allem möglichen ausfragen, oder den Katecheten, den Kaplan Schopf – weißt noch? – das war dir ein Hauptspaß.«

Der Doktor lachte kurz auf. »Ein Spaß war's nicht! Lernen hab ich freilich nicht wollen, aber wissen! Ja, später, da hab ich auch das Lernen gelernt, kannst mir's glauben. Aber damals, so langsam und dumm und dumpf lernen müssen, was man schon halb weiß, das war eine Marter, das nimmt einem die ganze Freude.« Dann sprang er plötzlich ab. »Du – was ist denn das für eine arme Seel von Kaplan, die ihr jetzt da habt? Sieht aus wie ein Heiliger, ist wahrscheinlich keiner.«

Kathrein blieb stehen.

»Eine sehr reiche Seele von Mensch ist das,« widersprach er warm; »jung, und gewiß noch schwach in der Wurzel, aber rein wie eine Knospe, glaub ich. Und ein sehr tüchtiger Musiker, du!«

»Damit fangst mich nicht,« brummte Wendt; »kennst ihn denn schon näher?«

»Er besucht uns oft,« sagte der Lehrer ruhig; »warum soll er nicht?«

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Von mir aus. Geht ja mich nichts an.«

»Es sind nicht alle wie dein Herr Dechant da drunten.«

»Das wär auch schwer, wahrhaftig.«

»Und dann, bleibt auch die Sach dieselbe, es ist doch immer wieder ein anderer Mensch, der sie tragt – ein neuer und besonderer.«

»Hoffentlich.«

»Und von neuen Menschen muß man das Beste glauben – sonst wird einem das Leben zum Zuchthaus.«

»Man verlernt's.«

Kathrein brach ab. Schweigend schritten die beiden Männer auf das Haus zu. Rings im Dorfe erwachten die Stimmen des Abends. Zuhöchst in der Krone des kahlen Nußbaums saß eine Schwarzdrossel und psallierte herzbrechend inbrünstig in die linde Dämmerung hinaus.

»Wie schön,« sagte Kathrein; »und da gibt's grausame Narren, die Vögel einsperren. Ist das nicht Gebet?«

»Gebet, ja, und Offenbarung,« sprach Wendt andächtig; »das ist Gottes Wort, ja!«

Der andere neigte den früh ergrauten Kopf.

»Gottes Wort, ja. Amen.«

Aus dem Zwielicht des offenen Hausflures löste sich eine helle Gestalt.

»Sie, Herr Doktor? Guten Abend. Kommen Sie herein. Die Mariann ist schon ganz ungeduldig … Wie schön die Amsel singt.«

»Nicht wahr, eben. Das hat uns aufgehalten. Fräulein Marianne macht sich zu viele Sorgen und Mühen. Sie sollte lieber herauskommen und dem Frühling zuhören … Und Sie, Fräulein Verena?«

Das Mädchen duldete freundlich den Griff seiner festen, zarten Hand, die, wie einer Gewohnheit untertänig, sogleich nach der Pulsader tastete.

»Es geht wieder aufwärts, Herr Doktor.«

Der Arzt lauschte; dann gab er ihre Hand frei.

»Immer noch ist die Uhr nicht im rechten Gang,« tadelte er sanft; »Schonung, Schonung, Sie müssen erst langsam in die Gesundheit hineinwachsen. Und jetzt kommen Sie. Der Frühling ist schön und falsch wie eine Katze.«

Verena zögerte noch; gierig schnupperte sie in den Abend hinaus.

»Schade. Sie sind so streng, Herr Doktor. Dieser Himmel mit den schwarzen Fichten davor! … Und dieser laue Geruch, nach Garten, Veilchen, Ostern!«

Der Arzt sah still ergriffen auf das Mädchen, das ihm und dem Freunde vor wenigen Wochen noch so schwere Sorgen bereitet.

»Vielleicht haben Sie recht,« sagte er schwermütig; »vielleicht geht da draußen einer um, der sich besser aufs Heilen versteht wie ich. Vom Herzen her muß der Mensch gesund werden, das ist's. Eigentlich wissen wir nichts, erfüllen gerade nur die äußeren Vorbedingungen – das, worauf es zuletzt ankommt, bleibt Geheimnis.«

»Aufs Gleichgewicht kommt es an,« drängte Kathrein; »und dazu gehört, daß man zu rechter Zeit genießt, was einem vom lieben Gott gegeben und von den Frauenzimmern bereitet wird.«

Marianne, die ältere der Schwestern, kam eben den Hausflur herab, beide Arme beladen mit der klirrenden Bürde von Tassen und Kannen. Nun blieb sie hilflos vor der nach der Wohnstube führenden Türe stehen. Wendt griff geschickt an ihr vorbei und öffnete.

»Danke, Herr Doktor, und guten Abend. Daß du nur endlich zu dieser Einsicht kommst, Papa. Sie fragen auch nicht danach, Herr Doktor, daß ich allein schaffen und anfassen muß, während ihr alle da draußen schwärmt. Aber nun belohnen Sie mich wenigstens dafür, daß ich den schlechteren Teil erwählt.«

* * *

Eine schwere Herzenslast brachte Benedikt Siebenschein von seinem Heilswege mit nach Hause.

Nachdem er des Herrn Leib im Altarschrein geborgen und die Sakramentalgeräte gehörig verwahrt, zog er sich in die unruhige Stille seiner Gedanken zurück, nicht ohne zuvor seine Seele im Gebete Gott dargebracht und um Erhellung seiner Finsternis gefleht zu haben. Nun saß er in der dämmerigen Stube und empfand es dankbar, daß man sich heute, in der Geschäftigkeit der Vorbereitungen zum Feste, noch weniger als sonst um ihn bekümmerte.

Einmal gedachte er das Harmonium aufzuschließen und in den Tiefen der Musik Zuflucht zu suchen vor den Gespenstern, die ihn umirrten wie Bilder eines bangen Fiebertraumes.

Dann verwarf er wieder den aufsteigenden Wunsch. Es ging Lärm im Hause um, Schritte hallten, Türen schütterten, Hämmer pochten, aus dem Erdgeschosse herauf klang das eifrige Vorabendgeläute der Mörser, das Klappern der Kessel, das Böllern des Zuckerbeils.

Alle diese rüstigen Geräusche, mit dem Brausen reinigenden Wasserschwalls und dem Fegen rücksichtsloser Bürsten zu vielstimmiger Gesamtheit zusammenspielend, stellten wahrhaftig keinen Hintergrund dar, von dem sanfte Musik sich hätte würdig und wirkungsvoll abheben können.

Außerdem wäre mit Choral und Fuge doch nichts auszurichten gewesen, das sah Benedikt seufzend ein.

Das erschreckend gedunsene Gesicht des Hartbauern, sein letztes Aufbäumen wider den Griff ans Herz, sein ersticktes Haschen nach Luft und Halt, dies alles gestaltete sich immer wieder vor der Seele des Erschütterten, geschah und versank und hinterließ jedesmal neue wildere Schrecken vor der Nacht, in der jener untergegangen wie ein fallender Stern.

Und obschon Benedikt über seinem Grauen jener tröstlichen Sprüche aus Schrift und Büchern nicht vergaß, die den Tod priesen als des Lebens süßeste Frucht und Schwelle des Reiches und Tor des ewigen Lichtes: anders furchtbar in ihrer dunklen Größe war doch die gerade Wirklichkeit, richtete sie sich so nah und jäh vor dem Blicke auf; grimmigste Not war es trotz allem, was der Erlösung voraufging, dieses Ringen und Erlahmen und Stocken und Gerinnen.

Und Benedikt erkannte mit einem Male, daß man ein Sterben gesehen haben müsse, um ganz demütig zu sein; demütig nicht aus Angst vor den Schrecknissen der letzten Einsamkeit, sondern demütig vor der göttlichen Kraft des einen, der um Schwächen und Schmerzen des armen Menschenleibes gewußt und dennoch ein Menschenleben auf sich genommen, damit das Reich komme – und dennoch ein Menschenschicksal bis an sein bitterstes Ende erfüllt und als Mensch einen schaurigen Foltertod an sich zugelassen, auf daß sein Liebeswerk vollbracht werde …

Hier fiel es Benedikt wieder schwer auf sein junges Priestergewissen, daß er das heilige Brot und das Öl der reinigenden Gnade nicht mehr rechtzeitig dem Verscheidenden gebracht habe. Er schalt sich selbst sträflicher Nachgiebigkeit. Die steile Straße, die über den Kritzenberg nach den hochgelegenen Ödhöfen führte, war seiner Eile ein Hindernis und seinem Atem ein böser Feind gewesen. Er hatte unterwegs zu mehreren Malen und auf der endlich gewonnenen Höhe erst recht anhalten müssen, um das betäubende Stürmen seines Blutes abzuwarten. Darüber war aber die unersetzliche Zeit verstrichen, eine Viertelstunde vielleicht nur, dennoch genug zur Rettung einer fliehenden Seele.

Daß der Hartbauer schon auf Sankt Blasien, als eine erste jähe Drohung an ihn ergangen, die heiligen Sterbesakramente empfangen hatte, tröstete Benedikt nur wenig und vermochte seine Selbstanklagen nicht zu entkräften. Denn wo der Gerechteste des Tages siebenundsiebzigmal sündiget, wie oft dann ein gewöhnlicher Sünder, wie der Verstorbene sicherlich einer gewesen?

So irrten die Gedanken des jungen Priesters unstet hin und wieder, und in der Mitte ihrer bangen Kreisflüge stand hoch und steil die geheimnisvolle Blume des Todes, in deren purpurne Kelchtiefe er vor wenigen Stunden zum ersten Male hinabgeschaut.

Unverständlich aber blieb ihm die erschütternde Gelassenheit der anderen Menschen, die doch von diesem Abschiede schwer getroffen wurden und trotzdem darüber hinweg ihren Alltag weiterlebten, als sei das Kommen und Gehen eines geliebten Menschen nicht mehr als irgendein gewohntes einfaches Ereignis, der Fall einer Frucht, ein Sonnenuntergang, das Verlöschen eines heruntergebrannten Lichts. Der junge Bauer bestellte unbeirrt den Acker, der noch an diesem Mittage seinem Vater gehört und am Abende der seine war; die alte Bäuerin hatte sich nach kurzem Gebete wieder an ihre Arbeit geschickt; die Schwiegertochter und die Mägde waren gekommen, hatten sich bekreuzt und ein Vaterunser und Avemaria gemurmelt und der alten Totenpackerin bei ihrer unheimlichen Arbeit zugesehen und waren wieder ihrer Wege gegangen; alles war seiner Wege gegangen, und doch lag in der Kammer still bei blassem Kerzenschimmer, der bis zur Stunde des Hauses Herr, Grundpfeiler und Turm gewesen, und hatte kein Wort mehr in den Dingen, die rastlos um ihn weiterliefen, wie alle seine Zeit zuvor.

Am liebsten wäre er jetzt auf eine trauliche Stunde zum Lehrer hinübergegangen, mit diesem ruhigen, sanftmütigen Manne sich auszusprechen oder wenigstens an seiner gelassenen Heiterkeit sich zu erfrischen. In der kurzen Frist seines Aufenthaltes war ihm das blanke, schlichte Schulhaus so lieb und unentbehrlich geworden wie ein Stück Heimat. Von tausend kleinen Zügen wurden ihm da die Bilder der Jugend vorgetäuscht und erneuert, Florian Kathrein selbst wies manche anziehende Ähnlichkeit mit seinem, Benedikts, Vater auf, in seiner Liebe zu stiller Geschäftigkeit, in seinem zarten Geschick zu allem Behuf, in seiner gütigen Ruhe des Gebens und Empfangens. Und wie einst im Vaterhause, so wurden auch hier alle Feierabende und Mußestunden mit beschaulicher Pflege der Seele verbracht. Florian Kathrein war ein Geiger von Strich und Schmelz; Verena Kathrein, die nach ihrer schweren Krankheit noch immer schonungsbedürftig war und deshalb dem Klaviere fernbleiben mußte, verriet in ihrem Geschmacke nicht unbedeutende musikalische Begabung; Marianne, selbst nicht bewandert in diesen Künsten, aber eine gute und sinnige Zuhörerin, verstand es, ihr Ausruhen von den häuslichen Sorgen an Fleiß und Genuß nützlich zu verteilen, indem sie zum Wirbeln der Stricknadeln las und den Text sich obendrein beklingen ließ, ohne dabei eine Masche, ein Wort oder einen Ton zu verlieren. Und war man der Musik gesättigt, so las Marianne vor, während Vater Kathrein still an der Heftlade hin- und herfädelte; oder er selbst griff sich einen Band vom Regal und begann seinen Töchtern daraus vorzutragen, nicht ohne die Weisheit des Buches aus seinem eigenen Erfahrungsschatze zu erläutern oder gar zu ergänzen – denn die sechste Auflage des Buches der Erfindungen, auf das Kathrein sonst große Stücke hielt, war inzwischen von Forschung und Industrie stark überholt worden, und auch Naumanns gewaltiges Vogelwerk entsprach nicht mehr durchgehends den Erkenntnissen der allerneuesten Gelehrsamkeit.

So ging es in dem Hause zu, dessen reinen Frieden Benedikt Siebenschein liebgewonnen hatte und das er – trotz einer gewissen kühlen Scheelheit seines Vorgesetzten, des Pfarrers, dem geistiges Vergnügen offenbar müßig oder gar verdächtig schien – immer wieder mit Freuden aufsuchte, nachdem er einmal seine erste keusche Scheu überwunden; so walteten gute Heimatgeister in dem Hause, nach dessen freundlicher Seelenstille er sich eben jetzt, aus der Bedrängnis seiner Gedanken heraus, bitterlich sehnte.

Und er hätte auch bei Kathrein Zuflucht vor dem Vorabendlärm des Pfarrhofes und dem Raunen seines Gewissens gesucht, wäre nicht gerade unter seinen Augen, da er aus der Kirche zurückkehrte, der Arzt mit dem Lehrer durch den Schulgarten gegangen – dieser unheimliche Doktor Wendt, dessen Stirn und Blick und Stimme er sobald nicht vergessen würde, von dessen Meinungen und Wegen so manches schon an ihm vorbeigeflüstert worden war.

* * *

Sankt Eduards Tag war das nach dem katholischen Festkalender, und da er in diesem Jahre auf keinen der drei vorgeschriebenen Fasttage der Woche, sondern auf den Donnerstag nach Okuli fiel, stand einer würdigen wie reichlichen Begehung der Feier kein Bedenken im Wege.

Nichtsdestoweniger, und weil auf eine Märzentafel nun einmal Wasserwild gehört, hatte der Lutz Anderl schon tags zuvor eine mächtige Seeforelle angebracht, einen Staatsfisch von zwölf und mehr Pfunden, der die Sudwanne fast ganz ausfüllte und an sich schon ein ansehnliches Frühstück darstellte.

Aber bei diesem kostbaren Edelfische hatte es noch lange nicht sein Bewenden; denn, ganz abgesehen von dem leckeren Seim, der das blütenreine Fleisch erst gaumgerecht machen und allein sechs dunkle Dotter, acht Lot Öl und den Saft von zwei Zitronen kosten würde – ohngerechnet der Kapern, des Kerbelkrauts, des Lorbeers, der Beizwurzeln als Sellerie und Pastinak, des Thymians und anderer Feinzutaten –: abgesehen von diesem unerläßlichen Aufwand an Gerüchen aller Art und Zurüstungen aller Grade wurde noch sehr vieles Weitere gebührend ins Werk gesetzt und mit Hingabe seiner Erfüllung entgegengepflegt.

Denn darein setzte das Fräulein Amalie Huber nun einmal ihre kanonische Ehre, daß der Geburtstag ihres hochwürdigen Herrn in Üppigkeit, Freude und Tafelglorie begangen werde, maßen ihr doch nur ein- oder zweimal des Jahres Gelegenheit sich bot, die Fülle der in ihr aufgespeicherten Kräfte und Kenntnisse nach Herzenslust zu entladen.

So ward also bis spät in den Vorabend hinein gewalkt, gestoßen, geschlagen, gerührt, geflaumt, geschmort, gewiegt und gewägt, und den Jubeltag selbst läuteten schon zu dunkler Hahnenvigil die klingenden Messingmörser ein.

Entsprechend der langen Speisenfolge, deren Bereitung nicht nur Umsicht und Geistesgegenwart, sondern auch opferfreudigen Fleiß erheischte, stand Fräulein Amalie keineswegs allein inmitten des Feldes der Tätigkeit. Außer der distelsteifen und unerschütterlichen Petronilla, die von der beweglichen, pfingstrosigen Mali mehr zu niedrigen Handlangerdiensten denn zu verantwortlichen Eingriffen benutzt und überhaupt mit einer gewissen hochmütigen Härte behandelt wurde, waren sämtliche verfügbaren Herdkräfte von Unzing aufgeboten und eingestellt worden: so die Tafernwirtin, eine tüchtige und verläßliche Kennerin; dann die Magd des Gemischtwarenhändlers, zwar keine durchgeschulte Praktikerin, aber ausgiebig im groben Zugreifen; endlich die noch junge Frau des oberen Stegmüllers, die sich in verschiedenen Diensten im Städtchen drunten nicht unbedeutende Vorkenntnisse erworben hatte und namentlich am Backofen Anerkennenswertes leistete. Den vereinten Anstrengungen dieser Machtgruppen also gelang es, die starke Aufgabe, die Beschickung einer Tafel zu zwölf Gedecken mit zwölf Vollgerichten, unbesehen die Schauschüsseln und kleinen Beiplatten, binnen einer Frist von weniger als sechsunddreißig Stunden restlos zu bewältigen; wobei das Hauptverdienst doch wohl dem Weitblicke, der langjährigen Übung und dem auf Arbeitsteilung gegründeten Systeme des Fräuleins Amalie zugebilligt werden mußte.

Allerdings waren auch andere Beiträge, nicht allein solche der tätigen Handgreiflichkeit, reichlich und rühmlich zur Erzielung des hohen Zweckes gesteuert worden; wie alljährlich hatten auch diesmal die Pfarrbürger in rührender, ja fast beschämender Freigebigkeit von ihrer anhänglichen Gesinnung Zeugnis abgelegt. So die Oberzechnerin, deren Festgabe, ein Mandel gewählt großer Eier, bei der Erzeugung der dreierlei Kuchen und fünferlei Torten, der Aufläufe, der Krapfen, der Strudeln, der Suppennudeln, des Dottergusses ganz wesentlich mitsprach und die Frühlingsproduktion der an und für sich musterhaft rührigen pfarrherrlichen Hühner aufs willkommenste ergänzte; so der obere Stegmüller, der mit dreißig Pfunden allersuperfeinsten Doppelnullermehls sich einstellte; so die Krottenhoferin, die mit einem erstickend fetten Kapaun den Höhepunkt des Mahles, den Geflügelgang, um eine Glanzschüssel steigerte; so endlich Christoph Pechinger, genannt der schwarze Kristl, der schon am Vorsonntage zu sehr später Stunde einen Rehbock in der Küche seines langjährigen Abnehmers abgeladen und jede Bezahlung stolz zurückgewiesen hatte – welches Brätlein, unter anderen Umständen eine Zierde der Tafel, die umsichtige Mali doch lieber auf den kommenden Lätaresonntag aufgeizte, maßen Wildbret durch längeres Lagern an Wohlschmack und Zartheit ja nur gewinnt.

Dergestalt also waren unter der rüstigen Amalie Huberin bewährter Leitung die Dinge bis zu den letzten bratenheißen Entscheidungen herangediehen, als mit der letzten Vormittagsstunde der gastliche Zuzug begann.

In der grünumkränzten Türe des Hauses stand Fräulein Mali höchstselbst, Auslug zu halten übers Gelände und das Sträßlein, das in Sicht des Dorfes durch Äcker und Wiesen und kleine Feldgehölze sich heraufwand, hier und dort hinter einer Waldecke oder einer Bodenschwelle auf ein kurzes Streckchen verschwindend.

Die Frühlingssonne brannte mit blendender Kraft auf die ungeduldig Spähende herab. Es war ein selten warmes und vielverheißendes Frühjahr; wenn das so weiterging, würden die Bienen bald fliegen und am Geflügel würde der Segen sich auch bemerkbar machen, und mit der Aussaat von Fenchel, Sellerie und Spinat und mit dem Legen von Frühbohnen durfte man nun wohl letztens beginnen, am besten gleich morgen. Hoffentlich ging der Krapfenteig gebührlich; heutzutage ist ja nicht einmal mehr auf den Germ Verlaß. Dieser neue Herr Kaplan, was das wohl für einer war, so hübsch und reinlich und fein, nur recht warm wollte er nicht werden, und sie gab sich doch manche Mühe mit ihm. Schau, dort unten, war das nicht vom Pointner die Kordula? Daß die sich schon wieder unter den hellen Tag hinaus getraute! Nun ja, es gibt ja so Leute, die ganz ausgeschämt sind und vor nichts keinen Respekt nicht mehr haben, nicht einmal vor ihrer eigenen Schlechtigkeit, und das sagte sie dem hochwürdigen Herrn Pfarrer ja schon immer, daß es reißend bergab gehe mit der sogenannten Volksmoral, davon verstand sie ja schließlich auch etwas, man ist nicht umsonst seit seinem Zweiundzwanzigsten Jahre Köchin und Wirtschafterin auf einem Pfarrhofe, nun schon ins dreizehnte Jahr. War aber doch ein armer Hascher, die Kordula; man muß unterscheiden … Wenn nur das neue Rohr keine Sperrenzln machte; sie kannte es noch nicht genau, erst vorige Woche war es eingemauert worden, und die Bratrohre sind halt wie die Menschen, ein jedes ist anders und hat seine Laune und will was Besonderes … So gingen die Gedanken mannigfaltig und sachlich in Fräulein Mali um, als sie so mit untergestemmten Armen in der feierlich eingekränzten Türe stand, rosig, saftig und voll wie ein blumenzarter Osterschinken.

Jetzt erschien aber allen Ernstes ein Wägelchen auf dem fernsten Hügelfirst der Straße, und eine ganz dünne Staubwolke kam hinterdrein mitgeschwebt – denn die Frühlingssonne dörrt rasch aus, was sie löst. Fräulein Amalie strengte ihre wasserblauen Augen an. Kein Zweifel, es war des Pfarrers von Staudach Gespann, der Schimmel und der Rappe, die schon jahrelang in den nämlichen kanonischen Diensten frohnten, husteten und lahmten. Gleich darauf tauchte ein anderes Fuhrwerk aus dem Anlauf der Straße empor, bedächtig gefördert von den beiden schmalzfetten Braunen des Kurat von Sterzen. Fräulein Mali eilte in die Stube, wo schon die Vorletzte bereitstund, der Willkommwein und der sanftbraune Empfangskuchen, säuberlich aufbeschert auf dem Tische, dahinter Pfarrer Permoser in tiefer Ruhe seiner Gäste harrte. Gelassen nahm er die Meldung seiner treuen Schaffnerin entgegen; ohne den Willen des Herrn fällt kein Sperling vom Dache, wozu also diese Hast, da die Dinge darum nicht um einen Pendelschlag eher herankamen?

Und nun wurde es lebendig im Hause. Türen schlugen, Räder knirschten, Stimmen hallten im Flur, ununterbrochen kläffte der alte blinde Kettenhund. Mit jappenden Flanken liefen der Schimmel und der Rappe zuerst durchs tannreisumwundene Ziel, an straff gespannten Strängen das schief hangende und ungerecht doch ranggemäß beladene Kutschwägelchen mit dem vollgewichtigen Pfarrer Gebauer zur Rechten und dem federleichten Kaplan Kummer zur Linken. In weidlichem Abstande folgte die bequeme kleine Chaise des Kuraten Blasius Hierat von Sterzen, eines umfänglichen alten Herrn, der die ehrfürchtig knicksende Mali wohlwollend unters linde Doppelkinn faßte und nach der Speisenfolge abfrug: damit er sich's einteilen könne, wie er sagte. Aber noch war er in seinen Nachforschungen nicht beim Kapaun der Krottenhoferin angelangt, da wurde er gestört durch die Ankunft seines Amtsbruders von Moosdorf, des noch jungen Pfarrers Martin Fürnagl, der landum und vorderhand im Geruche dorniger Sittenstrenge stand. So mußte er notgedrungen vom sanften Polsterkinn der Mali ablassen und wurde zusamt dem grimmen Fürnagl von ihr ins Haus genötigt.

Hier begann bald eine angeregte Fröhlichkeit sich zu entfalten, wozu freilich die bescheidene Hausherrnkunst des Jubilars am wenigsten, die harmlose Ungeistlichkeit des Pfarrers Hierat von Sterzen am meisten beitrug. In den Gläsern glitzerte der honigfarbene, magenbelebende Wermutwein, bunte Wechselrede figurierte zwischen dem Cantus firmus der klingenden Becher herüber und hinüber; Hochwürden Blasius Hierat setzte als erheiternden Obstinatbaß liebenswürdige Anzüglichkeiten in betreff des so appetitlichen wie vielseitigen Fräulein Amalie Huber darunter, wozu der Amtsbruder Gebauer eine faßdröhnende Lache anschlug, Pfarrer Fürnagl finster hüstelte, der getroffene Gastgeber säuerlich schmunzelte und Kaplan Kummer ein halbeinverständliches, subalternes Meckern vernehmen ließ.

Aber während dies schmächtige Hilfspriesterlein zwischen den gestandenen Pfarrgewaltigen in aller Bescheidenheit sich heimisch machte und an ihrer Unterhaltung teilnahm wie der Tännling am Rauschen der hohen alten Bäume, stand Benedikt fremd und bitter in der Fensternische, einen häßlichen Geschmack auf der Zunge. Er mußte seines Bischofs gedenken, der würdigen, heiligen Heiterkeit des Fürsten, und wie jener zu ihm von Verirrten und Laugewordenen gesprochen. Da fiel es ihm mit einem Male wie Schuld auf die Seele, daß er bis nun noch immer nicht den Tag sich genommen, dem Abte Berno von Heiligenzell, den sein Gönner ihm zum Berater empfohlen, die Grüße Seiner Eminenz zu überbringen. Nun gehörte aber auch Abt Berno zu den Geladenen, Benedikt wußte es vom Pfarrer selbst, und der hatte an diese Eröffnung die kurze Glosse gefügt: »… Ist auch so ein Gelehrter und Musikus,« ein Vermerk, aus dem unverkennbar der Grundton einer gewissen Geringschätzung hervorstach. So mischte sich in Benedikts gespannte Erwartung ein Gefühl von Betretenheit: es wäre vielleicht doch seine Pflicht gewesen, dieser mehr zufälligen Begegnung zuvorzukommen und dem Freunde seines hohen Gönners sich geziemend zu stellen.

Die Türe knarrte auf und diesmal ließ sie vier Gäste in geschlossener Reihe ein, darunter die ansehnliche Hauptzierde des Festes, den Propst und Monsignore Hermenegild Wendt, dessen mächtig verdunkelnde Erscheinung in keinem Zuge an das Bild des Arztes erinnerte. Ihm folgte die gutgeratene Gestalt des Dechanten von Sanktrain, Dr. Simon Hetz, eines Herrn von gewinnenden Formen und gepflegter Beredsamkeit, die sich allsogleich Herrschaft über den Sturm der Begrüßungen verschaffte und von der mehr oder minder vernachlässigten Eloquenz der Amtsbrüder hell abstach. Destoweniger trat die Anwesenheit des mitgebrachten Gefolges, zweier leicht zu übersehender Kapläne, in den Vordergrund; sie wurden vom Dechanten als die Herren Gfrörer und Strauch vorgestellt und damit bis auf weiteres erledigt. Da es an Stühlen fehlte und mit dem Mahle ohnehin nur noch auf das Eintreffen der beiden Kollegen aus Heiligenzell gewartet wurde, blieben sie einfach in artiger Unscheinbarkeit irgendwo im stimmenerfüllten Raume stehen.

Dagegen legte Dechant Hetz sogleich eine ausführliche Teilnahme für Benedikt Siebenschein an den Tag, indem er ihn in ein herzliches und, wie es dem so Geehrten däuchte, beinahe schon geheimes Gespräch zog. Ob er sich hier wohl fühle; wie Seine Eminenz sich befänden; ob er denn hier in dem weltentrückten Unzing irgend Ansprache oder ebenbürtigen Umgang aufgetrieben habe; ob diese Art von Tätigkeit, die eines einfachen Landpriesters, ihn auch auf die Dauer zu befriedigen vermöge; ob er schon von diesem und jenem wichtigen Ereignisse Kunde erhalten habe, von der Zunahme gewisser Bewegungen und Gegenströmungen; und noch tiefer hätte er sich in Benedikts ratlose Beklommenheit hineingeforscht, wäre nicht eben die sanfte Helle zweier Mönche mitten unter die schwarzen Talare getreten. Siebenschein sah erleichtert auf; der das einfache Kreuz auf der Brust und den Ring am Finger trug, der hagere, ritterwüchsige Mann mit dem tapferen Harnischgesicht, war Berno, der Abt.

»Ich sehe, wir sind die letzten,« sagte er zur Begrüßung. » Ad multos annos, Herr Pfarrer. Sit cunctandi venia viatoribus. Ja, wir sind zu Fuße gewandert, Pater Maurus und ich. Wer möchte fahren an einem Frühlingstage wie diesem? … Dr. Siebenschein, nicht wahr? Wir kennen uns eigentlich schon. Ja, nicht wahr, als ob morgen schon Ostern sein sollte? Unser Pater Maurus hier hat den Kopf voll Radieschen und Jungsalat. Und Pater Norbert hat sich gestern wieder zum ersten Male in die Sonne hinaustragen lassen. Ja, der Frühling.«

Und er rieb sich innig die starken, schmalen Hände.

»Was macht der Neubau?« fragte der Propst höflich und teilnahmslos.

»Wir beginnen wieder mit kommendem Montag. Über den Winter haben wir natürlich gefeiert … Nämlich, wir errichten eine Weberei,« erklärte der Abt zu Benedikt hinüber; »man muß sachte mit der elektrischen Zeit gehen, sonst rollt sie über einen hinweg und man bleibt mit leeren Händen zurück.«

Der Dechant zwinkerte hinter der Brille.

»Besonders die Herren zu Heiligenzell. Die reichste Abtei landauf und ab, geheimer Schätze nicht zu gedenken.«

Der Abt verlor nicht die Stimmung.

»Deren wertvollster zu Sanktrain sich befindet – aber, aber, die Fehde schwebt noch. Von den Gebeinen unseres Heiligen lebt leider Sanktrain. Und die sind einträglicher als ein großes Klostergut, bedürfen geringer Pflege und werden immer kostbarer. Aber darum keine Feindschaft. Wir haben ja dafür die heilige Arbeit.«

Hier trat Fräulein Petronilla auf, starr vor steifgeplätteter Sauberkeit, und, wie Dechant Hetz zum Propste bemerkte, gegen die fleischliche Mali anzusehen wie eine uralte züchtige Altarstatue gegen eine niederländische Maria Magdalena. Sie erschien einfach, hart, würdig und stumm in der nach der geräumigen Nebenstube führenden Türe und ließ diese offen stehen, so daß der Versammlung sich die erfreuliche, von allerhand einladenden Geräuschen präludierte Perspektive einer stramm gedeckten Tafel bot, einer sich verjüngenden Allee von dreifachen Tellern, Gläsern und zypressengrünen, feierlichen Flaschen. Man schob die Stühle, scharrte, hustete und begab sich unter Vorantritt des Gastgebers nach dem Endziele der Zusammenkunft.

Benedikt erhielt seinen Platz am unteren Ende der Tafel zugewiesen, um hier, als Gegenpol des präsidierenden Jubilars sozusagen, den Kaplänen mit Gespräch und Nötigung aufzuwarten. Zu den beiden Seiten des Hausherrn standen der Abt und der Propst hinter ihren Ehrenstühlen, jener zur Rechten; denn gegen das Übergewicht von Pektoral und Ring war schlechterdings nicht aufzukommen. Im übrigen aber verteilten sich die Festmahlgäste mehr nach gegenseitigem Wohlgefallen und nachbarlichen Gemeinschaften unter die Gedecke. Pfarrer Hierat trachtete tunlichst dem Hörbereiche des peinlichen Fürnagl zu entrinnen und rettete sich zwischen den Amtsbruder Gebauer und den Propst, wogegen Dechant Hetz mit geschickter Selbstverständlichkeit sich die Nachbarschaft des Abtes sicherte. Da aber die Brühe schon sattgelb und fettspiegelnd in den Tellern stand, hätte Hochwürden Blasius Hierat sich fast versehentlich ohne weitere Umstände in Angriff gesetzt; schon hatte er die Schöße des ergrünten Leibrockes hinterfaßt, um sie vor der sich spannenden Wölbung auseinanderzuspreiten – da ward er der Haltung der übrigen inne, besann sich, blinzelte dem Brillenblick des Dechanten besänftigend zu und verbrachte die Gebetspause in wohlgefälliger Anschauung der Gaben Gottes, die Hände gerade vor dem weißen Hemdgürtel zwischen Weste und Hose verschränkt.

Die Unterhaltung sickerte anfänglich zäh dahin. Hier und da fiel ein Wort, eine Bemerkung, eine Einleitung, vereinzelt wie ein gesammelter Tropfen. Pfarrer Hierat schnalzte vernehmlich und gab sich dankenswerte Mühe, die durch den Raumwechsel eigentlich grundlos verloren gegangene Stimmung wiederherzustellen. »Ausgezeichnet,« stellte er fest; »ja, die Mali.« Kaplan Kummer gestattete sich ein aufhuschendes Meckern, Pfarrer Fürnagl räusperte sich rügend. Dann blieb alles still, die Petronilla trug die Teller ab, und nun erschien der Fisch in seiner mächtigen Länge, mit starren Augen nach der Zitronenscheibe glotzend, die er im Maule hielt. Mit beifälligem Staunen empfing ihn die Mehrheit.

»Dreizehn Pfund und ein halbes hat er gewogen,« erläuterte der Hausherr geschmeichelt; »sind selten, solche Fische. Nicht wahr, Mali, dreizehn und ein halbes Pfund?«

Fräulein Huber, die in begeisterter Rosenröte die Hauptgänge selbst auftrug, erglühte noch heißer unter den Blicken, die wie honiglüsterne Bienen auf der Blüte ihres Halsausschnittes sich versammelten.

»Dreizehn Pfund und ein halbes, bald schon dreiviertel,« bestätigte sie schamhaft, als sei sie irgendwie mitschuldig an dieser Leistung; »völlig net Platz hat er g'habt im Wanndl.«

»Ein Prachtbursch,« pries der Propst.

»Daß er ein solchen net g'fangen hat, seit was er weiß, hat der Lutz Anderl g'sagt,« fuhr die Mali fort; »bloß vor fünf Jahr oder sechs, da hätt er auch ein solchen kriegt, aber der wär um das halbe Pfund leichter g'wesen.«

»Ein Bischofsfisch,« lobte Dechant Hetz zu Siebenschein hinunter.

»Also muß man die seltene Gabe mit Andacht genießen,« sprach der Abt, während er sich eine bescheidene Schnitte aus dem vollen schälte.

»Es geht halt auch mit der Fischweid bergab,« klagte der Propst; »die Abwässer der Fabriken, die Regulierungen im Land drunten, – das Fasten wird bald eine teure Kunst sein.«

Hochwürden Blasius Hierat löste sich eine mächtige Schwarte aus dem Schwanzteile, und sein Kennerblick übersah auch das Feinbißchen der Fischbacken nicht. »Ja; ja; es wird immer trauriger und schlechter in diesem Tale der Tränen,« seufzte er.

» Maledictus piscis,« spielte der Dechant beziehungsreich an; »selbst eine Hauptforelle wie diese verträgt sich nicht mit dem dritten Wasser.«

Das öffnete dem goldgelben Weine und dem Gespräche die Schleusen. Eifriger klangen von Gang zu Gang die Gläser, und als man nach Überwindung des Rindfleisches nebst Meerrettichtunke, des warmen Schinkens zusamt einem dampfenden Berge von Linsenmus, der gesalzenen Mehlspeise, eines vulkanförmigen Kartoffelauflaufs zu geschmorter Leber, sowie auch des ersten Süßgerichts, eines Milchrahmstrudels von labyrinthischer Gewundenheit, endlich beim Vorbraten, der gefüllten Kalbsbrust, angelangt war, da hatte sich die ursprünglich kastanienbraune, im Laufe der Sonnen aber zu Brandfuchsröte abgeschossene Perücke des Herrn Blasius Hierat allbereits ihrer Hauptstellung begeben und war beträchtlich auf die schweißperlende Stirne zu gerutscht, der aufwartenden Petronilla ein merklich kahles Hinterhaupt enthüllend. Pfarrer Gebauer seinerseits, dem sein Satthals bei jeder namhaften Daseinssteigerung heftige Beschwerden verursachte, hatte die Gelegenheit wahrgenommen, die Nackenschließe seines beengenden Kragens zu lüften, so daß er nebst dem anhangenden Kollar großzügig abklaffte und also den Tätigkeiten der beanspruchten Organe vollen Spielraum gewährte. Fröhliches Wechselgespräch, je nach dem Stoffe die Teilnehmer zu Gruppen vereinend und immer aufs neue Folge und Führung der Stimmen verteilend, würzte das reiche Mahl. Während des Vortrags der einzelnen Themen schwieg freilich der Chor, höchstens daß durch das Spiel der irdenen und metallnen Instrumente ein vereinzeltes Rezitativ hinsummte; desto machtvoller schwoll dann die Flut der erfreuten Bässe an und erfüllte den Raum mit heiterer Polyphonie, daß es klang wie das Orgeln der Bienen im blühenden Lindenbaum. Selbst Kurat Fürnagl schmolz mehr und mehr in die gesteigerte Wärme hinein, und auf den Bäckchen des Pater Maurus, der allen gebotenen Genüssen mit äußerster Zurückhaltung huldigte, erschienen die Lichter einer harmlosen Innenfreude. Von Hochwürden Blasius Hierat aber war zu dieser vorgeschrittenen Zeit nichts mehr zu vernehmen als ein aus Urtiefen der Glückseligkeit emporseufzender Antiphon der Befriedigung.

Benedikt Siebenschein hatte keine Mühe mit dem kleinen Stab seiner Kapläne. Zuerst glaubte er sich ihnen mit sachlicher Teilnahme widmen und seine Gespräche auf dem Boden der Amtsbruderschaft tummeln zu müssen. Kooperator Kummer entstammte einem älteren Jahrgange des Seminars, Hilfspriester Gfrörer hatte nur ein Jahr früher als Siebenschein die Weihen empfangen; hier konnten gemeinsame Erinnerungen, so meinte Benedikt, eine Brücke schlagen, und wenn Kilian Strauch auch in einem anderen Pflanzgarten herangezogen worden war, so blieb doch auch hier zumindest eine gewisse Übereinstimmung der Wirkungskreise und ihrer Mittelpunkte als Achse übrig, um die eine standesgemäße Unterhaltung hätte in Umlauf gebracht werden können. Allein der Kollege von Staudach bezeigte von Anfang an weit mehr Interesse für die Meinungen und Reden der höheren Würden denn für das Gedächtnis des gemeinsamen Spirituals Dr. Vinzenz Hartmann, und die Herren Gfrörer und Strauch angehend, so gaben diese ihre anfängliche heuchlerische Notwehr gegen die Verführungskünste der Unzinger Pfarrküche bald auf und aßen wie um ihr Leben, als gälte es Ersatz für erduldete Entbehrungen und Vorrat auf kommende Notjahre zu gewinnen. Damit sah Benedikt sich seiner schwierigen Pflichten enthoben; aufmerksam horchte er nach den höheren Regionen der Tafel empor.

»Nun, und unser Herr Vetter,« fragte der Propst soeben zum Dechanten hinüber; »wie macht sich der in Sanktrain?«

Der Dechant hob das Glas vor die Brille.

»Einer von Ihnen ist aus der Art geschlagen,« sagte er gelassen; »entweder der Monsignore Hermenegild Wendt oder der Doktor Werner Wendt.«

»Man hört aber Gutes von ihm,« stellte der Abt fest.

»Oh ja,« lächelte der Dechant dem Weine zu; »er weiß zu behandeln.«

Und er trank das Glas auf einen Schluck aus.

»Ist ein umsichtiger Mann,« erwog Permoser; »ist tüchtig in seinem Berufe.«

»Kann ja sein,« nickte der Dechant, während er mit der Messerklinge im Salzfasse spielte; »ja, ja, tüchtig ist er schon. Sehr tüchtig.«

»Von mir aus brauchen's keine Rücksicht zu nehmen,« rief der Propst hinüber; »ich hab' nix zu tun mit ihm.«

»Aber ich werde mit ihm zu tun bekommen,« versetzte der andere; »Priester und Arzt gehören ja von Rechts wegen zusammen – aber wenn der Arzt geradezu als offener Feind des Glaubens auftritt, am Seelengute des Volkes sich versündigt, zu verletzenden Äußerungen sich hinreißen läßt, religiöse Vorstellungen herabzusetzen oder gar lächerlich zu machen sucht, so – – so ist das schließlich nicht zu übersehen, geschweige denn zu dulden.«

»Da dreht er sich ja gleich selber den Strick,« lachte der Propst; »da hat er auch bei den Leuten bald ausg'spielt.«

»Ihr Herr Vetter ist sehr geschickt,« spann Hetz weiter; »durch einige Heilungen und eine gewisse wohlberechnete Wohltätigkeit hat er sich sogar einen bescheidenen Anhang zu sichern verstanden. Deshalb bedeutet er eine, ich möchte fast sagen, öffentliche Gefahr. Um so mehr, als sein Beruf ihm überall Zutritt verschafft. Die Zeit erheischt gespannte Wachsamkeit. Wenn dieser Herr so weitermacht, wird man vielleicht Mittel und Wege suchen müssen – –«

»Die zeigt er uns ja selber,« unterbrach der Propst.

»Ich möchte noch zuwarten,« sagte der Dechant gewichtig; »die Frucht wird schon von selbst reifen. Der Herr wird sich ganz allein die Grube graben. Ich möchte nicht ohne zwingende Notwendigkeit eingreifen. Allerdings, wo diese sich ergibt und Ihr Herr Vetter zu rücksichtslos an den Nerv des Volkes, des Volksglaubens rührt – –«

Hier entstand eine allgemein auflauschende Stille, in die plötzlich ein Glas hineinklang. Man hatte das erwartet und sich darauf vorbereitet; nun erhob sich Abt Berno und hielt die Festrede in prachtvoll ziseliertem, schwergoldbrokatnem, marmorhallendem Latein.

» Parce Domine,« rief Pfarrer Hierat geängstigt zwischen die Anfangsworte; aber auf einen strafenden Blick des Amtsbruders von Moosdorf sank er seufzend in sich zusammen und ließ die ehernen Satzzüge wehrlos über sich hinweg rollen.

Wenn es nun auch bei diesem Anlasse den meisten der Übrigen althochwürdigen Herren nicht anders erging als dem von Sterzen, so wurde doch in den gemeinverständlichen Sinn der Ansprache, des Schlußsatzes zumal, der in einem unverkennbaren Conjunctivus optativus Praesentis activi von vivere gipfelte, herzlich, laut und harmonisch eingestimmt. Die Gläser klangen zusammen, goldhell glomm der Wein im Feuer der steil einfallenden Frühlingssonnenstrahlen. Über der dem feierlichen Augenblicke folgenden Stille schlug in desto höheren Wogen die Unterhaltung wieder zusammen, und Fräulein Mali trug unter Beistand der Petronilla den nächsten Gang auf, das Haupt-, Schau- und Meistergericht, eine gebratene Gans, würdig umgeben vom Kapaun der Krottenhoferin und zwei feisten, festgerundeten Perlhähnen, alles säuberlich vorzerlegt und zur ursprünglichen Grundform kunstreich wieder zusammengefügt.

Blasius Hierat stöhnte.

»Von allem möcht man haben! … Weil ich mir's nicht hab einteilen können! … Da dran ist dieser Fürnagl schuld!«

Benedikt war längst am Ende, aber Fräulein Mali, die an ihrem Pflegesohn ein sanftes Gefallen gefunden, nötigte ihm doch das blendendweiße Bruststück eines Perlhahnes auf. »Es geht schon noch,« raunte sie ihm zu, »und das Schmecken is ja keine Sünd.«

Gegen Ende des Umgangs erhob sich der Hausherr und dankte in kurzen, schweren Worten für die ihm erwiesene Ehrung, für die ihm dargebrachten Wünsche, für die Bereitwilligkeit, mit welcher alle Anwesenden seiner Ladung zu einem einfachen Mahle nachgekommen seien. Zum Beschlusse aber erhob er sein Glas gegen die beiden vornehmsten Gäste: gegen den Abt, der leider nur selten in der Lage sei, dieser bescheidenen Lebensjahrfeier beizuwohnen, da diese unseligerweise in eine Zeit falle, für welche die Ordensregel besonders scharfe Enthaltungen vorschreibt – gegen den Propst, als den höchsten Würdenträger unter der hiesigen Weltgeistlichkeit. Und es bedankten sich der Abt und der Propst, und in der Folge sprach Pfarrer Permoser auf das Wohl des Dechanten Hetz, des unmittelbaren Vorgesetzten der zwölf umliegenden Pfarreien, und es stattete der Dechant seinen Dank ab und redete in gefälligen Wendungen auf Seine Eminenz den Herrn Fürsterzbischof, dem Gott noch lange die Gnade eines ungetrübten Lebens und damit ihnen, den hier Versammelten, das Glück so umsichtiger, bewährter Oberleitung erhalten möge; und es dankte der Propst mit warmen, tiefempfundenen Worten im Namen des Bischofs und trank das Wohl des verdienstvollen Herrn Pfarrers von Staudach, des Ältesten der hier zu froher Gesellschaft Vereinten; und dann kamen die Krapfen in zartgebräunten Pyramiden, schmerzhaft heiß, zuckerbereift und mit blaßgoldenen Kränzchen gegürtet; und es sprach der Pfarrer von Staudach in der gedrängten Kürze verhaltener Rührung und gab das Wohl an Blasius Hierat weiter; und der Amtsbruder von Sterzen spülte sich die Stimme rein, stand mühsam auf, brachte einige Satztrümmer zum Vorschein und versank wieder in den eigentlichen Zweck seines Hierseins; und so kam jeder an die Reihe, auch Pater Maurus, auch die Herren Kummer, Gfrörer und Strauch, auch Benedikt Siebenschein, der diese Unabwendbarkeit mit wachsender Angst hatte herandunkeln sehen, im Augenblicke der Gefahr aber all seine Not verleugnete und den Trinkwunsch seinem verehrten, gütigen Herrn Vorgesetzten zurückbrachte, also den Kranz einträchtiger Liebe schließend.

Hier erhob sich Blasius Hierat und hielt sich mit der rechten Hand am Glase fest, während er mit der Linken die zudringliche Perücke fast bis in den Nacken zurückschob.

»Silentium!« befahl er. Dann sah er sich herausfordernd um; niemand widersprach. Jetzt fürchtete er den Blick des sittsamen Fürnagl nicht mehr. »Also hochleben,« begann er von neuem im Brustton innigster Überzeugung; »also hochleben, eigentlich und ganz hochleben soll – soll das Fräulein Mali. Das – Fräulein Amalie Huber.«

» Non olet,« sagte Fürnagl in vergnügter Nachsicht.

Und die überwältigende Mehrheit brachte Fräulein Amalie ihre dankbare Huldigung dar. Die Gefeierte, rot vor Gesundheit, Herdglut, Eifer, Scham und Rührung, mußte mit einem vollen Glase die Runde machen und empfing auf diesem Wege manches zärtliche Lob. Bei Siebenschein blieb sie stehen.

»Und ich trink auf alle hochwürdigen Herren, die mir so viel Ehr antan haben,« rief sie tapfer, von brausendem Beifall umschüttert.

»Nur unser Herr Doktor,« fuhr sie dann gemütlich fort, mit der rundlichen Hand über des tieferschrockenen Benedikt Tonsur streichend, – »nur unser Herr Doktor da hat mir keine Ehr erwiesen. Mit ihm is ein rechtes Gfrett, er is ein schlechter Kostgänger.«

»Warten's nur, bis er Pfarrer ist,« rief der Propst von oben her; »älter als ein Wasser wird, breiter wird's.«

»Wenn's ihn lang tatschelt, zerbricht's ihm den Heiligenschein,« brummte der von Staudach seinem Nachbarn zu; doch der wandte den Rest seiner Kräfte und seine ganze Aufmerksamkeit der Punschtorte zu.

Die Sonne war längst bis zur Mitte der Stube vorgedrungen; schon dehnten sich die Schatten der Fensterkreuze, bunte Flimmerlichter spielten von den Gläsern weg über das Tafeltuch, und noch war ein Ende des Gastmahles nicht abzusehen. Da erhob sich Abt Berno, der sich durch den ganzen Ansturm von Verführungen ehrlich durchgefastet, und bat den Hausherrn um Urlaub: vor ihm liege noch ein weiter Weg, dazu mancherlei Pflicht und Arbeit, so möge man ihm wie Pater Maurus den vorzeitigen Aufbruch nicht als Unhöflichkeit ausdeuten. Der Gastgeber zeigte sich nichtsdestoweniger baß enttäuscht und versuchte mit allerhand Einwänden und Gegenvorstellungen, hierin von seinen Amtsbrüdern unterstützt, die allzu gestrengen Herren zu weiterem Bleiben zu bewegen – ein kunstvoll und mit allen Mitteln der Überredung durchgeführtes Meisterstück der Nötigung, dem aber, wie vorauszusehen und erwartet, ein Erfolg versagt blieb. Abt Berno verabschiedete sich kurz und heiter von den anderen Festgästen, und als er durch viele Redensarten des Bedauerns hindurch bei Siebenschein angelangt war, lud er diesen zu kurzem Geleite ein. Benedikt wandte sich seinem Vorgesetzten zu; der aber nickte gnädiglich, begleitete zusammen mit dem Dechanten und dem Propste die Scheidenden noch bis vor die Haustüre und kehrte dann erleichtert nach dem Speisezimmer zurück, wo, wie man einstimmig feststellte, Laune und Behagen nun erst Einzug hielten.

»So, jetzt sind wir daheim,« knurrte Gebauer; »der Abt, der einem jeden Bissen in den Mund zählt! … Da ess' ich lieber mit dem heiligen Vater.«

»Was ist denn das für einer, der Siebenschein?« fragte der Propst.

»Ist ein Musikus und ein Gelehrter,« gab Permoser Auskunft.

»Hätt Hofkaplan werden sollen,« meinte der Propst.

»Oder Beichtvater in einem adligen Stift,« entschied der Dechant und nippte vom süßen Nachtischwein.

»Steht aber beim Bischof in Gnaden?« erinnerte der Propst.

Hetz zuckte die Achseln. »Altersschwächen!« Und er lächelte gütig.

Auch der Untertisch befaßte sich freudig mit der Person des Abwesenden.

» Deo gratias,« sprach Kummer.

»Streber,« urteilte Strauch.

Gfrörer hatte den Mund voll Backwerk, und sein Herz war von den Wohltaten des Tages zur Milde gestimmt. Also schwieg er.

Auch Hochwürden Blasius Hierat äußerte sich nicht zur Sache. Er schlief in seinen liebreich um eine geleerte Flasche verschränkten Armen, und auf seiner Stirne stand der blanke Schweiß, darin die Nachmittagssonne bunt erglitzerte.


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