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V.

Florian Kathrein, der auf die alten Bauernheiligen und Lostage mehr hielt als auf jeden neuwissenschaftlichen Wirtschaftskalender, beobachtete als eigene Erfahrungsregel, daß ein zwischen den vierzig Märtyrern und Sankt Gertrauden angelegter Kopulierverband zwischen Medardi und Sankt Veit müsse gelöst werden. Er war dabei seit je so wohl gefahren wie die Bäume; bevor die Sonne zum Sommer eingehe, solle die geheilte Wunde freigelegt werden, pflegte er zu sagen, und das sei überhaupt das Geheimnis – gleichwie es auch dem Menschen nicht gut tue, lasse man ihm bis in den Sommer seines Lebens hinein den Schulverband am veredelten Schafte, es bildeten sich schädliche Hitzen und Schnürungen darunter, davon einer für immer Schaden behalten könne an seiner Seele. –

Florian Kathrein stand im juniwarmen Gartennachmittage, still hingegeben an seine zarte und neugierige Arbeit. Wickel um Wickel löste er von den wulstigen Narben, wo veredelt Schulreis und saftstarker Wildling sich zu gemeinsamem Wachstum vermählt hatten. Verena stand bei ihm und half in fraulicher Weise, indem sie den sparsam abgespulten Bast um ihre Finger strähnte.

Hier kam dem Lehrer in natürlichem Ungefähr jene Frühlingsvesper ins Gedächtnis, da er mit Wendt von Nutz, Segen und Gefahren des Veredelns gesprochen.

»Alle haben gegriffen, siehst du, nur zweie nicht,« sagte er zu Verena, da sie ihm den sauber gestrählten Bast einhändigte. »Die Bäume sind gutmütiger und klüger als die Menschen. Da müßte eben ein anderer den Schnitt führen. Mir ist's wohl mißlungen.«

Verena verstand.

»Ja, Papa. Man kann's wohl nicht zwingen. Der eine hat vielleicht nicht Zeit, und der andere nicht die Freiheit. Schade. Es hat so schön angefangen.«

Kathrein schüttelte den Kopf.

»Und da meint man, der Brückenbau sei einem geglückt. Aber die Menschen sind schon so, daß sie Abgründe zwischen sich haben wollen. Mit aller Gewalt. Ich versteh mich nicht darauf. Warum alles so verzwickt und gehässig sein muß, statt einfach und einfältig?«

»Der Doktor ist wohl nicht schuld daran,« verteidigte Verena; »schließlich, ich bin gesund, da hat er bei uns nichts mehr zu suchen.«

Kathrein brummte.

»Bei guten Freunden hat man immer etwas zu suchen. Aber der Doktor weiß schon, was er will. Ist am Ende auch nur Zufall … Überhaupt, von mir aus können beide bleiben wo sie mögen, in Gottes Namen. Ich brauch nichts als euch und meinen Garten und meine Violine und meine Bücher und meine Ruhe in der Mitte – wenn ich das hab, was gehen mich die Menschen an.«

»Den Kaplan hast du doch gerne gemocht.«

»Gedauert hat er mich, in seiner jungen Einsamkeit. Und darum ärgere ich mich. Wie die Menschen so krank und gereizt sein können. Einem Narren und alten Giftpilz verzeiht man's noch. Aber aufgeklärte, gescheite Menschen, die noch gar keine Bitternis in ihrer Tiefe haben können! … Wenn die unfruchtbar sind und sich das Leben ohne Not zur Wüste machen, das verdrießt mich. Und da sind gleich zwei, passen eigentlich zusammen, wie Bogen und Saite, und kaum daß sie sich zum Ton berührt haben, gehen sie auseinander … Als ob nicht jeder sein Werktagsgesicht für seinen Stand und ein Sonntagsgesicht für das Große und Eigentliche haben könnte! Für das Licht, das uns allen scheint, für den Hauptberuf!«

»Papa, du sollst dich nicht ärgern.«

»Laß mich, ich tue es selten. Über etwas Menschliches ärgere ich mich nie. Aber wenn die Menschen sich verstümpern und mit Gewalt auseinanderlügen, dann – dann möcht ich nur eine Viertelstunde lang der liebe Gott sein.«

Marianne kam eilig zwischen den Beeten herangeschritten.

»Papa, Verena, eine große Neuigkeit. Wir bekommen Besuch.«

Kathrein sah über die Brille hinweg der Tochter bedenklich entgegen.

»Besuch? Muß rein der Papst selber sein, wenn du mir deswegen in die Kohlrabi hineintrittst.«

Marianne scharrte eilig den geringen Schaden zurecht.

»Es ist beinahe der Papst,« lachte sie; »aber Ihr sollt raten! Papa, rate, wer? Wer kommt nach unserem weltentrückten Unzing?«

»Nach Unzing im allgemeinen? Das klingt schon besser.«

»Nach unserem fernen, vergessenen Unzing, Papa?«

»Wer wird kommen? Der Sommer am heiligen Aloisitag.«

»Nein, im Ernst? Wer kommt?«

»Der Kaiser nie, der Bischof alle zehn Jahre, und der liebe Gott alltäglich,« sagte Kathrein unerschüttert. »Mit jedem ersten Star der Frühling, mit dem Kleinfrauentag der Herbst. Ist also gar nicht so weltfern und vergessen, unser Unzing … Und sonst gibt es niemand, nach dem ich frage.«

»Papa!« Marianne lachte schallend heraus und drehte sich rundum, daß ihr Rock vergnüglich von ihr abkreiselte. »Die Frau Venus, nicht der Papst. Die Sartorius von der Oper! Denk dir nur: die Sartorius von der Oper!«

»Was und wer ist die Sartorius von der Oper?« fragte der Lehrer; »darum legt kein Huhn ein Ei mehr. Wo hast du denn das her?«

»Das ganze Dorf ist voll davon bis in die Rauchfänge. Der Schreiber steht vor der Kanzlei und hält aufrührerische Reden über den Fremdenverkehr und den Hereinbruch der Unzinger Neuzeit.«

»Kann ich mir denken. Und ist sie schon da, die Sartorius?«

»In zehn oder vierzehn Tagen soll sie kommen.«

»Dann kommt sie schon nie,« entschied Kathrein sachlich; »nach Unzing kommt nur, was schon da ist.«

»Bestimmt, Papa, bestimmt. Sie hat doch schon gemietet. Den ganzen Eggerhof, den der Tafernwirt aus dem Nachlaß gekauft hat. Da macht er ein Geschäft, das Geld soll keine Rolle spielen … Und ganz einfach will sie alles haben, ganz bäurisch. Ein Herr ist dagewesen mit einer Dame. Das ist ihre Jungfer oder Gesellschafterin, was weiß ich. Und der Herr ist auch etwas bei der Oper. Die haben sich alles angeschaut, und in zehn oder vierzehn Tagen kommt sie; und sechs Wochen will sie bleiben. Zur Erholung, hat der Herr gesagt.«

»Zur Langeweile,« berichtigte Kathrein; »jeden Tag wird ihr der Doktor in den Hals leuchten müssen.«

»Und ihre Jungfer und ihre Köchin bringt sie auch mit.«

»Laß sie die ganze Oper mitbringen, wenn sie Geld hat.«

»Aber, Papa! Durch nichts kann man dich neugierig machen.«

»Auf was soll ich neugierig sein? Das sind ja lauter mögliche Dinge. Bin doch kein Frauenzimmer. Und die Hüte der Sartorius sind mir nicht so wichtig wie ein Spinnennetz oder ein Zaunkönigsnest. Wenn sie kommt, werde ich sie vielleicht sehen, und wenn nicht, so werden die Stachelbeeren deshalb auch wachsen. Aber wenn einer kommt und sagt, der Unzbach fließt freiwillig nach dem Kritzenberg hinauf, oder wenn die Stare bis nach Ostern ausbleiben, oder wenn ich lese, daß man das Wetter machen kann, das man gerade braucht – ei ja, da werd ich auch neugierig.«

Zu dritt schritten sie dem Hause zu. Da und dort bückte sich Kathrein, ein Reis aus dem Wege zu räumen oder einen raschen Läuterungsschnitt zu tun.

»Weißt du, was mir wichtiger ist als die ganze Sartorius?« sagte er zu Marianne; »das ist der Unzbach, der beharrlich den Kritzenberg hinauffließt und nicht in sein natürliches Tal kommen will. Ich meine den Siebenschein. Gerade haben wir uns über ihn gewundert, die Verena und ich. Was in den gefahren ist, das macht mich beinahe neugierig.«

Marianne zuckte die Achseln.

»Man muß den Menschen ihre eigenen Wege lassen.«

»Aber das ist nicht sein eigener Weg. Eben darum – sein eigener Weg führt zu uns.«

»Kränkt es dich, Papa?«

Kathrein schnitt eine vollerblühte Rose vom Stock und reichte sie der Tochter.

»Weniger als der vorjährige Schnee die Rose da. Mich wundert es nur.«

Marianne sah in die geheimnisvollen Tiefen der Blume hinab.

»Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht,« sagte sie gelassen; »du könntest ihn ja einmal zur Rede stellen.«

»Aber Frauen sollen alles erraten,« rief der Vater; »dazu seid ihr in der Welt, daß ihr mit euren Hohlspiegeln hinter die Männer seht.«

Marianne tauchte ihre Lippen in den Duft der Rose.

»Es ist nicht immer der Mühe wert.« Dann sah sie auf. »Ich hab ihn gerade heute begegnet. Er sieht aus, als ob er sich mit einer Krankheit schleppt.«

»Zu uns soll er kommen, im Garten arbeiten, von euch sich necken, von den Bienen stechen lassen, abends Musik machen,« zürnte Kathrein; »Einsamkeit, das tut keinem Menschen gut, außer solchen, die unter den Mitmenschen vereinsamt sind. Aber dazu ist der Siebenschein noch viel zu jung.«

»Vielleicht hat er Heimweh,« riet Verena; »oder der Beruf zehrt an ihm.«

»Wird schon ähnlich sein,« sagte Marianne obenhin. Sie wandte sich dem Hause zu. »Kommt, die Rosen blühen morgen auch. Ihr sollt mir heute abend Musik machen, Sommermusik, Rosenmusik, du und Verena.«

* * *

Seit Wochen schon ging Benedikt Siebenschein in schweren Träumen, seit jenem Morgen, da ihm widerfahren, was er für die entscheidende Erschütterung, für die Niederlage seines Lebens hielt.

Alles war eingestürzt in ihm, alles entwertet, verfinstert und verheert.

Gott hatte es zugelassen.

Gott hatte es gefügt, daß an jenem Morgen das dürftige, gebeugte Männlein gerade zu ihm kam; bei ihm Zuflucht suchte vor den Furien des Gewissens; bei ihm unter das schützende Siegel barg, was seit Jahren an ihm gezehrt, seine Gesundheit gebrochen, sein Haar gebleicht; von ihm das äußere Zeichen der inneren Gnade erhoffte, segnende Reinigung seiner mitschuldbefleckten Seele; – Gott hatte es gefügt, daß all dieses geschah.

Er habe seit Jahren nicht gebeichtet, gestand der Sünder gleich zu Anfang seines Bekenntnisses – es sei ihm unmöglich gewesen, aus Gründen der Angst, aus Widerstreit der Pflichten, aus furchtbaren Rücksichten, die er habe üben müssen.

Nun aber halte er es länger nicht aus.

Wie ein Gebirge liege es auf ihm, wie Gift fresse es an seinem Herzen. Schwere Träume in schwer gefundenem Schlafe, zehrende Unrast am Tage ließen ihm keine Ruhe. Und zudem fühle er schon die erkältende Nähe des Endes.

Dann begann er, die Alltagssünden vorausschickend, gleich als müßte er sich erst Mut und Kraft bereiten zum Niederstieg in den Abgrund; oder als könnte er auf sachte zögernden Wegen den Beichtvater mit sich durch sein Leben führen, über manche Rauheit und durch manchen Windbruch, bis an die Stelle, wo der jähe Schrund aufklaffte, der Spalt, auf dessen Grund die Hölle glimmt.

Manchen Priester schon habe er mit andeutenden Worten auf seine furchtbare Beichte vorbereitet, gestand er. Aber dann, vor der Entscheidung selbst, habe ihn immer wieder der Mut verlassen – dann habe er rasch einige geringere Vergehen erlogen, um so den Anschein vollen Bekenntnisses zu erwecken … Heute aber müsse er sich befreien …

Im ganzen habe er sich ja immer nüchtern und ehrlich gehalten – oder er habe wenigstens danach gestrebt, wie dies seinem ernsten Vertrauensamte zukomme, das er dreißig Jahre hindurch bekleidet. Manchmal, ja, manchmal habe er wohl auch über den Durst getrunken, zumal in den letzten Jahren – doch nur, um zu vergessen; zu vergessen … Hier schauderte der Sünder zusammen … Auch sei er sicherlich nicht gefeit gewesen gegen Gelüst und Anfechtung anderer Art … Eine Unwahrheit sei ihm wohl auch dann und wann über die Lippen gekommen; gelegentlich sogar ein Fluch. Sonst aber wisse er sich keiner allzu schweren Verfehlungen anzuklagen – bis auf jene, die ihm seine letzten Lebensjahre so schwer und finster gemacht.

Ehrlicher, echter Reue sei die Vergebung gewiß, tröstete Benedikt sanft durch das Gitter, da der Bekenner mit dem drängenden Geständnisse rang.

Jener atmete tief auf. Echte Reue fühlte er, so wahr und gewiß ein Gott im Himmel sei.

Zum ersten: er habe jahrelang mit wissentlichen Fälschungen Handel getrieben, einträglichen und regen Handel – freilich auf Geheiß und unter der Leitung anderer, mit denen er den Gewinn geteilt …

Er müsse die Betrogenen nach Möglichkeit entschädigen, entschied Siebenschein.

Das sei nicht angängig. Weder ihre Namen kenne er, noch ihre Zahl. Es seien ihrer Tausende und Abertausende. Doch habe er letztwillig eine den sündhaften Gewinn mehr als reichlich übersteigende Summe zu milden Zwecken gestiftet. Nicht ein Heller von diesem Schandgelde dürfe an seine Erben übergehen.

Benedikt nickte: daran habe er gut getan.

Der andere seufzte: wenn es nur das wäre!

Dann holte er mühsam Atem und erzählte:

Wie vor einigen zwölf Jahren ein Mädchen seines Ortes in Schande und bange Erwartung gekommen sei … Wie der Vater des Kindes, sein Vorgesetzter und Teilhaber, ihn eines Nachts ins Vertrauen gezogen habe … Aber weder der starke Wein, mit dem jener ihn bewirtet, noch das Schimmern von blankem Sold auf dem Grunde des Trankes habe etwas vermocht über seine Standhaftigkeit … Und dann sei ihm vom Versucher zugesetzt, immer mehr geboten, schließlich, da nichts fruchtete, einfach gedroht worden … Da habe er dann endlich nachgegeben – nicht aus Furcht oder Eigennutz, wenn er's heute bedenke, sondern mehr aus Erbarmen mit dem armen Mädchen und dem von wahnwitziger Angst getriebenen Manne, dessen bedeutendes Ansehen auf dem Spiele stand … Nur unter seinem und des unehelichen Vaters Beistand sei das Mädchen eines Knaben entbunden, dieser aber sogleich getötet und von ihm, dem Beichtiger, auf die Seite geschafft worden … So geschehen in der Nacht auf den Rosenkranzsonntag vor nun bald zwölf Jahren … Oh, er wisse es noch genau … Er sehe noch alles vor sich … Kein Tag sei verflossen seitdem, da es ihm nicht in furchtbarer Treue erschienen, dies Bild … Immer dies Bild: das abgelegene Haus, die dumpfe Wochenstube, das jammervolle Ringen der werdenden Mutter, der Griff nach der Kehle des Neugeborenen … Und diese Stimmen, der Schrei des Weibes nach dem Kinde, die harte höhnische Lüge auf den Lippen des Vaters … In schauernden Herbstnächten sehe er immer die kleine weiße arme Seele durch die Finsternis irren, ein geweihtes Grab zu suchen …

In rauhem Röcheln versiegte das Flüstern des Sünders.

Starr vor Grauen saß Benedikt im Beichtstuhl.

Er könne nicht den geistlichen Freispruch erteilen, stammelte er durch das Gitter; er dürfe es nicht tun, ohne Verzug müsse der Sünder sich dem weltlichen Gerichte stellen …

Das alte Antlitz hinterm Ohrenpförtlein verbarg sich in welke Greisenhände.

Alles möge der hochwürdige Herr Beichtvater von ihm verlangen, nur nicht dieses, dieses Unmögliche, dieses Übermenschliche. Dazu besitze er die Kraft nicht mehr. Und wenn der hochwürdige Herr Beichtvater wüßte … wenn er wüßte, was er noch verschweige …

Nichts mehr wolle er wissen, sagte Benedikt, rauh wider seinen Willen.

Der hochwürdige Herr wolle doch Erbarmen haben mit ihm, raunte der Greis inständig.

Siebenschein wehrte ab. Erst die Buße der Selbstanklage, dann Lossprechung.

Es könne doch nicht bei der Selbstanklage bleiben. Andere würden in den Sturz mit hineingerissen, andere … Oh, wenn er alles sagen dürfte, wenn er sich von der Rücksicht auf Stand und Rang seines Verführers losreißen könnte …

Siebenschein fröstelte in Gluten. Sein Herz jagte im Flüstern seiner Lippen; ihm schien, als hallte es tausendstimmig wider aus der Früheinsamkeit der Kirche.

Der arme Sünder weinte bitterlich.

Er habe ja doch nur zur Verhehlung der Schande verhelfen wollen. Die Tat selbst sei nicht von ihm verübt worden, er sage das in Gegenwart des allerheiligsten Sakraments des Altars und angesichts des Todes, der ihm so nahe sei wie der nächste Tag.

Dann habe er ja von der irdischen Gerechtigkeit wenig mehr zu befürchten.

Aber sein Sohn, seine Kinder, seine Enkel … Die Schmach, das untilgbare Mal … Und schließlich, der Verführer selbst.

Er möge sich doch einem anderen geistlichen Berater anvertrauen, empfahl Benedikt, um nur diese Bürde von sich abzuwehren. Er sei ja eigentlich gar nicht befugt, diese Beichte eines Fremden anzuhören.

Da verfinsterte sich das alte Gesicht hinterm Gitter.

Ein anderer sei wohl nicht mehr, sondern noch weniger berufen, sie zu hören – ein anderer, dem gegenüber es gar kein Bekenntnis wäre, sondern eine Erinnerung und Drohung … Oh, es sei ja unmöglich …

Benedikt schrie fast laut auf, mit einem Schlage zerspalten bis in die Wurzeln seines Glaubens.

Und nun wisse der hochwürdige Herr Kaplan alles, fuhr jener fort. Alles. Und er bitte nicht mehr um den geistlichen Freispruch. Wo ihm Zeichen und Wort der priesterlichen Begnadigung versagt blieben, würde er eben in Sünden, aber auch in tiefer Reue dahinfahren. Dann werde Gott sich vielleicht versöhnlicher zeigen, als die Walter seiner Gerechtigkeit. Dann würde Gott sich vielleicht der armen Seel erbarmen, die also zu Last und Fehl gekommen durch einen seiner Vögte auf Erden …

So grollte es von verzweifelten Anklagen aus dem Grunde dieses Bekenntnisses.

Er habe keinen Namen nennen wollen, seufzte dann der Alte, sichtlich erleichtert durch den Ausbruch. Aber der Name erkläre dem hochwürdigen Herrn alles, Aufschub, Zwiespalt, Verschwiegenheit. Und unterm Beichtsiegel wisse er das Schuldbuch für ewige Zeiten geschlossen.

Als habe er ein Gespenst gesehen, so verließ Benedikt Siebenschein die Kirche; bleich, verstört, erkrankt, vernichtet.

Tagelang, einsame, schleppende Tage lang, nächtelang, dumpfe Armensündernächte lang, rang er mit den heraufbeschworenen Geistern.

Wohl, auch jener mochte inzwischen durch echte Reue und Geständnis sich gereinigt haben. Aber welch ein Mensch, mit solchen Worten auf den Lippen, mit solchen sorgfältig abgewogenen Anklagen in der Rede, mit solchen Taten in Sinn und Bereitschaft!

Benedikt grübelte, litt, suchte und erlebte viel in diesen Tagen. Allein so tief er hinabtauchte in die Strömungen seiner rastlosen Gedanken, er fand keinen Grund, er wurde von den Wogen erfaßt, im Kreise umhergetrieben und immer wieder an gleicher Stelle zur Oberfläche emporgehoben. Er wagte es nicht, drunten in der gefährlichen Dämmerung an einem der gespenstisch hereinragenden Wurzelgerippe festzuhalten, um von hier aus das wühlende Geschiebe auf der Sohle tastend zu erforschen.

Schließlich versank er in wehe Gleichgültigkeit. Fast gewaltsam schlug er das Schuldbuch zu, in dem seine Seele sich müde gelesen. Ärmer war er geworden um ein Vorbild und eine gute Meinung, ärmer um ein stolzes christliches Vorhaben, das ihm nun zur bitteren Träne geronnen.

* * *

Da fiel ihm zu bester Stunde aufs Herz, daß er noch einen Besuch pflichtig sei. Sein Gönner hatte ihm den Abt Berno als verläßlichen Freund empfohlen; durfte er sich auch nicht erschließen, es war doch möglich, daß ihm schon aus flüchtiger Berührung mit diesem hohen Mönche neue Erhebung, neue Anschauung, vielleicht sogar die Knospe innerer Genesung erwuchs.

Von Hochwürden Permoser mit gnädigem Mißtrauen entlassen, machte sich Siebenschein eines Tages auf die Wanderung gen Heiligenzell.

Der Sommerhimmel war seinem Wege hold. Schon stand die Brotfrucht aufrecht in straffen, stracken, starren Ähren, hoch im blendenden Morgendunst perlten die Lerchentriller, der Kuckuck rief von Baum zu Baum, über den jungen Hafer schauderten zarte Schattenwellen. Eine Lust, so in den Tag hineinzuschreiten, dachte Benedikt; wohlige Wärme und Bewegung, die schmelzen alles Eis von der Seele weg und schaffen neuen Beginn, daß die gestockten Brunnen wieder springen.

Und er besann sich darauf, von einer Zeit gelesen zu haben, da die Priester, so eben keine Pflicht unter den Füßen hatten oder unsteten Blutes waren, als der Menschheit Gäste heimatlos durch die Lande zogen. Das wäre nicht das Schlimmste, stieg es ihm auf; das wäre am Ende nicht das Unchristlichste.

Da und dort hinter den Ährenbreiten, in der Tiefe tausonniger Wiesen ging schon erstes Sensenrauschen um. Einsam im golddunstigen Morgen klang der Wetzstein. Unterm vereinzelten Feldbirnbaum ruhten die Schnitter um das Frühmahl. Gelassen und freundlich erwiderten sie den Gruß des Wanderers.

Es wäre am Ende nicht das Unchristlichste, dachte Benedikt weiter, im Namen Gottes so durch das Volk zu ziehen, die staubigen Armen der Straße zu trösten, mit Worten des Heilands Saat und Ernte zu segnen, als Bote Christi zuzusprechen, wo immer der Arbeit Gebet ums tägliche Brot gen Himmel steigt. Das wäre ein rechtes Priestertum voll Gnade und Licht und Leben …

Benedikt hatte den breiten Talboden erreicht. Die schweren Gebirge jenseits des Flusses, stattlich und dunkel anzusehen von der Unzinger Höhe, schwanden zu schneekuppigen Wolkenbänken zusammen. An einem Kreuzbilde teilte sich die Straße. Ihr linker Zweig wies talaufwärts nach der Stadt, der rechte talab gegen Sanktrain. Im sonnigen Glast blitzte der Turmknauf der Gnadenkirche. Der Wanderer segnete seine entblößte Stirn mit dem Zeichen der Erlösung und schlug die dritte, geradeaus nach Heiligenzell führende Straße ein.

Mälig stieg die Wärme, die Mücken sirrten, schläfernd sangen Immen im blühenden Klee. Benedikt schritt langsamer aus. Über das Gehölz jenseits der Straßenkrümmung wuchsen schon die Firste der Abtei empor, schlank überragt vom kleinen Glockenturm. Überall in den Feldern regte sich der heilige Werktag. Siebenschein hielt an, das freundliche Bild des Friedens zu genießen. Breitgespreizte Männer, die in weitausgreifendem Rundschwung des Rumpfes die funkelnden Halbkreise der Sense vor sich her trieben; andere, die gelassen und steil am Schafte ihrer Klinge standen, unterm Gurt oder aus hölzernem Köcher den Wetzstein hervorlangten, ihn unter wechselnden Fingern an der taubgewordnen Schneide entlangzustreifen; starke Frauen mit sauber verhüllten Traglasten; hier und dort Blitz und dumpfer Erdschlag von Harken; drüben der Wagen, mit den schweren schimmernden Rössern an der Deichsel, stetig wachsend an Größe und Höhe der Fracht; und über dem allen die hinantrillernden Lerchenflüge, die zitternde Sonnenluft, Gottes Segen und Ruhe und Gegenwart.

Eine hohe weiße Sommerwolke ging langsam hinter den Bergen auf.

Und siehe, ein Mann in weiten Gewändern kam zwischen den Ähren herangeschritten, der nahte sich den Arbeitern und nickte ihnen Gruß, und er setzte sich zu den Ruhenden und brach mit ihnen das heilige Brot und aß, und er nahm die Kinder auf seine Knie, daß sie mit seinen lang herabfallenden Locken spielten. Und da er schied und seines Weges weiter zog, kam er auch an Benedikt vorüber, der Mann mit den tiefen, unerbittlich milden Augen und der starken, guten Stirn darüber. Allein wie jener aufschrak aus seinen Gedanken, nach der Erscheinung zu sehen, da war sie zu einer leichten Traumwolke geronnen, die zerschmolz eben im warmen Sonnenglast.

Jenseits des Gehölzes mehrten sich die Zeichen klösterlicher Nähe. Benedikt erfreute sich des Anblicks, wie eine Landschaft voll Vergangenheit fast unverändert aus der Gegenwart ihm entgegenwuchs. In den Feldern regten sich grobkuttige Brüder um bäurische Arbeit, und wenn sie auch Kleeheu wendeten, die Sense führten oder Unkraut harkten, Siebenschein vermeinte zu sehen, wie sie Land errodeten und die herbe Urscholle brachen. Im fernen Hintergrunde des sanft anschwellenden Fruchtgeländes stand auf breitem Hügel die Abtei, nicht hochhorstend zwar und falkeneinsam wie manche ihresgleichen, aber doch mächtig, alt und gebietend: ein vielfirstiger Bau, der mit seinen goldgrauen Mauern mildernst über die grünen Böschungen der Obstgärten hinweg in die wechselnde Zeit sah, wie die Stirne eines Mannes, die der Welt das Licht und die Gastlichkeit gereifter Güte zeigt, die schwer errungenen Geheimnisse ihrer Gedanken aber hinter ehernen Toren verschließt.

* * *

Abt Berno erging sich eben in guter Ruh unter den Obstbäumen des weitläufigen Wiesengartens. Geraume Zeit schon hatte er dem nahenden Besucher unter überschattender Hand entgegengespäht; nun vergewisserte er sich noch mit einem letzten Blicke und schritt dann bewillkommnend entgegen, würdevolle Huld in Antlitz und Gebärde.

»Der große heilige Benedikt grüßt seinen kleinen Herrn Vetter,« lächelte er; »ich glaubte Sie schon eingesponnen in Unzinger Sommerschlaf. Was gibt es Neues in Ihrer vallis reducta? … Ja, das hörte ich schon, unser Freund und Gönner hat seine Rundreise aufschieben müssen. Gicht und anderes, Geschäfte über Sorgen, Sorgen über Kummer, Breve, Motuproprio, Enzyklika und kein Ende. Sehen Sie, da haben wir es besser. Unsere Uhr ist eigentlich vor etlichen tausend Jahren stehengeblieben. Wir haben uns einfach im Mittelalter versteinern lassen und leben nach innen.«

»Das hat mir Doktor Menzel auch gepriesen,« sagte Siebenschein aufschmelzend; »er hat mir immer die Kutte geweissagt.«

Der Abt rieb sich herzvergnügt die großen, starken Hände.

»Hat er Ihnen, so! Der Domscholaster! Das wäre mir ein Mönch geworden, dieser Vater der goldenen Worte, dieser Mann der Zukunft und der hallenden Welt! … Aber lassen wir unsere heimischen Angelegenheiten … Wie bekommt Ihnen Ihr Noviziat? … Gut, gut, ich will schon nicht fragen; junge Herren müssen alles loben … Kommen Sie, gehen wir ein zu dem, was der liebe Gott und Bruder Gaudenz uns heute bescheren. Und auch mit Bruder Calixt, dem Verwahrer unserer wichtigsten Siegel, wird ein Wörtlein zu reden sein. Nachmittags wollen wir unseren Umgang machen … Ah, da ist Pater Maurus, Sie kennen ihn ja von jenen epulis aus, unser Gärtner, der Blumenabt und Gemüsebischof, ein Mönch von Herzen, aber ein nützlicher Heide von Beruf, ein Sonnenanbeter und Hagelbeschwörer …«

Pater Maurus lächelte zufrieden, den Schalk in den Grübchen seiner nelkenroten Backen. Die erdigen Hände barg er kreuzweise in den weitläufigen Ärmeln der Kutte.

»Gott schuf zuerst Licht, Wetter, Wasser, Pflanzen, er wußte, was gut sei … Und ganz zuletzt den Menschen, mehr zum Feierabendzeitvertreib … Blühen in Unzing schon Sommerrosen?«

Es war nicht mehr ferne dem Mittag. Aus Garten und Äckern kehrten die dienenden Brüder heim, gezeichnet mit den Malen der Arbeit, hagere, sehnige Gestalten, von Sonnenbrand und Verbrauch abgezehrte Gesichter, aber alle mit dem Glanz der Ruhe im Blick, mit sorglosen, furchtlosen Stirnen. Tief beugten sie sich vor dem Abte, die Hände über der Brust verkreuzt; und der Abt erwiderte jedem einzelnen mit gleichsam entlassender Huldgebärde den Gruß. Der Ring an seiner Rechten blitzte im stechenden Sonnenschein.

Zwischen den beiden Mönchen trat Benedikt in das Kloster ein. Er las die gemetzte Umschrift des Portalbogens, den Spruch des heiligen Arsen: Qui nescit obedire, monachus fieri non potest.

Und ihm war, als überschreite er die Schwelle seiner Zeit, als steige er in die Tiefen der Vergangenheit hinab, in ein versunkenes, unterirdisch fortträumendes Reich.

Eine Glocke hallte. Alsbald sprangen hundert Tore in den uralten Mauern auf, große Schatten schlurften die Gänge hinab, emsig Schwärmen und Rauschen erfüllte die versteinte Zelle. Der dort, der Mönch mit dem herrischen, klugen Grafenantlitz, gebietende Augen unter unerschütterlicher Stirn, eisengrau das volle, kurze Haar, wie das eines Kriegsmannes und Helmträgers, das war Odilo, der Vierkaiserabt, einst der erste Mann der abendländischen Christenheit. Dort wandelte sein großer Nachfolger Hugo die Zellenflucht herunter, feiner und sanfter von Zügen, vorzeitig gebeugt von der Last schwerer Jahre, der einzige, der dem mächtigen Papste seiner Zeit zu widersprechen gewagt, der Fürbitter des gedemütigten Königs. Hier kam Johannes von Gorze, in Blick und Haltung die eiserne Unbestechlichkeit; da humpelte an seinen Krückstöcken Herrmann der Verwachsene, das verkrüppelte Reis aus hochedlem Stamm, daran die erste Blüte deutscher Wissenschaft in all ihrer Herrlichkeit aufgegangen; drüben nahte Walahfrid Strabo, die Augen niedergeschlagen auf den Pergamentstreifen, den er in Händen hielt, schimmernd naß vom frischen Schreibsaft – seine Lippen skandierten die beißenden Hexameter auf Karl des Großen Höllenstrafen, davon gedacht er den Brüdern zum Nachtisch ein gepfeffert Pröbchen vorzulesen; hier schlurfte Widukind heran, eine unmutige Falte zwischen den Brauen – mitten im schönsten Periodenbau, dem Sallustio kunstvoll nachgebildet, hatte ihn das Zeichen aufgescheucht … Jetzt zögerte seine Sandale, unschlüssig blieb er stehen, als horche er in sich hinein; dann heiterte sein ledernes Gesicht sich auf, die schwierige Stelle war überwunden … ac si nihil ei difficultatis obviasset, murmelte er vor sich hin, da er getrost den hungrigen Brüdern sich einte.

Hinter langen Tafeln ordnete die Gemeine sich um das Mahl; am oberen Ende des breitgewölbten Saales saßen die Väter, in ihrer Mitte auf überschauendem Platze der Abt. Die dienenden Brüder nahmen die andere Hälfte der Halle ein. Dort herrschte geschäftiges Schweigen, während unter den Vätern, zu Ehren des jungen Gastes, freundlich Gespräch die Mahlzeit erhellte.

Benedikt wurde zur Seite des Abtes eingeschoben; sein anderer Nachbar war Pater Hucbald, ein redegewandter Herr, der die Brille beständig auf der Nase behielt und nur dazu zu benutzen schien, um unter fragend emporgeschürzten Augenbrauen über die scharfen Gläser hinwegzuspähen.

Alsbald entwickelte Pater Hucbald eine betäubende Gelehrsamkeit, die Benedikts fachliches Wissen einfach hinwegwirbelte. Als die Blume klösterlicher Kunst war der gesprächige Mönch ihm vorgestellt worden, und nicht sobald hatte Hucbald erfahren, daß er einem Gleichgestimmten begegnet, als er auch schon alle Schleusen lange verhaltener Mitteilungsbedürfnisse aufriß.

»Also was sagen Sie dazu, daß man einige Schriften meines großen Vorgängers und Namensvetters als unecht erklären will? … Die Musica enchiriadis, die doch bekanntlich sein Haupt- und Lebenswerk war, ja, nicht wahr, es gehört sich Unwissenheit oder Frechheit dazu, ihm dieses unbestreitbare Verdienst, die erste zusammenfassende Darstellung frühmittelalterlicher Harmonielehre, bestreiten zu wollen, ja, nicht wahr, es ist kaum glaublich … Und nun vollends die geheimnisvolle Dasianotierung, wie kann man da noch zweifeln, daß das Quinten-Organum Hucbalds …«

Walahfrid Strabo stieß seinen Nachbar, den tief versonnenen Hermann, leise an: Du, unser Hucbald hat heute seinen Tag! … Und von der anderen Seite der Tafel zwinkerte Pater Sebaldus seelenvergnügt herüber … Mitunter ließ der gelehrte Musikus all seine aufgespeicherten Kräfte an ihm los, da er von ihm, als dem gründlichen Kenner des frühen Mittelalters, Teilnahme auch für die Mysterien der Neumen, des Salicus, Torculus und Gnomo voraussetzte … Nun hatte er das langgesuchte wehrlose Opfer gefunden.

Allein Hucbald ward trotz seines Eifers, trotz seiner ungestillten Gier der Blicke gewahr, die ihn von allen Seiten umlächelten. Eben hatte er sich die Zeit genommen, einen heißen Bissen einzuverleiben, mitten zwischen Gutturalis und Hemivocalis stockte der Fluß seiner Rede, die schier verbrannte Zunge warnte vor übereiltem Schlingen; so drohte er mit zürnender Hand den Spöttern. Selbst dem Abt, der die Pause zu nutzen gedachte und sich Benedikt zuwandte, gebot er im Drange seines Herzens mit ungebührlicher Gebärde Schweigen. Mit der anderen Hand aber zog er Siebenschein dicht an sich heran, daß er ihm ja nicht entrinne. Endlich bekam er den Mund frei.

»Was wißt Ihr, was versteht Ihr, gar nichts wißt Ihr, über einem Genitiv oder Ablativ verbrütet Ihr Stunden … In Sachen, die man nicht versteht, soll man nicht dreinreden, Ihr habt gar keine Ahnung, wer Hucbald der Ältere gewesen ist, Ihr habt überhaupt keine Meinung in dieser Sache, ich kümmere mich auch nicht darum, ob die Translatio des heiligen Ämilian im Jahre 883 oder vielleicht schon im Jahre 882 stattgefunden hat, ja, nicht wahr? …«

» Carpe diem, Hucbald,« sagte Pater Sebaldus; »nimm die Gelegenheit wahr, laß uns in Frieden und weide dich an der Beute, so dir heute beschieden, so still hält dir keiner von uns.«

Nach dem Mahle begann der Umgang; dem Abte und Benedikt schloß sich Pater Hucbald an. Er wußte, welche unter den Sehenswürdigkeiten des Stiftes dem Besucher zuerst würde vorgeführt werden. Denn weder am ehrwürdigen Astrolabium noch an der Urhandschrift des weiland Geroldus Claudus, genannt Anapäst, konnte dieser gebildete, höfliche junge Mann, an dessen geduldig horchendem Schweigen Hucbald sein Wohlgefallen fand, ähnliche Freude empfinden als an der Königin des Hauses, der weitberühmten Orgel.

Nun standen sie auf dem Chor der Abteikirche; Benedikt sah in die Tiefe des Gotteshauses hinab, das in seiner verhaltenen Pracht, in seiner massiven, gediegenen Strenge ihm fast noch ehrwürdiger als sein geliebter Dom erschien. In zarte Frühlingsblüten der Gotik klang die Architektur aus; da und dort knospte schon der inbrünstige Drang nach Auflösung und Vergeistigung, an Kapitälen und Gurten und Fenstern war alles schon Vorbereitung und Ahnung, in mancher Einzelheit der Anordnung regten sich schon die feinen, anmutig verwegenen Spiele des heiligen Stiles der Wunder. Drunten aber war alles würdevolle Klarheit; wie aus festgegründetem Wissen, aus granitnem Glauben, aus ruhiger Macht strebten die Pfeiler ins Geheimnis empor.

Ungeduldig wartete Hucbald, daß der Abt mit seinen geschichtlichen Erläuterungen zu Ende käme; es war doch wirklich ganz gleichgültig, ob jener Altar aus dem Jahre 1393 stammte und dieser Sankt Lukas aus dem Jahre 1467 – einzig auf die Orgel kam alles an, auf die Musik, ohne die Stein und Gold und Glas nichts war als tönend Erz sonder Liebe und Seele … Also dachte Hucbald, während er mit liebevollem Bedacht den Pultdeckel des Spieltisches zurückschlug und an den Registerköpfen schaltete. Dabei vollführte er mit Fleiß einigen Lärm, und das erreichte den erstrebten Zweck: der Abt trat von der Brüstung zurück und stellte mit großer Gebärde seinem Gaste die Orgel vor.

»Aber ein schönes Wort nennt die Architektur gefrorene Musik, die Musik aufgetaute Architektur,« leitete er geschickt über; »ich möchte Ihnen noch manches zeigen, Sie vielleicht sogar nach Ihrer Ansicht fragen, denn jedes Auge empfängt andere Bilder und sieht andere Überschneidungen, und ich trage mich mit dem Gedanken an einige Rekonstruktionen – doch Sie sind ja wohl nicht zum letzten Male hier. Unser Hucbald brennt schon lichterloh, Ihnen die singenden Wölbungen und dröhnenden Pfeiler seiner Gotik vorzuführen.«

Benedikt staunte neugierig an der Orgel hinauf; Hucbald saß schon hinter den Manualen.

»Oder wollen Sie versuchen,« fragte er zuvorkommend; »ich will Ihnen registrieren.«

Siebenschein lehnte ab, halb aus Bescheidenheit, halb befangen. Denn um Hucbalds Mund spielten geheimnisvolle Lichter.

Der gelehrte Pater nickte gnädig zu seinen Ausflüchten.

»Kennen Sie das große D-moll-Konzert, von Bach oder Vivaldi, wie man's nimmt – das falsche Friedemann-Bach-Konzert, Sie wissen schon, in Wirklichkeit eine Vivaldi-Bearbeitung von unserem alten Ober-Bach?«

Er setzte sich zurecht, schürzte die Kutte ein weniges empor, daß die schweren Falten die Freiheit der Füße nicht beeinträchtigten, und trat ins Pedal. Ein warmer, ruhiger Baßton sprang auf; darüber steigerten und türmten sich die Töne des Molldreiklangs, dem Heraufziehen schwerer, hochgehäufter Wetterwolken vergleichbar.

Da setzte über dem grollenden Brauen der Bässe das eigentliche Thema des Vorspiels ein, und Siebenschein schrak förmlich zusammen. Nicht aus den Tiefen der Orgel kam diese Stimme, sondern irgendwoher aus der Kirche, aus der Höhe, aus der Ferne – so frei und gänzlich abgelöst von den gleichmäßig auf- und niederwogenden Begleitstimmen trug sie das strenge, feierliche Thema vor. Benedikt starrte bestürzt den Abt an; der nickte ihm freundschaftlich zu und legte den Finger auf die Lippen.

Pater Hucbald spielte mit hoher Meisterschaft; das sah Benedikt auf den ersten Blick, das kam ihm von Takt zu Takt eindringlicher zu Gehör. Und doch vergaß er des Spielers, ja, des Werkes selbst über den erschütternden Klangwirkungen, welche diese seltsame Orgel oder vielleicht dieser nach geheimen Gesetzen gebaute Raum hervorbrachte. Bald kam das Thema aus den Tiefen der Evangelienseite herangewuchtet, bald erscholl es von der Epistelseite her: es war, als hätten sich alle Chöre der Engel, die Psalmisten und Evangelisten vereinigt, mit des unsterblichen Meisters Stimmen das Lob des Ewigen zu singen. Dann wieder horchte Benedikt überrascht auf: es war doch alles Täuschung gewesen, die Orgel allein klang mit starken Flöten, sie besaß wohl ein hervorragend eingerichtetes, mit besonderer Liebe gepflegtes Fernwerk – und abermals nein, denn nun huben Evangelien- und Epistelseite fast gleichzeitig an zu erdröhnen, und in machtvollem Wechselgesange steigerten sie das geteilte Thema, bis es in einem wahren Gewitter von Kraft und Herrlichkeit aufgipfelte: hier begann die Fuge.

Pater Hucbald selbst schien völlig aufzugehen in heiliger Lust. Über sein unschönes Profil kam eine stille Verklärung, wie er so dasaß und die Traktur meisterte, sanft gesäumt vom Golde der nachmittäglichen Chorfenster. Auch nicht eines Blickes würdigte er die Zuhörer; allein sich selbst gehörte er, der Kunst, dem Werke, dem Unsterblichen. Benedikt sah der sauberen Beweglichkeit seiner dünnen Finger zu: jetzt griffen sie ins Manual, das wohlbekannte majestätische Prometheusthema der Fuge mußte kommen. Es kam, aber nicht aus dem Gehege der starrenden Flöten, sondern abermals aus der geheimnisvollen Ferne der Evangelienseite, als wohnte dort ein Geist in unsichtbaren Wolken. Benedikt lauschte hingerissen. Ihm war, als vernähme er deutlich die Löwenstimme des Markus: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist gekommen; tut Buße und glaubet der Botschaft! … Und es erwiderte Lukas von der Epistelseite her: Es kommt ein Stärkerer nach mir, der wird Euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen … Und es setzte Matthäus ein, von der Höhe des Orgelchores rauschte auf Engelsfittichen sein Wort: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe … Und es beschloß Johannes, sein Ruf erhallte aus der inneren Ferne: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben … Mitten unter der Vierung vereinten sich die Stimmen zum strenggefugten Chore, Mahnung, Verheißung, Bestätigung, Erfüllung. Die ganze Abteikirche schien eine einzige Orgel zu sein, ein Himmel voll beredter Heiliger, ein einziges Pfingsten, da Jahrtausende von Bekennern, Blutzeugen, Verkündern und Duldern unterm Schauer feuriger Zungen zur Sprache erwachten. Benedikt sah sie in aufsteigenden, grenzenlosen Fluchten, bis in die verklärte Unendlichkeit der Wolkentore hinein, wo Er selbst in seinen Gewalten thronte, zu Füßen das Lamm auf dem Schemel des siebenfach versiegelten Schicksalsbuches, zu Häupten die zitternde Taube, hinter sich den Goldgrund der Ewigkeit. Und es schmetterten die letzten Posaunen, und es wandelten sich die vier Stimmen zu den gespenstigen Reitern, die sprengten durch die verfinsterten Höhen, daß die Sphären vom harten Galopp ihrer Klepper widerhallten, und alles ging unter in einem Meere von Blut und Rauch. Plötzlich aber lichtete es sich im Brauen der Dünste, und über die Wüstenei schwebte die zarte Tröstung des Largo herein: Und Gott wird trocknen die Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein … Da war es, als hätte der Altar unterm ewigen Lichte selbst angehoben in seinem Herzen zu singen und als sei es der goldene Kelch in seinem juwelengeschmückten Schrein, der vom holden Mysterium der Gnade widerklang …

»Es wurden nämlich drei Orgeln in unseren Münster eingebaut,« erklärte dann Abt Berno, als Hucbald geendet hatte; »die beiden anderen stehen auf Nebenchören der kleinen Seitenschiffe, von hier aus unsichtbar. Dergleichen findet sich ja häufig. Aber wir haben dann alle drei Orgeln und dazu noch eine vierte untereinander elektrisch verbunden, so daß sie von einem Spieltische aus beherrscht werden. Die vierte Orgel ist ein ganz kleines Instrument mit drei auserlesen schönen Stimmen; sie steht hinterm Altar verborgen. Nun, die Wirkung haben Sie ja an sich verspürt.«

»Unvergleichlich,« pries Benedikt; »der Dom Seiner Eminenz könnte stolz sein auf dieses Mirakel.«

Abt Berno rieb sich die starken Hände.

»Das ist aber auch kein fürsterzbischöflicher Dom, sondern ein schlichter Abteimünster. Uns Stillen ist vieles möglich. Wir konnten die Schwestern durch die neue Kraft zu einem Geschöpfe einen; nun haben sie ein Herz und einen Willen. Es kam nur auf diese einigende Kraft an und auf die Eingebung. Ja, könnten wir alle Stimmen durch solch eine Macht untereinander und mit der geheimen vox humana hinter dem Altar verbinden! Die alte Hauptorgel und ihre Töchter in den Seitenschiffen! … Aber gehen wir, Sie sind nicht zum letzten Male hier, und es gibt noch manches zu sehen.«

Sie traten wieder in die hallenden Fluchten der Klostergänge hinaus; der grelle Nachmittag blendete ihnen heiß entgegen.

Benedikt kam über Staunen und Freuden kaum zu Atem.

Pater Sebaldus, den der Abt aus einer der Zellen herauspochte, geleitete sie schlurfenden Schrittes nach der weitläufigen Bücherei, und auch Hucbald schloß sich an. Nicht so rasch vermochte er sich vom kostbaren Gaste zu trennen, und im Inneren bewegte er die Frage, wie eine schickliche Gelegenheit zu belehrsamem Wechselgespräch zu erfahen. Denn vieles noch drängte sich ihm im Herzen zusammen, und vorsonderlich über die mysteriösen Dasia-Noten seines Namensahnen gedachte er manches wertvolle Wörtlein anzubringen.

Allein in diesen Hoffnungen sah er sich getäuscht. Pater Sebaldus, einmal entfesselt und in seine Rechte gesetzt, ließ so leicht nicht los, was ihm als Beute zufiel, ob er nun gesammeltes Gehör fand oder zu tauben Seelen sprach. Zum ersten pflegte er die Besucher seiner Bibliothek durch Nennung der Bändezahl, welche er auf zwölftausend hinauf abrundete, kampfunfähig zu machen. Dann erst drang er mit beredtem Scharfsinn in Einzelfragen ein: »Hier zum Beispiel der Schatzbehalter oder Schrein der wahren Reichtümer des Heils und der ewigen Seligkeit, ein Nürnberger Druck aus der Kobergerischen Offizin, wie Sie sehen, eines jener kostbaren und seltenen Exemplare mit schwarzen, unkolorierten Holzschnitten … Hier ein wunderschön erhaltener Tycho de Brahe, De mundi aethere, gedruckt in der Privatoffizin des berühmten Astronomen auf Uraniburg … Hier ein Inkunabelband, beachten Sie die liebliche Miniature mit dem heiligen Bonaventura … Dieses Werk? Das ist einer meiner kostbarsten Schätze: Thomas Murners Geuchmatt, ein ungemein seltener Druck, den Sie bei Hain und Proctor vergebens suchen würden …« Und so ging es weiter durch die Regale hin, wo die wuchtigen Folianten, leisen Grabesduft aushauchend, in ernsten Reihen standen, Zeugen liebevoller Pflege, manche behaftet mit den Edelmakeln des Niederschlages der Jahrhunderte, andere von zärtlicher Kennerhand wiederhergestellt, etliche so wohlerhalten, als seien sie eben erst aus einer Nürnberger oder Venetianer Offizin hervorgegangen … Reich gepreßte Schweinslederdeckel, breite, handausfüllende, wulstige Rücken, verschollene Namen, krause Titel, Abgründe okkulter Gelehrsamkeit … Scioppius, Astrologia ecclesiastica, ex officina Sangeorgiana; Grammaticus Proteus, arcanorum societatis Jesu Daedalus dedolatus, in gepreßtem Pergament; Meteranus, Anti-Scioppius oder Simsons Backen-Zahn, mit welchem der durchteuffelte Gaspar Sciop zerschmettert wird, das ist: Menschlich Examen der teuffelischen Anschläg, welches er dies Jahr an tag gegeben in ein lateinisch libello, genannt Classicum belli sacri, auf sonderbaren Befehl des böheimischen Martyrers Herrn Joh. Hussen redivivi Befehl mit Fleiß verfertigt … Spectaculum vitae oder eigentliche Beschreibung und Nutz-Anwendung aller Lebensläuff, Fährniß, Martern und Verklärungen der Heiligen, genannt des christlichen Jares Rosen- und Dornen-Krantz … Benedikt gelüstete es mächtig, hier und dort zu verweilen, zu blättern, ruhesam zu genießen; allein Pater Sebaldus drängte weiter, und seine flutende Beredsamkeit spülte Welle um Welle ihrer eigenen sanften Brandung hinweg … Hier der berühmte Hortus deliciarum; wegen dieses Bandes sind wir fast ein Jahrhundert lang mit den Brüdern von Rosengart in bitterer Fehde gelegen, es war wie voreinst der Zwist um die irdischen Reste unseres Heiligen … Hier die Horen beatae Mariae virginis, ein ausgezeichnetes Exemplar, seltener Druck von ungemeiner Schönheit … Das hier? Lauter homiletische Werke, nichts Besonderes … Da, ein guter Zweitdruck der Cosmography von Münster … Und hier – Pater Sebaldus atmete tief auf, als habe er mit seinem Gaste den Gipfel eines schwierigen Berges erstiegen – hier sehen Sie den Perlenschrein unserer kleinen armen Bibliothek, mein Reliquiar, mein Heiligtum, mein Presbyterium, mein irdisch Alpha und Omega: den Handschriftenschrank, das Evangeliar der heiligen Kaiserin Kunigundis und die dritte deutsche Bibel …« Er sah Benedikt erwartungsvoll an, als habe er vor seinen sehenden Augen einen Blitz vom Himmel heruntergezaubert.

Der Abt rieb sich wieder die nervigen Hände und lächelte herzlich in sich hinein; Hucbald spürte unruhvoll in der Bibliothek umher – nun kam er sicherlich nicht sobald mehr zu Worte, wenn dieser Sebaldus, Sebaldus iste, einmal anhub mit seiner Textkritik! … Und als hätte der fromme Bruder Sebaldus Weinzierl den Verdacht seines Konfrater inwendig vernommen, so setzte er allsogleich mit überschwänglicher Gefälligkeit alles ins Werk, dem jungen Gaste einen bleibenden Eindruck zu verschaffen. Benedikt mußte sich zu Häupten eines langen, wunderschönen Eichentisches in einem herrlich verschnitzten Armstuhle niederlassen, einen äußerst merkwürdigen Himmelsglobus zur Rechten, zur Linken den behaglich mitverweilenden Abt, hinter sich den eifrig beflissenen Sebald, vor Augen den ärgerlichen, ungeduldig aufundniederwandelnden Hucbald, dem er doch von Herzen gerne die Höflichkeit des Dankes erwiesen hätte und bei dem er, seinem Empfinden nach, tief in Schuld stand. So vermochte er für die ausgebreiteten Schätze des Bibliothekars nur geteilte Aufmerksamkeit aufzubringen; weder die feine uraltehrwürdige Elfenbeinschnitzerei des heiligen Evangelienbuches, darin zwischen köstlich verschlungenem Rankenwerk allerhand Engel, Bischöfe, Jungfrauen und Teufelsfratzen ihr Wesen trieben, noch auch die Bibel mit ihrem Einband aus aufgenageltem Eisenfiligran und ihren faustisch anmutenden Charakteren konnte ihm die Freude müßigen Genusses abgewinnen, da unterm starken Strahl neuer Ströme seine Seele längst von Eindrücken übersprudelte. Gehorsam bewunderte er, was zu würdigen von Pater Sebaldus ihm vorgeschrieben wurde: die geheimnisvolle Zartheit der Darstellungen auf den Einbanddeckeln, die Farbenpracht der Initialen, Fleiß und Reinheit der Schrift, den geübten Geschmack des mönchischen Künstlers, die sinnige Huldigung, die der Meister seiner jungfräulichen Kaiserin darbrachte, indem er von ihr die Züge der allerseligsten Jungfrau entlieh – allein das alles glitt wie im unwahrscheinlichen Traume vorüber, Blattgerank, inkrustierte Halbedelsteine, der Bischof Eberhard von Bamberg, Kaiserin und Madonna, die von Pater Sebaldus in unglaublicher Geschwindigkeit eingestreute Anekdote vom Paderborner Bischof Meinwerk, der, ein übler Lateiner, einst auf die von Kaiser Heinrich ihm gestellte Falle hereinfiel und den durch schlaue Rasur hergestellten Schreibfehler im Meßbuche getreulich nachbetete, so daß er anstatt der famuli die muli in seine Litanei einschloß: alles verwoben in einen dicht herabsinkenden Schleier lähmender Müdigkeit. Wie aus weiter Ferne vernahm er noch die Stimme des unermüdlichen Bibliothekars: »Und hier unser Kostbarstes, die Urhandschrift der Annales Sancticellenses oder der Chronik unseres Gerholdus Claudus, genannt Anapäst … Wahrscheinlich auf einer Abschrift des Prokopius, teilweise wenigstens … Aber was geht uns Heiligenzeller der Prokopius an? … Hier zum Beispiel die berühmte strittige Stelle: aut fide aut promissis eum sibi obligavit … Denn eum muß es hier heißen und nicht cum, wie verschiedene Herausgeber fälschlich gelesen haben, cum hat hier doch gar keinen Sinn, wie es von mir zu mehreren Malen dargelegt worden ist, zum letzten Male und mit der ausführlichsten Begründung im Archiv für Geschichtswissenschaft, 33. Jahrgang, 5. Heft, in meiner, ich darf wohl sagen, aufsehenerregenden Arbeit über die Consecutio temporum bei den deutschen Lateinern um die Wende des 10. und 11. Jahrhunderts … Hätte zum Beispiel Professor Modermeier meinen Aufsatz gründlich gelesen, so wäre ihm bei Veranstaltung seiner neuen Handausgabe unseres Chronisten nicht das unverzeihliche Versehen unterlaufen, das ein für allemal beseitigte cum an Stelle des einzig berechtigten eum stehen zu lassen … Und eum muß doch jedes einigermaßen kundige Auge lesen, ungeachtet des Zusammenhanges und Sinnes …« Pater Sebalds runzliger Gelehrtenfinger verharrte standhaft auf einem Punkte der schönen, da und dort mit goldbunten Majuskeln verzierten Handschrift. Benedikt gehorchte; allein sein getrübter, der alten Kurzschrift überdies unkundiger Blick las gleicherweise cum wie eum, wenn auch die verlogene Zunge sich für die maßgebliche Meinung des Bibliothekars entschied.

Er schrak ordentlich wie aus träumendem Versinken auf, als die Hand des Abtes sich auf seine Schulter legte.

»Kommen Sie,« sagte der freundliche Herr; »Bücherluft macht schläfrig; wir wollen die Handschriften der vita activa in ihren großen Regalen besuchen, die Bücher des Lebens und der Gegenwart.«

Pater Sebaldus hatte zwar noch die Lippen voll Scholien und lange aufgestauter Polemik, über den Ablativus absolutus beim Gerholdus claudus gedachte er noch einiges anzubringen wie über dessen seltsame Abneigung gegen den Gebrauch des Nominativus cum infinitivo; indes des Abtes Wille entschied in den irdischen Angelegenheiten von Heiligenzell, so packte er seine Schätze unbefriedigt ein und schloß sich dem Rundgange an, insgeheim hoffend, es werde sich noch ein ziemliches Gelegenheitlein erhaschen lassen, und in solcher Absicht dem gleichfalls nicht gesättigten Hucbald brüderlich vereint. Stolz und gekränkt rauschten die beiden Kutten, in deren Faltenwurf Jahr um Jahr so vieles sich angehäuft, dem voraufgehenden Abte und seinem Gaste nach.

Der Weg führte in die Tiefen der Abtei, zur geheimen Unterkirche des Cellerarius, wo die altgebräunten Gebünde mit ihren wappengeschnitzten Stirndauben Zeugnis ablegten von den Notwendigkeiten zeitweiliger Reformation. Hier wurde für Hochwürden Permoser ein erfreulich Ehrengeschenk abgezapft, schwarzglühender Franzenwein war's, davon Abt Berno kundigen Gästen hatte etliche Oxhoft einkellern lassen. Bruder Kalixt seufzte, wie er die bäuchige Korbflasche vorsorglich verschloß; dort, an den Ufern des Flusses Garumna hätte er wollen seines Amtes walten, nicht hier, wo die herbe Heimatluft das Blut in den Adern verdickte und selbst der leichtflüssige Trank der Götter zum schleichenden Gifte ward.

Nun tauchte man wieder zum Tage empor und besuchte Bruder Maurus in seinem blühenden Reiche. Auch er hatte den Fall kommen sehen und sich vorbereitet; mehrere Bund Spargel von einer besonders stattlichen Spätsorte harrten bereits der Reise, dazu verschiedenerlei Samen, Zwiebel und Frucht, wie es eben die Jahreszeit bescherte. Vergnügt bewegte sich der rotbäckige Bruder zwischen seinen zärtlich gepflegten Beeten hin und wieder. An seinen offenen Händen haftete die braune Erde, auf seiner Stirne glitzerte der ehrliche Schweiß.

»Das ist des Lebens wichtigste Grammatik,« sagte er mit boshaftem Bezug auf Bruder Sebaldus, der seitab stund, die Fäuste ängstlich in den weiten Ärmeln verborgen, als bangte ihnen vor entwürdigender Zumutung; »das ist die eigentliche Consecutio temporum, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, und alles, was an Regen und Segen dazwischenliegt. Da kommen die Pronomina erst recht zur Geltung, denn was ist sibi und tibi und mihi, wenn es keinen Dativus gibt, kein Geben und Einverleiben …«

» Te non tibi!« sagte Bruder Sebaldus betrübt; »mit dir stehe ich nur auf dem Fuße des Accusativus, nicht des Dativus. Und was hat einer, der lange Stunden über dem tödlichen Latein der Gartenbotanik verbrütet, zu sagen wider den stillen Genießer uralter Jungbrunnen?«

Bruder Maurus stach unbeirrt seine Spargel. »Das hier ist der wahre Jungbrunnen, terra, terrae, die magna mater des Lebens. Was auf meinem Miste wächst, das verwandelst du wieder in sterilen Sand.«

»Das geht jahrein jahraus so,« flüsterte der Abt seinem Begleiter zu; »ewig liegen sie sich in den Haaren, Sebaldus und Maurus, einander unentbehrlich und gleichzeitig widrig wie zwei Elemente. Sehen Sie, in unserer stillen Enge spiegelt sich alles, mitunter verkleinert und vielleicht verzerrt, aber doch deutlich erkennbar …«

Man schritt durch den grünschattigen Obstgarten dahin, wo das hohe, feuchte Gras noch in schweren Schwaden stand. Zur Linken blieb der kleine Hügel mit der niedrigen Umfassungsmauer, darüber ein schlichtes schwarzes Holzkreuz hinwegragte, bewacht von zwei tiefernsten Lebensbäumen. Dort, am Eingangstore der Friedensstätte, saß ein Mönch auf niedriger Steinbank; über seinem Haupte schwankte ein blütenroter Zweig der Kletterrose im sachten Nachmittagswinde, hell leuchtete seine weiße Kutte aus dem grauen Gestein hervor, sein Antlitz aber schien großen Fernen zugewendet. Vielleicht lauschte er dem Sange des kleinen Vögelchens, das von der Höhe des schwarzen Kreuzes seinen sanften Psalm über die Gräber hin sang; oder er horchte auf das Raunen der Lüfte in den beiden dunklen Lebensbäumen, darin des Vögleins warmes Mutternest sich barg, treulich beschützt vom brütenden Weibchen.

Der Abt deutete hinüber, der Amethyst an seinem Ringe leuchtete in seiner herbstlichen Abendglut.

»Unser guter Bruder Norbert. Er wartet, daß die Pforte sich ihm öffne. Sein Leben verrieselt, in einer Hand trägt er das Stundenglas, die andere stützt sich schon auf den Spaten. Täglich sitzt er da oben und sinnt und harrt. Wir werden ihn noch im kommenden Herbste begraben. Vor wenigen Tagen erst ist unser Bruder Modestus ins Licht hinübergegangen. Er hat es auf dreiundsechzig Jahre gebracht, Bruder Norbert aber ist erst zweiundvierzig Jahre alt. Die Flamme unseres Lebens ist stark und heiß, wenige nur überdauern die Stählung …«

Man hatte die hochgewölbte Lindenallee erreicht, die in geradem Zuge nach den Ställen hinüberführte.

Dort empfing der Laienbruder Clementius den Abt, die Hände demütig über der Brust verkreuzt. Aber nicht sobald hatte der hohe Herr mit huldvoller Gebärde die Schleusen seiner Sprache eröffnet, als auch schon ein Gießbach zutraulichen Schwatzes sich über die Besucher entlud. Dem Abte blieb eben noch Zeit, seinem Gaste zuzuraunen, Bruder Clementius sei von Herkunft ein schweizer Franzose und in seiner Ausdrucksweise nicht sehr wählerisch – da brachen die aufgetauten Gletscherwasser aus ihren Hinterhalten hervor.

Mit beiden Händen riß Bruder Clementius Benedikts zögernde Rechte an sich.

» O, bienvenu … Von Monsieur le curé Permosère? … Von Unssing? … O, ça me donne de plaisir, avec Monsieur le curé Permosère wir aben immer Gessäft, savez-vous, seine vaches und unser Sweizer taureau aben immer susammen des affaires. Erst in letzte October wir aben ihm verkauft ein génisse, ein Kalbin, est-ce qu'elle a déjà fait son veau … at schon gemakt ihre Kalb? … Monsieur Permosère a-t-il encore ses vieilles vaches, et Mademoiselle Mali, comment se porte-t-elle? Et ce bonhomme d'un curé, est-il toujours bien gras, nock immer sehr dick und sein Sweine toujours mager, ses porcs, hehe? … Oh, Monsieur le curé, il estime bien notre fromage, er so gern essen unser Käs, nous lui remettrons un pain, ein söne Stück … Allons voir ma ferme, gehen anschauen unser Kloster von die Rindvieh …«

Benedikt würgte an einem fürchterlichen Kitzel.

»Mit dem Französischen bin ich leider zurückgeblieben,« bekannte er dem Abte.

»Seien Sie froh. Sie würden schreckliche Dinge zu hören bekommen. Und doch, es ist eine besondere Art Heiliger, der in unserem verwilderten Clementius steckt; sehen Sie nur, wie er mit den Tieren umgeht.«

Beizender Stallduft, Gebrüll, Rasseln von Ketten schlugen zum offenen Tore heraus. In langen Fluchten regten sich die breiten bunten Häupter des Hornviehs; mahlende Mäuler, schnuppernde Nüstern, da und dort ein dumpfer, breiter Aufschlag. Die scharfe Wärme rührte zu Tränen.

Bruder Clementius hatte für jeden Kopf seiner Gemeinde eine Liebkosung, ein zärtliches Wort. » Oh, Lydwynne, mon chéri, je n'ai rien pour toi, gar nix … Ah, Blanche, mon ange, est-ce que tu va faire bientôt ton petit veau …? … Eh, Geneviève, ja, du bist meine Satz, du kommen auf meinen Grab wie die Swein von St. Antoine oder die Stier von St. Marc … Oh, v'la une bonne bête d'un taureau, olala, nix so maken mit die Augen, du son wissen, mit die Bruder Clement ist keine Spaß …«

Am Eckstande der langen Reihen dämmerte die ungeheure Gestalt des dunkelroten Stieres. Zornig schlug der Riese mit dem breiten Nacken wider das Schutzjoch, seine Augen rollten, aus den ringbezwungenen Nüstern fauchte der Grimm. Allein Bruder Clementius setzte sich sorglos vor ihn hin in die Krippe, das Antlitz den Besuchern zugewendet. Mit einem Arm umschlang er das gewaltige Haupt des Stieres, mit der anderen Hand tätschelte er seine glänzende Schnauze.

»Das ist mein taureau. Er heißen Alessander nach die Papst Borgia, und weil er aben so viele Kinder … Eh, Alessander, mon garçon, du mich son kennen, n'est-ce pas?«

»Es geht Ihnen wie mir,« sagte der Abt; »ich kann es nicht mit ansehen, aber der Stier tut ihm wahrhaftig nichts. Er hat es nur einmal versucht. Und nun, denken Sie, unser kleiner magerer Bruder Clementius, wie er da vor uns sitzt. Sie werden es nicht für möglich halten – er ist dem Stier sozusagen in die Hörner gefallen und hat ihn beinahe niedergerungen, eingepreßt zwischen dem Hörnerbogen und der Mauer, wie er schon war. Aber ich glaube, seine Stimme und sein Blick waren noch stärker als seine Arme.«

Bruder Clement stand gelassen auf und versetzte seinem Liebling einen klatschenden Abschiedsstreich auf den Nacken. » Il faut avoir confidence, c'est tout. Nur man muß glauben, dann man ist der Stärkste über alle bêtes. Au revoir, mon vieux!«

»Ja, das ist nun unser alter Bienenstock,« sagte Abt Berno zu seinem jungen Gaste, da sie miteinander nach dem etwas abgelegenen Neubau hinübergingen. »Das ist unser alter Bienenstock, der jahraus jahrein denselben Honig bereitet und aufzehrt. Wir sind eigentlich in unserer Entwicklung stehengeblieben, sind überflügelt und zurückgelassen worden. Wir sind nicht mehr fruchtbar, andere, jüngere Brüderschaften sind an unsere Stelle getreten, und so haben wir uns nach innen gewendet. Und wie würden zum Beispiel Sie sich in solches Leben finden?«

Benedikt zögerte.

»Ich weiß nicht, ob ich es vermöchte,« gestand er dann; »ich möchte wirken und helfen, wenigstens soweit meine geringen Kräfte reichen.«

Der Abt nickte bedächtig.

»Ich verstehe. Sie vermissen hier nicht die Arbeit, wohl aber die Frucht. Sie haben die Empfindung, daß die Leistung sich hier selbst aufzehrt.«

»Vielleicht ist es das.«

Der Abt seufzte.

»Und Sie haben nicht unrecht. Aber schließlich, ist dann nicht die ganze Menschheit eine mönchische Gemeinde, die ihr Leben nur verbraucht, ohne es nach außen anzuwenden? Ich glaube, das Kloster ist keine Insel außerhalb der Menschheit, wie manche meinen; eher ihr Gleichnis und zugleich ihr Gipfel, in dem die Höhen unseres Daseins ansteigend sich vereinigen.«

Benedikt spielte aufmerksam mit einer Blume, die er unterwegs aus dem Grase gerauft.

»Für mein Gefühl ist das Kloster eine Mündung, aber kein Ursprung,« bekannte er zaghaft.

Der Abt sah in ernster Überraschung auf den Jüngeren herab.

»Auch das trifft zu. Darum wird der Fertige bei uns seinen Frieden finden, der immerdar Wachsende, Werdende aber nicht. Wir wachsen von einer Hore zur anderen, und manche von uns werden Riesen der Innerlichkeit. Aber das Leben, wie Gott es in seinen sichtbarsten Offenbarungen fordert, verkümmert. Es war nicht immer so. Früher zeugten wir mit unserem Blute, indem wir es vergossen; heute zeugen wir mit unserem Blute, indem wir es verleugnen. Aber dafür haben wir hier die Höhe und das Licht. Was drunten üppiger Schlamm, das ist uns klingendharter Fels; Tiefstes wurde hier zu oberst getürmt; Oberfläche des Alltags haben wir in die Tiefen versenkt. Sehen Sie, es gibt ja immer nur drei Straßen, die der nackten Tat, jene des stillen Gedankens, und die der Mitte. Das Ziel ist schließlich dasselbe; jene beiden umspannen das Dasein und vereinen sich am Anfang und Ende aller Dinge. Alle tieferen Menschen werden einmal vor diese Wahl gestellt. Sie zum Beispiel haben sich für die Tat entschieden; die Jugend schlägt immer den steileren Weg ein, aber der Mann sucht später die Verbindung zur Straße der Mitte, und der Greis tastet sich nach der Stille des Gedankens hinüber … Da sind wir ja. Hier sehen Sie unseren Neubau, auch eine stille Tat, nicht nur Spekulation. An den Webstühlen, die da surren werden, wollen wir uns wieder in das Gefaser der Menschheit hineinspinnen, wir weltabwendigen Mönche. Zunächst soll nur Zeug zu unserem eigenen Bedarf verfertigt und von dieser Ware je nach Überschuß einiges auf den Markt gebracht werden. Dann wollen wir sachte weiter gehen, weshalb nicht? Wir dürfen der Menschheit nicht zur Last fallen, wir müssen uns selbst erhalten und außerdem die Pflicht der Armenpflege erfüllen; dazu reicht heutzutage die Landwirtschaft nicht mehr aus. So müssen wir uns in die großen Kraftströme der neuzeitlichen Industrie einschalten. Diesen Fall hat Ihr großer Namensheiliger freilich nicht vorgesehen, Kaiser Josef aber auch nicht. Nun wird aus den Majuskelmalern und Chronisten eine Bruderschaft mit beschränkter Haftung. Arbeit, Arbeit, Arbeit – das ist heute unsere Ordensregel!«

In heitere Gespräche klang der Tag aus.

Der Abt gestattete es seinem Gaste nicht, auch den Heimweg zu Fuße zurückzulegen. Er ließ das saubere kleine Kutschwägelchen anspannen, dessen er selbst sich gelegentlich bediente. »Schon wegen der Verantwortung Seiner Eminenz gegenüber,« beruhigte er den widerstrebenden Benedikt; »wenn Sie mir unterwegs auf Absprünge kämen!«

»Und wegen der Korbflasche!« erinnerte Bruder Kalixt; »wenn die Ihnen halbwegs zu schwer würde!«

»Und wegen meiner Spargel und Sämereien,« lachte Bruder Maurus; »ich lasse Hochwürden Permoser den gewohnten gesegneten Appetit wünschen.«

» Et les respects von Bruder Clement,« erinnerte der Stierbändiger, während er den stark duftenden Käselaib vorsorglich im Wägelchen verstaute; » et à Mademoiselle Amelie et à ma petite génisse aussi!«

Er zwinkerte Benedikt vertraulich zu.

»Und vergessen Sie nicht, über die Dasia-Notierung haben wir noch zu sprechen,« mahnte Hucbald; »glückliche Fahrt, und kommen Sie bald wieder.«

»Aber zu mir!« protestierte Sebaldus Weinzierl; »dieser Hucbald hat heute schon genug von Ihnen gehabt oder Sie genug von ihm – und über meinem schönen Geroldus claudus sind Sie fast eingeschlafen. Eum muß es heißen, vergessen Sie nicht, und nicht cum, wenn Professor Modermeier meinen im 33. Jahrgang des Archivs für Geschichts –«

Hier zogen die Rößlein mit munterem Ruck an. Benedikt winkte noch lange zurück, die Mönche verneigten sich mit freundlicher Anmut, der Ring an der grüßenden Hand des Abtes blitzte in der Abendsonne. Dann erscholl der Klang der Vesperglocke und die weißen Gestalten verschwanden im kühlen Dunkel des Torbogens.

* * *

Einsam, heiß und nachmittäglich war es in der Küche. Ein verlassener Topf brodelte nachdenklich auf der Seite der Herdplatte. Wie ferne Glocken sangen eintönig die Fliegen, und die nicht sangen, saßen in dichten Mustern an der buntgesprenkelten Wand. Etliche ergingen sich auch auf den Flechtböden der Siebe, die in guter Ordnung auf dem Oberbord des Küchenschrankes lehnten und in ihrem Maschenwerk noch leckere Reste bergen mochten. Andere wieder vergnügten sich, schwärzlich zusammengeklumpt, an einem vergessenen Zuckerbröcklein, eine wimmelnde Schnur ruhte auf dem Zugwerke der Hängelampe, ihrer drei aber, klüger oder wählerischer als der große Hauf, hatten sich ein ganz besonderes Festbrätlein zu ihrer Kurzweil ausersehen, nämlich Nacken, Stirn und Nase des Fräuleins Amalie. Wenig half es, daß die Zürnende immer wieder nach den ungeladenen Gästen schlug; man flog nicht einmal weitab, man schwang sich einfach auf dem blanken Rande des Messingmörsers ein, wohl wissend, daß auf einer Kante am wenigsten Gefahr drohe. Dort lief man einige Male in kurzen Rucken im Kreise um, um nach weise bemessener Frist wieder nach jener sanft schimmernden Flur der Seligkeiten zurückzukehren.

Fräulein Amalie saß unbequem und halb auf dem harten Küchenstuhle, doch ohne irgend Unbehagen oder Aufbesserungsbedürfnis zu verspüren: allzu eifrig las sie in dem zernutzten Buche, mit fettigem Finger die Zeilen verfolgend.

Von Spinneweben hatte ihr in der vergangenen Nacht geträumt. Spinneweben, hieß es da – für Männer: großer Reichtum und viel Erfolg; – für Weiber: Er wird in die Netze gehen. Und dabei die Zahl 43.

Fräulein Amalie seufzte. Dann schlug sie heftig und empört nach den Fliegen. Sie stellte doch keine Netze aus. Sie war doch nicht so eine.

Sie blätterte zurück.

Aus den grauen Geweben hatte der launige Traum plötzlich tief herabhängende Wolken gesponnen; diese Wolken aber waren eigentlich nichts anderes gewesen als ein fröhlicher Küchengarten voll der Salatköpfe und sonnenroten Paradiesäpfel, deren jeder ein rundes Prälatengesicht besaß und lateinisch redete. Wolken, das wußte Fräulein Mali, bedeuteten nichts Gutes, Tränen, Enttäuschung, Verfinsterung der inneren Sonne durch irgendeine fremde Dazwischenkunft. Also schlug sie lieber gleich unter Garten nach, und hier fand sie hoffnungsvolle Auskunft; einen Garten sehen, so verhieß der ägyptische Deuter, zeige nicht allzufernes Glück, Blüte und Erhörung an, insgleichen die Zahl 37.

Wieder seufzte Fräulein Amalie, diesmal befriedigt. Das mit den Netzen hatte ihr äußerlich nicht gefallen wollen; das mit Glück und Blüte klang schon eher ins Gemüt.

Leise tat sich die Küchentüre auf. Fräulein Mali klappte hastig ihr Orakelbuch zu. Sie wußte, wer so zaghaft und zart die Fallriegelklinke drückte, daß nicht einmal die Fliegen, die an der Innenseite der Türe des Nachmittags pflagen, aufsummten.

»Ich wollte nur sagen, Fräulein Mali,« begann Siebenschein; – »aber ich habe Sie gestört.«

Fräulein Amalie stand betreten und erfreut.

»Aber Hochwürden Herr Doktor …«

Benedikt trat freundlich näher.

»Immer so fleißig. Schon wieder ein neues Rezept? Was denn Schönes?« und schon hatte er den tiefsinnigen Ägypter in der Hand.

»Nein, aber Hochwürden Herr Doktor, da muß i mi ja schämen.«

Siebenschein blätterte und vertiefte sich.

»Müssen Sie auch. Und sowas glauben Sie? Aber, Fräulein Mali, aber, aber!«

»Der Herr Doktor glaubt auf keine Träum net?«

»Glauben! Sowas ist überhaupt nicht Glauben, sondern nur Aberglauben. Ich glaube, daß ich etwas träume, aber nicht, was ich träume. Träume, das sind Verführer, Fräulein Mali!«

»Wann's doch bloß Träume sein,« setzte sich die also Gerügte züchtig und bibelgewandt zur Wehre. »Schauens, Hochwürden Herr Doktor, manchmal, da hat das Büchel halt doch Recht. Und der Joseph, der ägyptische, der hat doch auch was auf Träum geben. Und akkurat g'stimmt hat's ihm auch. Steht ja so in der biblischen G'schicht, das hab i schon als Kind g'lernt.«

»Dem hat aber Gott die Auslegung eingegeben und nicht so ein Lotteriebüchel,« verwies Benedikt sanft.

»Soll halt der hochwürdige Herr Doktor meine Träum auslegen,« schlug Fräulein Amalie vor.

Siebenschein lehnte eilig ab.

»Ich bin nicht der heilige Joseph von Ägypten.«

»No, wer weiß,« tröstete Fräulein Huber. Sie zögerte und schlug den Blick zum ausgetretenen Backsteinboden.

»Der hochwürdige Herr Doktor hat ja recht. Es is halt net a jeder der heilige Joseph von Ägypten.« Sie nestelte an einem blaßverschwitzten Blaubändelein, das ihren runden Hals zierte, in spitzwinkeligem Zusammenlauf nach der warmen Tiefe der Herzgrube weisend. »Schauens, Hochwürden, ein paarmal, da haben mir die Träum und das Büchel da doch wahrg'sagt. Der Herr Doktor kann's glauben oder net. Grad am Freitag auf Septagesima war's, da hat mir von eim Schiff träumt, das is von der Weiten her auf meiner zu kommen. Das bedeut was, hab i mir dacht, schaust halt nach für alle Fäll, und richtig, daß ein Schiff eine neue Bekanntschaft und ein lieben Hausgast anmeldt, steht da drin. Na, und Samstag auf Septagesima is der hochwürdige Herr Doktor kommen. Na, und auf Ostern, da hat mir von weiße Vögel träumt, so schnell sein die g'flogen, grad auf meiner zu, und jeder hat an Dukaten im Schnaberl g'habt, und die Dukaten habens alle in meine Schürzen fallen lassen. Schau i nach – unverhofftes Geschenk steht im Büchel. Richtig, und akkurat auf Ostern hat mir der hochwürdige Herr Doktor die Medallje g'schenkt, die trag i immer, immer trag ich's seit damals, dahier tu ich's tragen …«

Und sie zog den Blusenausschnitt weit weg von ihrer spätsommerlichen Fülle, daß ein warmer Ruch von Haut und Leben aus der Tiefe emporstieg.

Siebenschein trat zurück.

»Das ist sehr lobenswert von Ihnen, Fräulein Mali. Aber die liebe Frau von Karmel soll Sie auch vor Aberglauben beschützen.«

Fräulein Huber rang in stiller Wehmut die Hände, den fetten Türkisring am Goldfinger drehend.

»Der hochwürdige Herr Doktor hat ja recht. Freilich. Aber wann man so allein is. Wann man gar niemanden hat. Da verfallt man halt auf alles Mögliche.«

»Dann soll man sich in Gebet und Erbauung vertiefen, oder in wirklich gute Bücher. Wer betet, der ist nie allein, der hat immer den besten Freund in der Nähe.«

»Na ja, der hochwürdige Herr Doktor redt halt so.« Fräulein Mali schlug schalkhaft den Blick auf. »Und wenn der hochwürdige Herr Doktor selber amal in eine rechte Anfechtung kommen tät – so wie der Joseph von Ägypten?«

»Gegen Anfechtungen muß man sich schützen,« belehrte Siebenschein oberflächlich.

»Gibt aber welche, wo kein Schutz net hilft,« sagte Fräulein Mali hinterhältig. »Der Joseph, der hat sein Mantel, aber wann einer gar kein Mantel net zum lassen hat?«

»Dann läßt er seine Haut!« lachte Benedikt.

»Das tät der hochwürdige Herr Doktor selber gar net probieren. Das tät ja schmerzen … Na, und so ein klein bißl a Sünd, das g'hört zur Frömmigkeit, damit daß a Farb hat.«

Siebenschein entsetzte sich.

»Aber, aber, Fräulein Mali, was für Grundsätze!«

»Wo's doch bloß ein G'spaß is, Herr Doktor. Der hochwürdige Herr Doktor muß net alls gleich so schwer und heilig nehmen, was ei'm von der Zungen weglauft. Und wenn der hochwürdige Herr Doktor wirklich so gut sein will und mir ein schönes Buch zum Lesen geben …«

Aber als Siebenschein gegangen war, nachdem er gewissenhaft gemeldet, daß er den Vesperkaffee heute nicht einnehmen werde, versank Fräulein Huber in glückseliges Lächeln. Für diese arme Seele mußte ihrem Dafürhalten nach etwas getan werden. Es war letzten Endes ein verdienstliches Werk.

Selben Abends noch sprach sie wegen des versprochenen Buches vor. Benedikt saß in Studien vergraben, aber der leise Verdruß über die Störung verschwand hinter einer zarten Wolke von Befangenheit. Eilfertig und beflissen erhob er sich aus der Tiefe der Geschichten des siebenten Gregor, der eifrigen Schülerin zu Willen zu sein.

»Da hab ich den hochwürdigen Herrn Doktor g'wiß recht g'stört,« schmeichelte sie; »der hochwürdige Herr Doktor hat g'wiß recht was Schön's g'lesen – so dicke Bücher, was da all's drin stehn muß, ja, da wird eins halt g'scheidt.«

»Das ist auch ein schönes Werk,« sagte Siebenschein bedeutend; »vom großen Papst Gregor und der Markgräfin Mathilde.«

»Sehens!« triumphierte die Mali; aber allsogleich ward ihr das Wagnis weiterer Ausdeutung bewußt und sie zog ihre Meinung mit dem Atem ein. »Wenn der hochwürdige Herr Doktor das ausg'lesen hat – das wär so was für mich!«

»Es sind sieben Bände, Fräulein Huber,« warnte Benedikt; »und davon lesen Sie auch nicht einen.«

»Ah was, je mehr, je besser,« prahlte Fräulein Huber; »wann's so was Interessantes is.«

Siebenschein öffnete das alte Bücherspind, darin nun wohlgefüllte, glitzernde Ordnung herrschte.

»Wir wollen doch lieber mit etwas anderem den Anfang machen.«

Fräulein Mali trat an ihn heran, ihn leise streifend. Behutsam nahm sie ihm die Lampe aus der Hand.

»Jesses, die vielen g'scheiten Bücher! Und wann man die alle liest, dann wird man Doktor?«

»So ungefähr,« nickte Benedikt, mit der Hand über die Reihen tastend.

»Schad ums Leben, eigentlich,« seufzte die Mali ihm ins Ohr.

»Das ist das Leben,« bekannte Siebenschein hochgemut; seine Finger ruhten auf dem Oberschnitt eines schmalen Bändchens in der Ecke.

»Das wird das Richtige sein.«

Wie er sich wandte, geriet er wieder in enge, nachgiebige Fühlung mit Fräulein Malis wohnlicher Fülle. Aber unbeirrt nahm er ihr die Lampe aus der Hand und gab dafür das Buch in Tausch. Gierig schlug sie es auf.

»Fabiola,« betonte die falsch; »das muß sehr schön sein.«

»Fabiola,« verbesserte er; »ja, es ist eine sehr rührende Geschichte.«

»G'wiß recht zum Weinen?« forschte Fräulein Huber lüstern.

»Aus der Zeit der großen Christenverfolgung,« belehrte Siebenschein; »unter Kaiser Diokletian.«

Sie hielt das Buch an den Busen gepreßt.

»Was der hochwürdige Herr Doktor net all's weiß. Der Herr Pfarrer, der weiß net die Hälften.«

»Er hat es nur wieder vergessen.«

»Ah, nein. Der hat nie was g'wußt. So ein Kopf möcht ich halt haben. So g'scheit sein und so jung.«

»Ich bin gar nicht mehr so jung, Fräulein Amalie.«

»Jesses, und wie!« versicherte sie mitleidig.

»Glauben Sie?«

Sie traf keinerlei Anstalten zum Abschied.

»Daß dem hochwürdigen Herrn Doktor net langweilig is, immer so allein, abends.«

Benedikt verschanzte sich wieder hinter seinen siebenten Gregor.

»Ich habe ja meine Bücher. Ich bin gar nicht allein.«

»Ja, aber doch, und so niemand haben, ganz einschichtig in der Fremd.«

»Das ist mein Beruf.«

»Ja, ja.« Fräulein Amalie sah verloren vor sich hin. »Der Herr Doktor is halt so ganz anders als wie andere Herren. Und ganz anders als wie der hochwürdige Herr Pfarrer.«

Siebenschein blätterte unbehaglich und zwecklos in seinem Buche.

»Es hat jeder Mensch seine guten und schlechten Seiten,« sagte er versöhnlich.

Er fühlte es, wie ihr Blick ihn suchte und versuchte; allein er blieb standhaft und starrte geradeaus in die flimmernden Buchstaben.

»Ja, ja,« seufzte Fräulein Amalie wieder; »man muß halt gehen. Oder möcht der hochwürdige Herr Doktor vielleicht noch was?«

»Danke, nein,« wehrte Benedikt; »gewiß nicht!«

»Wenn dem hochwürdigen Herrn Doktor etwas net recht is, er braucht's bloß mir sagen …« zögerte sie noch.

»Mir ist alles recht,« drängte Siebenschein mit heiserer Stimme.

»Dann halt recht schön gute Nacht, Herr Doktor. Und lassen sich was recht Liebes träumen. Und schön Dank für die Fabiola. Und wenn ich fertig bin damit, werd ich den hochwürdigen Herrn Doktor recht schön um was anderes bitten. Daß i net mehr in dem Traumbüchel lesen muß, gelt?«

Sanft zog sie die Türe hinter sich ins Schloß.

Vergeblich suchte Benedikt Wiederherstellung seiner Ruhe. Des großen Papstes scharfes Profil verschwand immer wieder hinter leise emporbrauenden Dünsten, hinter getrübter Gegenwart versank die klare Ferne der Vergangenheit, und aus innerem Spiegel blickte den Einsamen ein Antlitz an, das er noch nicht kannte: sein eigenes.


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