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IV.

Der damalige Arzt von Sanktrain, Doktor Werner Wendt, ordinierte angeblich von neun bis zwölf Uhr vormittags und von drei bis sechs Uhr nachmittags: – in Wahrheit aber zu jeder Stunde von Mitternacht bis Mitternacht, oder auch niemals, je nachdem ob man seiner bedurfte und ihn daheim fand, oder ob man seine Hilfe suchte und zu spät kam. Denn Doktor Wendt war eigentlich immer unterwegs, immer im Berufe, und niemand beklagte das bitterer als Fräulein Graff, die Schwester seines Vorgängers und jetzige Hausmutter, eine zwar angejahrte, doch erfreulich wohlerhaltene Dame von erheblichen wirtschaftlichen Vorzügen und dringlicher Mitteilsamkeit.

»Der arme, arme Herr Doktor,« jammerte Fräulein Therese Graff, wenn sie beim Gemischtwarenhändler Stanzer, dem Bazar von Sanktrain, ihren Bedarf an Doppelnullermehl, Vanillezucker, Putzpaste und Neuigkeiten deckte; »der arme, gute Herr Doktor! Heute nacht haben sie ihn wieder aus dem Bett geholt. Heute nacht schon wieder. Nie hat er seine Ruhe!« Und sie ballte die kleine fleischige Faust in bitterbösem Erbarmen.

Frau Stanzer, die an der Kasse hinter der neumodischen Geldmaschine saß, schüttelte bewegt den Kopf. »Gehen's,« sagte sie teilnehmend und zerstreut, während sie auf die Knöpfe drückte; »gehen's! … Drei, vierundzwanzig, und sechse macht dreißig, und zehne macht vierzig, und sechzig macht vier Kronen – und sechse macht zehn Kronen … Danke sehr, Frau Falzinger, empfehl mich sehr, ein andres Mal die Ehre …« Nun erst wandte sie ihr volles Interesse den Beschwerden und Entladungsbedürfnissen des alten Fräuleins zu. »Gehen's,« wiederholte sie gespannt; »gehen's.« Und sie schüttelte abermals den Kopf.

Frau Falzinger ihrerseits dachte nicht daran, angesichts der winkenden Beute die Wahlstatt zu verlassen und in den Regentag ihrer Hausfrauensorgen hinauszugehen. Sie stellte die Einkaufstasche zu Boden und bereitete sich auf längeren Meinungsaustausch vor.

»Was net sagen,« staunte sie; »was net sagen, schon wieder mitten bei der Nacht. Bei der Krapf kann's doch net schon losgangen sein, das wisset man doch schon längst.«

Fräulein Graff ballte ihre Fäuste noch inbrünstiger. »Ganz hinauf ins Gebirg hat der Herr Doktor müssen, ganz hinauf ins Gebirg. Zwei Stunden weit oder drei, und in der finsteren Nacht, wo's so finster war, daß der Bursch eine Latern mitg'habt hat! Einem Bauer, Enzhofer oder wie er heißt, ich glaub Enzhofer, voriges Jahr hab ich von seiner Tochter so schöne Schwammerln gekauft, das waren die, Frau Stanzer, wissen's, die ich dann in Essig eingelegt hab, den soll ein Baum erschlagen haben oder gestreift, die ganze Kopfhaut soll's ihm weggerissen haben, daß man alles gesehen hat …«

Mit blutrünstigen Gebärden von furchtbarer Anschaulichkeit begleitete Fräulein Graff ihren Bericht; Frau Stanzer sah deutlich, wie die scharfe Borke die Haut in strähnigen Fetzen vom Kopfe des Unglücklichen schälte, und schlug sich die Hände mit dumpfem Wehlaut vors Gesicht. Frau Falzinger fröstelte zusammen.

»Gehen's,« meinte dann die eine; »was net sagen,« die andere.

»Daß man alles gesehen hat,« bekräftigte Fräulein Graff noch einmal. »Jesus, Jesus. Und dahinauf hat der Doktor müssen, drei oder vier Stunden weit, ganz hinauf ins Gebirg.«

»Ja, was die Leut unvorsichtig sind,« seufzte Frau Stanzer; »ich hab schon geglaubt, es wär was hier, in Sanktrain.«

»Ja, der Beruf,« bedachte Frau Falzinger; »ja, der Beruf. Aber deswegen is er ja Doktor. Doktor und Feuerwehrmann, das sagt mein Mann immer, das möcht er net sein, um kein Geld.«

»So beliebt ist der Herr Doktor,« klagte Fräulein Graff; »so beliebt und geschickt, und darum rufen ihn alle.«

»Der Bub vom Krapf ist aber doch gestorben,« bemerkte Frau Falzinger sachlich; »der Bub vom Krapf ist doch gestorben, trotz allem. Ja, wenn's der liebe Herrgott will.«

»Das war aber auch Diphtheritis,« verteidigte Fräulein Graff; »Diphtheritis mit Kombinationen, hat der Herr Doktor gesagt, und ein schwaches Kind, ein aussichtsloser Fall.«

»Ja, wenn's eben der liebe Herrgott will,« nickte Frau Falzinger; »leben's wohl, Frau Stanzer, empfehl mich, Fräuln. Mein himmlischer Herrgott, man weiß net, wie man fertig werden soll mit der vielen Arbeit in der kurzen Zeit.«

Fräulein Graff sah der Abziehenden befriedigt nach.

»So viel hat er zu tun, der Herr Doktor, ich sag Ihnen,« begann sie von neuem, sichtlich um höchste Steigerung ihrer sprachlichen Ausdrucksmittel ringend; »so furchtbar schrecklich viel. Weil er so beliebt ist mit seiner Geschicklichkeit.«

Frau Stanzer holte ihren grauen Strickstrumpf aus der Tiefe des Verschlages hervor.

»Gehen's,« sagte sie gelassen; »ja, ja, man hört so.« Sie fuhr sich mit der Stricknadel ins Haar. »Da wird ja der selige Herr Bruder noch eifersüchtig werden im Grab.«

Fräulein Graff ereiferte sich, daß die seltsam kühnen Trauerfederbüschel ihres Kapotthütleins zitterten.

»Der Firmian,« boste sie in begeisterter Verachtung; »der selige Firmian, Gott geb ihm die ewige Ruh und das ewige Licht leucht ihm, aber was war er gegen unseren Herrn Doktor, der Firmian! Ich sag's ja dem Herrn Doktor immer, jeden Tag sag ich's ihm, daß es ihm schon fad ist zu hören, der Firmian, sag ich, wenn der gewesen wär wie der Herr Doktor, nach Paris hätten sie ihn berufen oder nach Amerika, sag ich, den seligen Firmian, wenn der gewesen wär wie der Herr Doktor, so geschickt und großartig, Jesus, Jesus. Aber so sind die Leut lieber hinaufgelaufen zu unserem Heiligen, wenn ihnen was weh getan hat, der war billiger und geschickter, lieber sind sie zum Heiligen hinaufgelaufen, als daß sie zum Firmian gekommen sind, ich hab's ja dem Firmian immer schon gesagt, Firmian, hab ich ihm gesagt, der Heilige hat eine größere Praxis als wie du … Aber der Herr Doktor, Jesus, Jesus, der nimmt alles heraus und setzt's wieder ein.«

Fräulein Graff rang mit dem Atem.

Die Stanzer stocherte mit der Stricknadel im hohlen Zahn. Dann benützte sie dies vielseitige Gerät, um dahinter herzhaft zu gähnen.

»Sein mir net undankbar,« mahnte sie, immer noch am Gähnen nachkauend; »den Herrn Doktor Graff haben wir alle recht gern g'habt und der Herr Dechant auch. Der Herr Dechant auch.« Sie betonte die Wiederholung.

Das alte Fräulein seufzte.

»Na ja, weil er mir das Haus gelassen hat, der Firmian. Und was möcht ich jetzt damit anfangen, wenn der Herr Doktor nicht wär? … Und mit meiner Zeit? … Rein als ob der Himmel mir den Herrn Doktor g'schickt hätt …«

Frau Stanzer nickte.

»Ja, ja, das hat gut troffen. Das schon.« Sie legte den grauen Strickstrumpf beiseite und wendete ihre Aufmerksamkeit einem zahlungswilligen Kunden zu. »Eine Krone sechzig – und vierzig sind zwei Kronen. Pfehl mich sehr, Fräulein Graff, ein andermal das Vergnügen.«

* * *

Einfachheitshalber, und auch um den eingejahrten, schwerfälligen Gewohnheiten der Bevölkerung zu genügen, hatte Werner Wendt sich bei der Schwester und Erbin seines Vorgängers in Heim und Kost eingemietet.

Trotz seiner günstigen Lage auf dem einzigen und daher herrschenden Platze des Fleckens entsprach das tiefe, alte Haus nicht eigentlich den Vorstellungen, wie sie Wendt von der Wohnung eines Arztes hegte.

Allein es standen diesen mehr sachlichen Mängeln so viele und so unschätzbare persönliche Vorzüge entgegen, daß der Doktor sich gerne zufrieden gab und anstatt auf Quartierwechsel lieber auf Abhilfe sann, ja, vorübergehend sogar den Ankauf des Hauses in Erwägung zog.

Doch wurde dieser Plan vorläufig wieder zurückgestellt; Fräulein Graff stellte bei alleräußerster Fürsorge von ihrer Seite so rührend bescheidene Ansprüche, daß es in mehr als einer Beziehung unvorteilhaft, zum wenigsten aber übereilt gewesen wäre, dieses angenehme Verhältnis gegen die noch fraglichen Freuden eigenen Besitzes einzutauschen. Anderseits freilich wurde Wendt gerade durch Rücksichten auf die alte Dame und ihre noch frischen Gefühle an jenen durchgreifenden Änderungen, die er im Interesse seines Berufes für angebracht hielt, verhindert. Die tiefen Räume des gutaltbürgerlichen Hauses, im Sommer voll laubengrüner Kühle, braun und warm wenn draußen der Frost starrte, vermochten mit ihrer staubigen Dämmerung einsiedlerischem Behagen wohl zu genügen, nicht aber den Anforderungen der keimfreien, stahlklaren Neuzeit gerecht zu werden. Es fehlte an Licht, trotz der freundlichen Sonnenlage der Front; es fehlte bei aller Geräumigkeit der Stuben doch irgendwie an Raum; es fehlte einfach an jener mathematisch reinen, exakt wissenschaftlichen, klinischen Atmosphäre, in der zu arbeiten Doktor Wendt bis nun gewohnt gewesen war, und deren aseptische Strahlenfülle er ebenso schwer vermißte wie die sachliche Ordnung und Leere der großstädtischen Operationssäle. Zu den rücksichtslos generalisierenden Methoden und Kuren des weiland Herrn Dr. Firmian Graff mochte ja dies anheimelnde Zwielicht recht wohl gepaßt haben; ihn aber verlangte es nach hellem Tage, ihn verlangte nach Reinlichkeit und Licht – Wünsche, deren Erfüllung er geradezu für seine Pflicht hielt, Wünsche, die er nicht allein für sich hegte, sondern vor allem für die, zu denen er aus der fernen Fremde heimgekehrt war, für seine Kranken, für seine Heimat, sein Volk.

Mit dem gänzlich wertlosen chirurgischen Nachlasse seines Vorgängers, längst veralteten, beinahe schon verdächtigen Instrumenten, hatte Wendt grimmig und gründlich aufgeräumt, unter unverhohlenem Beifall der nunmehrigen Eigentümerin, die an der neuen Einrichtung, den schneidend blanken Gruselvitrinen und den spiegelnden Folterbestecken, ihre ahnungslose Hausfrauenfreude und offenbar mehr Augenweide hatte als am fragwürdigen Feldscherkram ihres Bruders. Von dem war jeder schwierigere Patient grobweg nach der Stadt gewiesen worden, angeblich wegen mangelnder Zeit, in Wahrheit aber, weil Firmian Graff der Verantwortlichkeit tieferer Eingriffe sich nicht gewachsen fühlte und überdies den Genuß griesgrämiger philosophischer Bücher und schwerer Rotweine der Ausübung seines Berufes weitaus vorzog.

Da war dieser Doktor Wendt doch ein ganz anderer; dem war kein Weg zu weit, keine Stunde zu spät, kein Fall zu schwer, der schnitt und nähte selbst, und noch am Abende auf Martini nach der großen Rauferei hatte er draußen beim Bärenwirt einem Geschlitzten sieben oder neun Nadeln gesetzt, neun Nadeln ohne alle Assistenz, auf einem einfachen Schanktische bei trüber Öllampe, und beinahe alle Därme waren durch gewesen, sogar der Zwölffingerdarm – oh, Fräulein Graff kannte sich aus, und daher wußte sie Doktor Wendts erfolgreiche Tätigkeit zu schätzen wie niemand sonst in diesem ganzen undankbaren Sanktrain.

Die beiden großen, nach dem Marktplatze hinausfensternden Stuben des Obergeschosses hatte Doktor Wendt für die Ordination belegt; es waren die hellsten Räume des Hauses. Schon darin, daß es zwei Stuben sein mußten, da doch eine vollauf genügt hätte, glaubte Fräulein Graff einen Zug seltener Menschenfreundlichkeit zu erkennen, und sie traf mit ihrer guten Meinung insoferne das Richtige, als es zu des Doktors psychologischen Grundsätzen gehörte, Gerichtssaal und Folterkammer voneinander gesondert zu halten. In der den Hilfesuchenden fürs erste nicht zugänglichen Stube standen die zwei grausigen staubdichten Schaukästen, darinnen, auf eisigen Glasplatten geordnet, all die Hebel und Bohrer und zitternden Tauchtaster, all die Menschensägen und Lebenszangen, all die Schlüssel zu den Verließen des Schmerzes, die Schraubenzieher und Pinzetten zum Gehwerke der Herzuhr ihres Meisters harrten. Hier auch sonnte sich am Fenster der verführerisch gepolsterte Marterstuhl; leise bebte daneben an seinem blitzenden Galgen der geschmeidige Schlangenschlauch, dessen Atem den schnurrenden Bohrmeißel bis hinab in die Höhlen treibt, darin die Schlagwetter des Zahnnervs wohnen. Tiefe Kristallwannen, auf deren Grund unzählige Klingen in trüben Flüssigkeiten badeten; mächtige Gemäße aus honiggelbem Glas, gefüllt mit Watte – diese stachen Fräulein Graff besonders ins Hausfrauenauge, weil sie sich für Dunstobst und Essiggurken trefflich eignen mußten –; giftblaue Säurephiolen; smaragdgrüne Flaschen voll geheimer starker Salze; ein zierlicher Filigranherd; ein Mikroskop, unter dessen Linsen Doktor Wendt ihr einmal das wimmelnde Weltall eines Wassertropfens, ein andermal das Wunder eines Mückenflügels gezeigt hatte –: daß es solcher Umstände und Aufwände zur Erhaltung eines Menschen bedürfe, war der unverwüstlichen Gesundheit des Fräuleins niemals auch nur von ferne eingefallen, und die Tiegel in der Johannesapotheke drüben, wo sie seit Jahren die vom Herrn Apotheker selbst erzeugte weitberühmte Jungbrunnenwunderseife zu kaufen pflegte, hatten sie nie auf dergleichen Gedanken gebracht. Fast wie im Gewölbe eines Goldmachers sah es hier aus; Fräulein Graff hatte einst in einer anmutigen Erzählung von solchen Schwarzkünstlern gelesen, und nun erst wurden ihr die damals empfangenen Vorstellungen lebendig. Und hätte Doktor Wendt ihr gesagt, er wolle auf der Platte seines kleinen Herdes aus neuentdeckten Stoffen einen künstlichen Menschen zuwegebrauen, sie wäre schließlich guten Glaubens darauf eingegangen.

Ganz anders zeigte die eigentliche Ordinationsstube sich dem Besucher. Nichts erinnerte hier an Blut und Nerven; nur eben daß in der Luft ein zarter reiner Ruch entkeimender Säuren mitschwebte, von allen Dingen auswehend, als sei er die Seele des Hausrates. Freundliche Bilder bekleideten die Wände, hinter der Verglasung des Bücherspindes glitzerten die breiten Rücken der Kompendien und Repertorien; eine Herme des Äskulap, Büsten Galens, Empedokles' und Hippokrates' sahen aus gütigen, tiefwissenden Greisenantlitzen dem Bedürftigen entgegen. Zu Empedokles unterhielt Fräulein Therese besonders freundschaftliche Beziehungen; einmal, weil er – was sie auch dem Doktor gegenüber wiederholt und nachdrücklich hervorhob – einem langjährigen Anbeter gar so ähnlich sah, einem gewissen Julius Emil Zipperer, der einst Lehrer zu Sanktrain gewesen und sich hartnäckig um sie beworben, dem sie aber, aus entsagender Rücksicht auf den Bruder, doch nicht habe die Hand zum Ehebunde reichen wollen, den Selbstmorddrohungen Herrn Zipperers zum Trotze: ja, gerade so klug habe Herr Zipperer ausgesehen, er sei auch ein hervorragender Mann gewesen, so wohlgebildet an Geist wie an Körper – vielleicht sei er dem Herrn Doktor bekannt? – nun, und dann habe Herr Zipperer sich wirklich ein Leids angetan und in der Verzweiflung eine ganz unwürdige Ehe geschlossen, die ihn, wie vorauszusehen, ins tiefste Unglück gestürzt … Zum andern aber fühlte sich Fräulein Graff zu Empedokles hingezogen, weil Doktor Wendt ihr auf die Geschichte des armen Julius Emil Zipperer hin vom Ende des großen Arztes im Krater des Ätna erzählt hatte. So kam es, daß die gute alte Dame, obschon eingedenk ihrer Pflichten auch gegen die anderen Laren, dem berühmten Großgriechen die zärtlichste Sorgfalt widmete; wobei es dann einmal, vielleicht infolge allzu dichter Annäherung, fast sich ereignet hätte, daß Empedokles unter Aufgabe seines Gleichgewichtes in den noch immer leisglimmenden Ätna einer versäumten Liebe hinabgestürzt wäre.

Freilich, was war Empedokles, was war selbst Julius Emil Zipperer gegen Doktor Werner Wendt, ihren Doktor! Solch ernstschönen, wahrhaft männlichen Mann meinte sie noch niemals gesehen zu haben. Nur, daß ihr vor seiner unheimlich verschlossenen Stirne, unter dem Blick seiner grauen, tiefen Augen mitunter bange wurde. Er hatte solche Art, einen bis in die geheimsten Gedanken hinein anzusehen; dazu brütete es wie Gewitter über seinen unwirschen Brauen, und er sagte nichts, sondern strich sich nur den knisternden Bart aus der Kehle, daß er ganz böse und steil abstand. Aber daran mußte man sich gewöhnen. Er meinte es niemals schlimm, der Doktor, und Fräulein Graff glaubte sogar die Beobachtung gemacht zu haben, daß er zu solchen Gesichtern und Gebärden etwas ganz anderes dachte. Er sprach ja überhaupt nur wenig, oft ganz kurz und rauh abweisend, aber niemals unfreundlich. Fräulein Therese liebte den Klang seiner tiefen, leise grollenden Stimme, die doch so gut zu beschwichtigen, zu trösten, ja zu überreden verstand. Gegen seine Patienten war er fast mitteilsam, wenigstens von wohlwollender Beredsamkeit; nur im Hause, in seinem menschlichen Leben zeigte er grimmige Zurückhaltung. Der selige Firmian war gegen die Patienten mürrisch, beim Bärenwirt am Taroktische aber geschwätzig gewesen. Fräulein Graff hätte etwas darum gewagt, einmal so recht von Herzen krank und ihrem Doktor ausgeliefert zu sein. Aber es blieb bei ihrer Alterssichtigkeit. Und wer hätte dann im Hause nach dem Rechten gesehen, Jesus, Jesus! Eilig nahm sie ihren sündhaften Wunsch zurück.

Denn der Doktor gönnte ihr nicht allzuviel seiner Gesellschaft: hier wurzelte jenes vermessene Begehren, um seiner öfteren Nähe willen einmal von einer nicht allzu heftigen Grippe heimgesucht zu werden. Die Stunden seiner Muße waren ohnehin gezählt; die Praxis trieb ihn hin und her und beraubte ihn vollkommen der Herrschaft über seine Zeit. Aber wenigstens die seltenen Feierabende hätte er mit ihr hinter gutem starkem Kaffee, bei Tages- und Vergangenheitsgesprächen verbringen dürfen. Daß er ihr, der Verständnis Suchenden, damit eine Freude bereiten und sich selbst etwas Gutes antun könnte, schien ihm niemals beizufallen. Lieber brütete er oben über seinen dicken Büchern und verlas bei Lampenschein die kostbaren Vormitternachtsstunden, die er, der seiner Nächte ohnehin nie sicher war, doch so dringend zu gesunder Stärkung brauchte. Oder er saß einsam in der dämmernden Tiefe seines Wohnzimmers, vor sich das Notenpult mit den brennenden Kerzen, zwischen den Knien das singende Violoncell. Er spielte schön; wunderschön, wie er spielte. Fräulein Graff horchte, und die Zähren liefen ihr an der Nase herunter und fielen auf die hundertundfünfundneunzigste Seite von »Ridogar, der Fürst der Hölle, oder die Teufelsbeschwörung in der Geisterburg«. Herr Julius Emil Zipperer war ja auch musikalisch gewesen, gesungen hatte er, wunderschön gesungen, lauter klassische Musik, das Grab auf der Heide und das ergreifende Lied vom stillruhenden See. Herr Julius Emil Zipperer hatte eine herrliche Stimme besessen, genau so hatte sie geklungen wie die des Violoncells da oben, nur noch inniger, noch vibrierender, und bei reichlicheren Mitteln hätte Herr Zipperer sein Organ auch bestimmt für die Oper ausbilden lassen … Tränenden Auges legte die alte Dame die Handarbeit vor sich hin auf die Teufelsbeschwörung in der Geisterburg und verlor sich an ihre Erinnerungen, während droben das Cello seufzte und grollte und klagte wie ein ungestilltes Gespenst zwischen einsamen Mondscheinruinen.

Solche Musik kam allemal aus der Tiefe unheilbarer Herzwunden: Fräulein Therese wußte das genau. Des armen Zipperer Kunst war ja aus dem nämlichen ewigen Born am reinsten geflossen; vielleicht erging es dem guten Doktor ebenso wie ihm? Freilich, wer würde ihm auf die Dauer widerstehen können? Auf diese und verwandte Fragen verwendete Fräulein Graff sehr viel Zeit und Scharfsinn. Daß dieser seltene, treffliche Mann so vereinsamt dahinlebte, verursachte ihr aufrichtige Bekümmernis. Wenn je einer, so verdiente er eine engelsgute, kluge, liebreiche Frau; aber es schien, als ob er an allen Liebesgärten trotzig vorübergeeilt sei, stolz und verbissen, wie er nun einmal blieb. Nicht ein zartes Bild aus früherer Zeit schmückte seinen Schreibtisch; nirgends fand sich eine Spur, nirgends ein noch so schwacher Widerschein nachglimmender oder unterirdisch schwelender Feuer. Das machte, daß Fräulein Graff ihren Doktor wie von einem düsteren Geheimnis umdämmert, wie von irgendeinem rätselhaften und romantischen Fluche verklärt sah. Ein banges Schicksal schwebte über seinem Haupte: soviel stand sicher. Freilich ließ diese unheimliche Tatsache vielerlei Deutungen zu. Doktor Wendt war gerade bei guten und begehrenswerten Jahren; in jenem Alter stand er, da ausgereifte Männlichkeit und feste, geklärte Ruhe sich mit stet brennender Innigkeit am glücklichsten verbinden – so urteilte Fräulein Graff auf Grund ihrer Schätzungen. Der selige Firmian, an seinem Nachfolger verglichen eine wenig verführerische Erscheinung, hatte noch im vorgerückten Spätsommer eines lebhaften Zuspruchs sich erfreuen dürfen, und angehend seine eigene Unternehmungslust, so war diese von der grundsätzlich strengen Schwester häufig genug mißbilligt und als nachgerade unzeitgemäß gerügt worden. Aber ihrem Doktor hätte Fräulein Therese blindlings alles verziehen.

Wäre ihm nur etwas zu verzeihen gewesen! … Aber das alte Fräulein war einsichtig genug, der Aussichtslosigkeit dieses Wunsches bewußt zu bleiben. Seufzend strich sie mit der Hand über ihr schwarzes Häubchen. Soweit es ihr eigenes war, trug das Haar da und dort nur mehr blaßgoldene Spuren der einstigen Farbe. Aus einem vergriffenen Album holte Fräulein Therese eine längst verjährte Photographie hervor, die sie in der mailichen Blüte ihres Frühlings zeigte. Nach jenem ersten Balle, auf dem sie so viel Aufsehens erregt, war dies Bild aufgenommen worden. Anmutig breitausladende Röcke hatte man damals getragen, und der ihre war aus zartestem Mull gewesen, und kein Geringerer als der junge Rechtsanwalt Hartlmayr hatte sich den ganzen Abend hindurch eifersüchtig um sie bemüht. Aber auch zur Zeit des Herrn Julius Emil Zipperer stand sie noch im schönsten Sommerflor, wie das folgende Bild es unwiderleglich bewies. Ja, wenn das Bewundern einstiger Pracht verjüngte – oder wenigstens versöhnte! Aber es macht das Herz bitter, die Augen heiß: und ein glitzernd Tröpflein Seelentau fiel diesmal auf das kleine Plüschmedaillon im Einband des entsagungsvoll geschlossenen Albums.

Diese Erleichterung brachte tröstliche Gedanken. Ein Baum des Paradieses konnte ihr noch immer blühen, vielleicht sogar Frucht tragen. Mutter kann auch sein, der Liebesglück und eigene Kinder versagt geblieben. So mochten all die in der Knospe vertrockneten Blumen doch wenigstens einen armen späten Spinnwebsommer feiern. Und Mütter haben ein Anrecht auf das Vertrauen ihrer Söhne.

Allein der Anfang fiel schwer, und diesbezüglich kam Fräulein Graff nicht weit über diesen Anfang hinaus.

Mehrere Wochen hindurch hatte sie Mut gesammelt und den Angriff von einer Gelegenheit auf die andere verschoben. Aber endlich, an einem Nachmittage, da Doktor Wendt besonders gnädiger Laune zu sein schien, erspähte Fräulein Graff eine Schwäche und eröffnete daraufhin ihren mütterlichen Feldzug.

»Ja, eine andere als wie ich müßt den Kaffee auftragen und eingießen,« sagte sie schalkhaft; »da möcht er dem Herrn Doktor noch einmal so gut schmecken.«

»Wer?« fragte Wendt drohend.

»Eine, die fünfzehn oder gleich zwanzig Jahr jünger ist als wie ich,« erklärte Fräulein Therese tapfer und nicht ganz wahrheitsgemäß.

Statt aller Antwort, griff der Doktor nach dem Puls der nur matt Widerstrebenden.

»Vierundsiebzig,« stellte er fest; »also muß es wo anders fehlen.«

Fräulein Graff blieb beherzt.

»Gar nirgends fehlt's bei mir. Aber beim Herrn Doktor fehlt's irgendwo. Heiraten müßt der Herr Doktor, das denk ich mir immer. Der Herr Doktor müßt ein Frauerl haben, so ein gutes, gescheites Frauerl, gibt genug liebe Mäderln auf der Welt.«

Wendt lachte grimmig in seinen Bart.

»Schon zu alt, Fräulein Therese, rostiges Eisen glänzt nicht.«

»Und das sagt der Herr Doktor, wo er grad in die besten Tag erst kommt,« eiferte die alte Dame; »auf die ganz jungen, ja, da ist kein Verlaß – aber ein Mann wie der Herr Doktor …«

Jetzt schnitt Wendt ernstlich ab. »Unsinn!«

Fräulein Therese erschrak und verwickelte sich.

»Aber, Herr Doktor, ich hab den Herrn Doktor doch nicht beleidigen wollen, um nichts in der Welt nicht, ich hab doch nur so gemeint, so zum Spaß nur, wenn einmal so ein junges hübsches Bild da auf dem Tisch stehen möcht, hab ich mir gedacht, und dann ist an einem schönen Tag das wirkliche Bild da als dem Herrn Doktor sein Frauerl, und wer wird denn auf den Herrn Doktor achtgeben, wenn ich nicht mehr bin?«

»Unsinn, Fräulein Theres,« sagte Wendt noch böser; »alles Unsinn. Ich habe an anderes zu denken als an solche Geschichten. Und jetzt will ich meine Ruhe.«

Vor dieser Deutlichkeit trat das alte Fräulein geschlagen den Rückzug an.

Selbstloses Wohlwollen also mit Härte vergolten zu haben, schien den Doktor aber doch zu wurmen; noch am selben Abende brachte er etwas wie Entschuldigungen und Gründe vor.

»Sehen Sie, Fräulein Theres, der Beruf leidet's einmal nicht. Wer seines Berufes voll ist, der soll sich alles andere nur zeitig aus dem Kopf schlagen. Sonst gehört er nicht der Frau und nicht dem Beruf und ist auf beiden Seiten unglücklich. Ein guter Arzt ist für alle Menschen da, zu allerletzt aber für sich selber.«

»Der Herr Doktor nimmt's zu genau mit der Pflicht,« meinte Fräulein Graff; »ein bissel was ist der Mensch doch auch sich selber schuldig. Wenn ich denk, der selige Firmian.«

Wendt schüttelte den ernsten Kopf.

»Ihren seligen Herrn Bruder in allen Ehren, aber der geht mich gar nichts an, den halte ich für kein Muster. Und was man sich selbst zu allererst schuldig ist, das ist ein gutes Gewissen. Und wer es mit seiner Pflicht und Verantwortung und mit seinem Können nicht genau nimmt und nicht zu jeder Stund auf der Wacht steht, der hat überhaupt kein Recht auf Leben.«

»Eben darum,« bewies Fräulein Graff; »eben darum mein ich, wenn der Herr Doktor ein liebes Frauerl hätt und vielleicht Kinderln auch noch, das wär so eine Abwechslung, eine Auffrischung, das braucht doch jeder Mann zu seinem Beruf, das bringt ihn auf andere Gedanken.«

Wendt lachte auf.

»Und wenn sich Ihr liebes Frauerl als giftiger Drachen oder Putzmamsell auswachst? Daß einem noch die paar Stunden Ruhe verloren gehen? Für die Auffrischung dank ich.«

»Aber es muß ja nicht eine solche sein. Es gibt ja so brave und gescheite Mäderln auf der Welt, und das wäre für den Herrn Doktor doch eine rechte Stütze.«

Wendt strich sich den knisternden Bart.

»Das weiß man nie, was hinter dem Brautschleier herauskommt.« Er hob sich den goldgefaßten Kneifer von den Augen, die nun plötzlich ganz mild und müde sahen. »Und wenn es wirklich würde, wie Sie es da anpreisen? Und es wird einem die Frau krank oder das Kind, und man weiß, es geht auf Leben und Tod, und mit dem Gedanken im Kopf und der Angst im Herzen soll man einem anderen seine Zeit verlängern, einen gespaltenen Sanktrainer Bauernschädel zusammenleimen, oder eine Querlage ausrichten und abwarten, daß etwas Lebendiges auf die Welt kommt und die Mutter erhalten bleibt … Und man versieht es in der Angst und Eile, und die eigene Frau wird gesund und der Patient stirbt? Oder man tut seine Pflicht, und derweilen stirbt zu Hause die Frau oder das Kind? … Der Schatten über das ganze Leben! … Und hat man eigene Kinder, die Verantwortung gegen ihre Mutter! … Nein, nein, Fräulein Theres. Wer seine Gedanken zusammenhalten will für seinen Beruf, der muß einschichtig bleiben. Damit bin ich längst fertig geworden.«

Das alte Fräulein holte die letzten Einwände hervor.

»Der Herr Doktor könnt sich ja wieder in einer großen Stadt niederlassen, wo doch immer Aushilf bei der Hand ist … So schrecklich leid es mir wär, Jesus, Jesus! … Oder der Herr Doktor könnt auch eine heiraten, die recht viel mitbringt, daß er's überhaupt nicht mehr nötig hat.«

Diesmal lachte Wendt fast herzlich und ergötzt.

»Liebes Fräulein Theres! … Und was für einen Mann die Hauptsache bleibt, der Beruf, die Arbeit, die Arbeit am Leben und an der Welt! Das laßt man so dreingehen? … Und dazu bin ich gekommen, um wieder zu gehen und mich zu verlieren?« Er stand auf und reichte der alten Dame gutmütig die Hand. »Sehen Sie, solange ich Sie habe, Fräulein Theres, solange fühle ich mich glücklich und sorglos verheiratet, und soviel auf meine ärztliche Pflege ankommt, werden Sie mich rüstig überleben.«

Mit solchem Balsam verschloß Wendt, der Heilkünstler, die brennende Wunde, die er selbst geschlagen.

* * *

Nur für das eigene Mal wußte er kein Wunderkräutlein, kein beizendes Ätzsalz, wie solches ihm, seiner eigenen Meinung nach, am besten gefrommt hätte. Das Kaustikum des Spottes brannte nur und verriet die schmerzhafte Stelle, aber das verdächtige Gift sog es nicht aus dem Blut. Das ging um wie Taufrühling in den Adern der Berge, daß sie zu pochen und zu pulsen anheben und bersten und aus offenen Wunden sich zum Lichte ausströmen.

Denn gerade nur die halbe Wahrheit hatte Wendt seiner mütterlichen Beraterin gezeigt, nur ihre Frostseite, nur die Gegengründe, mit denen er sich selbst belagerte und verteidigte und vom Verstande her die Angriffe aus der Tiefe unerbittlich zurückwarf. Darum auch hatte er die Vorschläge der alten Dame zuerst gröblich von sich gewiesen; sie trafen auf einen bloßen Nerv, auf eine schwache Stellung, sie ließen Verrat befürchten. Und, was das Schlimmste war, sie trafen vielleicht das Richtige.

Solch ein Bildnis wäre ja nun freilich auf den öden Schreibtisch zu stellen gewesen. Und dessen bedurfte es nicht einmal, denn er trug es überall mit sich herum, wenngleich er es beinahe stündlich zerbrach. Allein den Spiegel vermochte er nicht zu zertrümmern, der das Bild immer aufs neue empfing, und die, von der es ausstrahlte, konnte er gleichfalls nicht verlöschen, und so kam die geheime Entscheidungsschlacht in seinem Inneren nicht zur Stille.

Was Fräulein Graff in ihrer ahnungsvollen Einfalt ihm angepriesen, das hatte er selbst sich schon zu ungezählten Malen vorgerechnet, Segen, Licht und Ruhe der eigenen Häuslichkeit, verständnisvolle Teilnahme, endgültige Sicherung und Erfüllung des Daseins, aufhellende Freuden, entrückte Stunden jenseits der Zeit. Allein damit kam Werner Wendt nicht zu Rande. Er verließ sich nicht auf Schätzungen, er war ein grübelnder und argwöhnischer Rechner, und vor allem hegte er Mißtrauen gegen seinen eigenen Wert, da er seine Schwere noch niemals auf der Wage eines anderen Lebens hatte prüfen können. Gewohnt an einsame Unabhängigkeit und manche rauhe Freiheit seines Standes, spröde und wenig äußerungsbedürftig, ein unliebenswürdiger Sonderling, wofür er selbst sich hielt, hätte er leicht einen lächerlichen Freier und einen ungattlichen Ehemann abgegeben, seinem eigenen Bedünken nach; entweder er wäre der Tyrann oder der Schalk seiner Frau geworden, – einer Frau, die in anderer Verbindung gut und glücklich geraten mochte. Er ahnte eine gefährliche Zartheit unter seiner rauhen Art und fürchtete sie; er wußte um die Dornen und Brennstacheln seines Wesens und fürchtete auch diese. Er wagte es nicht, ein kostbares junges Leben in sich aufzunehmen; er sah die Härte seiner Aufgaben und scheute die Verantwortung, sie auch einem anderen zum Schicksale werden zu lassen; er sah die Größe seiner Aufgaben und argwöhnte eine Schwächung durch Rücksicht oder Glück. Und unter allen diesen Bedenken brannte die Sehnsucht fort, heftiger jetzt als in jungen Jahren. Er sah sich heimkehren von seinen Bergwegen, eintreten in eine Enge voll Lampenstille, Abendwärme und Friede; er träumte sich umgeben von schweigendem Verständnis, er fühlte sich lächeln zu zwitschernden Kinderfragen; er spürte sich wohltätig gebannt an einen Pol der Ruhe und des täglich sich erneuenden Lichtes. Und dann überschrak ihn doch wieder ein geheimes Grauen, sein rachsüchtiges Mißtrauen erwachte von neuem und zeichnete düstere Spukschatten in die Zukunft hinaus, daß die verführerischen Bilder darunter verloschen.

Werner Wendt hatte auf seinen Wegen in den Abgrund so manchen Lebens hinabgeblickt; manche uralte Tiefe, manche unauslotbare Wunde hatte sich vor seinen Augen aufgetan. Und er selbst war aus den Schlachten da draußen nicht ganz unverletzt heimgekehrt; zweimal war er getroffen worden, von Selbstvorwürfen mehr als von wirklichen Erschütterungen, aber doch schlimm genug, daß von diesen Malen verhärtende Narben zurückblieben. Die selbstlose Neigung des jungen Studenten zu einem entehrten Mädchen, das sich dann durch treulosen Undank noch weit tiefer entehrte als früher durch seine ehelose Mutterschaft, das er nicht auf der geraden Bahn zu erhalten vermochte und wenige Jahre später im berüchtigten Saale 15 a des städtischen Krankenhauses wiederfand; die ehrliche, bescheidene Liebe zur Tochter seines hochverehrten Meisters, die sich dann doch blindlings für den Nebenbuhler entschied, für den hohlen, bestechenden, glatten und lasterhaften Liebling der Gesellschaft, den Frauenarzt und Scharlatan: – das waren die beiden einfachen Verirrungen, die Fehlrechnungen seines Lebens gewesen, an sich noch lange nicht Erfahrungen, durch die man hätte zu Haß und Weltgroll gelangen müssen, aber zu warnender Beweiskraft ergänzt und gesteigert durch die Bekenntnisse ungezählter anderer, Verlorener, Verderbter, Verdammter und Verratener. Es war ein Schritt ins Dunkle, die Ehe; jede Ehe; auch die unter allen Bürgschaften des Glückes geschlossene. Es war ein Schritt ins eigene Dunkel; ein Weg über unerforschten Triebsand, Sumpf oder Gletscher.

Und hoch über all diesen kleinen menschlichen Zweifeln stand die strenge Pflicht. Ihr mußte er sich erhalten, rein, stark, hell und wach. Dem Berufe gehörte er nun einmal; er durfte sich nicht aufteilen und schwächen. Erfüllung dessen, wozu man sich berufen weiß, ist wichtiger als die Erfüllung heimlicher, treibender Wünsche. Sich selbst restlos auf die Arbeit verbrauchen, der man sich verpflichtet und gewachsen fühlt, das allein ist Zweck, der befriedigen und trösten und rechtfertigen kann. Alles übrige ist Augenblick und Schein. Nein: er durfte nicht auf die Stimmen aus der Tiefe hören; es waren die Stimmen der Verführer, die es nicht lieben, einen auf sturmkahlen Höhen in sein Licht emporsteigen zu sehen.

Die gute Alte mit ihrem kupplerischen Vettelschwatz war schuld an solchen Gedanken; es ist immer die nämliche Alte in tausend Verkleidungen und Masken. Und dann dieser verdächtige Heilige, der junge Pfaffe – um seinetwillen hatte Wendt ein leises bitteres Brennen unter seinen Narben verspürt, ein dumpfes Warnen irgendwo im Blute, das Aufglimmen einer seltsam befangenen, nicht ganz ehrlichen und irgendwie mittelbaren Abneigung. Aber das war vorüber und überwunden; er hatte den jungen Geistlichen schätzen gelernt, einen Blick in sein Innerstes getan und nichts gefunden als reines, zaghaft sich entknospendes Menschentum. Und die Alte sollte ihm nicht noch einmal kommen mit ihrem verschlagenen Wohlwollen; es war doch nichts anderes als die unbewußte Tücke der Weibsschlange, die des einsamen Mannes Stärke haßt und um das Geheimnis seiner Kraft buhlt.

Wendt rieb sich die ermüdeten Augen. Dann griff er sich einen Band aus den goldglitzernden Bücherreihen und las darin bis tief in die schwellende Frühlingsnacht.

* * *

Der Dechant saß gerade über einer wichtigen Arbeit, einem Aufsatze für das von ihm ständig mit Beiträgen beschickte Blatt, als ihm der Besuch des Kaplans von Unzing gemeldet wurde. Er legte die Feder augenblicklich beiseite und trat dem jungen Kollegen bewillkommnend entgegen.

»Das ist aber eine liebe Überraschung, Herr Doktor Siebenschein. Legen Sie doch, bitte, ab. Wie geht es unserem verehrten Amtsbruder? Immer wohlauf, immer tätig? … Nun, also! … Und Sie selbst? Haben Sie sich in das schöne Unzing schon hineingefunden? … Stören? Nicht die Spur. Ein kleiner Aufsatz, sehen Sie, für unser Blatt. Nichts weiter. Ich bin ein alter Mitarbeiter – Sie haben vielleicht schon dann und wann etwas aus meiner Feder gelesen? Nun ja, man erhält sich auf solche Art wenigstens geistig frisch … Aber nehmen Sie doch Platz, Herr Doktor Siebenschein. Was bringt Sie nach Sanktrain? … Übrigens, was darf ich Ihnen anbieten? Ein Glas Wein? Sind Sie Raucher? Hier sind Zigarren, mild, alt und abgelagert – wie Ihre gute Petronilla daheim. Ei ja, die Mali, ich meine das Fräulein Amalie, das ist schon eine stärkere Sorte! … Nein, Nichtraucher? … Oder einen Kaffee, ganz frisch und ganz echt? … Auch nicht? … Sie sind ja ein Heiliger – oder ein ganz, ganz heimlicher Sünder, hm? … Ich habe da einen uralten Ehrenmalaga im Wandschrank. Was meinen Sie, hm? … Das kann Ihnen doch nicht schaden!«

Und Dechant Hetz winkte mit der schwarzblitzenden Flasche verführerisch herüber, in der anderen Hand schon die geschliffenen Gläschen.

»Es ist mir ja nicht geradezu untersagt,« zögerte Benedikt.

»So sagt man dem Teufel ja,« lachte der Pfarrdechant befriedigt, während er den honigfarbenen Südwein in die Gläser laufen ließ. »Ihr Wohl, Herr Doktor Siebenschein – und willkommen in Sanktrain. Sehen Sie, so habe ich auch eine Ausrede … Aber wie meinten Sie soeben? … Sie stehen doch nicht etwa in ärztlicher Behandlung?«

»Eben komme ich von der Konsultation,« gestand Benedikt.

Der Dechant setzte sein Glas hin.

»Sie waren drüben bei Herrn Doktor Wendt?« fragte er.

Benedikt holte Atem, den das milde Feuer des ungewohnten Trankes ihm benommen.

»Ja,« sagte er aufrichtig; »ist er nicht tüchtig?«

»Über sein fachliches Können steht mir kein Urteil zu,« versetzte der Dechant.

Siebenschein zuckte die Achseln.

»Auch ich kenne ihn nicht. Das heißt – –. Aber er ist doch der nächste Arzt. Und einige Leute loben ihn sehr. Erst kürzlich hat er die Rießbäuerin – im Unzinger Kirchdorf – in überraschend kurzer Zeit hergestellt. Es war ein böser Fall – schwere Brandwunden am Arme und übers halbe Gesicht. Und dann, die jüngere Tochter unseres Lehrers, Fräulein Verena Kathrein – die hat er geradezu vom Tode errettet.«

Dechant Hetz hörte aufmerksam und höflich zu.

»So, so,« nickte er, und in seiner Stimme schwebte ein deutlich vernehmbarer Unterton herzlicher Teilnahme; »das ist erfreulich zu hören.« Er rieb sich die schlanken, starken, gutgepflegten Hände. »Das freut mich aufrichtig. Es ist doch für mich sehr angenehm, einen verläßlichen Arzt am Orte zu wissen. Ich hätte Ihnen sonst empfohlen, Herrn Doktor Dreythaller im Städtchen drunten ins Vertrauen zu ziehen. Eine sehr gediegene Kraft, der Herr Doktor Dreythaller.«

»Es ist ja keine Sache von Belang,« sagte Siebenschein; »ein bißchen Schlaflosigkeit, Herzklopfen, kurzer Atem – vielleicht auch nur Einbildung. Es ist nur, um meinem Berufe besser nachkommen zu können. Die steilen Wege fallen mir etwas beschwerlich, eine gewisse Schwäche – – aber der Doktor meint, das gäbe sich mit den Jahren …«

Der Dechant machte eine beruhigend wegwerfende Gebärde. »Aber gewiß, gewiß. Das ist die Jugend, durch Schule und Stube zurückgehaltene Entwicklung, und so weiter. Uns allen ergeht es ähnlich. Wir müssen erst in Gang und Wärme kommen, das strengt an … Und Fräulein Kathrein ist wieder ganz hergestellt? … Kleine Nachwehen, freilich; noch immer recht schonungsbedürftig … Sie verkehren wohl viel in der Familie?«

Siebenschein fühlte sich erröten, und dieses Bewußtsein trieb ihm erst recht alle Hitze ins Gesicht.

»Ich gehe mitunter hin,« bekannte er; »bisweilen treiben wir miteinander Musik, der Herr Lehrer und ich.«

Der Dechant lachte ihm freundschaftlich und ermutigend zu. »Das ist recht, das ist recht. Ganz recht haben Sie. Das kann Ihnen niemand verdenken, in Ihrem einsamen Unzing!« Er klopfte dem Jüngeren vertraulich auf die Schulter. »Aber, aber, das wäre ja doch – um alles in der Welt willen, das wäre ja doch« – er schlug sich leicht vor die Stirne – »Engherzigkeit! Das wäre ja – wie soll ich's nennen? – geradezu« – er hob entrüstet die Achseln – »Erstickungstod, Hungertod, Mord!« Er ließ die beiden Fäuste auf den Tisch fallen und sah Benedikt fast vorwurfsvoll auf die Stirne. Dann strich er mit seiner Hand beschwichtigend über den Arm des jungen Gastes; sein Blick war eindringlich und voll heller Wärme, seine Stimme sank zu vertraulichem Flüsterton herab. »Sehen Sie, ehrlich gestanden, das ist mir schon einige Male durch den Kopf gegangen: wie kann dieser junge Herr, feingebildet, durch auserlesenen Umgang verwöhnt, ein Mann von durchgebildetem Geschmack und bedeutenden Anlagen« – er zählte jeden dieser Vorzüge wie in einem abgerundeten Satze mit besonderer Betonung auf und begleitete seine Worte mit raschen, ausdrucksvollen, freigebigen Handbewegungen – »bitte, wollen Sie mich ausreden lassen – wie kann, habe ich mich schon des öfteren gefragt, solch ein junger Mann es auf die Dauer aushalten – in einem einsamen Gebirgsneste wie Unzing! … Ja, natürlich, die Pflicht, der Beruf, gewiß, gewiß, alles sehr schön – seinen Posten muß man versehen, ob heiß oder kalt, ich bin der letzte, der den erzieherischen Wert strengen Gehorsams in Frage stellt … Immerhin … Ja, gewiß, Sie würden es auch in der Wüste aushalten, dort vielleicht besser, da ist man wenigstens wirklich allein, aber nicht einsam … Nicht wahr, wir verstehen uns? Und Ihre Studien, Ihre Musik, das will schließlich doch auch irgendwo und irgendwie ein Echo finden, eine Art Schallboden … Das ist nun schon des Menschen Bedürfnis. Man gibt und empfängt, Tausch und Reibung sind uns unentbehrlich … Und kann die Aufgabe durch stärkenden Verkehr irgendwie erleichtert werden, um so besser … Eine gewisse Zucht ist ja dem Menschen sehr heilsam, das wissen wir, nicht wahr – aber für den wertvollen Menschen, der für und unter Menschen wirken will, ist es doch auch wichtig, sich geschmeidig und warm zu erhalten … In dieser Beziehung wird vielleicht mancher Fehler begangen, ich gestehe es offen … Und darum, lieber Herr Doktor Siebenschein, bin ich froh für Sie, daß Sie einen wenn auch bescheidenen aber doch ansprechenden Umgang gefunden haben, wirklich froh! … Denn, nicht wahr, das war mir doch von vornherein klar, daß Sie das Leben um Sie her mit ganz anderen Maßen und Gewichten werten als die meisten Ihrer jungen Amtsbrüder. Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen das so offen ins Gesicht sage. Darum hatte ich auch, wenn ich schon aufrichtig sein soll, anfänglich meine stillen Bedenken – anfänglich!« Der Dechant kniff die Augen zu und warnte mit der Hand in der Luft herum. »Denn sehen Sie, diese Ansicht vertrete ich immer und ungescheut, werde sie auch nächstens einmal in einer längeren Arbeit niederlegen und begründen – daß« – er betonte die Worte schwer und pochte sie mit dem Finger einzeln in den Tisch – »unbeschadet Disziplin und Gleichheit vor dem Vorgesetzten, jeder Mensch sein Bestes, sein Wertvollstes, sein Eigentlichstes und Eigenstes doch nur unter den ihm zusagenden Bedingungen und an seinem Platze, vor seiner eigenen Aufgabe, auf seinem Boden, möchte ich sagen, zu leisten vermag. Und aus vielen Höchstleistungen gut ausgenutzter Einheiten setzt sich dann eine Gesamtleistung zusammen, die an Wert fürs Ganze die aus unzähligen schematisch erzwungenen Durchschnittsleistungen erwachsende Leistungssumme beträchtlich übertrifft … Das nur so nebenbei.«

Der Dechant brach ab und füllte die Gläser von neuem; mit kurzem, knapp zuwinkendem Seitenblicke bekräftigte er noch einmal die soeben vorgetragene Überzeugung.

Benedikt, nahezu hingerissen von inniger Bewunderung, gab sich ganz an den Genuß hin, Rede und Gebärden dieses schönen, lebhaften Mannes aufmerksam zu verfolgen. Unter all den fremden, neuen, verwirrenden Menschen, zwischen denen er sich wohl oder übel zurechtfinden mußte, war ihm, der damals vielleicht selbst unterm Schatten einer trübenden Stimmung gestanden, der Pfarrdechant nicht so blendend aufgefallen; auch hatte er sich an jenem Tage nicht so frei und herzlich gegeben, und überdies war er durch die hohe, kühne Erscheinung des Abtes noch verdunkelt worden. Nun aber gewann Siebenschein ein ganz anderes Bild; das war Geist vom Geiste seines Bischofs, das war Umsicht nach dem Herzen des weitblickenden Protonotarius. Benedikt fühlte sich erleichtert und gleichzeitig von leiser Bitterkeit befallen; zu vorteilhaft stach dieser gewandte, leichtflüssige Mann von seinem eigenen Vorgesetzten ab, dem zähen, mißtrauischen Alten. Immerhin, nun wußte er wenigstens einen wohlwollenden und verstehenden Berater in erreichbarer Nähe. Selbst der fürsterzbischöflichen Kurie hätte Pfarrdechant Hetz zum Schmucke gereicht, gestand sich Siebenschein; seltsam genug, daß dieser gewiß seltene Priester nicht zu höheren Würden gelangt war. Denn der Dechant mochte bei guten Jahren sein; im kurzen dichten Haare dämmerte schon da und dort zarter Silberschein, das schmale, feingeschnittene Gesicht wies bei aller Frische leichte Spuren des Herbstes, nicht des Verfalles, sondern der rüstigen Reife. Jedenfalls wußte der Bischof recht wohl, weshalb er solche Männer im ländlichen Wirkungskreise beließ, und mit dem, was der Dechant eben ausgeführt, hatte es sicherlich seine volle, bewährte Richtigkeit.

Genüßlich erhob er sein Glas. »Ihr Wohl, Herr Doktor Siebenschein. Ja, was ich eigentlich sagen wollte … um auf diesen Doktor Wendt zurückzukommen … Ich möchte Ihre eigene Meinung, die Sie sich jedenfalls bilden werden – oder schon gebildet haben – natürlich nicht beeinflussen, nicht wahr. Aber als der Ältere von uns beiden, und als der schließlich doch wohl Erfahrenere, Sie nehmen mir das nicht übel, nicht wahr, habe ich das Freundesrecht – und als Ihr Dechant habe ich sogar die einfache Pflicht, Sie zu warnen – – natürlich unbeschadet Ihrer eigenen Meinung, ich wiederhole es, die ja, das will ich gar nicht unbedingt in Abrede stellen, möglicherweise die richtigere ist … Sie haben es neulich vielleicht gehört, wie ich mich über die peinliche Sache äußern mußte. Ich bin daran wahrhaftig nicht schuld, das können Sie mir glauben. Aber Herr Doktor Wendt hat sich zu Äußerungen hinreißen lassen, die eigentlich – eigentlich jeden Verkehr zwischen ihm und einem Vertreter unseres Standes vollkommen ausschließen – unmöglich machen – ja, genau genommen, Gegenstand eines strafgerichtlichen Verfahrens bilden müßten. Religionsverspottung und so weiter! … Das ist doch etwas stark; als ob dieser Herr nur eigens zu diesem Zwecke sich hier niedergelassen hätte … Und nun, bedenken Sie die Wirkung, in unserer Zeit … Aber ich halte es für richtig, so lange als nur möglich schweigende Langmut zu üben … Es ist nicht gut, wenn Schaum geschlagen wird, Sie verstehen, nicht wahr. Und ich darf zögern, denn Glaube und Anhänglichkeit unserer Leute sind so leicht nicht zu erschüttern. Eher richtet sich dieser Herr Doktor an ihrer Festigkeit zugrunde. Das täte mir ja auch leid – ein tüchtiger Arzt, wie Sie es mir neuerdings bestätigen – und eben daran liegt mir viel, daß unsere Gegend in dieser Beziehung wirklich gut versorgt ist. Aber ein Verständnis ist da nicht zu erhoffen; ich habe es aufgeben müssen, von diesem Herrn Einsicht oder Umkehr zu erwarten. Erst kürzlich wieder – – aber davon haben Sie vielleicht gar nichts gehört?«

Siebenschein horchte auf.

»Ich weiß nicht, um was es sich handelt.«

Der Dechant rückte näher an den Tisch heran.

»Ich wünsche nämlich nicht, daß die Sache übermäßig viel besprochen wird. Es tut kein Gutes, und in der jetzigen Zeit … Spott und Hohn, Mißdeutungen, Unterschiebungen! … Sie wissen ja, wie schnell gewisse Herren mit derartigen Waffen bei der Hand sind … Es soll also nicht geradezu öffentlich werden, ich habe es nach Kräften zu verhindern gesucht. Das heißt, je nach Befund und Weisung Seiner Eminenz … Ich werde Seiner Eminenz den Fall vorlegen – selbstverständlich … Es hat sich nämlich da oben in unseren Bergen so etwas wie ein Wunder ereignet.«

»Also wirklich?« fragte Siebenschein ehrfürchtig.

»Sie wissen bereits davon? Sehen Sie, es ist nichts zu machen. Unterm Siegel der Verschwiegenheit wird die Sache in wenigen Stunden öffentlich … Ja, also, ein Wunder, und zwar kein Heilungswunder, sondern – – aber ich war nicht zugegen, bitte! Ich bin erst später davon verständigt worden, wäre auch, wie Sie sogleich einsehen werden, gar nicht abkömmlich gewesen … Ich berufe mich nur auf das Zeugnis einiger, allerdings sehr glaubwürdiger Augenzeugen …«

Hetz strich mit der gepflegten Hand bedächtig glättend über die Tischdecke, während sein wie abwesender Blick das Spiel seiner Finger verfolgte.

»Das Wunder einer Stigmatisierung,« sprach er deutlich und gedämpft. »Einer Stigmatisierung.«

Dann sah er plötzlich wieder zu seinem Gaste auf, gespannt, eindringlich. Und seine Finger klopften einen abwartenden Rhythmus auf den Tischteppich.

»Das ist allerdings außerordentlich,« gab Siebenschein zu; »und wann soll dies geschehen sein?«

»Am Karfreitag.«

»In hiesiger Pfarre?«

Der Pfarrdechant senkte gewichtig den Kopf.

»In der Sanktrainer Pfarre, hoch oben in den Bergen, in einem einsamen Hause. Die Stigmatisierte ist ein siebzehnjähriges Mädchen, Tochter einer armen Witwe, einer Frau, die im Rufe großer Frömmigkeit steht. Nicht mit Unrecht, wie ich gleich hinzufügen will. Das Volk verehrt sie fast wie eine Heilige.«

Benedikt nickte.

»Ich glaube von ihr gehört zu haben. Sie genießt einer gewissen Berühmtheit als Gesundbeterin?«

Hetz lächelte nachsichtig.

»Gesundbeterin oder nicht … Tatsache ist – oder Tatsache soll sein, daß das Kind während der Fastenzeit so gut wie keine Nahrung zu sich genommen hat … Daß es dann am Karfreitage gegen Mittag in einen schlafähnlichen Krampfzustand verfiel – nennen wir es vorläufig so, obgleich es wohl nicht der treffende Ausdruck sein dürfte – also in einen Schlafkrampf oder Krampfschlaf verfiel, der sich schließlich so weit steigerte – –«

Der Pfarrdechant brach ab und begann von neuem.

»Ich bin nicht zugegen gewesen, ich wiederhole es. Ich berichte hier nur Mitteilungen anderer. Die ich natürlich sofort zu Protokoll genommen habe; Sie können das Schriftstück einsehen, die Aussagen stimmen fast wortgenau miteinander überein … Der Mutter wurde nämlich der Zustand des Mädchens nachgerade unheimlich, deshalb rief sie die Nachbarn. Und vor deren Augen ereignete sich nun das Wunder …«

Hetz stockte, als glaubte er mit einem Male etwas verschweigen zu sollen.

»Das Wunder,« wiederholte Benedikt gespannt und andächtig.

»Ja, das Wunder. An Stelle des Krampfes trat Verzückung – ich übergehe Einzelheiten, die noch näherer Prüfung bedürfen. Kurz, das Mädchen empfing die fünf Wundmale; dann versank es in einen ohnmachtähnlichen Schlaf, der bis zum Sonntagmorgen währte …«

Benedikt schwieg eine Weile. Dann seufzte er.

»Wie eine süße alte Legende hört sich das an. Wie ein Heiligenleben aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert … Wie heißt das Mädchen?«

»Regula,« sagte der Dechant bereitwillig; »Regula Schwandtner. Der Vater war Holzknecht, kein geborener Sanktrainer; er ist vor vielen Jahren schon verunglückt, das Mädchen war damals noch nicht geboren, erst einige Wochen später ist es zur Welt gekommen. Auch die Mutter, Emmerenzia Schwandtner, stammt nicht aus unserer Gegend. Sie hat dann aus eigenen und ihres Mannes kleinen Ersparnissen das einsame Anwesen gekauft – –«

Siebenschein hörte kaum zu; versonnen lächelte er vor sich hin.

»Die heilige Regula von Sanktrain,« sagte er gerührt; »in tausend Jahren könnte das ganz anders klingen. Dann sind wir Zeitgenossen gewesen, und unter alten vergessenen Büchern findet ein Gelehrter die Benedicti vita Regulae …«

Der Pfarrdechant lachte.

»Aus Ihnen spricht der Künstler.«

Benedikt erwachte. »Es ist nur so seltsam, längst versunkene Zeit plötzlich selbst zu erleben … Und die Bevölkerung? Das Ereignis muß doch gewaltiges Aufsehen gemacht haben.«

Der Dechant nickte.

»Leider! Leider! Das ist es eben. Die Sache sprach sich unaufhaltsam herum. Können Sie sich denken! … Ich selbst erfuhr unglücklicherweise erst am folgenden Tage davon, und da war es zu spät. Ich habe ja sofort tiefstes Schweigen anbefohlen, aber wie die Menschen nun schon einmal sind … Am liebsten hätte ich alles an Ort und Stelle unterdrückt. Verstehen Sie mich recht. Daß das Volk an solch einem Geschehnis regsten Anteil nimmt, ist ja nur zu erklärlich, ist auch nicht zu tadeln; bedenklich wäre höchstens das Gegenteil. Aber die Geschichte hätte sozusagen Volksgeheimnis bleiben sollen – einige Eingeweihte unseres Standes ausgenommen, selbstverständlich! Die Leute hätten die Kunde als kostbaren Schatz für sich behalten müssen. So aber kann es nicht fehlen, daß die Neuigkeit unter gehässige Zungen gerät, die mit böswilligen Entstellungen und Fälschungen und Auslegungen nicht säumen werden. Dieser Doktor Wendt da zum Beispiel. Ich komme immer wieder auf ihn zurück. Auf irgendeine Weise, durch einen seiner Patienten wahrscheinlich, ist der Fall ihm zu Wissen gekommen. Das Weitere können Sie selbst erraten. Wir selbst wissen ja auch, nicht wahr, daß, ich möchte sagen, der eigentliche Empfänger des Wunders die Seele ist und nicht der Körper – Sie pflichten mir darin gewiß bei – und daß diese den empfangenen Eindruck an den Körper gleichsam weitergibt, am Körper Spiegelbilder ihres eigenen Zustandes erscheinen läßt … Dem Volke das zu erklären, ist, wie Sie mir ohne weiteres zugeben werden, unmöglich; ist auch überflüssig, wäre sogar schädlich! … Denn das Volk begreift nur das Sinnfällige, das äußere Zeichen … Dieser Doktor Wendt aber möchte das Unbegreifliche einfach nach der Schablone einer beschränkten Wissenschaft erklären. Schwindel oder Krankheit, für ihn gibt es nur diese beiden Begriffe. Schwindel oder Krankheit, so hat er ganz offen erklärt … Welche Aufnahme solche Meinung beim Volke findet, können Sie sich verstellen … So gräbt er sich selbst das Wasser ab. Ich habe zwar auch diesbezüglich Schweigen zur Pflicht gemacht, im Interesse unserer Kranken … Aber den Wirkungen solcher Schmähworte gegenüber sehe ich mich einfach machtlos … Ich lehne alle Verantwortung ab … Zuerst hat er das Ansehen der Geistlichkeit zu unterwühlen versucht … Dann hat er den Glauben angegriffen … Dann hat er das Gnadenbild und unseren wundertätigen Heiligen lächerlich gemacht – lächerlich machen wollen, es ist ihm freilich nicht gelungen … Und jetzt versündigt er sich am tiefen, kindlich reinen Empfinden des Volkes … Was soll ich da tun? Was soll ich dazu sagen? Urteilen Sie selbst!«

Der Dechant zuckte erbittert die Achseln.

»Man müßte ihn überzeugen,« riet Siebenschein wohlwollend.

Hetz lachte auf.

»Überzeugen! Überzeugen kann man nur, die guten Willens sind. Dieser Herr ist aber eben nicht guten Willens. Er will nicht sehen, er will nicht schweigen, er will Unfrieden stiften und Wasser trüben!«

»Vielleicht in guter Absicht?« tröstete Benedikt.

Der Dechant machte eine Bewegung, als legte er das Gespräch unerledigt und überdrüssig beiseite.

»Ihre Meinung gereicht Ihnen zur Ehre, mein Lieber – Ihnen, aber nicht ihm. Sie sind ein Idealist, nichts für ungut. Nur schade, daß unsereins so schwer sich solche Anschauungen bewahrt. Man wird mit der Zeit argwöhnisch und herb. Jedenfalls: ich habe Sie gewarnt und aufzuklären versucht … Aber kehren wir zu Erfreulicherem zurück: was treibt unser lieber alter Freund Permoser?«

In einen Tausch herablassend verbindlicher Alltagsfragen und oberflächlich dienstlicher Antworten löste sich der Besuch auf.

Es habe ihn wirklich gefreut, in Herrn Doktor Siebenschein einen jungen Kollegen von wahrhaft vornehmer Gesinnung näher kennen zu lernen, sagte der Dechant am Schlusse, da der Gast einer Einladung zum Mittagstische beharrlich widerstand; es tue ihm aufrichtig leid, das Vergnügen solch anregender Gesellschaft also nicht länger genießen zu können, doch hoffe er herzlichst auf eine Wiederholung in nicht zu ferner Zeit … Er bitte die Versicherung entgegenzunehmen, daß er, der Dechant, sich glücklich schätze, einen Geistlichen von solchen Qualitäten zum Seelsorgerstabe der ihm unterstellten Pfarren zählen zu dürfen … Nichts liege ihm näher als der ehrliche Wunsch nach Festigung dieser Beziehung, wäre er überhaupt berechtigt, die selbstlose Hoffnung zu hegen, daß ein so vielversprechender und doch wohl zu Höherem berufener Priester – hier schaltete der Dechant eine feinbetonte, halb anfragende Pause ein – sich dauernd dem zwar hochverdienstlichen, leider aber unberühmten Amte eines Landkuraten widmen wolle … Und in bezug auf den Doktor empfehle er nochmals Vorsicht – nur eine gewisse Vorsicht, ein gewisses Maß kühl abwartender Zurückhaltung … Diese Warnung halte er, er müsse das wiederholen, für seine väterliche Pflicht, sie falle ihm ja eigentlich schwer, aber gerade das aus aufrichtiger Hochschätzung entspringende Wohlwollen, und schließlich ein gewisses Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber Seiner Eminenz, Herrn Doktor Siebenscheins hochsinnigem Gönner – der Dechant rieb sich die Hände, gleich als wüsche er sie rein von aller Schuld an den Unvorsichtigkeiten des also Ermahnten – gegenüber Seiner Eminenz, der Herr Doktor Siebenschein doch gewiß keinen Kummer zu bereiten wünsche … Mit Herrn Doktor Wendt habe es eben auch sonst seine unangenehmen Bewandtnisse, man wisse doch nicht allzuviel von seinem Vorleben und seinem früheren Verkehr, von den Gründen, aus denen er die bisherigen Kreise seines Wirkens verlassen, es sei doch wohl zum mindesten recht unwahrscheinlich, nicht wahr, daß man eine gute Großstadtpraxis ohne tieferen Grund gegen ein weltabgelegenes Tätigkeitsfeld vertausche … Er glaube sich nicht deutlicher ausdrücken zu müssen … Das alles sei zu bedenken, zumal für einen jungen Priester, der seine Stellung innerhalb des ihm zugewiesenen Wirkungskreises erst zu befestigen habe, nicht wahr … Jetzt werde er, Siebenschein, gewiß noch der berühmten Gnadenkirche einen Besuch abstatten … Es tue ihm so herzlich leid, ihn diesmal nicht begleiten zu können … Da fände sich wohl Stoff und Anregung zu manchem wertvollen Gedankenaustausch … Aber ein andermal, ja? … Und bezüglich des seltsamen Falles, der sich da droben im Gebirge ereignet, bitte er nur um durchaus vertrauliche Weiterbehandlung … Er sei sicher, Herr Doktor Siebenschein würde da schon das Richtige treffen, aus seinem eigenen Feingefühle heraus, ja, ja, nicht wahr … Und den Herrn Pfarrer lasse er sehr, sehr, sehr herzlich grüßen …

Damit war Benedikt Siebenschein entlassen.

Der Dechant starrte eine Weile die Türe an, die sich hinter seinem Besucher geschlossen. Dann rückte er die Brille zurecht und setzte sich wieder hinter die unterbrochene Arbeit.

* * *

Langsam wanderte Benedikt durch den warmen Maiensonnenschein die Straße hinan, die in sanftschwellenden Steigungen aus dem Haupttale nach Unzing hinaufführte. Und mit ihm wanderte sein kurzer, greller Mittagsschatten; und mit ihm zogen die Worte, Bilder, Wolken dieses Tages, der vielleicht ein belangreicher war in seinem Leben.

Doktor Wendt hatte ihn stillschweigend angehört, stillschweigend untersucht, ohne bei der kurzen Begrüßung oder später auch nur mit einem Worte der ersten Begegnung zu erwähnen.

»Eigentlich ist da alles gesund,« hatte er dann beschieden, aus angestrengtem Horchen tiefaufatmend; »nur unfertig ist der ganze Mensch, noch nicht in die Breite gereift! Herz und Lunge haben vom Wachstum zu wenig mit abbekommen, sind zurückgeblieben, haben sich nicht entwickelt. Der Kopf hat zu viel verbraucht, da ist alles in Blüte geschossen, und da drinnen ist dafür alles Knospe geblieben. Der Kopf hat in einem Treibhaus gelebt, Herz und Lunge haben in nordisch kaltem Schatten vegetiert. Das gesunde Gleichgewicht fehlt! Der Mensch ist noch nicht gar! Herz und Lunge müssen jetzt in Ruhe nachwachsen; sich füllen; sich kräftigen. Zum Sitzen und Brüten und Studieren taugen sie allenfalls – aber nicht zum Gehen, nicht zum Lehren, nicht zum wirklichen Leben. Das ist so ein Schulbeispiel des Schulmordes. Siebzehn, achtzehn, zwanzig Jahre hintereinander wird alles Wissen in den Menschen hineingestopft, vom Abc bis zur Metaphysik, und dann soll er fliegen, seine Pflicht erfüllen und Geld erwerben. Und bleibt vielleicht verkümmert und verpfuscht für sein ganzes Dasein. Und seine Kinder eine schwache, schwammige Brut. Und was kann eine solche unterdrückte, überdüngte Pflanze für Frucht tragen? Was kann so ein armer verhämmerter Mensch noch leisten, wo schon seine Jugend nichts wie Sorge und Pflicht und Angst und Strafe gewesen ist? … Also an Gleichgewicht fehlt's, Hochwürden. Atem und Blut können nicht mit, weil von beiden zu wenig da ist, verstanden? Ihr ganzer körperlicher Mensch muß Muskeln ansetzen. Sonst können Sie sich nicht durchs Leben tragen. Schlaflos sind Sie, weil Sie zu schläfrig sind. Dann hat das Herz schwere Arbeit. Heilen können Sie sich nur selbst. Ich verschreibe Ihnen da ein Gift, damit Sie an Ihre Pflicht gegen sich selbst erinnert werden. Und damit Sie sich einbilden, daß da künstlich etwas auszurichten ist; ein wenig Wichtigtun mit Arznei hat schon manchen gesund gemacht. Aber die Hauptsache: keine Überanstrengung, viel Aufenthalt und Bewegung in freier Luft, aber bedächtig und mit Maß. Gemächlich steigen, keine Versehgänge wie damals im März, tief atmen lernen. Recht wenig denken, mehr so behaglich hinträumen. Dem Blute und dem Herzen bei allem Zeit lassen. Reichlich Milch trinken, Gottes Gaben überhaupt nicht verachten, guten Wein nicht geradezu fliehen, scharfe Säure meiden. Und im ganzen: schön langsam und mit Genuß leben – sich weiten und alles Gute an sich geschehen lassen …«

»Ja, aber meine Berufspflichten!« hatte Benedikt erinnert.

»Berufspflichten! Erste Pflicht gegen den Beruf ist, daß man sich ihm erhält. Zweite, daß man die Kraft zum Berufe sich erhält. Dazu gehört Lebensdiät. Müssen sich daran gewöhnen. Sonst kann's einmal einen Klaps geben. Und was haben Sie davon? Und was der Beruf? Sich aufreiben, schöne Redensart, das können Sie leicht haben. Aber das hebt man sich besser für eine dringende Notwendigkeit auf. Das ist wie mit der Abhärtung; zuerst muß man sich für die Abhärtung selbst abhärten, das heißt, zu vollen Kräften kommen. Sonst holt man sich den Tod. Wer leisten will, muß Grundlage haben. Die müssen auch Sie sich verschaffen …«

Es war etwas Eigenes um diesen Mann und seine Stimme. So herbe Worte er auch sprach, so rücksichtslos er sich zeigte, er verletzte nicht, er erweckte Zutrauen statt Groll oder Abneigung, er zog an, da er zurückzuweisen schien. Und kein Entrinnen war vor seinen Augen. Ihr Blick bohrte nicht, trotz aller Schärfe, er stach nicht trotz seiner Pfeilgeradheit, er bannte und erkannte und besiegte, und er kam wie aus einer entrückten Ferne, dieser Blick, hinter dem irgendein unerforschlicher Wille stand.

Auch diese Stimme, wo hatte Benedikt sie schon vernommen? Diese tiefe, strenge, unerbittlich milde Stimme:

»Sie müssen das Leben in sich eingehen lassen. Was nützt Ihnen alles, wenn Sie nicht gesund und ausdauernd sind? Das Wichtigste ist doch, daß der Mensch sich selbst für sein Amt bereitet. Also muß Leben und Kraft in ihm sein; sonst wächst er schief und bleibt brüchig und hohl und bricht unter der Last seiner eigenen Früchte oder vor dem ersten Sturmwind zusammen.«

Nein, der Dechant konnte nicht recht haben mit seinem scharfen Urteil. Gewiß war er in der gewissenlosesten Weise gegen den Arzt voreingenommen worden, so daß die Lüge Halt fand und sich einbohren konnte. Ein Priester von solchem Range wie Dechant Hetz, ein so wohlwollender, herzlicher und vorsichtig abwägender, ganz und gar nicht verhärteter Geistlicher würde sicherlich nicht so abschätzige Meinungen äußern, wäre ihm jemals Gelegenheit zu eigener Überzeugung geboten worden. Hier spielten böse Einflüsse mit, denen der gute Dechant und der Doktor gleicherweise zum Opfer fielen. Auf der anderen Seite aber verdiente auch der Dechant volles Vertrauen; an ihm konnte es nicht liegen, an ihm war sicherlich kein Falsch. Und wenn nichts anderes, so legte schon die Art und Weise, wie Dechant Hetz das Ereignis der Wundengnade behandelte, so liebevoll zart, so keusch, gewissenhaft und beinahe allzu sachlich, günstigstes Zeugnis ab von der Auffassung des priesterlichen Berufes, die ihn beseelte, die aber auch irgend Trübung oder Hinterhalt des Urteils gänzlich ausschloß. Siebenschein beschloß, den Dechanten, in dem er seinen Bischof und den Domscholaster vereint wiederzufinden vermeinte, des öfteren aufzusuchen und zu seinem Gewissensrate zu machen. Vielleicht ergab sich da Gelegenheit zur bescheiden versuchten Ausführung seines Planes.

In der kühlen Stille der Wunderkirche, die Benedikt nach seiner Vorstellung beim Dechanten aufgesucht, war ihm dieser Plan gekommen. Treffliche Menschen muß man zusammenführen, daß sie einander verstehen und, zum Wohle der Gesamtheit, verstehen lernen. Einen Strenggläubigen konnte man aus dem guten Doktor vielleicht nicht mehr machen; aber wer war noch ein ganz Hartgläubiger in dieser Zeit? Auch der Glaube war gewachsen mit den Jahrhunderten, er war tiefer und unermeßlicher, allbegreifender und milder geworden, aus seliger Kindereinfalt und leidenschaftlichem Kindertrotz war er herangereift zu männlicher Überzeugung, männlicher Sicherheit und ruhiger Größe. Dauernd gesicherte Erkenntnis hatte das dunkle Wort der Offenbarung aufgeschlossen und erhellt; das einfallende Licht erst hatte gezeigt, in welcher Tiefe unter den Spiegelbildern des Lebens die Wahrheit lag. Zu einem solchen Glauben aber durfte auch ein Mann wie Doktor Wendt sich getrost bekennen; und dann mußte es zu einer förderlichen Versöhnung zwischen den beiden Männern kommen, die doch eigentlich aufeinander angewiesen waren, beide Hirten und Tröster der leidenden Menschheit. Es handelte sich schließlich ja nur um den Beweis christlicher Gesinnung und Absicht von der einen, um deren Anerkennung von der anderen Seite – und diese würde ein Priester wie Pfarrdechant Hetz einem Heimkehrenden, den er verloren geglaubt, gewißlich nicht versagen.

So dankbar empfand Benedikt das plötzliche Aufkeimen seines Planes, daß er über seiner Rührung fast der berühmten Stätte vergaß, in deren Bann er die Gnade solcher Vorsätze empfangen. Und da er sich nun endlich umsah, mußte er sich des ersten Blickes sogleich schämen. Denn dieser galt keineswegs dem blitzenden Prunk der Votivgeschenke, die am Eingange der durch ein kunstvoll gearbeitetes schmiedeeisernes Gittertor vom eigentlichen Kirchenschiffe getrennten Gnadenkapelle hingen, noch auch den gleichfalls mit Dankesgaben bekleideten Wänden des Presbyteriums, noch auch den altertümlichen, blutrünstigen Fresken, sondern vielmehr dem Chore und der Orgel, die darauf stand. Ein ganz durchschnittliches Werk, schätzte Benedikt halb unbewußt, eine bessere Kleinstadtorgel, weder durch Größe noch durch Schönheit des Prospektes ausgezeichnet … Aber dann schüttelte er in lächelndem Unwillen den Kopf. Was galt Musik in diesem Hause Gottes, das der Unerforschliche durch die Gnade der Heilung vor vielen anderen seiner Häuser und Altäre ausgezeichnet und geweiht hatte! Ehrfürchtig trat Benedikt an das schmiedeeiserne Gittertor heran und blickte hindurch. Dort schwebte die wundertätige Mutter Gottes inmitten silberner Verklärung, ein altes, ehrwürdiges Bildwerk, geschwärzt von des Weihrauchs duftendem Tau: kein Kunstwerk vielleicht nach anmaßenden menschlichen Begriffen, und doch ein unnachahmliches, unschätzbares Kunstwerk in Händen Dessen, Der sein sich bediente zu Seiner eigenen und der seligsten aller Frauen Verherrlichung.

Eine tiefe, heimatsüße Demut kam über Benedikt, wie er so vor dem Einlaß zur Wunderkapelle stand und das Geheimnis der allgegenwärtigen Gnade sich so recht verinnerlichte.

Was war die Welt, und was dieses Land, und was das Volk dieser Berge, daß der Herr der Sonnen sich ihnen durch dies alte Bildnis gewährte wie durch einen heilkräftigen Quell?

In den verdeutschten Schriften des gelehrten Paters Secchi hatte Benedikt erschauernd von den unabsehbaren Wundern des Kosmos gelesen: und nur noch offenbarer, noch unabweisbarer, noch bewiesener war ihm der Unnennbare dadurch geworden. Über die Kleinmütigen, die am Schöpfer verzagten, weil die Schöpfung über ihr Begreifen hinauswuchs! Statt daß sie in erschütterter Andacht die Sprache verstanden, in der er sich ihnen offenbarte, ihren blöden Augen, ihren tauben Ohren, ihrem blinden Tasten … Statt daß sie sich ihm dankbar dafür erwiesen, daß ihre Menschenerde nicht schon längst ein schaurig verfelster Mond war und nicht mehr eine blauflammenbrausende Sonne, sondern das wohnliche Paradies der Arbeit und der Mitte! …

Und er, der Langmütige, ließ es zu, daß sie in anderer Weise ihn erkannten, daß sie die Finger legten in seine Wundenmale, und daß Wunder an ihnen geschahen in seinem Namen – Wunder an ihren eigenen kleinen Wunden, Wunder, die viel geringere waren als der Weg eines Kometen oder das Gespinst eines Mückenflügels oder ein Körnchen Kreidekalk oder ein einziger Tautropfen …

Und er ließ es zu, daß sie ihn immer wieder aufs neue an sich erfuhren, da sie nichts glauben, als was geschrieben steht, und keine Schrift solchen Beweis bei ihnen hat als die an ihrem vergänglichen Leibe, und durch eine Heilung eher sehend werden als durch das Heil, und von einer Aufhellung ihres dunklen Siechtums eher erwarmen als durch das Licht von innen …

Denn da er die Hände auflegte und das irdische Leid von den Bresthaften nahm, fielen sie vor ihm nieder und beteten ihn an. Da er aber von den Schwären der Seele sprach und wie durch sein Wort der Tod genommen würde vom Menschen, ärgerten sie sich an ihm und huben Steine auf wider ihn …

Benedikt trat vom Gittertore zurück und schlich nach dem Hauptaltare hinüber, auf vorsichtigen Fußspitzen, gleich als fürchte er ein schlummerndes Geheimnis zu erwecken oder den ehrwürdigen Heiligen, der da in gläsernem Schreine, mit prunkvollen Brokaten angetan und nur dämmernd sichtbar, unter der Platte des Opfertisches ruhte.

Welch ein geliebter Gottesmann mochte dieser Einsiedel gewesen sein, welch ein Anschauer Gottes und Erwecker seiner selbst! … Benedikt sah ihn, wie ein alter Holzschnitt ihn darstellte, einen langbärtigen Greis, gewandet in rauhe Kutte, gebeugt über das Psalterium, umspukt von den Dämonen der Versuchung, die bis zum Hingange des Unbesieglichen auf seine kostbare Seele lauerten, daß sie vielleicht doch einmal strauchelte und in ihre schlauen Schlingen sich verfing. Allein ihre heimtückische Geduld blieb vergeblich; wie des gewaltigen Gotteshelden Hüften gegürtet waren mit Stacheln und Ketten und ehernen Dornenreifen, also war seine Seele gepanzert mit dem heiligen Stahl des Gebetes, daran jeder Giftpfeil abprallt, und seine niemals sich schließenden Geißelwunden waren Borne des Chrysam, das vor dem Brande der Sinne beschützt.

Benedikt versank in Anschauung und Sehnsucht.

Weshalb war diese Zeit nicht gleich jener tief und reich und gefährlich?

Der Glaube war freilich gewachsen mit den Jahrhunderten, wie ein Baum, der seine Krone immer breiter entfaltet und mehr Landes unter seinen Schatten bringt und vielfältige Frucht trägt. Er war höher und ästiger geworden, und wie sein Fruchtfall und Tauregen weiteren Umkreis deckte, so umspannten seine tausendfaserigen Wurzeln größeren Bereich. Aber seine heroische Jugend lag ferne zurück in der Vergangenheit, seine mythische Frühdämmerung war längst vorüber. Nicht, daß es ihm in der Gegenwart an ernsten, schweren Kämpfen fehlte: schlimmer gefährdet als je brauste der gealterte Weltenbaum Christi im Sturme, der den nahenden Heerscharen des Antichrist vorauffuhr; hartnäckiger denn je leckten von allen Seiten Sümpfe in das Wurzelgebiet des Stammes herein, so aufgegangen war aus dem Senfkörnlein des Wortes; diesen Ast und jenen hatten Wetterstrahlen gestreift, Fäulnis und böse Pilzbrut ausgemorscht; wie einst zu den Zeiten der Kaiser Decius und Diokletian mußte heute um Bestand der Gemeine und Reinheit des Geistes gekämpft werden, gegen Irrlehrer, Ketzer und Leugner, wie einst der Stifter sie aus schaurigen Gesichten geweissagt …

Aber bei aller Höhe und Pflicht solcher Aufgaben, bei aller Erweiterung und tief hinabreichenden Verankerung der Lehre – wo war die heilige, riesenmächtige Einfalt der Hingabe, wo die himmelzwingende Sehnsucht, wie dieser sie besessen, dessen Gebeine hier der Auferstehung harrten, umgeben von den dankbaren Zeugnissen ihrer gottgewährten Kraft? Wo waren noch Männer, die mit Geißel und Psalterium in die Wildnis hinauszogen, unter die Heiden und Götzen des eigenen Blutes, Macht, Wissenschaft und Sprache hinopfernd; um nur in die letzten Tiefen der Einsamkeit hinabzutauchen nach den versunkenen Schätzen des Paradieses, um nur den dumpfen Leib von der Seele herunterzukasteien, daß sie ihre Flügel entfalten und frei ins Licht hinanschweben konnte? … Wo gab es noch Heilige, die sich an Gott heranbeteten, wie Erklimmer eines alle Ewigkeiten durchragenden Gipfels – die Gott zu sich herunterbeteten, daß er leibhaftig wurde in den Trunkenheiten ihrer geschwächten, gestählten Körper? …

Und wo waren, die an solche glaubten, so es übten und vermochten? …

Die heroische Zeit war vorüber, da die Menschheit durch ihre Erlesensten zu Gott emporblühte wie zur Sonne die Erde im dunklen, bangen Frühling.

Hunderttausend Wunder hatte der Unerschöpfliche beigetragen zu seinem Dome, daran die Menschheit nun schon bald ins dritte Jahrtausend hinein baute und wölbte und türmte …

Nun sie im hellen Tage arbeiteten, bedurften sie nicht weiter seiner Fackeln, die einst den demütigen Anfängen der Fundamente in stürmischer Lenznacht geleuchtet.

Gott beruft keine Heiligen mehr.

Aber dann läßt er doch von Zeit zu Zeit ein Zeichen geschehen, einen Quell springen, eine Tiefe sich purpurn auftun. Die Wundenmale, die jenes Mädchen empfangen: also hebt er bisweilen in einem das Brot des Geheimnisses hoch, das gebrochen ward für die Sünden der Menschheit. Sie zu segnen, sie zu mahnen, sie zu warnen, sie zu richten – wer weiß es? …

Die nach aber tausend Jahren, die Erben werden es wissen. Und werden die Zeit preisen und beneiden, die so reich an Wundern und Gnaden und Menschen gewesen …

Dröhnend klang die Glocke im Turme an, schleppend schlug sie die Mittagsstunde.

Benedikt fuhr empor.

Es war noch ein weiter Weg von hier bis nach Hause.

Er beugte sein Knie vor dem Altare, bekreuzte sich andächtig und feierlich und schritt dann rasch in den sonnenhellen Maientag hinaus.

Und nun zog das alles wieder und wieder durch seine Gedanken, wie er so langsam die weiße Hügelstraße gen Unzing hinaufwanderte. Die Ratschläge des Arztes; die Ermahnungen des Dechanten; seine hoffnungsfrohen Vorsätze; die Anschauung heiligster Geheimnisse; die Kunde von einem Zeichen, so am Kinde jener frommen Witwe geschehen; – aber er hatte ja Einsamkeit genug vor sich, all diesen Stimmen bis in ihre innersten Schwingungen hinein nachzulauschen.

* * *

Es gehörte zu Doktor Wendts Grundsätzen, daß der Arzt um der Kranken willen da sei, und nicht die leidende Klientel um des Arztes willen: ein Prinzip, an dem er, gegenteiligen Vorbildern zum Trotze, unentwegt festhielt und dessenthalben er von seinen großstädtischen Kollegen mehr als einmal bemitleidet worden war. Aber daran lag ihm blutwenig; von ihm forderte sein ärztliches Gewissen, daß er die Kranken in ihrer eigenen Hausung aufsuche, ungerufen und unerwartet. Denn aus der Tiefe heraus muß jede Heilung geschehen, von der Wurzel her – und die vermag nicht immer mit Sicherheit zu erkennen, wer den Befallenen nur im Ordinationszimmer, nur in der Befangenheit seiner Geständnisse und losgelöst von seinem Keimboden sieht.

Ja, nicht einmal Heilung allein gehörte nach des Doktors Ansicht zu den Aufgaben des Arztes. Seine Pflichten reichten weit hinein in die Gebiete der Wirtschaft, in die Dämmerungen der Seele. Wie der Forstmann seinen Wald kennt, von der humustragenden Unterschicht und ihrer Zusammensetzung bis hinauf in den Wipfel jeder vertretenen Baumart, mit allem, was dazwischenliegt an Saft und Mark und Borke und Bast und Harz und Bodensalzen und ewigem Stoffwechsel; also meinte Doktor Wendt die Chemie und den gesamten Aufbau jedes von ihm behandelten Standes bis ins letzte hinein erforschen zu sollen – um aus solchem Wissen heraus jedes Symptom schärfer zu deuten, jede Krankheit in ihren Zusammenhängen und in ihrem Abstande von der örtlichen Gesundheit genauer zu verstehen.

»Schneiden und schlitzen und wehtun, das kann bald einer,« pflegte er zu sagen; – »weg damit, das ist freilich das Einfachste. Aber denken und sich Mühe geben und erraten, das kann nicht ein jeder, und der's kann, der ist wenigstens ein Menschenfreund. Kinder- und Tierärzte, das sind die wirklichen Künstler im Fach; alle anderen nur Virtuosen.«

»Der Herr Doktor gibt sich gar so viel Müh,« klagte Fräulein Graff eines Tages, als Wendt seine kargen Mußestunden, statt auf Ruhe oder Mitteilsamkeit, auf die peinlich genaue Untersuchung des Wassers einer bestimmten Quelle verwendete. »Der Herr Doktor ist viel zu gut. Und ernten tut er so nix wie Undank.«

Der Arzt sah unwillig aus seiner Arbeit auf.

»Wo bin ich gut? Gar niemand ist gut. Das Tier ist gut, und Kinder sind gut. Wenn ich einmal tot bin, dann könnts ihr sagen, ob ich etwas nutz war oder nicht. Ihr Herr Bruder Firmian zum Beispiel war als Arzt bestimmt nichts nutz. Ordentlich ausmisten muß man hinter ihm. Der hat sich keine Mühe gegeben und auf Dank gerechnet. Und sind noch so ein paar anonyme Kollegen hier herum, denen man ihre unbefugte Praxis gerne legen möcht.«

Fräulein Graff floh. Sie war von Herzen fromm und gläubig, und wenn sie schon gegen die herausfordernde Kirchlichkeit der Frau Falzinger zum Beispiel ein gewisses Mißtrauen hegte, so konnte sie es doch nicht über ihr Gewissen bringen, Zeugin sündlicher Angriffe wider die Grundvesten ihrer Überzeugung zu sein. Daß der Herr Doktor nur gleich so sprechen konnte! Aber er meinte es gewiß nicht schlimm. Ein guter Mensch wie der Herr Doktor konnte es gar nicht so schlimm meinen. Deshalb wurde es ihm sicherlich nicht als schwere Sünde angerechnet. Ganz bestimmt nicht: sonst wäre nicht so viel Segen über seiner Wirksamkeit gewesen. Das gab ja Fräulein Therese auch Anlaß zu manchem kummervollen Gedanken: wie es um das Seelenheil ihres verehrten, geliebten Mietsherrn wohl bestellt sein möge? Doch war er nicht einer von jenen, die speisten, bekleideten, tränkten? … Immerhin, an seinen Verfehlungen wollte sie nicht teilhaben; ihr würde nicht nachgesehen werden, was ihm, dem Wohltäter, der Allgütige in Gnaden verzieh. Und wenn sie am Ende Rechenschaft darüber ablegen sollte, weshalb sie ihm nicht ins Gewissen geredet und ihn zur Frömmigkeit bekehrt? … Nein, daran wollte sie gar nicht denken. Sie floh und betete an einem schmerzhaften Rosenkranz rasch alle Vorwürfe und fremden Sünden von ihrer geängstigten Seele herunter.

An diesem Nachmittage schloß der Doktor früher als sonst seine Ordination ab. Er ordnete das kleine Taschenbesteck, das er eigens für seine Zwecke hatte zusammenstellen und anfertigen lassen und dessen Seitenfach auch eine Auswahl der vielseitigsten und dringlichsten Nothelfermittel in flachen Phiolen enthielt.

Dem Grießbauern durfte er vielleicht heute schon die Naht ziehen, die er ihm vor zehn Tagen gesetzt; dem alten Schmölzhofer konnte er im Vorbeigehen den Verband nachsehen und Trost zusprechen – ein Oberarmbruch in solchen Jahren, das ist eine harte Heimsuchung, und bei dem abergläubischen Widerwillen der Leute gegen das Spital, als ob eins dort gleich vom Brustbein bis zum Becken aufgeschlitzt werden müßte! Freilich, in welches Spital hätte er auch seine Kranken schicken sollen? Die drunten im Städtel hatten ein neues Pflaster und elektrische Beleuchtung und eine protzige Bankfiliale, aber ein Krankenhaus, dem man einen schweren Fall guten Gewissens hätte anvertrauen mögen, hatten sie nicht … Dann die Rottenbacherin. Das war eine böse Entbindung gewesen, an sich schon eine verzweifelte Geschichte, dazu noch die Pfuscherei mit allerhand Großmutteraufgüssen und Muhmenkräutern und heiligen Wassern und Besprechungen! In den Tod hinein gebetet und gezaubert hätten sie das arme Frauenzimmer, wäre nicht zum Schlusse, da keine Litanei mehr verfing, die Hebamme gekommen – gerade noch rechtzeitig genug, um zu erkennen, daß hier der Arzt notwendiger sei als sie selbst zusamt allen Weibern der Welt.

So konnte er mit seinem Spaziergange den Leuten weite Wege und manche Arbeitsstunde ersparen, neue Fälle aufnehmen, seine Forschungen betreiben, Strafpredigten an Ort und Stelle halten.

Und heute gelüstete ihn außerdem, jenem Wunder auf die Spur zu kommen, von dem er durch einige seiner Patienten Kunde erhalten. Das war ein Fall, der ihn anging und nicht den Dechanten, der ihn stärker interessierte als irgendeine noch so rätselhafte Unheilbarkeit, der ihn tief erregte, spannte und beinahe verführte.

»Blödsinn, alles laßt's euch vormachen. Wenn nur Kirchengeruch dabei ist, dann ist alles heilig. Entweder ist's ein Schwindel, oder das Mädel ist krank – oder noch Ärgeres. Aber eine Heilige ist sie darum noch nicht. Und ein Wunder ist auch nicht geschehen an ihr.«

So hatte er den Fernbauern gescholten, da dieser wegen plötzlich eingetretener Taubheit des linken Ohres bei ihm vorsprach und sich darüber beschwerte, daß der langbewährte Heilige ihn im Stiche gelassen: – der Heilige müsse halt schwächer geworden sein mit den Jahren, freilich wohl, alles nütze sich schließlich ab, aber der liebe Gott habe ja schon für Ersatz gesorgt und dem Volke eine neue Heilige erweckt, weil es doch so fromm sei, und damit die Wunder nicht ausgingen in diesem Tale. Dabei blieb der Fernbauer, trotz des grimmigen Verweises, den er erhalten, und trotz plötzlicher Wiedererweckung des verpichten Gehörs durch die Spritze. Ja, so wenig dankbar erwies er sich für diese nicht genügend wundersame Heilung, daß er hinging und des Arztes Ketzerei brühheiß ins Gerede brachte.

Freilich kam er damit nicht überall gut an.

Auch davon war dem Doktor vertrauliche Mitteilung gemacht worden, und zwar durch keinen anderen als den jetzigen Wendtbauern, Peter Winkler.

»Daß g'sagt hätten, daß gar keine Heiligen überhaupts net gibt. Aso an Unsinn, net? … Waben alte, hammir ehm g'sagt, was der junge Schmölzhofer is und der Lutz und der Pusterer und der oit Geiting und i, wie mir hoit grad so zamg'wesen sein – Waben oite, hammir ehm g'sagt, 's Mäu hoitst statt daß umanandläut'n tust wian oite Kuhglocken, net? Froh bist, daß d'an Doktor drunten hast, der was di kuriert hat von deiner Törischheit, net, und zum Kurieren is der Doktor überhaupts da und mit die Heiligen hat er gar nix net z'schaffen, net, und wann er an kurieren tut, das is d'Hauptsach. Da werd scho der liebe Herrgott aa mit derbei g'wesen sein, net. Oisdann. Und überhaupts, an solchenen, der wo am anderen glei die Ehr abschneiden tut, an solchenen hört der Heilige überhaupts net an. Hammir ehm g'sagt, die mir grad so zamg'wesen sein. Aba sein hoit andere da, denen wo er dasselbige vorg'redt hat, da werds hoit schon ihren Weg g'macht ham, die Lug …«

Wendt lachte nur zornig in sich hinein. Was lag ihm daran, wie sie über ihn dachten! Er war frei, ärgerten sie sich an ihm, konnte er wieder gehen. Aber sie selbst, ihr Denken, Handeln, Glauben, das lag ihm wie ehrliche Brudersorge am Herzen. Schon um seiner Aufgabe willen mußte er diesem Wunder auf die Spur, dieser neuen Heiligen auf die Krankheit kommen. Vielleicht fand sich heute Gelegenheit, wenigstens in die Vorhöfe des Geheimnisses einzudringen.

Er versorgte das kleine Besteck in der tiefen Brusttasche seiner Joppe, gab knappen Bescheid an das alte Fräulein, griff sich den breiten Hut und den Hakenstock und ging in den warmen Frühlingsnachmittag hinaus.

* * *

Die Wallfahrtskirche zu Sanktrain steht hart über dem Marktflecken auf einem niedrigen, platten, steilen Bergvorsprunge, der sich einer Kanzel gleich in das aufhorchende, ruhig gelagerte Tal hinausschiebt. Während aber das weiße Fahrsträßchen in weiten Schlingen nach den Unterhügeln emporführt, bietet sich dem frommen Wanderer ein schattigerer und anregenderer Weg, der, zum Teil in das bräunliche Gestein des nackten Kanzelfelsens gehauen, da und dort durch natürliche Überhänge wie auch Schneedächer gegen die Witterung geschützt, in anmutigen Kehren die Höhe der Gnadenstätte gewinnt.

Diesen Weg schlug Werner Wendt mit Vorliebe ein, nicht um des kühlen Felsenschattens willen, den die Übergänge boten, sondern aus Freude an den bunten Schildereien, die ihn von Schritt zu Schritt begleiteten, grausigen uralten Mirakelbildern, zum Teil auf den geglätteten Stein, zum Teil auf angezwingte Holzschilder gemalt: Schöpfungen verschieden begabter und verschieden veranlagter Volkskünstler, die hier all ihre Farbenfreude, all ihre gläubige Inbrunst, all ihre perspektivischen Tollkühnheiten und Ausschweifungen der Phantasie zu einem einzigen Werke zusammengetragen, dem Leben des Heiligen.

Denn wiewohl die Liebfrauenkapelle eines weitverbreiteten Rufes genoß, und ihre Schutzpatronin, jene glockenförmige Brokatmadonna in der Speerstrahlen starrer Aureole, um viele Geschlechter dieses Volkes sich bleibendes Verdienst erworben hatte – wie das ihr Votivschatz, diese Wahlstatt und Anatomie silberner Hände, Arme, Beine, Ohren und Herzen unwiderleglich bewies – so blieb dennoch der eigentliche Bannerherr und himmlische Seelenvogt der berühmten Stätte jener Heilige, von dessen frommwunderlichem hieniedigem Abtötungsvorleben man weit weniger Strengverbürgtes wußte denn von seinem preislich wundertätigen Nachleben in Seelen und Heiligen seiner gläubigen Verehrer, und der mit Recht für unnachahmlich, unersetzlich, unschätzbar galt. Da war es weiter nicht seltsam, wenn vor der schöpferischen Kraft eines fast tausendjährigen Mirakelfrühlings die alten Tatsachen seines irdischen Daseins, Werdens und Wirkens unterm üppig wuchernden Rosengerank der Legende mehr und mehr verschwanden.

Also hatten auch die Künstler manchen treuherzigen Widerspruch in ihr Werk hineingetragen, in die gemalte Lebensbeschreibung ihres Helden, die den Wallfahrer von den Anfängen des Aufstiegs bis zur Höhe der Vollendung und Nähe der heiligen Gebeine emporgeleitete, dann und wann unterbrochen durch eine Nische, darin eine Kalvarienstation zu verweilender Andacht einlud, den Pilgrim daran gemahnend, daß eines jeden guten Christen Pfad ein Kreuzesweg sein solle, wie jener des Wundertäters es auch gewesen: ein steiler Weg zur erlösenden inneren Kreuzigung und Hinopferung seiner selbst … Trotzdem nun mancher fromme Widerspruch und mehr als eine Verschiebung der Tatsachenfolge in dieser bunten Legende auffallen mochte – einem Kenner wie Werner Wendt etwa, der aus sachlicher Freude die jenen ungenannten Meistern wohl kaum zugängliche Chronik des Stiftes Heiligenzell gelesen – so war sie doch aus einem Gusse und eines Geistes, eine Mythendichtung des Volkes, und darum wahrer als die Wirklichkeit selbst.

War es doch selbst dem skrupulösen Chronisten nicht mehr gelungen, die äußere Historie aus dem Gewebe von Sagen und Gerüchten rein herauszulösen, also rasch und üppig hatten diese die Gestalt des Wundertäters überblüht. Sonderlich was seine Abstammung und die tiefsten Entscheidungen seines Lebens anging, ließ der Text mehrere Möglichkeiten offen; in dies Dunkel hatten selbst die gelehrten Herausgeber mit allen ihren Hohlspiegeln und kritischen Lupen kein Licht zu fällen vermocht.

In des Mittelalters dichtester Eisenfinsternis auf hoher Burg als Fürstensproß geboren, der späte Sohn eines frommen und gewalttätigen Herrn mit einer noch frömmeren herbmilden Frauen, vielleicht im Mutterschoße schon der hehrsten Braut zu heiliger Minne anverlobt als die heißem Flehen, Gelübden und Wallfahrten gewährte Erfüllung einer lange unfruchtbaren Ehe – darauf schien jene Schilderei zu spielen, so eine himmlische Traumerscheinung der Mutter des Heiligen darstellt; oder das Kind einer schönen Dienstmagd, matre certa patre incerto ortum nonnulli putant, perinde ac si originis crepusculo exitus gloria ultra gloriam glorificaretur; oder etwan die Frucht einer allzu langen Fehde und Kriegsferne des Gebieters, das Ebenbild eines schlanken Jägers, der Sohn eines Bischofs, des Herzogs, wohl gar des Kaisers selbsten – also summte es auf dem Grunde der Legende, und was ist sicher in Ansehung der Menschen und in solcher Tiefe der Dämmerung? – frühe schon den guten Mönchen übergeben, vielleicht von einem mildherzigen Wildmeister, den der blühenden Jugend jammerte, und der dann anstatt der Zunge des Opfers eines frischerlegten Rehleins Lecker auf breitem Lattichblatte als Zeichen verübter Beseitigung vorwies, wie das in guter Übereinstimmung mit einer Konjektur des Chronisten eine Reihe von rührenden Bildern packend veranschaulichte – denn kostbare Leben werden von der Vorsehung gerne am Abgrunde der Gefahr entlanggeführt; der Gelehrigsten einer und der Wißbegierigste in der Klosterschule, in zarten Jahren schon ein Meister aller Disziplinen des Trivium und sogar des selten noch gelehrten Quadrivium, und dennoch ungestillt und stürmisch unterwegs nach höheren Gipfeln; eine Blume des Ordens, eine Hoffnung der Christenheit, berufen zu den letzten Würden und Entscheidungen; dann plötzlich erschüttert, durch einen Abgrund von Licht oder einen Blick in die Tiefe, einen Schwindel, einen Krampf, einen Sturz, eine Genesung, eine Wüste, eine Stimme – wer vermöchte es zu sagen, da der Wege zahllose sind, auf denen der Herr seine Auserwählten zum engen Tore gelangen lasset? ruft der Chronist aus, nachdem er etzliche Berichte und Wendungen einander gegenübergestellt –; jählings erschüttert und umgekehrt, von Stund an abhold jeglicher Wissenschaft und fürwitzigen Weisheit, ein Weltflüchtling und Einsiedel, der in der wilden Bergöde den Adlern und Füchsen und zottigen Hirten predigte (wie einer der ungenannten Meister unter ganz deutlicher Bezugnahme auf die Sanktrainer Landschaft und ihr Wahrzeichen, die vorspringende Hügelkanzel, es den Augen der Nachwelt überliefert hat, wobei er wahrheitsgerecht genug an Stelle der Wallfahrtskirche ein Eremitenkapellchen und an Stelle des Fleckchens selbst zerstreute Sennhütten setzte) und dann immer tiefer sich in die Urstille und in sein inneres Licht zurückzog; bis man ihn eines Tages vor seiner Höhle fand, starrend vor Schmutz und schwärenden Geißelmalen, mit Eisenstacheln gegürtet, aber den Frieden auf der Stirne und umwittert von köstlichem Wohlgeruche, und da man ihn, der mitten im Gebete entschlafen war – an dieser Stelle des aufsteigenden Lebensgemäldes ist vor dem Bild der Kreuzabnahme der tief ausgescheuerte Betstein des Heiligen in eine Felsnische eingelassen – von den Knien hob, siehe, da flog eine silberweiße Taube auf aus seinem Munde, aus seinen Geißelwunden aber hub alsbald an ein köstlich Öl zu sickern, das bewährte wundersame Heilkraft an Gebrest jeglicher Art.

Also dies ergreifende und ehrwürdige Heiligenleben, wie es vom gelehrten Chronisten der Abtei Heiligenzell, Gerold dem Lahmen, Geroldus Claudus, nach seinem Gebrechen auch Anapästus genannt, gleich zu Anfang seines – in bequemer Handausgabe neuveröffentlichten – Werkes als dessen letzte Veranlassung, Auspizium und Invokation mit Fleiß, Treue und Minne; von Pater Sebaldus Weinzierl aber unter sorgfältiger wie zeitgemäßer Auswahl der Tatsachen in einem anziehenden Büchlein – erhältlich in der Meßnerei der Wallfahrtskirche und bei Karl Falzinger, gleich gegenüber dem Bäckerladen von Ignaz Krapf – beschrieben worden ist: wobei der spätere Biograph wohl aus der alten Quelle schöpfte und diese um so weniger ungenannt lassen konnte, als ja die Abtei Heiligenzell vom Herzog an eben jener Stelle gegründet worden war, da der Klosenaere seine erste Einsiedelei aufgeschlagen.

Im übrigen aber hatte der gelehrte Pater eine weit schwierigere Aufgabe zu bewältigen denn weiland Gerold Anapästus. Denn einmal galt es der bildlichen Legende sich anzuschmiegen, schon mit Rücksicht auf das Volk, das diesem seinem eigenen Werke fast dogmatische Bedeutung beimaß; und zum anderen war das Material im Aufschichten der Jahrhunderte ungeheuerlich angeschwollen, war umfangreicher, wichtiger und unübersichtlicher geworden, maßen des Heiligen wundertätiges Leben mit seinem Tode ja erst recht begonnen und im Laufe wechselnder Zeiten Wohltaten sonder Zahl vollbracht hatte.

Davon legten eindrucksvolles Zeugnis ab auch jene treuherzigen Bilder, die das letzte Stück des Wallfahrtsweges nach der Höhe der Kirche hinangeleiteten. Gerade diesem Abschnitte der gemalten Legende, ihrem verklärenden Schlußkapitel, widmete Werner Wendt mit stets erneutem Vergnügen seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Längst schon kannte er die Reihenfolge der einzelnen Mirakelschildereien auswendig. Jetzt kam die Geschichte mit den sieben Kirchenräubern, denen der Heilige lebensgroß aus dem Altarblatte entgegentrat, also daß den Anführer der Unholde stracks der Schlag rührte, die anderen sechse aber auf ihr Angesicht fielen, dem Heiligen beichteten und sich bekehrten. Dann die History vom unschuldig Gerichteten, wie er mit dem frischgefällten Kopfe unterm Arme querfeldein zum Heiligen läuft, der den Schaden dann wieder verpicht und zur Entdeckung des wahren Missetäters verhilft. Hier kam die wunderbarliche Errettung des Dorfes Staudach aus schwerster Gefahr, wie der Heilige dem nächtlich herunterdonnernden Bergsturze mittwegs entgegentritt, daß er sich an ihm spaltet und zu beiden Seiten der bedrohten Siedelung niedergeht. Endlich das gewaltigste unter den großen Werken des Begnadeten, der vom Allmächtigen erflehte Aufschub eines schauerlichen Gerichts, so Er ergehen lassen wollte zur Bestrafung heidnischer Vielgötterei und heimlicher Brandopfer. Schon hing die Sonne verfinstert wie eine Wunde voll geronnenen Blutes dem grausig zerstückten Monde gegenüber in einem schwarzen Kreuzigungshimmel, neue riesige Unheilsterne fackelten drohend am Firmament, die Erde aber bangte in dumpfem Aschenlicht, wie das Bild es erschreckend veranschaulichte – – da naht der kleine Heilige demütig dem weltallgroßen Allgütigen, und siehe, es geschieht Gnade vor Recht, Vergebung vor Sühne, wie ein Vorhang rafft die Finsternis sich von den Himmeln zurück, und die Sonne tut sich auf in ihrer alten goldenen Segenspracht.

Auch diesmal blieb Wendt vor diesem letzten und erschütterndsten Bilde lange stehen. Das sollten die Menschen und Narren immer vor Augen haben, dachte er; vielleicht wären sie dann mehr Menschen und weniger Narren. Mit dieser apokalyptischen Legende hatte es seine tiefe Richtigkeit. Und gerade ihr war Pater Sebaldus Weinzierl geflissentlich ausgewichen, wie denn auch die gewissenhafte Stiftschronik nur einer im Jahre MCCCXLIX stattgehabten langwährenden Verfinsterung oder Trübung der Sonne und anderer schauriger Vorzeichen Erwähnung tut, welches Ereignis mit dem dargestellten Wunder zur Not in Zusammenhang gebracht werden konnte. So war also im Volke diese Sage entstanden, vielleicht in den dunklen Spiegeln uralter Erinnerungsbrunnen. Wendt schüttelte verwundert und abwehrend den Kopf. Bist eben auch der Nachfahr eines Kalendermachers! schalt es in seinem Gewissen. Aber den Eindruck wurde er deshalb nicht los, den das grauenvolle Bild auf ihn übte.

Und an dieser Stelle setzte regelmäßig ein anderer Gedanke ein. Eigentlich hatte die gläubige Menschheit sich recht wenig Verdienst erworben um den Heiligen, dem sie nun solche Wundertaten nachrühmte. Er mußte wirklich ein Heiliger gewesen sein, dieser Heilige, daß seine Seele im Himmel vergaß, was an Unbill und Schändung seinen Gebeinen auf Erden widerfuhr. Freilich, darüber vermeldete das treffliche Büchlein des P. Sebaldus Weinzierl nichts.

Denn wie weder in Geroldi Anapästi treuherzinniger Lebensbeschreibung noch auch in Sebaldi Weinzierls empfehlenswertem Führer durch des Heiligen Erdenwallen und heilkräftig Fortwirken sonderlich viel zu finden war über das Eigentlichste dieses zehrenden Martyriums, nichts von dieses eingekehrten Daseins kranken Einsamkeiten und schwülen Urwäldern, nichts von seinen Abgründen, Brunnen, Gletschern, Sonnenaufgängen, Adventen, Schlachten und himmlischen Liebesnächten: – also meinte der spätere Biograph seinen Lesern manches verschweigen zu sollen, was die von emsig leidenschaftlichen Mönchen fortgesetzte Chronik der Abtei über die ferneren Zufälle und Schicksale ihres Patrons berichtet.

Dieser war nämlich nicht in die Muttertiefe der Erde versenkt, sondern, da er noch viele Tage nach seinem Tode so frisch und wohlriechend war wie eine schlummernde Braut, mit aller Kunst einbalsamiert und in einem durchsichtigen Schreine beigesetzt worden, während die Eingeweide in einem güldenen Gefäß ihre Ruhe fanden.

Nun lag der alte Einsame ehrwürdig und silberweiß zur Schau aus, umdrängt von der staunenden Andacht des Volkes, der Grafen, Mannen, Jäger und Hirten: – eine stille Sage inmitten gärender Gegenwart, ein ferner, seliger Firngipfel über dumpfem Tiefland; und gingen viele Heilungen aus von seiner gesegneten Nähe. Also geschehen in der Abtei des Hochstiftes, dessen Klosterschule voreinst der Heilige besucht, in dessen Hallen er Schur, Kutte und Weihe empfangen und das ihn nun mit gutem Vaterrechte als den Seinigen betrachtete.

Anders der weitgebietende Erzbischof.

Denn nicht sobald hatte er von den Mirakelwerken des abgeschiedenen Klausners vernommen, als er auch schon über alle seine sonstigen Händel hinweg mit grimmigem Nachdruck dieser Frage sich zuwendete und die Herausgabe des kostbaren Leibes heischte: mit der gewalttätigen Begründung, der Wundertäter habe die Gnade nicht im Klosterbereiche, sondern erst in der Wildnis der erzbischöflichen Forste erlangt, wasmaßen die Reliquie ihm gehöre. Und überhaupt, er als Erzbischof habe guten Anspruch auf alles, was von frommen Seelen in seinem Bistum hinterlassen werde.

Solcher Argumentation widersetzten sich die Mönche mit haßerfüllter Entschlossenheit: durch des Ordens Zucht und Lehre sei das Licht über ihren Bruder gekommen, hier sei er herangereift zum Weizen Gottes, hier habe er sich geläutert zum süßen, starken Weine der himmlischen Hochzeit, des Stiftes also sei der Heilige.

Mehr als genug sei ruchbar von der Klöster Zucht und Sitte, lautete des gereizten Bischofs Duplik – und herrschte damals in Wahrheit betrübliche Verwilderung und sträflicher Verfall unter denen, so zu gutem Beispiele berufen sind, gesteht aus diesem Anlasse der ehrliche Chronist gleichsam in margine – mehr als zuviel über der Brüder weltlich Treiben sei ihm auf ärgerniserregendem Umgang durch den Gau zu Ohren gekommen, dräute der Bischof, aus diesem Grunde auch sei Eremita ille quaesitus unter die wilden Tiere und Hirten gegangen, maßen bei unschuldigen Heiden immer noch mehr Christentum zu finden sei denn in der Gemeinschaft mit schlechten Christen.

Allein die Mönche, unerschrocken, spielten in ihrem Gegenbescheid auf eine gewisse Gräfin und einen gewissen, sehr jungen Suffraganbischof an; man möge kommen und den Heiligen holen, erboten sie, er werde gegen solche Übergriffe sich zu verteidigen wissen.

Nun ward dem Herzog Kunde von diesen Händeln, und er mischte sich darein, indem er den Wunderleichnam für sich selbst in Anspruch nahm. Dagegen erhoben sich aber gleicherweise Bischof und Stift, und der Streit kam auf einer Synode vor den Kaiser, der nach reiflichem Für und Wider, wie er sich den Anschein gab, die strittige irdische Hülle dem Stifte zusprach, schon auf Grund alter offener Abrechnungen mit dem Bischofe. Dieser erkannte denn auch das kaiserliche Urteil nicht an, sondern unterwarf sich dem Schiedsspruche des Papstes, der nach Anhörung des Falles und seiner Räte dahin entschied, es mögen die verklärten Überreste gerechterweise gedrittelt werden, also daß je der Bischof und das Stift eine Hälfte der heiligen Gebeine, er aber für seine Kirche der Kirchen zumindest das Haupt erhalte. Das war nun den Gegnern leide, daß ihr Wundertäter also schmählich sollte zerstückt werden, und sie einigten sich insgeheim dahin, den köstlichen Schatz doch lieber unter sich zu teilen, den heiligen Vater aber lieber mit irgendeinem minder unersetzlichen Kopfe abzufinden, welchen Tausch trotz aller voraussichtlichen Wachsamkeit des päpstlichen Sendboten die Mönche des kellerberühmten Stiftes leichten Herzens auf sich nahmen: – denn da der Bischof von Rom so viele starke Märtyrer in seiner Sammlung hat, was braucht er seine Habsucht auf das Haupt eines deutschen Einsiedels zu erstrecken, glossiert entrüstet der aufrichtige Chronist.

Allein wie die beiden Gegner darin sich einig wurden, daß der Papst müsse hintergangen werden, so trachtete auch jeder in der eigenen Herzensstille auf Trug und Anführung des anderen: als Ergebnis welcher Gesinnung bald genug neue Gehässigkeiten aufflackerten. Schließlich aber kam es doch zur Eröffnung des Glasschreins, zu Zerlegung und Verteilung des eingedorrten Leichnams. Mit des Heiligen Haupt, rechtem Arm und linkem Schienbein zog der streitbare Bischof triumphierend ab, verfolgt von den herzlichen Verwünschungen der Brüder; bald genug würde sich der Rest dazu finden, denn an geschickten Händen war kein Mangel im Bistum. Mit ähnlichem Troste schickten die Mönche sich ins Unvermeidliche; ihres Bruders Einsiedel Haupt, rechter Arm und linke Tibia würden heimgefunden haben, ehdaß der Mond dreimal sich gerundet. Ein Martinus quidam wurde mit der Ausführung des gottgefälligen Streiches betraut, Kopf, Arm und Schienbein des geliebten Klausners gegen die gleichen, ähnlichen und ebenfalls wohlerhaltenen Teile des längst in Gott ruhenden Abtes Dagobert, so trotz wahrhaft heiligmäßigen Lebens durchaus kein Wunder wirken wollte, raubend zu vertauschen. Das feine Stück gelang, freilich erst nachdem von der anderen Seite her ein Ignatius quidam clericus die entsprechenden Reste eines längst abgeschiedenen, zwar frommen aber doch nicht mit Heilkräften begnadeten Propstes Brando gegen die unvergleichlich schätzbareren des Eremiten ausgewechselt hatte – was dem erwähnten Martino trotz seines Spürsinnes entging, da der Bischof die gestohlene Beute weislich versteckt hielt, wie denn auch die Mönche bei der stillfeierlichen Wiederbeisetzung ihres Raubes der geschehenen Unterschiebung nicht gewahr wurden.

Nun aber ereignete sich das größte, das unfaßlichste und erschütterndste der Wunder:

Der Heilige, hier mit dem ehrenwerten Brando, dort mit dem tugendsamen Dagobert vereint, verweigerte in diesen unebenbürtigen Umgebungen nicht etwa jedes Wunder, wie es hätte von Rechtens wegen sein müssen, sondern er fuhr unbeirrt in seiner segensreichen Tätigkeit fort, hüben und drüben, obschon er nach gutem Glauben jedes der Gegner unmöglich im Verwahr des anderen sein konnte. Auch die in goldenem Gefäß verwahrten Eingeweide kamen nicht in Betracht; denn diese hatte, um sie der Raubgier des Bischofs zu entziehen und zugleich um die Gunst der Macht sich zu sichern, das Stift dem Herzoge zum Geschenk übersandt. Mithin mußte der aufgeteilte, dann im Raubtausch hier- und dorthin verschleppte Heilige notwendig sich verdoppelt oder es mußte sonst sich Unerhörtes ereignet haben. Denn um die Wette überboten sich die Wunder der beiden vermeintlichen Hälften, die Feinde aber sahen sich durch gute Gründe zum Schweigen gezwungen. So verkehrte die erhoffte Schadenfreude beiderseits sich zu Gewissensbissen, der Bischof gar nahm es für ein Zeichen, zumal er kurz nach dem geglückten Einbruch einen schweren Sturz vom Pferde getan und dabei einen Schaden sich zugezogen hatte, dem ausgerechnet der Heilige seine hundertfach bewährte Hilfe versagte. Die Brüder wiederum nahmen es für eine Drohung, da zu eben derselben Zeit der Blitz in die Kornspeicher des Stiftes schlug und einen großen Teil der Jahresernte veräscherte. Das letzte Wort aber sprach endlich Sankt Einsiedel selbst, indem er dem gelehrten, gottesfürchtigen Abte Wolfgang, dem geistlichen Berater des Herzogs, im Traume erschien, eine würdige Beisetzung und die Errichtung eines Stiftes zur Sühne der begangenen Frevel forderte. Also fanden die Gebeine an dritter Stelle sich wieder zusammen, freilich ohne daß von dieser oder der anderen Seite viel darüber wäre verlautbart worden; da die neue Abteikirche sich erhob, stellten wie von ungefähr die wundertätigen Überreste sich vollzählig ein – ein Wunder mehr, wer frägt danach bei Anhörung so wunderlicher Geschichten, glossiert mit bösem Schalk der Chronist.

Deswegen aber genoß der einsame Heilige noch keineswegs dauernder Ruhe vor den Menschen und ihren unsterblichen Süchten.

Wohl lag er jahrhundertelang leidlich ungestört im Frieden seiner geräumigen Kapelle, die ihm zu eigener Ehre außerhalb der Klausur war errichtet worden – damit auch die von ihm Zeit seines Daseins mit grimmiger Inbrunst geflohenen Frauenzimmer seiner Gnade teilhaftig würden; wohl war sein irdischer Nachlaß vor Schändung und sündlichen Übergriffen geschützt, und nur selten ereignete es sich, daß sein gläsern Grab feierlich eröffnet ward, wo es nämlich galt, ein winzig Pröbchen des kostbaren Staubes auszuheben und, in einer Kleinodienkapsel verwahrt, irgend Personen von Rang und Gewicht, den ausheiratenden Prinzessinnen, dem durchreisenden Kardinal oder der Kaiserin zum Geschenke zu machen. Im übrigen aber strich die Ewigkeit so ziemlich spurlos an Sankt Einsiedels kristallnem Totenhause vorüber, und ihn selbst angehend, so fuhr er gelassen fort, seine freundlichen Wunder an Siechen und Hoffnungslosen beiderlei Geschlechtes zu üben – was zu einer Zeit, da Heilige immer seltener, unglaubhafter, ja vielfach sogar verkannt, verdammt und verbrannt wurden, seinen Wert erheblich steigerte, so daß dieser schließlich dem Ablasse von einer runden Million Jahren feuriger Verbannung auf dem Fegeberge gleichgehalten wurde.

Allein diesem goldenen Zeitalter folgte ein eisernes, ein düsterblutrotes, voll Städtefackeln, Zeichen und Antichristen, so von den Gnadenerlässen des Allbarmherzigen, gewährt durch seine Heiligen, überhaupt nichts wissen und jegliche Veste echten Glaubens umwerfen wollten. Auch in diese stillen Täler blies der feurige Atem der Kriegsfurie, und Sankt Einsiedel mußte darauf bedacht sein, vor den heraufwetternden Verfinsterern sich auf die Reise zu begeben, – ein historisch Ereignis, dessen P. Sebaldus Weinzierl in seinem lehrreichen Büchlein um so lieber Erwähnung tut, als gerade an dieses sich das Gedächtnis eines neuen glorreichen Wunders knüpft. Denn wenngleich der schicksalsreiche Heilige der Übermacht mordbrennender Eisenhorden weichen mußte, so bewährte er doch aus sicherer Ferne seiner Fürbitte und seines himmlischen Ansehens Kraft wider sie. Das Stift blieb verschont vom grausigen Flügelschlag des roten Hahns, die zertrümmerten Heersäulen des Antichrist hasteten in ungeordneter Flucht weit draußen vor den Tälern vorüber, ein lutherischer Feldobrist aber, den böse Gelüste, wegblinde Eile oder göttliche Fügung just nach Heiligenzell verschlagen, soll durch die warme und fließende Beredsamkeit eines dort zurückgelassenen Benediktiners inwendig also umgekehret worden sein, daß er nicht nur von seinem sündhaften Vorhaben abstund, sondern die Heimkehr der Brüder abwartete, um als einer der Ihren solcher Gnade und Labsal hinfüro weiter zu genießen bis an sein selig Ende.

Aber das Maß der Prüfungen, deren Gott seinen Sankt Einsiedel, diesen Großmeister der Selbstprüfung, würdig erfand, war noch nicht voll.

Eines Jahres, da eben die Ernte besonders reich gediehen und Gottes Segen in saftiger Frucht aller Art offenbarlich war, wurden Land und Christenheit und die Brüder von Heiligenzell durch einen neuen Sturm aufgeschreckt. Der Kaiser, so hieß es, – und die Kunde lief um wie Bodenfeuer in frühlingstrockner Spreu, wann der Märzenwind hinterdreinbläst – der Kaiser habe diabolo suadente beschlossen, die Anzahl der Klöster zu dritteln, klösterlich Gut zu verweltlichen und zu verteilen, mönchischen Fleißes Werk zu vernichten und alle stillen Reviere beschaulicher Arbeit zu brandschatzen. Ja, schon ging ängstlichen Redens von noch anderen, noch hitzigeren und härteren Neuerungen: der Besuch des weltberühmten Collegium Germanicum zu Rom würde fernerhin untersagt sein – daran lag den guten Brüdern schließlich nicht arg viel –; eine neue Gottesdienstordnung stünde allbereits in Vorbereitung – das klang schon bedenklicher –; Umgänge und Wallfahrten, Verehrung heiliger Reste und fromme Feste jedweder Art hätten scharfe Einschränkungen zu gewärtigen – das bedeutete einen Stoß ins Herz der Kirche, einen offenkundigen und gewalttätigen Einbruch in ihre Rechte, einen Streich, wie er seit den Tagen des großen Bonifaz nicht war geführt worden. Und es bewendete sich keineswegs bei dem Gerüchte; unerbittlich zog die Heimsuchung über das Reich herauf, vergeblich blieb des heiligen Vaters Reise nach Wien, fruchtlos jede Berufung ab imperatore non bene informato ad melius informandum. Der Kaiser beharrte auf seinen Anschlägen.

Auch der breitverzweigte Baum von Heiligenzell wurde von den Blitzen gestreift und schändlich entastet, zum Lohne dafür, daß er der Christenheit des Gaues viele Jahrhunderte hindurch Schatten, Schutz und süße Frucht der Heilslehre geboten, in Tagen der Not dem Orkane aus Mitternacht getrotzt, später, als es die Satanssaat hereinverwehten Samens zu reuten galt, mit seinem lichtabwehrenden Laube das Unkraut seines Bereichs zum Welken gebracht und erstickt hatte. An das Stift selbst wagte sich der Tyrann allerdings nicht heran; zu beredte Sprache führte der urbar gemachte Boden, die Rodung, Entsumpfung und gemeinnützige Aufhellung des Geländes. Aber Heiligenzell hatte im Laufe der letzten fünfzehn Jahrzehnte nicht weniger als fünf Klosterpfarreien nebst den dazu gehörigen Gotteshäusern errichtet, darunter an erster Stelle jene von Sanktrain, wo der Orden umfängliche Gilten besaß und die Siedelung frühe schon sich verdichtet hatte. Diese Pfarreien, Tochterhäuser der christlichen Liebe, von denen aus der Orden in opferfreudiger Erfüllung der Pflichten innerer Mission der Volksseelsorge pflag, gingen nun dem Stifte an die schwarze Weltgeistlichkeit verloren, nebst einem schmerzhaft starken Drittel seiner Ländereien, Äcker, Forste, Fischwässer und Meierhöfe. Was aber das Schlimmste war, das Unerhörteste, die Krone der Frevel: auch Sankt Einsiedel wurde zugleich mit der Sanktrainer Pfarre seinen getreuen Brüdern wegsäkularisiert, nicht etwa aus Versehen, sondern weil die Juristen, so nun das große Wort hatten an Stelle der Sprache göttlicher Gerechtigkeit, dahin sich entschieden, daß der Reliquienschatz als integrierender Teil eines Gotteshauses anzusehen sei und daher zugleich mit diesem der Verweltlichung verfalle. Der Heilige war nämlich aus Anlaß der Pfarrgründung im Jahre 1649 nach Sanktrain gestiftet worden. Einmal zum Gedächtnisse seines dortigen Wirkens; zum anderen in der guten Absicht, ihn und seine Gnadenkraft dem Volke noch zugänglicher zu machen; zum dritten in der richtigen Erwägung, daß auf diese Weise das junge Pfarrdorf zu einem anziehenden Mittelpunkte der Landschaft, zu einem Knoten des Verkehres, zu einem ersprießlichen Absatz- und Marktgebiete verdichtet würde; endlich in der berechtigten Voraussicht, daß der vielumstrittene Leib deshalb ja doch per omnia saecula saeculorum des Stiftes oder doch zumindest des Ordens verbleibe. So glänzend aber Punkt drei dieser Items gerechtfertigt wurde durch rasches Aufblühen des Ortes dank fruchtbar niederschlagender Wallfahrtsströme: so wenig bewährte sich der frommen Mönche Glauben in Bestand von Eigentum, Recht und Gerechtigkeit. Nun geschah dennoch, was voreinst der heilige Vater zu Rom gefordert, ja mehr noch; zur Strafe gleichsam für die längst verhundertjährte Unterschiebung gelangte nicht allein der echte Kopf, sondern gleich der ganze Heilige in den Besitz des Papstes, was fleißige Mönche angelegt, ernteten die Pfarrdechanten von Sanktrain, die Stelle aber galt dank der unverdrossenen Wirksamkeit des Wundertäters für eine der einträglichsten im Bistum, also, daß sie von Sachverständigen einer fetten Domherrnpfründe zum wenigsten ebenbürtig erachtet wurde.

Auf Erörterung solcher wirtschaftlicher Fragen ließ der versöhnliche P. Sebaldus Weinzierl sich freilich nicht ein, wie er zum Beispiel auch des heilkräftigen Öles, so einst aus den Geißelwundmalen des Eremiten gesickert und noch immer sparsam nachträufeln sollte, nur ganz flüchtig, nur geheimnisvoll andeutend Erwähnung tut: obschon – wie das auch Doktor Wendt ganz genau wußte – gerade dieses Öl in lebhaftem Verschleiße stand, zu einem Preise übrigens, der in Ansehung der Kostbarkeit, Wirksamkeit und Seltenheit solchen Balsams trotz der winzigen Dosierungen eigentlich ein sehr mäßiger genannt werden durfte. Zu wirklichem Gebrauche war der Inhalt dieser Fadenfläschchen ja auch nicht bestimmt; seine Gegenwart allein beschirmte das Haus vor Unheil aller Art, Seuche, Sünde, Feuer und Mißgeburt. –

Werner Wendt hatte die Höhe des Kanzelhügels erreicht, von dessen Platte aus die berühmte Kirche über ihre Täler und Landschaften und Menschen wacht – ein spitztürmiger, seltsam verschachtelter Bau, der aussah, als sei er nicht in einem Gusse, sondern in langsamem Wachstum aus kleinen Anfängen entstanden. Der Schattenzeiger der buntbemalten Sonnenuhr fällte seinen Strich zwischen die dritte und die vierte Stunde.

Noch einmal blickte der Wanderer über Heimat und Zeiten hin; dann wandte er sich und schritt rüstig bergein, die Spuren des Geheimnisses zu finden.

* * *

Schon füllte Abend den Grund, als Werner Wendt von den Höhen der Ödweiler niederstieg.

Über den alten Bergen am Rande der dunklen Landschaft stand das erste Frühsommergewitter, glutgesäumt, groß wie ein fremdes fernes Hochland.

Blitzschein fackelte auf, zerrissene Schluchtwände, Abgründe, Wildnisse sprangen düsterrot aus der Dämmerung, verloschen.

Starr standen die Gipfel vor der heraufdrohenden Sturmnacht. Aber der Himmel über der Talbreite spannte noch rein sein Gewölbe, das tiefer ward von Stern zu Stern.

Drunten gingen die goldenen Feierabendfenster auf, einzeln, in kleinen Nestern, in ganzen Schwärmen. Weit draußen in der schwülen Maiennacht, dort, wo ein mattes Lichtnebelgespenst die Stadt verriet, grollte der schwere Eisendonner eines Güterzuges.

Ungestalt blockte die Wallfahrtskirche auf ihrer vorgeschobenen Warte.

Wendt sah an ihrem ragenden Mauerdunkel hinauf, als wollte er sie messen: wie man einen Feind mißt, oder einen Sprung.

Dann trat er an die Brüstung der Bergkanzel heran und ließ die warme Luft sich um die Stirne streichen.

Die Rottenbacherin hatte sich erholt, die Schwäche lag schwer noch auf ihr, aber das Kind war gesund, stark von Stimme und Hunger, ein Prachtmenschlein.

Und der alte Schmölzhofer war auch schon wieder auf der Kante. Den Arm würde er freilich bis auf weiteres in Verband und Schlinge tragen und lange noch schonen müssen. Allein die Hoffnung hatte sich eingestellt, und Hoffnung, das ist den Greisen schon halbe Genesung.

Und dem Grießbauern durfte die Naht gezogen werden. Wie ein Röslein so sauber und frisch sah die Wunde aus. Eine Lust, diese harzigen Wettermenschen zu verbadern, solche Heilkraft trugen sie in ihrem Blute. Da schloß sich jeder Schrund, und wenn er bis ins Leben hinab aufklaffte. Wenn die ganze Menschheit aus solchen Wildlingen bestünde! Ihre eigene Schuld, daß sie grundsiech und vergiftet war. Zurückkehren zum ureinfachen Leben und zu den ältesten Bedürfnissen; nie wieder am Turm Babel zu bauen anheben; sterben lassen, was von Anfang an hinfällig und minder; und das Reich war da, von dem sie alle träumten.

Wendt dachte an die, denen er noch vor kurzem all seine Kunst, all seine gewissenhafte Liebe gewidmet, den Gewächsen allzu enger Kulturen, im dumpfen Druck allzu dichter Bestände auf üblem Boden fortkümmernd. Wo an solchen eine Wunde aufbrach, ging es gleich unstillbar bis ans Mark; als müßten alle uralten, verschärften, verflüchtigten Gifte der Armut aussickern, alle zu Gift geronnenen Seufzer, alle zu Eiter verdickten Träume, alle schwärenden, brandig gewordenen Sehnsüchte, Flüche, Wünsche und Verwünschungen, Leiden des Hungers und des Lasters.

Wendt sah zu den feierlichen Sternen empor, und er dachte daran, wie er so oft durch die glühenden Eisendämpfe der großen schwarzen Vorstädte vergeblich nach ihnen gespäht, wenn er von späten Wegen nach seiner Hausung zurückkehrte, umbrüllt von den Raubtierstimmen der Wahlstatt. Fast wie bittere Sehnsucht überkam es ihn. Unter jenen Armen, die im Schein elektrischer Monde, im Brodem der Tiefe, unter brütendem Stickgewölk aufwuchsen, und lebten und ihr Leben verfluchten, und es gerade darum liebten und starben – in jenen Wüsten des rastlosen Eisens war ihm unter allen den traurigen, von Anstrengung gefurchten, von Gram gehöhlten, von Zwielicht gebleichten, von Lastern zerwühlten Gesichtern niemals ein finsteres begegnet, niemals eine Stirn, deren Trotz ihm gegolten, niemals ein Blick, dessen Haß ihn getroffen hätte, den Arzt und Tröster und Freund. Gellende Klagen hatte er anhören müssen, abgrundtiefe Wunden waren vor ihm aufgerissen worden; bisweilen hatte ihm, dem starken Manne, gegraut vor dem Krater, in dessen pulsende Glut er hinabsah – aber ihn selbst hatten sie stets willkommen geheißen, die Siechen der Elendquartiere, ein lieber Gast war er unter ihnen gewesen, kein Fremder und kein Feind, wie einen Retter hatten sie ihn empfangen, da er kam, wie einen Wohltäter gesegnet, da er schied … Was war er nicht in der Fremde geblieben mit seiner Liebe!

Heute waren ihm haßbewölkte Stirnen gewiesen worden. Nicht von der dankbaren Rottenbacherin; auch nicht vom alten Schmölzhofer oder dem Grießbauern. Allein schon der Rottenbacher rückte kaum den Hut, als er, der Arzt, seinen Hof betrat. Der Rainstaller, den er noch vor wenigen Wochen von einem alten Schaden geheilt, bot ihm überhaupt nicht die Tagzeit; scheu und finster sah er zur Seite. Die auf den Feldern arbeiteten, blickten nicht einmal nach ihm hin, als er grüßend an ihnen vorüberging. Andere standen ihm Rede, aber auf ihren Gesichtern zeichnete sich unruhige Verlegenheit. So hatte der Winkler mit seiner Vorhersage recht behalten. Unbewiesenen Wundern und dem Gerede öffnete sich der Boden, daß sie Halt finden und Wurzel schlagen konnten. Wahrheit aber fiel zwischen Dornen und erstickte, Liebe fiel auf Stein und verdorrte, und was nicht zugrunde ging von der Aussaat, das ward verweht, was nicht verweht wurde, das ward zertreten.

Etwas abseits von einem der Ödweiler lag das kleine Anwesen der Emmerenz Schwandtner, der Gesundbeterin. Es war ein einsames Haus, das letzte auf die Bergwälder zu, mit einem Garten davor und einem efeuumsponnenen Bildstock am Zauntore.

Wendt kannte die Frau von früheren Begegnungen her, von Krankenzimmern und Wochenstuben. Immer schon hatte sie ihm ein böses Gesicht gezeigt; der Arzt war ihr offenbar unpaß. Doch hatte Wendt später sich davon überzeugt, daß die Züge dieses Weibes nicht leicht freundlichen Ausdruck gewinnen konnten. Die dichten, rabenschwarzen, engverwachsenen Brauen warfen gleichsam einen niemals weichenden Schatten über das hohle Antlitz, das neben den Spuren der Jahre immer noch Zeichen einstiger Schönheit trug, einer düsteren, abschreckenden, unheimlichen Schönheit. So nahm man ungerechterweise das Gesicht selbst für Gesinnung; vielleicht wohnte eine milde vergrämte Seele hinter der starren schwarzen Glut dieser Augen.

Von weitem schon vernahm Wendt den Doppelklang zweier Harken; die beiden Frauenzimmer arbeiteten im Garten. Wie von ungefähr trat er an den Zaun heran.

Die Gesundbeterin sah nicht auf, noch hielt sie ein in ihrer Beschäftigung. Aber die Tochter, ein aufgeschossenes bleiches Mädchen, der Mutter in keinem Zuge ähnlich, richtete sich halb empor und starrte aus großen tieferschrockenen Augen nach dem Fremden, der da zuwartend über den Zaun hereinspähte.

»Hinein gehst!« befahl die Gesundbeterin, ohne sonst mit Blick oder Wort von der Anwesenheit des Arztes Notiz zu nehmen.

Das Mädchen gehorchte zögernd, wie erstaunt oder zerstreut. Als wollte es noch einen Gegenbefehl der Alten abwarten, strich es mit beiden Händen über das goldhaselbraune, zart schimmernde Haar, das in zwei schweren Flechten den Kopf umwand.

»Hinein gehst!« wiederholte die Gesundbeterin.

Das Mädchen zuckte zusammen. Dann ging es unsicher, gleichsam horchend auf das Haus zu. Auf der Schwelle wandte es sich noch einmal nach dem Fremden um.

»Regula!« rief der Arzt.

»Hinein gehst!« herrschte die Gesundbeterin.

Das Mädchen verschwand im Dunkel des Flures.

»Ich habe sie aber sehen wollen,« sagte Wendt zur Alten, die unverdrossen, als sei niemand zugegen, weiter harkte.

Die Gesundbeterin gab keine Antwort.

»Wie geht's denn der Regula?« versuchte Wendt auf andere Weise.

Immer noch blickte die Emmerenz nicht auf.

»Geht eim jeden gut, der nix mit Heidenmenschen zum schaffen hat.«

»Soll aber krank gewesen sein, die Regula,« beharrte Wendt; »darum bin ich hier. Vielleicht kann ich ihr helfen.«

Die Gesundbeterin schwieg verstockt. Mit einem Male aber reckte sie sich zu voller Höhe empor, ganz plötzlich, von der Gewalt einer ausgelösten Spannfeder getrieben.

»Das weiß man schon, wie Ihr helfen wollts,« drohte sie; ihre Augen sprühten. »Die braucht Ihnen net, was eine Heilige is, die wo der liebe Gott in seiner Gnad selber heimg'sucht hat, die braucht Ihnen net. Nix wollts Ihr, als ihr die Seel verderben, damit daß Ihr den Teufel abzahlen könnts, Eure Schulden, hä?«

Wendt schüttelte den Kopf.

»Mit dem Teufel hab ich nichts zu tun,« sagte er in mühsam gespielter Laune; »der hat selber Furcht vor mir. Ich hab nur gemeint, daß ich Euch beistehn kann, der Weg da hinunter ist weit, und ich bin nun schon einmal da …«

Die Gesundbeterin kreischte auf.

»Net amal in ihre Näh derfets gehn, damit daß net die Heiligkeit von ihr g'nommen wird. Von so vieler Sünd!«

»Sünden hat ein jeder, Emmerenz,« warnte Wendt; »Ihr und ich und alle, und die Heiligen haben alleweil unter Sündern gelebt.«

Die Alte hörte gar nicht einmal zu.

»Und überhaupts, was hat denn so aner zu suchen vor meim Haus, wo der liebe Gott in seiner Gnad das Zeichen hat g'schehen lassen …«

»Ich bin nicht unter Eurem Dach,« verwies der Arzt. »Und der Weg, der vor Eurem Haus vorbeiführt, gehört allen Menschen. Und der liebe Gott auch.«

Die Emmerenz überschrie ihn.

»I will nix hören. Lauter Lästerung! … So aner, der hergeht und sagt, daß kan lieben Gott net gibt und kan Himmel net und kan Herrn Jesus net …«

Sie wies nach dem efeuumsponnenen Bildstock.

»Besinnts Euch, Emmerenz,« drohte Wendt; »das hab ich nie gesagt. Das ist eine Lüge.«

»Was is ane Lug?« Es widerhallte vom Walde her. »Was is ane Lug? Daß das g'sagt hast? … Steht dir ja auf dem G'sicht g'schrieben, was für aner daß bist! … Der Herr Jesus verzeih mir die Sünd …«

»Den Herrn Jesus laßts aus dem Spiel,« sagte Wendt scharf. »Mit giftigen alten Weibern hat der Herr Jesus gar nichts zu schaffen.«

Die Gesundbeterin schwang die Harke.

»Was hat denn so aner zum suchen daherin in unserem Land? … So aner … Ehrlichen Christenmenschen das Brot wegnehmen, hä? … Und an Kranken um den lieben Gott betrügen, hä? … Wiest es mit dem Hartbauern g'macht hast, in der Unzinger Pfarr drüben, hä? … Daß er in seine Sünden hing'fahren is zum ewigen Fuir, ohne rechts Sakrament … Und so aner, Heid und Leutverderber, so aner will dahergehn und behaupten, daß kan lieben Gott net gibt und kane Heiligen net und daß das kan Wunder g'wesen is mit der Regula, hä? … Alls bloß Krankheit, gelt, damit daß Euch Geld in die Säck schafft, dir und dem Giftkramer drunten, hä? …«

Wendt nahm sich hart zusammen.

»Besinnts Euch, Frau, ich rat es Euch noch einmal, im guten, ja? … Ihr wißt's nicht, was Ihr redts.«

»Gar ka B'sinnen gibt's da!« Die Gesundbeterin stemmte die hageren Arme in die Hüften. »Stehn alle Leut auf meiner Seiten, alle! … Frag nur um unter die Mander, wirst es schon hören … Was für ane Meinung daß von dir ham tun – von so am – so am – 's hat gar kan Nam, was für aner daß du bist …«

Ihre Stimme überschrillte; ihre Augen schossen Flammen.

»Schrei net aso, Emmrenz,« rief plötzlich eine Stimme von der anderen Seite her in den Garten. »Man hört's ja völlig bis zur Herrgottsalm hinauf, wie daß dich ins Unrecht hineinschreist.«

Ein alter Mann, klein und knorrig, kam den Zaun entlanggeschritten, den Grabstock in der erdbraunen Hand, einen Sack über der tiefgebeugten Schulter.

»Der Geisterer!« sagte die Gesundbeterin verächtlich; »jetzt, was hast denn du dich überhaupts dahereinzumischen, hä?«

»Weil das schon amal dem Geisterer seine Weis is, daß er sich dreinmischt.«

Die Emmerenz zuckte die Achseln.

»Bist eh aa so aner.«

Des Alten Alraungesicht wurde ganz ernst.

»Weißt du, was für aner daß i bin? … Ham mir uns je begegnet auf unsre Weg? … Mir gehn allweil ausanand, du hinunter, i hinauf in die große Einsam … Unsre Weg ham nix mitanand zu schaffen, der deinige und der meinige … Dadrum tust du net wissen, was für aner daß i bin …«

Die Gesundbeterin lachte geringschätzig.

»Wurzelklauber, Geistbrenner …«

»Jaja, Wurzelklauber, Geistbrenner.« Der Alte kicherte. Dann winkte er vertraulich dem Arzte.

»Gehn mir. In den Garten da kommen mir eh net hinein. Der is gesperrt für unseraner.«

Wendt rang schwer mit seiner Erbitterung.

»Aber die Lüge!« zürnte er; »die Lüge!«

Der Geisterer machte mit seiner runzeligen Hand eine Gebärde, halb verächtlich, halb mitleidig und versöhnlich.

»Laß! … Für den Berg is das Tal ane Lug, und fürs Tal der Berg, und Nacht und Tag ham beide recht, Jahr auf und nieder, seit was die Welt steht.«

Wendt bezwang sich. Was hatte er schließlich hier zu hoffen? Er folgte dem Alten.

»Gehts nur, ihr zwei,« murmelte die Gesundbeterin vernehmlich; »paßts eh zam wie der Teufel und der Judas.«

Der Geisterer sah sich nicht einmal um.

»Ihr habt's doch auch gehört von dem – Wunder?« fragte Wendt nach einer Weile.

Der Alte blieb stehen.

»Und zuwegen dem bist da heraufkommen?«

Wendt nickte kurz. »Aber nicht aus Neugier.«

Der Geisterer winkte ihm ab. »Weiß, weiß. Alles weiß i. Was für ane Sucht daß hinter dem Wunder umgeht, das hast herausfinden wollen, gelt? Aber sixt, damit is aso. Wann man's genau besieht, so kommt über an jeden das Wunder von dem, an was er am meisten denkt und glaubt. Über den ein von der Arbeit, über den von der Schlechtigkeit, übern andern von der Sucht. Was aner am längsten anschaut mit seinem Herzen, das wird er selber, und das ist das Wunder.«

Wendt schwieg eine Weile.

»Wo habt Ihr das her, Geisterer?« fragte er dann.

Der Alte sah über seinen Begleiter hinaus in unbestimmte Fernen.

»Wo i das herhab? Das kommt von inwendig. Alls kommt von inwendig. Und wann eins in der hohen Einsam lebt und schaut allweil hinunter, nacha schaut er hinunter aa in sich selber, und da sieht er alls, die ganze Welt.«

»Einmal komm ich zu Euch,« versprach Wendt; »mir scheint, in uns zweien, da ist etwas, das gehört zusammen.«

Der Geisterer wiegte den grauen Kopf.

»Is a weiter Weg bis auf meine Höh. Aber wer's aushalt, der dergeht's am End. Komm nur amal, kann leicht sein, daß die nämliche Wurzel und der nämliche Geist is in uns zweie. Jetzten müssen mir vonanand, du hinunter, ich hinauf. Laß dir's net ans Herz gehn, die Bosheit und die Lug. Es is allweil dieselbige Sucht, und wanns dich ihnen selber hergibst, sie machen doch bloß ane Sucht daraus.«

Zwischen Wacholderstrupp und Stämmen verschwand der Alte in der braunen Walddämmerung. –

Wendt sah noch immer zu den feierlichen Sternbildern empor, in die Abgründe der Ewigkeit.

Und er dachte daran, daß auch ihre Kreise nur Schein seien über den rastlosen Kreisen und Wirbeln dieser Welt, Jahrtrillionen über einer einzigen Sekunde, Ozeane um ein einziges Tröpfchen von ihrer Tiefe, das in seinem blinden Mitgeschehen nichts wußte von den gewaltigen Gezeiten der Urwasser.

Ob auch dort auf urfernen Monden das Leben gleiche Wege nahm? Ob es auch dort Wesen gab, die über ihrer engen Zeit der uferlosen Ewigkeit vergaßen? Lächerlichen Widerstreit zwischen Wahn und Wirklichkeit, fiebernden Krieg der Lügen, Betörung gegen Trug, Wahnwitz gegen Trunkenheit?

Ob sie auch dort den wahren Gott in Kirchen einsperrten – ob auch dort unterm Sockel der Kirchen die ewige Wirklichkeit, die ewige Wahrheit in versiegelten Grüften schlief, an ihrer Stelle aber lag die ewige Lüge zur Andachtsschau aus, angetan mit Prunkbrokat, umhegt von goldgefaßten Kristallwänden?

Ob auch dort Leben nicht bestehen und sich vollenden konnte ohne stufenweis sich steigernde und verfeinernde Innenreibung, daß es schließlich im Schmerze seiner entzündeten Wundmale mit blinden Händen ins Nichts hinauf griff, irgendwo Bürgschaft der Heilung, Gewähr des Lohnes, Hoffnung auf Lust ohne Ende zu finden? …

Ungestalt blockte die Wallfahrtskirche auf ihrer vorgeschobenen Warte. An der Brüstung der Bergkanzel aber stand ein einsamer Mann, der dachte mit heißen Gedanken in die Nacht hinaus, der spähte am Mauerdunkel der Kirche empor, als wollte er sie messen – wie man einen übermächtigen Feind mißt oder einen Sprung.

Blitzschein fackelte durch die Schluchten des heraufbrauenden Wettergewölks. Düsterrot überflackte er die Scheiben der steilen Kirchenfenster. Aber es sah aus, als bräche ein drohender Glanz von innen her, aus dem Grabe des Heiligen, aus der uralten steinernen Tiefe der Jahrtausende.


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