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Wir sind in einem Sterbezimmer. Das mit grüner Seide verhangene Bett birgt eine Frau, die ihren letzten Augenblicken entgegengeht, – sie weiß es und dennoch empfindet sie kein Bedauern. Keine Kinder umstehen ihr Bett, sie war niemals Mutter, und ihr Gatte, der am obern Ende ihres Lagers in einem Sessel ruht, kann ihr unmöglich den Abschied von dem Leben erschweren. Er ist zwar nur um ein paar Jahre älter als sie, aber selbst jetzt, in ihrer letzten Stunde, sieht sie aus wie seine Tochter; ihre Augen, die der Tod schon halb umschleiert, haben noch mehr Feuer und Glanz als die seinigen, und ihr schmerzbeschwertes Antlitz hat noch mehr Ausdruck als seine matten und energielosen Züge.
Der Arzt hatte eben die Kranke verlassen und in einer Stunde wiederzukommen versprochen. Keinen Ton vernahm man in dem Sterbezimmer, als das Athmen des schlafenden Hündchens unter dem Bett, das in gewohnter Ruhe unbewußt die letzte Stunde seiner gütigen Herrin verschlief.
»Adolf«, sagte die Kranke kaum hörbar, »hast du noch einmal nach Karolinen geschickt?«
»Gewiß, sie muß den Augenblick eintreffen«, erwiderte der Gemahl, indem er sich vorbog, um eine der Hände der Sterbenden zu nehmen und sie leise zu küssen. Sie ließ ihn gewähren; hatte der herannahende Tod eine bisher ihr fremde Milde in ihr Herz gegossen, oder hatte er ihr schon die Kraft genommen, sich Dem zu entziehen, was ihr sonst unerträglich war? Denn in der letzten Zeit ihres Lebens, als schon die tödtliche Krankheit sie zum Opfer erkoren, war ihre Abneigung gegen ihren Gemahl so sehr gestiegen, daß er nicht mehr ihre Fingerspitzen berühren durfte.
Mechanisch, ohne Rührung und ohne Gefühl, küßte Adolf immerwährend in kurzen Zwischenräumen die Hand der Sterbenden, als sich im Vorzimmer ein leises Geräusch vernehmen ließ; er sah auf und traf das Auge seiner Frau, die ihn durch einen Blick bedeutete, draußen nachzusehen. Er erhob sich und kaum hörbar über den Teppich gleitend verließ er das Zimmer. Als die Thür hinter ihm geschlossen, hob ein tiefer Seufzer die Brust der Kranken – nein, ein Seufzer war es nicht, es war das erleichterte Aufathmen einer kranken Brust, von der man eine schwere Bürde hinweggenommen!
Sie faltete die schmalen, abgezehrten Hände und ihre Lippen bewegten sich leise, während die Augen geschlossen blieben – sie betete, es war das letzte mal!
Kaum hatte sie noch die Kraft ihre Lider zu öffnen, als sie nach ein paar Secunden Schritte vernahm. Vor ihrem Bette stand wieder ihr Gemahl, aber auf seinen Arm gestützt ein anderer, neuer Ankömmling, eine große schlanke Frau, bei deren Anblick sich die Züge der Sterbenden augenscheinlich belebten.
»Gott sei Dank, Karoline«, sagte sie mit ziemlich vernehmlicher Stimme, »Gott sei Dank, daß du da bist! Ich betete eben zu Gott, daß du noch zu rechter Zeit erscheinen möchtest. Adolf, bitte, laß uns allein!«
Mit einem wehmüthig freundlichen Nicken verschwand Adolf durch die Thür zum Vorzimmer, Karoline aber warf sich vor dem Bett der kranken Frau auf die Knie und brach in Thränen aus.
»Es ist nicht möglich, Clara, du darfst nicht sterben! Du bist mein einziger Trost, meine einzige Freundin, das einzige Wesen auf Erden, an dessen Herzen ich Antheil habe. Verlasse du mich nicht!«
»Klage nicht um mich, Karoline, nach meinem Tode wirst du unermeßlich reich. Ich vermache dir ein kostbares Gut – seine Liebe, sein Herz.«
Sie versuchte unter ihrem Kopfkissen Etwas hervorzuholen, aber sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Die Freundin mußte ihr Hülfe leisten und es kam ein versiegelter Brief in blauem Couvert zum Vorschein. Auf der Adresse stand: »An Theophil«; weiter nichts. Diesen Brief legte Clara in die zitternden Hände ihrer Freundin und sagte schmerzlich lächelnd mit letzter Anstrengung: »Wenn ich todt bin, gibst du ihm selbst diesen Brief; deine Hand seiner Hand – dann ist's gut, und wenn Gott mich erhört, seid ihr Beide geborgen. Dann, nachdem sie gesehen, wie Karoline den Brief in ihrem Gewande verwahrt, kehrte sie ihr Antlitz der Wand zu und schloß die Augen. Karoline preßte ihr Gesicht in die seidene Decke der Kranken und hielt eine der schon erkaltenden Hände fest umklammert.
Nach ein paar Minuten trat der Arzt ein, Clara sah nicht mehr auf; später kam auch ihr Mann, aber auch ihm ward kein Blick mehr zu Theil; sie lag da wie im leisen Schlummer. Nach dem Verlauf einer Stunde, in welcher Zeit Karoline das Bett nicht verlassen, sagte der Arzt ruhig und sanft, wie er es wol schon hundert mal gesagt: »Sie ist entschlummert.«
Da preßte Karoline noch einen letzten leidenschaftlichen Kuß auf die nun leblose Hand, die ununterbrochen in der ihrigen geruht, deren zunehmende Kälte aber die eigene Fieberhitze sie verhindert hatte zu fühlen, und ihr bleiches Gesicht mit dem Tuche verhüllend schritt sie langsam der Thüre zu. Adolf ging ihr nach, aber sie winkte ihn weg mit den Worten: »Verlassen Sie sie nicht.«
Der Gemahl kehrte auch an das Bett der gestorbenen Frau zurück. Nachdem eine Weile seine Augen auf ihren stillen Zügen geruht, sagte er mit einer gewissen Gutmüthigkeit: »Arme Frau!«
Dann schellte er der Kammerfrau und befahl ihr, eine Leichenwärterin zu besorgen. Die Dienerin verließ still weinend das Zimmer, um der übrigen, draußen harrenden Dienerschaft die Trauerbotschaft zu verkünden. Einige davon schluchzten und weinten laut, Andere jammerten nur leise, Alle aber zerstreuten sich möglichst bald, um möglichst schnell Jemand zu finden, dem sie die Kunde mittheilen konnten, daß ihre Herrin, die Frau Baronin Clara von Berchheim, soeben verschieden.
In der ganzen großen Stadt trauerte schon am Abend desselben Tages kein Herz mehr um die Verstorbene, um sie, die eines der wärmsten Herzen, der leidenschaftlichsten Seelen darin gewesen; kein einziges: denn Karoline war mit dem letzten Eisenbahntrain fortgeeilt, um ihr Vermächtniß zu überbringen.
Wie oft hatte Clara sie in frühern Tagen beschworen, daß nur sie dem Freunde, dem Theophil, an welchen der Brief gerichtet war, die Nachricht ihres Todes überbringen dürfe – und Karoline hatte ihr dann versprochen, sogleich, nachdem sie die Augen geschlossen, abreisen zu wollen, damit nicht ein Zufall ihm ihren Tod früher zu Ohren bringe. Und dennoch hatte sie jetzt einen ganzen Tag verfließen lassen, ohne ihren Auftrag auszuführen; aber sie verdiente keinen Vorwurf deshalb, sie hatte es wirklich nicht vermocht, da der Tod Clara's sie so unaussprechlich gebeugt und ergriffen, wie sie es selbst gar nicht ihrer starken Natur zugetraut.
Bei ihrem Verlust erst hatte sie empfunden, was ihr Besitz ihr gewesen, und wie sehr sie an Clara's Todtenbette die Wahrheit gesprochen; sie war in der That jetzt ganz allein!
Ihre Aeltern, beide aus dem Süden Deutschlands waren als junges Ehepaar nach Amerika ausgewandert. Dort war Karoline geboren, aber in der Liebe zu dem Vaterlande ihrer Familie dort groß geworden, von dem Heimweh der Mutter mit Sehnsucht nach dem deutschen Lande genährt. Ihr Vater, ein Kaufmann, war in Verbindung mit einem geborenen Amerikaner inzwischen ein reicher Mann geworden und hatte Frau und Kind von Jahr zu Jahr auf die Rückkehr nach Deutschland vertröstet.
Da starb er plötzlich, und seine Gattin, eine zarte nervöse Frau, die mit leidenschaftlicher Liebe an ihm gehangen, folgte ihm binnen wenig Monaten. Karoline befand sich als Waise in einem Lande, das ihr immer ein fremdes geblieben, obgleich sie dort geboren. Der Compagnon ihres Vaters, ein habgieriger Amerikaner, konnte der Versuchung nicht widerstehen, die ihm durch Karolinens verlassene Stellung eingegeben wurde. Er brachte alle Papiere in die möglichste Unordnung und erklärte sich bankrott. Nach dem Verkauf derjenigen Besitzthümer, die er nicht in Händen gehabt, und nachdem Alles geordnet, erhielt Karoline ungefähr den zehnten Theil von Dem, was ihr eigentlich gebührte, was aber dennoch immer so viel war, daß in Deutschland eine einzelne Person damit für wohlhabend gelten konnte.
Die Mutter ihrer Mutter lebte noch in Deutschland; als sie ihr den Tod ihrer Aeltern mitgetheilt, hatte Karoline sie zugleich um ein Asyl gebeten, was ihr die alte Dame auf das freundlichste gewährte. Als Karoline später den Wechsel in ihren Vermögensverhältnissen erfuhr, hatte sie der Großmutter nichts davon mitgetheilt: denn wie alle jungen edlen, in großartigen Verhältnissen aufgewachsenen Seelen hielt sie Geld und Gut für das Letzte, dessen der Mensch zu seinem Glück bedürfe, und da sie ihre Aeltern, ihr Liebstes verloren, was lag daran, daß sie ihr Vermögen auch noch verlor? Und was sollte sie jenseit des Weltmeers die Seele der alten Frau mit einer unnöthigen Sorge belasten?
Als ihr Advocat ihr die Summe, welche ihr ganzes Besitzthum nun ausmachte, einhändigte, fand sie sie noch über Erwartung groß, denn sie meinte für sich, ihre Kammerfrau und ihren alten Diener nun gar nichts mehr zu bedürfen, und frug lächelnd, indem sie die englischen Banknoten durch die Hände gleiten ließ, was sie nur mit all dem Gelde anfangen solle?
Nach einer langen, beschwerlichen Reise kam sie endlich in dem Lande ihrer Sehnsucht, in Deutschland, an.
Ihre Großmutter bewohnte ein kleines Landhaus, das eine Viertelstunde entfernt von einem sehr besuchten Badeorte Süddeutschlands lag. Dort in einem der ersten Hôtels stieg Karoline ab und schickte ihre Kammerfrau mit einem Lohndiener zu der alten Dame, um ihr die Ankunft der Enkelin zu melden und sie zugleich um die Erlaubniß zu bitten, zu ihr eilen zu dürfen, denn sie fürchtete die kränkliche alte Frau durch eine plötzliche Ankunft zu erschrecken.
Nach einer Stunde kam ihre Kammerfrau zurück: die Großmutter, die letzte Zuflucht der Waise, war vor acht Tagen plötzlich an einem Schlagfluß verschieden. Karoline stand auf der Schwelle der neuen Heimat von neuem verwaist und verlassen!
Als Karolinens Ankunft bekannt wurde, erhielt sie eine gerichtliche Auffoderung, der Eröffnung des Testamentes ihrer Großmutter, welches bei den Gerichten niedergelegt war, beizuwohnen.
Es überraschte sie natürlich nicht, da sie die einzige Nachkomme ihrer Großmutter war, von dieser zur Universalerbin ernannt zu sein, und sie wußte auch, daß die alte Dame nichts besessen, als das Haus mit Garten, welches sie bewohnt, und eine Pension, die sie vom Staate für die Militärdienste des verstorbenen Gemahls bezog. Wie staunte aber Karoline, als durch ein mit späterm Datum dem Testamente angehängtes Codicill sie die Kunde erhielt, daß ihrer Großmutter wenig Wochen vor ihrem Tode eine große Erbschaft von einem in Irland gestorbenen Neffen zugefallen war, die sie wiederum ihrer Enkelin überließ, mit Ausnahme einiger Legate für ihre beiden alten, treuen Dienerinnen.
Karoline bedauerte innerlich, daß nicht einem Andern ein solch überraschender Glücksfall zu Theil geworden; sie selbst blieb ganz kalt dabei – was sollte sie mit der halben Million beginnen?
Mit den wehmüthigsten Gefühlen der Welt fuhr sie hinaus, um Besitz von ihrem neuen Eigenthum zu ergreifen. Als sie von weitem das kleine, zierlich gebaute Haus am Ende der Akazienallee, an deren Eingang ein großes Gitterthor sich befand, liegen sah, bemächtigte sich ihrer aber doch eine schmerzliche Freude. Nach so langem ruhelosem Umherziehen hatte sie doch wieder eine Heimat, ein zu Hause!
Es war ein umwölkter Herbstnachmittag, einzelne gelbe Blätter lagen schon auf dem Wege zerstreut und Karolinens Fuß schob die ersten abgefallenen wilden Kastanien zur Seite, als sie mit eigener Hand, denn dem Diener winkte sie zurückzubleiben, das schwere Gitterthor zu ihrem neuen Eigenthum öffnete. Am Morgen desselben Tages hatte ein von ihr Bevollmächtigter die Siegel abnehmen lassen und die Hausthür stand offen, zu beiden Seiten in tiefer Trauer die beiden alten Dienerinnen ihrer Großmutter, die seit ihrem Tode in einem kleinen Nebengebäude sich aufgehalten.
Als sie weinend baten, sie nicht zu verstoßen, brach sie in Thränen aus. Sie, Jemand verstoßen, sie selbst eine arme Verstoßene – jede neue Zuflucht nahm ihr ja das Grab und warf ihr dafür Geld und wieder Geld hin!
In den Zimmern war noch der starke Duft der Arzneien verbreitet, die man bei der sterbenden Frau zuletzt angewendet. Alles lag und stand noch, wie die alte Dame es benutzt hatte. Ueber dem Sopha, wo sie den tödtlichen Anfall bekommen, hing ihr Bild als Braut gemalt. Es war ein unaussprechlich anziehendes Gesicht mit großen blauen Augen, die einen schwärmerischen Ausdruck hatten. Karoline fragte die Kammerfrau, ob ihre Großmutter noch in ihrem Alter diesem Bilde geglichen?
»O, die gnädige Frau war eine sehr schöne alte Dame«, sagte die treue Dienerin mit großer Wärme. »Einen Teint wie Wachs und die schöne gerade Gestalt, und die sanften Augen, und so weiche weiße Hände«, setzte sie hinzu, indem sie ihre Blicke auf der Enkelin ebenfalls ausgezeichnet schöne Hände richtete.
Karoline mochte überhaupt wol Aehnlichkeit mit ihrer Großmutter haben, obgleich sie nicht so schön war, wie diese in ihrer Jugend gewesen. Ihre Gestalt war tadellos, aber ihr Gesicht entbehrte, um schön zu sein, der Frische; die Züge selbst waren edel, wenn auch nicht ganz regelmäßig. Ihre Erscheinung hatte aber einen unbestreitbaren Vortheil: sie machte immer den Eindruck von etwas Ungewöhnlichem, Ausgezeichnetem, und das ist mehr als ein hübsches Gesicht.
Nachdem sie noch eine Weile den begeisterten Reden der Alten gelauscht, sehnte sie sich nach einsamer Ruhe in ihrem neuen Eigenthum und ging, um Alle zu vermeiden, in den Garten, der mit einer Menge alter Bäume bepflanzt war.
Dort saß sie in Träume versunken auf der Bank unter einem Lindenbaum und bemerkte gar nicht, daß ein Gewitter im Anzuge war und zwar ein für die vorgerückte Jahreszeit ungewöhnlich starkes.
Es begann zu regnen, sie gewahrte es nicht unter dem weiten Zweigdach ihres sie schützenden Lindenbaums, als plötzlich ein lautes Rufen und Pferdestampfen sie aus ihren Träumen weckte.
Als sie aufblickte, sah sie dicht vor sich über die hohe Hecke des Gartens einen mit einem Männerhut bekleideten Frauenkopf hervorragen.
»Können wir nicht in diesem Hause uns vor dem Gewitter schützen, mein Fräulein?« frug eine besonders wohlklingende Frauenstimme Karolinen, indem nun auch eine kleine Damenhand zum Vorschein kam, die mit der Reitgerte nach Karolinens Hause zeigte.
Karoline besann sich, daß sie nun wirklich die Wirthin des Trauerhauses sei. Sie wischte die Thränen, die in ihren Augen standen, schnell weg, und indem sie der Dame kurz, aber höflich andeutete, wohin dieselbe sich zu begeben habe, um den Eingang zu finden, eilte sie selbst in das Haus und befahl ihrem mitgebrachten Diener, die Thorflügel für die Fremden zu öffnen.
Bald sprengten auch wirklich drei Reiter, eine Dame und zwei Männer, herein; die Letztern sprangen schnell vom Pferde, um der Dame während des immer stärker strömenden Regens aus dem Sattel zu helfen.
Karoline stand unter der Hausthür, um sie in das Zimmer zu geleiten, während die Männer die Pferde unterzubringen suchten. Nachdem die Dame sich über ihr Eindringen entschuldigt und erklärt, wie sie vom benachbarten Badeorte aus einen Spazierritt unternommen und vom Gewitter überrascht worden sei, suchte auch Karoline den auffallenden Zustand der düstern Zimmer, wo Alles von längerm Unbewohntsein zeugte, zu entschuldigen, indem sie möglichst kurz ihre Lage und ihr Hiersein erklärte. Die Thränenspuren auf ihren Wangen setzten hinzu, was sie aus Stolz der fremden Frau verschwieg.
»Und was haben Sie jetzt beschlossen, mein liebes Fräulein, wohin wollen Sie?«
Ein unaussprechlich schmerzliches Lächeln und ein Achselzucken waren Karolinens ganze Antwort, sie wagte nicht zu reden, denn sie beherrschte kaum ihre Thränen.
Clara Berchheim, denn das war die Fremde, stand auf. Ihr überwallend weiches Herz erschloß sich in lebhafter Theilnahme für die verwaiste anmuthige Fremde. Sie streckte ihr die Hand entgegen.
»Kommen Sie jetzt mit mir zurück, bleiben Sie nicht länger in diesem melancholischen Hause. Das mag herrlich und wohnlich sein, wenn es gelüftet und neu eingerichtet ist, aber in seinem jetzigen Zustande könnte es nur gefallen, wenn die verstorbene Eigenthümerin es mit ihrem Geiste und ihrer Liebenswürdigkeit beseelte. Ich habe von ihr reden hören, es soll eine höchst ausgezeichnete Frau mit merkwürdig lebhaftem Geiste gewesen sein. Für sie paßten diese Meubles, die mit ihr jung gewesen, ja ich hasse es sogar, wenn alte Leute in ihrer Umgebung und ihrer Kleidung modern sind; aber Sie, liebes Fräulein, müssen sich für sich selbst einrichten, jugendlich freundlich und heiter.«
»Ich wollte heute Abend ohnedem in mein Hôtel im Badeorte zurück, wo meine Zimmer noch auf acht Tage gemiethet sind, und dann wollte ich erst herausziehen.«
Es ergab sich nun, daß Frau von Berchheim und Karoline Senten ein und dasselbe Hôtel bewohnten. Da es noch immer regnete, so bot Karoline der Dame einen Platz in ihrem Wagen an, ihr Diener sollte das leere Pferd den Herren, die jetzt auch eintraten, nachreiten. Man rüstete sich zum Aufbruch, und als Karoline, nachdem sie den Abend im Salon ihrer neuen Bekannten zugebracht, von dieser schied, sagte Clara gerührt: »Uns hat Gott zusammengeführt!«
Und so schien es auch. Als Clara – ohne Erfolg, wie sie klagte – ihre Badecur vollendet hatte, und nach der Stadt, wo sie wohnte, zurückkehrte, beredete sie Karoline, die seitdem täglich mit ihr zusammengekommen, sie dorthin zu begleiten und für den Winter bei ihr zu bleiben, während sie ihr versprach, nächstes Frühjahr mit ihr das neueingerichtete Landhaus der Großmutter zu beziehen.
Zu dieser neuen Einrichtung konnte sich Karoline noch immer nicht entschließen. Sie verfügte, daß die beiden Dienerinnen den Winter da wohnen sollten und sie selbst wollte dann im Frühling vom Badeorte aus mit liebender Hand nach und nach nur Das in der Einrichtung ändern, was unumgänglich nothwendig war – ein so radicaler Wechsel, wie Frau von Berchheim ihn vorhatte, widerstrebte aber ihrem Gefühle, denn diese Umgebungen ihrer Großmutter waren ja das Einzige, was ihr noch von ihrer Familie geblieben.
Außerdem fügte sie sich in Allem den Wünschen Clara's, die Verwaltung ihres großen Vermögens übergab sie einem von ihr als zuverlässig empfohlenen Agenten und bezog mit den beiden aus Amerika ihr gefolgten Dienern und der alten Kammerfrau ihrer Großmutter ein kleines Haus in der Nähe Clara's.
*
Clara Berchheim' und Karoline Senten's Freundschaft gehörte bald zu den innigsten, die jemals zwischen zwei Menschen bestanden. Leider währte sie nur wenig über ein halbes Jahr, da starb Clara und Karoline stand zum dritten mal ganz allein. Denn Clara's Kränklichkeit hatte diese seit längerm in ihr Haus und in die Einsamkeit gebannt, und Karoline, die unzertrennlich von ihr war, hatte auf diese Weise durchaus keine neue Bekanntschaften angeknüpft.
So lange Clara lebte, vermißte sie auch Niemand. Da sie nur eine innere Vergangenheit besaß, so hatte sie alle ihre Ahnungen und Gedanken in die Brust dieser Frau ausgeschüttet, die hingegen einen unermeßlichen Schatz von Gefühlen und Schmerzen, von Täuschungen und Irrungen vor ihr aufschloß. In Clara's Leben waren Begebenheiten getreten, von denen die arglose Karoline gar keine Ahnung gehabt.
»Deine Seele ist im Vergleich mit der meinigen wie ein weißes Blatt«, hatte oft Clara zu ihrer Freundin gesagt.
Die arme Clara hatte, wenn auch kein stürmisches, doch ein an schmerzlichen Ereignissen reiches Leben gehabt, von denen freilich die Menge nichts ahnte. Ihre Ehe galt für eine glückliche, denn ihr Mann war früher sehr schön gewesen, dabei fand man ihn liebenswürdig und voller Talente. Er sang, er componirte, er zeichnete, er dichtete – kurz, er dilettirte in jeder eleganten Kunst.
Als er seine Frau kennen lernte, lebte sie im Hause ihrer Tante, der Fürstin W. Diese Fürstin, eine noch sehr eitle und leidenschaftliche Frau, deren Jugend mit den seltsamsten Abenteuern durchkreuzt war, faßte in schon vorgerücktem Alter noch eine heftige Leidenschaft für den jungen Adolf Berchheim, und als dieser keine der Aeußerungen und Andeutungen dieser Leidenschaft zu bemerken schien, beschloß sie auf andere Weise ihren Liebling in ihre Nähe zu fesseln, indem sie ihre schöne Nichte als Lockspeise für den jungen Mann gebrauchte – kein Opfer war ihr für ihren Zweck zu groß.
Berchheim, der die Eroberung der Tante ignorirt, bewies auch in der That mehr Empfänglichkeit für die Reize der Nichte, als ein Vertrauter der Fürstin sie ihm als eine gute Partie empfahl. Der Antrag fand williges Gehör, umsomehr, als er zufällig in einem sehr günstigen Augenblicke geschah: denn Adolf Berchheim befand sich gerade in einer großen Geldverlegenheit. Er hatte beinahe sein ganzes Vermögen durchgebracht und die Gläubiger fingen an, ihm lästig zu werden. So wurde er Clara's Gatte, die in seiner Annäherung nur eine plötzlich erwachte heftige Liebe sah und gerührt und geschmeichelt in die Arme des schönen Bräutigams sank.
Acht Tage lang war sie eine glückliche Frau gewesen, da wollte ihr Dämon, daß sie eines Abends in traulicher Dämmerstunde an ihres Mannes Schulter ruhend, an diesen die Frage stellte: An welchem Tage, in welcher Stunde er sich wol eigentlich in sie verliebt habe? – worauf er naiv entgegnete: »Da ich jetzt bis über die Ohren in meine kleine Frau verliebt bin und sie auch mit unumstößlicher Gewißheit davon überzeugt ist, so sehe ich nicht ein, warum ich ihr nicht die ganze Wahrheit gestehen sollte. In dich verliebt, mein Kind, habe ich mich erst am Hochzeitstage, wie du mir da so überaus reizend in Schleier und Myrtenkranz entgegentratest.«
»Erst am Hochzeitstage! Aber warum, in aller Welt hast du denn den Gedanken gefaßt, mich zu heirathen?«
»Aus sehr einfachen Gründen, mein Mäuschen: weil ich ruinirt war. Meine Güter waren für Spiel, Pferde und andern Luxus bis auf den letzten Pfennig verpfändet.«
»Was das für schlechte Spaße sind, Adolf. Ich bin ja nicht reich. Ich habe gar nichts als die Ausstattung der Tante, keinen Heller eigenes Vermögen!«
»So weißt du wirklich gar nichts von den Verfügungen der Fürstin? Sie hat es dir wol nicht gestanden, weil sie sich des Grundes ihrer Großmuth schämt – mir hat sie auch verboten, dir es zu sagen, aber ich liebe dich viel zu sehr, um dir etwas zu verschweigen. So wisse denn, daß sie mir am Hochzeitstage ein Document übergeben, wonach ich, solange sie lebt, die Zinsen von hunderttausend Gulden erheben kann. Haben wir ihr keine Ursache zur Klage gegeben, so erhalten wir bei ihrem Tode das Capital und zwar verdoppelt. Warum siehst du mich so versteinert an? Das ist leicht zu erklären, denn deine gute Tante ist in mich verliebt! Ich habe ihr versprechen müssen, sie nie mit dir zu verlassen. Das können wir ja thun, und sie bezahlt das unschuldige Vergnügen meiner Gesellschaft auf jeden Fall theuer genug. Ich habe dir diese Umstände übrigens auch mitgetheilt, damit du in ihrer Gegenwart etwas mehr Rücksichten nimmst und mir nicht gerade, wenn sie im Zimmer ist, um den Hals fällst – diese ostensiblen Zärtlichkeiten könnten uns theuer zu stehen kommen und wir sehen uns ja oft genug allein.«
Er wollte Clara jetzt umarmen, aber sie wandte sich ab und verließ das Zimmer. Clara war zwar in derselben großen Welt wie ihr Mann erzogen, und zwar ohne besondere Sorgfalt, ohne besonders feine und zarte Moral: aber sie war erst achtzehn Jahre alt und ihre achttägige Ehe mit einem leichtsinnigen Menschen hatte noch nicht das reine und richtige Gefühl verwischen können, das in jedem jungfräulichen Herzen sich geltend macht.
Aus einer überaus glücklichen war sie nun eine elende Frau geworden. Die beiden einzigen Menschen, die sie geliebt, verachtete sie mit einem Schlage, und sowie das Kind, das seine Aeltern nicht achten kann, unendlich zu beklagen ist, so dreifach das Weib, das seinen Gatten verachten muß. Die arme Clara war wie zerschmettert; es war ein Glück für sie, daß sie krank wurde und so im heftigen Taumel eines Fiebers die ersten fürchterlichen Eindrücke überwand. Als sie genesen, war sie eine Andere. Aus einem unbedeutenden, aber sanften, heitern und lieblichen Mädchen, war eine scharfe, kluge, herrschsüchtige Frau geworden. Da sie katholisch war und also die Ketten, die sie an den unwürdigen Gatten fesselten, nicht abzuschütteln vermochte, warf sie wenigstens den schwersten Theil auf seine Schultern, indem sie ganz allein im Hause herrschte. Und da er sich ernstlich in sie verliebt hatte, wurde ihr dies sehr leicht; aus ihrem Herrn wurde er ihr Sklave. Dieser Wechsel war aber so früh nach der Hochzeit eingetreten, daß ihn Niemand bemerken konnte; doch schon nach ein paar Monaten sprach man in den Gesellschaften von dem »fabelhaften Pantoffel« der jungen Berchheim.
Clara schwang sich später zu dem Rufe einer geistreichen Frau auf; es war bei ihr, wie bei so manchen unglücklichen Frauen, die Reife des Geistes nur ein Resultat des verkümmerten Zustandes ihres Herzens – der Baum, der keine Rosen bringt, prangt ja auch im reichsten Blätterschmuck.
Sie versammelte in ihrem Hause einen Kreis von bedeutenden Menschen; Dichter, Musiker, Maler, jeder Künstler und überhaupt alles Ungewöhnliche war bei ihr willkommen.
Der Baron Adolf Berchheim spielte in diesen Cirkeln nicht viel mehr als die Rolle eines ersten Kammerdieners. Er versorgte die Gäste mit Zucker und Rahm zum Thee, er schleppte den Damen Stühle herbei; wenn es hoch kam, stellte er die Fremden einander vor, und wenn seine Frau eine satirische Bemerkung machte, lachte er zuerst und eröffnete den Chor ihrer Bewunderer. Er hatte durch Uebung einen eigenen Takt erlangt, immer ihre pikanten Bemerkungen hervorzuheben. Sie war so sehr an diese Claque gewöhnt, daß, wenn er in den erwähnten Fällen sein Amt nicht versah, sie sich immer verwundert nach ihm umblickte; obgleich ihr diese Huldigung keine Befriedigung ihrer Eitelkeit gewährte, so war sie unbewußt zu sehr daran gewöhnt, um sie nicht zu vermissen.
So waren zwölf Jahre für Clara verflossen, die Fürstin war längst todt, aber die Zinsen der zweimalhunderttausend Gulden deckten kaum die Ausgaben des Berchheim'schen Hauswesens. Denn eine besondere Schattenseite Clara's war es, daß ihre Finanzen nie geordnet waren – ihr lag aber auch nichts daran und sie strebte immerfort, durch äußerliche Annehmlichkeiten ihrem inhaltlosen Leben einen Reiz zu geben. Sie hatte das Glück ja nur acht Tage lang gekannt und fühlte doch ihr Recht und ihr Bedürfniß, glücklich zu sein, ebenso lebhaft, wie jede andere Frau.
Sie machte Reisen nach Italien, nach der Schweiz, nach Paris, sie kaufte hier und da ein schönes Gemälde und sie hatte doch kaum zehntausend Gulden jährlicher Einkünfte. Ihr Vermögen schmolz nach und nach zusammen, und jemehr es zusammenschmolz, desto weniger sah sie die Möglichkeit, es zu verhindern.
Sie war jetzt dreißig Jahre alt und noch immer eine sehr anziehende Erscheinung. Leider hatte sich aber in letzter Zeit ihr geistreiches Wesen zu einem förmlich barocken Benehmen gesteigert. Ohne eine Unanständigkeit zu begehen, trieb sie nichts, als auffallende Dinge. Schon am frühen Morgen ritt sie in mittelalterlichem Costume aus, sie fuhr selbst in ihrem leichten Gig, sie disputirte wie ein Mann mit Männern, sie ging auf die Jagd, sie rauchte die stärksten Cigarren, kurz sie suchte etwas darin, aufzufallen. Es war das letzte Aufflackern ihrer jugendlichen Heiterkeit, das Bedürfniß, beim Untergehen ihrer Sonne noch ein mal Aller Augen auf sich zu lenken, in rauschenden Freuden noch möglichst einzusammlen, was ihrem verfloßenen Leben an tiefer Bedeutung abgegangen war. Da man dieses Treiben natürlich in der Welt bekrittelte, fand sie erst recht Geschmack daran; denn wie alle getäuschten Herzen war das ihre mit trotziger Bitterkeit erfüllt und fand eine Freude daran, gegen den Strom zu schwimmen und so die brachliegende Kraft des Herzens zu vergeuden.
»Diese Larven können es nicht vertragen«, sagte sie oft zu ihrem Kreise, »wenn man sich nicht mit ihrer Schminke schminkt, in ihre Schnürleiber preßt, und auf ihren Stelzen geht. Was thue ich denn anders, als ihre langweiligen Formen verachten?«
Ihr Gemahl blieb sich immer gleich, er half ihr in den Sattel, zündete ihre Cigarre an und applaudirte ihre barocken Behauptungen. Sie schien ihn nie zu bemerken; das ging soweit, daß einmal ein junger Franzose behauptete, es sei ein Begriff, der ihr fehle, sie ahne nicht, daß es einen Herrn von Berchheim gebe, c'est une idée fixe negative, qu'elle a.
Beinahe war es auch so. Da machte Clara eine Bekanntschaft, deren Einfluß ihre ganzen bisherigen Interessen verwischte, all ihr barockes Treiben beendigte und ihre Gefühle wieder in voller Kraft bei dem Punkte erwachen ließ, wo sie vor zwölf Jahren eingeschlummert.
Clara hatte von ihrer ersten Jugend an ein großes, lebhaftes Interesse für die Dichtung gehabt. Die Hälfte ihres kleinen Taschengeldes hatte sie als junges Mädchen gewöhnlich für Gedichtsammlungen ausgegeben und eine große Anzahl davon ihrem Gedächtnisse eingeprägt, und den Dichtern selbst in ihrer Phantasie die glänzendsten Eigenschaften beigelegt. Die große Masse, welche anfangs ihre jugendliche Begeisterung umfaßte, lichtete sich allmälig und ihre Bewunderung wurde, jemehr ihr Urtheil reifte und ihr Geschmack sich verfeinerte, nur noch einigen Wenigen zu Theil. Darunter nahm ein junger Dichter, Theophil ****, einen hervorragenden Platz ein. Er war erst vor ein paar Jahren mit einem kleinen Bändchen lyrischer Gedichte mit vielem Glück aufgetreten. Eine große Frische der Auffassung, eine durchaus originelle Ausdrucksweise und ein gewisser, besonders reizender, durch alle seine Dichtungen wehender melancholischer Zug, waren die Vorzüge, welche seinen Ruhm begründet hatten: denn er war durchaus in der Mode. Daß seine Gedanken nicht die Kraft eines Lenau, seine Gleichnisse nicht die Schärfe Heine's und seine Form nicht die Tadellosigkeit eines Platen besaßen, verzieh man ihm und übte so jene Gerechtigkeit, die die Welt nur leider einigen Lieblingen gegenüber ausübt, während sie sonst mit rücksichtsloser Härte Alles von Allen verlangt.
Clara theilte also zum ersten male seit langer Zeit ein Interesse mit den übrigen Damen, indem sie Theophil **** zu ihrem Lieblingsdichter erkor. Gesehen hatte sie ihn nie, aber sein Bild in Stahl hing über ihrem Schreibtisch, seine kleine Büste schmückte ihre Rococo-Etagère, seine Gedichte hatten den schönsten Einband unter ihren Miniaturausgaben und die Gegenstände dieser Gedichte hatten der talentvollen Frau Veranlassung zu mehren wunderschönen Zeichnungen ihres Albums gegeben.
Da kam einer ihrer gelehrten Freunde, der alte Bibliothekar Becker, eines Morgens zu ihr und meldete ihr die Ankunft Theophil's, indem er um die Erlaubniß bat, ihn am Abend zu einer kleinen Gesellschaft in ihrem Hause mitbringen zu dürfen.
Diese Erlaubniß wurde ihm höchst bereitwillig und freudig ertheilt.
*
Es war das erste mal seit langer Zeit, daß Clara an einem Tage, wo sie nur ihren gewöhnlichen kleinen Cirkel bei sich sah, zum zweiten mal Toilette machte – und zwar mit besonderer Sorgfalt. Mit eigener Hand ordnete sie ihr reiches blondes Haar an den Wangen, aber einem langen aufmerksamen Blicke in den Spiegel folgte der Gedanke, daß sie nicht mehr jung und schön sei. Sie hatte lange ihre Züge nicht so aufmerksam gemustert, denn von der gewöhnlichen kleinlichen Fraueneitelkeit besaß sie nichts; sie war über die Veränderung traurig und lehnte im Sessel zurück und dachte über ihre verlorene Jugend nach und wie sie nichts, so gar nichts zum Ersatz dafür gewonnen. Erfahrungen hatte sie freilich gesammelt, aber nur trübe – hatte sie nicht mit der Jugend auch ihren Glauben an die Menschen, ihre Heiterkeit und ihre Zuversicht für die Zukunft eingebüßt?
Keine Freude, kein Glück, nicht einmal den Trost einer innigen Freundschaft hatte sie genossen. Wie das an ihrem lebhaften Geiste vorüberzog, versank sie in jenes träumerische Mitleid mit sich selbst, das jedem phantasiereichen Menschen beinahe immer eine wehmüthige Freude, eine eigenthümliche, genugthuungspendende Empfindung gewährt!
Theophil war mit dem Bibliothekar einer der letzten Gäste. Clara würde ihn trotz seines Porträts nie erkannt haben. Im Bilde machte er den Eindruck eines Menschen von gewöhnlicher Größe, während er in Wirklichkeit seine Umgebung beinahe immer um einen Kopf überragte, obgleich er den Eindruck einer schmächtigen und empfindlichen Natur machte. Sein Gesicht war nicht eigentlich schön zu nennen, denn sein Mund und sein Kinn waren nicht regelmäßig geformt, seine Augen allein waren von unwidersprechlicher Vollkommenheit. Sie waren groß und dunkel, von ergreifendem Ausdruck. Vor dem melancholischen Blick dieser Augen erröthete Clara, als wäre sie noch einmal sechzehn Jahre alt, und die Huldigung, die der Dichter in sein Benehmen gegen sie zu legen wußte, erfüllte sie mit dem kindischen Stolze eines Neulings, sie, die sonst alle Huldigungen der Männer mit Geringschätzung von sich wies.
Ihr kindlicher Triumph ließ sie jugendlich und reizend erscheinen: so liebenswürdig wie an diesem Abende war sie noch nie gewesen und Theophil sagte zu seinem Freunde bei dem Nachhausegehen: »Wie dankbar bin ich Ihnen für die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Frau!«
Er ging oft zu ihr, und nach wenigen Wochen liebte er sie, sie liebte ihn, bald dünkte jeder Tag, an dem sie sich nicht sahen, den Beiden ein verlorener.
Es vergingen Monate, bis sie sich ihre Liebe gestanden: und das geschah in einem Augenblick, wo Clara in Theophil's Gegenwart von einem andern Manne beleidigt worden und jener sich zu ihrem Ritter aufgeworfen hatte. Da, als sie sich allein fanden, war über ihre Lippen gekommen, was ewig hätte verschwiegen bleiben sollen, und von diesem Augenblicke an waren die beiden Menschen, die bisher in einem träumerischen Selbstvergessen unendliche Seligkeit gefunden, namenlos elend und unglücklich. Beide waren zu stolz, zu leidenschaftlich und zu sehr gewöhnt, jedem Hange zu fröhnen, um in absichtliche Verstellung und Täuschung vor der Welt sich finden zu können.
»Seitdem Sie«, schrieb Clara an ihren Freund, »Sie, der Sie mir der erste der Menschen sind, um meine Liebe wissen, seitdem erscheint mir dies Verbergen der übrigen Welt gegenüber als elende Heuchelei und niedrige Verstellung. Solange wir uns nichts gestanden, war meine Seele ein Tempel, dessen Gottheit jedem Menschenauge, selbst dem meinigen, verschleiert war – ich wußte nicht, wie sehr ich Sie liebte, nur das ahnende Gefühl dieser unermeßlichen Liebe gab mir Schwingen, die mich hoch über die Welt erhoben, so hoch, daß sie ganz meinen Augen entschwand!
Seitdem wir Beide zusammen aber in den Tempel eingetreten, sind mir die Schwingen abgefallen und ich stehe am Boden – zwar an geliebter Hand, aber doch mitten unter Menschen, die mir ins Antlitz sehen und vor denen ich die Augen niederschlagen soll – die Augen niederschlagen, weil ich dich liebe!
Darum laß uns scheiden!
Erliegen wir dieser Aufgabe, so kommen unsere armen Herzen zur Ruhe und wir finden uns dort!
Ertragen wir diese Trennung und stimmen uns wieder herab zu jener Existenz, die man das gewöhnliche Leben nennt, so müssen wir uns ja glücklich preisen!«
Sie trennten sich wirklich, denn Clara gab nicht nach mit Bitten und Befehlen und Theophil mußte die Stadt verlassen. Er sah ihren Kampf zwischen dem Stolz ihrer Liebe und dem Stolz ihrer Tugend, zwischen ihrem Unabhängigkeitsgefühl und ihrem Entschlusse, daß die Gesellschaft, deren Formen sie überall verletzt hatte, ihr nun kein wirkliches Vergehn vorwerfen solle.
Theophil fühlte in ihrer Seele, daß diese Kämpfe sie aufreiben müßten und gab ihr, wie gesagt, auch deshalb nach. Aber nur die Hoffnung, sie bald wiederzusehen, verlieh ihm den Muth sich von ihr zu trennen; denn seine Liebe zu ihr hatte den leidenschaftlichsten Charakter angenommen.
In der nächsten Stadt siedelte er sich an, die Eisenbahn konnte ihn binnen einer Stunde zu ihren Füßen bringen und das war sein einziger Trost, sowie ein Versprechen, das sie ihm beim Abschiede hatte geben müssen. Es war, daß sie ihm jeden Tag einige Zeilen senden werde, die sein Diener selbst aus ihren Händen empfangen solle. Jeden Tag mußte der Getreue auf der Eisenbahn hin und her, um seinem Herrn unmittelbar aus den Händen seiner Geliebten ein Liebeszeichen zu bringen.
Clara schrieb ihm auch täglich, ließ ihn täglich durch den alten treuen Diener grüßen; doch weder er noch sein Herr ahnten, daß Clara, wenn sie mit dem Diener sprach, Schminke auflegte, um ihre blassen Wangen zu verbergen, oder einen Shawl um ihre Schultern schlug, um ihre täglich zunehmende erschreckende Magerkeit zu verhüllen.
Theophil's Diener meldete immer: Frau von Berchheim sieht wohl und heiter aus, er wurde vollkommen getäuscht; aber Clara's Arzt wurde nicht getäuscht! Wenn er kam, war die Schminke wieder abgewischt und die durchsichtigen Hände waren unverhüllt über der schmalen eingesunkenen Brust gekreuzt. Er verordnete eine Badecur, und da war es, wo Clara Karolinen kennen lernte.
Als Clara Theophil von dieser beabsichtigten Reise schrieb, beschwor er sie, ihm bei dieser Gelegenheit eine kurze Zusammenkunft zu gönnen, ja wenn sie nicht anders wolle, sich wenigstens im Vorüberfahren von ihm grüßen zu lassen.
Sie schlug ihm Alles ab.
»Ich bin nicht krank«, schrieb sie, »aber unglaublich nervenschwach, Ihr Anblick würde mir eine Ohnmacht zuziehen, lassen Sie uns warten, bis ich gestärkt zurückkehre.«
Er wartete, obgleich es ihm unsäglich schwer wurde: denn jetzt bekam er keine täglichen Billette und sein Diener konnte ihm nicht mehr sagen, daß er sie »heute« gesehen. Aber sie schrieb ihm desto längere Briefe, sie schrieb ihm von dem Glück, Karolinen getroffen und gefunden zu haben.
Er freute sich anfangs nicht darüber, ja er haßte Karolinen, denn er war eifersüchtig auf sie. Als aber Clara schrieb, daß sie in ihren Leiden eine treue Pflegerin an dem jungen Mädchen gefunden und als, nachdem Clara zurückgekehrt und immer kränker und zuletzt an das Bett gefesselt worden, ihm die einzigen Nachrichten durch die Fremde zukamen, deren Freundschaft Clara alles anvertraut hatte, da hörte er auf, sie zu hassen, ja er empfand bald eine dankbare Freundschaft für sie, als ihm sein Bote die ausführlichen freundlichen Berichte aus Karolinens Munde wiederholte. Endlich als ihm die ganze Gefahr von Clara's Zustand nicht länger verborgen werden konnte, schrieb er an Karoline:
»Verschaffen sie mir die Erlaubniß Clara's, sie zu sehen – oder ich sterbe. Seien Sie barmherzig! wie ein Verurtheilter auf den Gnadenbrief, harre ich auf die Zeilen Ihrer Hand, die mir die Aussicht geben sollen, noch einmal den scheidenden Schutzengel meines Lebens zu sehen.«
Aber Clara sagte: »Er soll nicht kommen. Wenn ich ihn sähe, hätte ich nicht mehr die Kraft, ihn von mir zu lassen und ich will meine letzten Augenblicke nicht mit einer Sünde belasten. Es war mehr Stolz als Tugend, daß ich ihn von mir wies; daß ich ihn nicht zurück rufe ist mehr Tugend als Stolz. Denn der nahende Tod hat die Demuth in mein Herz gepflanzt, die mir mein Leben lang gefehlt hat.«
Noch eine Ursache, ihn nicht zu sehen, gestand sie nicht. Da sie hoffte, daß Karoline und Theophil nach ihrem Tode sich finden und vereinen würden, so fürchtete sie, daß der Anblick von Theophil's Leidenschaft bei Karolinen später ein Hinderniß sein werde, sich selbst einer Neigung für ihn gefangen zu geben – sie sollte ihn gar nicht als den Liebhaber einer Andern sehen.
Sie kannte Karolinens edles Herz und indem sie gerade sie zur Ueberbringerin der Trauerbotschaft auserwählte, wußte sie, daß sie ihr zugleich die Verpflichtung, ihm Trost zu spenden, auferlegte. – So glaubte sie Alles für ihre Lieblinge besorgt zu haben und schied in Frieden dahin!
*
Der Eisenbahnzug hatte sich etwas verspätet und es schlug schon zehn Uhr, als Karoline am Orte ihrer traurigen Bestimmung ankam. Wie sie mit ihrem Mädchen ausstieg, stand Theophil's Diener, der mit demselben Zug gefahren, schon am Schlage und wartete auf sie.
»Mein Herr ist mir gewiß entgegengegangen und schon hier auf dem Bahnhofe«, sagte er leise – »was soll ich ihm sagen?«
»Nur meinen Namen nennen, weiter nichts, dann wird er sich schon an mich wenden.«
»Ganz wohl. Dort am Gitterthore erwartet er mich gewöhnlich.«
Der armen Karoline schlug das Herz so sehr, daß sie kaum gehen konnte. In der aus den Wagen strömenden Menschenmasse hielt sich der Alte dicht an ihre Seite. Plötzlich, als sich die Menge schon etwas gelichtet, hörte sie eine Stimme »Rudolf« rufen; der Alte zuckte zusammen und flüsterte: »Gott im Himmel, das ist mein Herr!«
Karoline stand still, sie konnte nicht mehr weiter gehen und stützte sich fest auf ihre Begleiterin, als sie den Alten sagen hörte:
»Lieber Herr, die Dame hier ist Fräulein Karoline Senten, die im Auftrage der Frau von Berchheim mit Ihnen reden soll.«
»In ihrem Auftrage? O reden Sie, mein Fräulein!«
Karoline blickte auf, denn eine kalte zitternde Hand faßte krampfhaft die ihrige, daß es sie durch den Handschuh schmerzte. Vor ihr stand eine große schlanke Gestalt mit einem bleichen Antlitz, dessen geisterhaft dunkle Augen sich bei der schwachen Beleuchtung sehnsüchtig in die ihrigen bohrten.
Glücklicherweise kehrte sie dem Lichte den Rücken, er konnte nicht das Zucken ihres Mundes gewahren, als sie stockend sagte: »Begleiten Sie mich in den Gasthof, dort will ich Ihnen ausrichten, was Clara wünscht.«
»Aber Sie können mir doch jetzt sagen, wie es ihr geht? Besser?«
»Ja, besser, viel besser!«
»O gewiß, sonst würden Sie sie nicht verlassen haben. Wollen Sie mir nicht Ihren Arm geben?«
Karoline legte ungern ihre zitternde Hand auf den Arm des Mannes, den sie um keinen Preis hier auf offener Straße seinen unermeßlichen Verlust wollte ahnen lassen, und sie marterte sich mit doppelsinnigen Antworten, seinen stürmischen Fragen auszuweichen. Deshalb lehnte sie auch einen Wagen ab; sie scheute sich, Theophil mit seinem Diener allein gehen zu lassen, da sie sich doch nicht ganz auf dessen Discretion verließ.
Als sie endlich im Hôtel angekommen waren und die Dienerschaft sich entfernt hatte, und er, dessen ganzes irdisches Glück ihr nächstes Wort vernichten sollte, ihr gegenüberstand und seine Blicke gespannt an ihrem Munde hingen, da brach ihre Kraft zusammen und große, lange zurückgehaltene Thränen tropften aus ihren Augen.
»Sie weinen, Fräulein? Warum weinen Sie? Um Gottes willen sagen Sie mir, warum Sie weinen!«
»Sagen kann ich's nicht!«
Und sie preßte ihr Tuch vor die Augen und sank schluchzend in einen Sessel.
So sehr bisher Theophil jede trübe Ahnung über den Zweck ihres Kommens von sich abgewehrt, konnte er dem Gedanken an ein Unglück doch unmöglich jetzt noch länger sein Herz verschließen.
»Ist es möglich? Ist Clara etwas zugestoßen? O sagen Sie mir! Nein, nein, sagen Sie mir nichts, das kann ich nicht ertragen!« Und er schlug die Hände vors Gesicht und lehnte sich an den offenen Fensterflügel, der die milde Frühlingsnachtluft hereinströmen ließ.
Keines sah das Andere an, Beide schwiegen, Beide weinten. Karoline's Stillschweigen aber war beredt für den armen Theophil, und seine Thränen strömten immer heftiger, sein Weinen wurde zuletzt hörbar wie bei einem Kinde.
Karoline faßte sich zuerst. – »Ihr letztes Lebewohl an Sie hat sie mir dictirt, acht Tage vor ihrem Tode und einem Briefe beigeschlossen, den sie schon früher im herannahenden Gefühl ihres Todes mit eigener Hand an Sie geschrieben. Hier sind beide; ihr letztes Wort war der Auftrag, sie in Ihre Hände zu übergeben – ihr letzter Blick hat auf diesem Papier geruht.«
Theophil streckte die Hand danach aus. Er küßte mehrmals den ihm wohlbekannten und theuern blauen Umschlag, in welchen Clara immer ihre Briefe an ihn gehüllt – aber er hatte nicht den Muth, das Papier zu öffnen, aus welchem ein starker Moschusduft ihm entgegenströmte.
Ja, sie war todt; das sagte ihm dieser Duft, der seit dem Tode seiner Mutter immer bei ihm eine Gemüthsbewegung erzeugt und unabweislich den Gedanken an ein Sterbebett vor seine Phantasie geführt hatte. Und jetzt ruhte auf diesem Sterbebett die Frau, die er so leidenschaftlich und ausschließlich geliebt, wie es selten einem Weibe zu Theil wird, leidenschaftlich und glühend seit dem ersten Tage, wo er sie gesehen, bis jetzt, wo er meinte, ihren Verlust nicht ertragen zu können.
»O meine Vision von heute Morgen!« sagte er plötzlich, wie bei einer Entdeckung zusammenfahrend.
»Was war das?« fragte Karoline, um ihn aus seinem dumpfen Hinbrüten zu reißen.
»Es war um die siebente Stunde etwa. Ich lag mit geschlossenen Augen noch auf meinem Lager, die Sorge um Clara hatte mich schon bei Tagesanbruch geweckt, als plötzlich wie ein Lichtstrahl durchs Zimmer fuhr; ich glaubte, es sei die Sonne, und öffnete die Augen – keinen Sonnenstrahl sah ich, wohl aber ganz deutlich Clara's blaue Augen, die aus dem dunkeln Hintergrunde meines Alkovens einen leuchtenden Blick mir zusandten und dann wie im Nebel verschwammen. Die Erscheinung währte mehre Secunden und ich blickte während dem fest und unverwandt mit hellen offenen Augen nach den süßen blauen Sternen hin, von denen Strahlen auszugehen schienen. Aber weiter sah ich nichts, kein Antlitz, keine Gestalt, nur die lieben mir so wohlbekannten Augen Clara's, die mit milder Trauer auf mich blickten.«
»Um die siebente Stunde ist Clara gestorben«, versetzte Karoline erschüttert.
»So hat sie nicht von der Erde scheiden können ohne den Abschied, den sie mir doch so streng versagen wollte! O wie danke ich dem Himmel für dies Zeichen einer den Tod und die Entfernung überwältigenden Liebe.«
Theophil fand sich in dem Gedanken so wunderbar erhoben, daß er jetzt die Kraft in sich fühlte, Clara's Vermächtniß zu lesen.
Sie selbst hatte an ihn geschrieben:
»So unsäglich viel habe ich dir zu sagen und zu so Wenigem reicht meine schwache Kraft aus! Der Arzt hat mir heute auf mein dringendes Verlangen endlich gestanden, daß ich nur noch wenige Wochen zu leben habe!
Betrübe dich nicht mit dem Gedanken, daß ich das wußte, ich scheide gern aus dem Leben, das mir nur Schmerzen bietet – große und kleine, aber nur Schmerzen!
Seitdem ich dich kenne, habe ich nur einen Wunsch, nur ein Verlangen, nur eine Bestimmung: dich zu beglücken! Und ich muß mir fortwährend sagen daß ich nichts gethan, nichts thue und nichts thun werde, als das Gegentheil!
Seitdem du mich liebst, ist der volle reine Strom deines Dichterlebens getrübt. In diesen anderthalb Jahren hat kein großer, deiner und deines Genius würdiger Gedanke dich entflammt. Die treue Neigung zu einem armen Weibe, der Schmerz um die Trennung von ihr waren die einzigen Vorwürfe deiner Muse. Vielleicht sagt man dir, daß diese Verse deine schönsten sind, aber ich glaube das nicht; du hättest jetzt in der Blüte deiner Jahre und deines Ruhmes Größeres leisten können, als mich zu besingen! Mich, die ich kein anderes Verdienst, als von dir geliebt zu sein, besitze.
Mich, die kranke, verblühte, ältere Frau – und du, um dessen Haupt die Jugend noch ihre frischesten Kränze flechten kann!
O Theophil! Nie dankbar bin ich dir dennoch für deine Liebe, und das war es auch, was ich dir eigentlich sagen wollte, meinen Dank, meinen heißen Dank!
Welches Weib außer mir kann sagen, ich sterbe um meiner Liebe willen, aber Der, den ich liebe, hat mich nie gekränkt, nie geschmerzt!
O Theophil, könnte dein ganzes Leben lang meine Seele dich beschützend umschweben, zum Dank, daß du für Wich gewesen wie ein Engel. Meine Wünsche waren dir Befehle, meine Bitten Gesetze!
Also auf Wiedersehen, mein einziger, theurer Freund! Wenn du in Trauer an mich denkst, so sage dir nur immer: sie starb gern. Weine nicht um mich: das Leben brachte mir nichts als deine Liebe und die – brachte mir den Tod!«
Es währte lange, ehe Theophil sich von dem überwältigenden Eindruck dieser Zeilen erholen konnte. Die ewig neu hervorquellenden Thränen hinderten ihn, den zweiten von Karolinens Hand geschriebenen Brief zu lesen – er hielt ihr ihn hin und sagte bittend: »Lesen Sie!«
Auch Karolinens Stimme zitterte, als sie begann:
»Mein theurer Freund!
Diese Zeilen werden in Ihre Hände gelangen durch die Vermittelung meiner einzigen Freundin. Da ich zu schwach zum Schreiben war, hat sie auch auf meine Bitte diese Worte für Sie aufgezeichnet.
So hören Sie mich denn noch einmal an – nicht von mir will ich reden, nur von euch Beiden, die ich liebe und zurücklassen muß!
Beide einsam, seid Beide eins dem andern, was ich euch war.
Karoline wird von keiner Fessel, keiner Rücksicht gebunden, sie ist großherzig genug, um der Freundschaft Opfer zu bringen, wie ich sie nicht der Liebe bringen durfte – sie hat es mir versprochen!
Theophil bitte ich inständig, um meinetwillen, sich ihr zu widmen, sie steht ganz allein …«
Hier konnte Karoline nicht weiter lesen, sie ließ das Papier zu Boden fallen und stützte ihr weinendes Antlitz in die Hand.
Theophil aber, aufgeregt durch die Worte seiner verklärten Geliebten, trat mit flammenden Augen vor sie hin und sagte mit vor Bewegung bebender Stimme:
»Wenn Sie meine Freundschaft annehmen wollen, so bin ich bereit, dem Wunsche der Verklärten Alles zu opfern. Rechnen Sie überall und um jeden Preis auf mich. Ihr Freund zu sein, soll mir höher stehen, als mein Beruf und alle Aussichten.«
»Da sei Gott vor!« sagte Karoline ruhiger. »An mir ist ja nichts gelegen, aber Sie gehören zu den Erwählten, zu den Priestern des Schönen und Edlen.« –
Theophil schüttelte heftig mit dem Kopfe und unterbrach sie mit den Worten: »Ich schreibe keinen Vers mehr, meine Poesie ist mit Clara gestorben!«
Karoline schwieg nun, denn sie fühlte, daß Theophil in diesem Augenblick keinem Trost und keiner Ermuthigung zugänglich sei; sie wußte, wie jedem reizbaren Gemüthe schneller Wechsel eigen ist und das Umschlagen seiner begeisterten Stimmung in die volle Mutlosigkeit, mit welcher er jetzt vor sich hinblickte, überraschte sie nicht.
Bald darauf ging er von ihr, nachdem er einen kurzen traurigen Abschied genommen.
Karoline aber, aufgeregt, wie sie nie in ihrem Leben gewesen, ging bis zum Morgengrauen in ihrem Zimmer auf und ab. Sie konnte sich nicht fassen, nicht beruhigen. Sie rang die Hände in dunkler Furcht vor Dem, was kommen sollte, in trüber Erinnerung des Geschehenen. Es war einer jener Augenblicke, wie sie jedem Menschen wol einmal zu Theil werden, ein Augenblick, wo der ihm beigegebene Schutzgeist weinend das Haupt senkt, daß er nicht abwenden kann die Trauer und den Jammer, der seinem Schützling bevorsteht. Die arme Karoline ahnte dunkel, daß die neue Lebensphase, in welche sie getreten, keine glücklichere für sie sei.
*
Auf Clara's Grab hatte Theophil die ersten Frühlingsblumen pflanzen lassen. Karoline war beschäftigt mit dem Umzug nach dem Landhause, das sie von ihrer Großmutter geerbt, und Theophil hatte ihr versprochen, einige Wochen in dem benachbarten Badeorte zuzubringen und von dort aus sie fleißig zu besuchen. Sein Schmerz um Clara war milder und elegischer, aber noch nicht geringer geworden – er sprach sich aus in den schönsten Versen um die Geschiedene, und was jeder Tag seiner Trauer an leidenschaftlichen Aeußerungen nahm, das gewann sie an Begeisterung für die Todte.
Wenn er mit Karolinen zusammen war, sprach er nur von ihr, und eben deshalb war Karoline ihm unentbehrlich, da er jedes andern nähern Umganges entbehrte.
Dieser Umstand war eigentlich auffallend bei einem so jungen und lebhaften Manne, hatte aber wol seinen Grund in Theophil's reizbarem und eigenthümlich empfindlichem Wesen, und die absorbirende Leidenschaft für Clara hatte nur beigetragen, diese Isolirung zu vergrößern.
Karoline, die dieses einsame Leben für ihn misbilligte, hoffte auf eine Aenderung darin, sobald Theophil seinen bisherigen Wohnort verlasse, von wo er beinahe täglich mit der Eisenbahn, sie zu sehen kam. Zu ihr und zu Clara's Grabe – weiter gab es für ihn keinen Gang.
Jetzt sollte er aber nach dem Bade S. übersiedeln und Karoline hoffte davon das Beste für ihn. Für sie selbst war der Umzug in ihr Landhaus eine wohlthätige Zerstreuung, obgleich sie auch das zweite mal nicht ohne schmerzliche Rührung die Räume betreten konnte, wo der ihr so liebe Geist der Großmutter gewaltet.
Die alte Dame hatte in ihrem Testamente verordnet, daß der Enkelin Alles unverändert übergeben werde. »Jeder Zettel in meinem Schreibtisch kann von ihr gelesen werden; ich schreibe das nieder, weil mich oft die trübe Ahnung überkommt, mein armes Kind werde mich nicht mehr am Leben finden, und da soll sie mich doch wenigstens aus meinen Tagebüchern und Notizen kennen lernen.«
Diese Stelle in den letzten Verfügungen der Großmutter rührte Karoline unendlich und erweckte der in Liebe um sie sorgenden Großmutter einen Cultus in ihrem Herzen, der dem Cultus für die verstorbene Freundin vollkommen gleich kam.
Von der alten Dame hörte sie auch nur Liebenswürdiges, Anmuthiges. Sie war bis zu ihrem Tode eine große Kinderfreundin gewesen. Geld gab sie den Kleinen nicht, aber sie wurden gefüttert in ihrem Hause soviel sie wollten. Die alte Köchin erzählte Karolinen, im Winter seien manchmal dreißig, vierzig Kinder zum Mittagessen dagewesen und die Generalin habe sich dann immer beim Zusehen noch mehr wie die Kinder gefreut. »Wäre ich nur reich«, hatte sie oft zu ihren Dienerinnen gesagt, »wie sollte das meinen kleinen hungrigen Vögeln zu Gute kommen!« Es war ein bitterer Gedanke für die Enkelin, daß, als das große Vermögen der wohlthätigen Frau zufiel, sie so bald darauf die Erde verlassen mußte, und so der schönsten und unschuldigsten Freude, der Freude des Wohlthuns in großartigem, mit ihrem Herzen in Einklang stehendem Maßstabe nicht mehr theilhaftig werden konnte. Karoline beschloß, im Geiste der Verstorbenen das Mögliche zu leisten, und hielt dies für eine heilige Pflicht.
Als Theophil sie zum ersten mal auf ihrem Gute besuchte, fand er sie im Garten, wo an zwei niedern langen Tischen wol an hundert Kinder aus den benachbarten Dörfern saßen – vor sich Berge von Kuchen und Brot und Näpfe voll Milch.
»Wie kommen Sie zu den kleinen Gästen?« fragte Theophil, indem er mit einer gewissen Aengstlichkeit sich nach einem hübschen Gesichtchen unter der etwas unschönen Jugend umsah.
»Es sind die Pensionäre meiner Großmutter, ihre kleinen hungrigen Sperlinge, wie sie sie zu nennen pflegte. Es ist ein großes Glück, daß die Kammerfrau meiner Großmutter mir in der Stadt von dieser Einrichtung erzählt hat und ich den Winter der Köchin schon die Weisung ertheilen konnte, ihr Kosthaus zu öffnen; in dem kalten langen Winter hätten sonst die kleinen Vögel die gewohnte Fütterung schwer entbehrt.«
»Es ist schade, daß die Kinder so häßlich sind«, sagte Theophil, der seine einzige Bemerkung nicht länger unterdrücken konnte – »nicht ein erträgliches Gesicht.«
Karoline lachte laut auf: »Was liegt daran! sie sind alle gesund, und da ihr künftiges Leben nicht unter Aesthetikern zu verfließen bestimmt ist, so wird sie dieser Mangel an Schönheit nicht hindern, im Gegentheil, ich halte Schönheit in diesem Stande für ein Unglück.«
»Zum ersten mal«, sagte Theophil lächelnd, »höre ich aus Ihnen die Bürgerin der nordamerikanischen Freistaaten reden.«
»Wie so?«
»O dieser gräßliche praktische Sinn Ihrer Landsleute! Im Allgemeinen behaupten, daß Schönheit für irgend einen Menschen ein Unglück sei, kann doch nur Jemand, der in Amerika geboren ist.«
»Und es bestreiten, kann nur ein Poet«, sagte Karoline heiter, die sich freute, Theophil einmal eine Neckerei, überhaupt Etwas äußern zu hören, was nicht im Zusammenhang mit seiner Trauer stand. Aber die freie Natur, der blaue Himmel, die Frühlingsluft und selbst die von ihm so misachteten Kinder hatten dennoch mit ihrem fröhlichen Jauchzen einen klaren Ton in des Dichters umnachtete Seele geworfen.
Karoline ließ nun auch für sich und Theophil einen Tisch und Stühle herbeibringen, dann einige Erfrischungen, und Theophil fühlte sich offenbar behaglich und wohl in dem schönen Garten, in Gesellschaft des um ihn besorgten liebenswürdigen Mädchens.
»Bei einem solchen Wetter bedauere ich immer, nicht mehr das Reitpferd meines Vaters benutzen zu können«, sagte Theophil, indem er aufstand und über den Zaun hinweg in die freie Gegend blickte.
»O«, versetzte schnell Karoline, »dem kann abgeholfen werden. Wollte Gott, daß alle Ihre Wünsche so leicht zu erfüllen waren. Ich will mir, da ich in Amerika immer gewohnt war zu reiten, ein paar Pferde anschaffen, und Sie verpflichten mich zu großem Danke, wenn Sie eines davon als mein Cavalier besteigen wollen. Ich kann doch nicht mit dem Bedienten allein reiten.«
Zum ersten mal, seit sie ihn kannte, nahm ein heiterer Ausdruck seine Züge ein. »Das ist schön von Ihnen, Fräulein, sehr schön; aber thun Sie es bald. Wir wollen dann nach Herzenslust die Umgegend durchstreifen.«
Die Pferde wurden von einem abreisenden Engländer schon in den nächsten Tagen gekauft, aber Theophil war doch verwundert, als ihm eines davon nach S. gebracht wurde. Karoline schrieb ihm dabei ein Zettelchen und sagte, »sie fände es so unbequem für ihn, daß er jedesmal herausgehen solle, um sie zum Reiten abzuholen, und habe deshalb in seiner Nähe einen Stall gemiethet, wo er das Pferd immer benutzen könne; ein ihr bekannter zuverlässiger Mann aus der Stadt solle es dort versorgen – weniger kann ich doch nicht für meinen Cavalier thun«, schloß sie das kleine Briefchen.
Schon am Nachmittag ritt Theophil hinaus, um ihr zu danken. Er fand sie in ihrem kleinen grünen Cabinet beschäftigt, eine Feder an einen kleinen schwarzen mittelalterlichen Reithut zu befestigen.
»Sie sind ja wie eine wohlthätige Göttin, Fräulein Karoline; aber ich muß Ihr Vormund sein und Ihnen verweisen, daß Sie ein so schönes kostbares Reitpferd so ohne weiteres einem jungen unzuverlässigen Menschen, wie ich bin, leihen.«
»Ich bin mündig«, sagte Karoline freundlich, »und es freut mich, aus Ihrem Munde diese Anklage zu hören, weil sie Ihre Beschuldigung vom letzten male glorreich widerlegt.«
»Welche Beschuldigung?«
»Daß ich eine zu praktische Amerikanerin sei.«
»O! ich hielt das eigentlich für ein Compliment. Praktisch sein, gilt ja für etwas Vortreffliches.«
»Und ist es auch! Glauben Sie mir, Theophil, alle unpraktischen Menschen sind auch unklare und also auch unzuverlässige Menschen, und zuverlässig zu sein, ist doch die erste aller Eigenschaften.«
»Warum?«
»O, sie ist der Vorzug des Erwachsenen vor dem Kinde, der Wahrheit vor der Lüge, des Ewigen vor dem Vergänglichen.«
»Wenn Jemand aber nun ein Kind einem Erwachsenen, die Lüge oder, wenn ich mild sein darf, die Poesie der Wahrheit, das schöne Vergängliche dem starren Ewigen vorzieht, welches Argument bleibt Ihnen dann, mein Fräulein?«
Karoline sah ihn lange ernsthaft an. Er hatte sich auf einen Armsessel niedergelassen und hielt lächelnd ihren Blick aus.
»Ist das Ihr Ernst?« fragte sie endlich.
Und als er stumm bejahte, sagte sie langsam: »Es thut mir leid, Ihnen eingestehen zu müssen, daß ich so prosaisch bin, für eine von der meinen so himmelweit verschiedene Lebensanschauung gar kein Verständniß mehr zu haben. Ich kann den Gedanken gar nicht fassen, daß es Jemand gibt, dem das Feste, Haltbare nicht über das Schöne, Verschwindende, Flüchtige gehe.«
»Das heißt«, versetzte Theophil lachend, »die Treue über die Liebe stellen.«
»Das ist ein Widerspruch. Keine Treue ohne Liebe, kein Liebe ohne Treue.«
»Doch, doch, mein Fräulein. Ein Studiengenosse von mir liebte zwei Mädchen, es waren Schwestern, mit ganz gleicher Liebe und weil er Beide nicht heirathen konnte, erschoß er sich. Dasselbe, bis aufs Erschießen, widerfuhr auch dem Dichter des Buchs zur Oper ›Don Juan‹, Lorenz da Ponte.«
»Männerlaunen, Männergrillen. Wie nervenschwache Frauen sich oft einbilden, sie können Das oder Jenes nicht vertragen, während sie viel Schwerem sich unterziehen, so gibt es Männer, die sich einbilden, sie thun Das oder Jenes aus innerm Drang, und thun es nur, um etwas Absonderliches an den Tag zu legen. Ihr Studiengenosse litt an der Krankheit ein Original sein zu wollen, und bildete diese doppelte Liebe sich selbst ein.«
»Wir verstehen uns nicht, wenn wir uns so verirren, statt uns zu finden. Bleiben wir bei unsern ersten Behauptungen. Sind Sie wirklich so ›amerikanisch‹ – ich kann aus Galanterie den Ausdruck ›praktisch‹ nicht gebrauchen, weil er mir in den Tod zuwider ist – daß Sie zum Beispiel eine Kartoffel einer Rose vorziehen?«
Karoline lachte wie ein Kind und sagte endlich: »Man kann nicht mit Ihnen streiten, weil Sie immer auf den Extremen reiten. Lassen Sie uns lieber Pferde tummeln, ich habe, als ich Sie ankommen sah, bestellt, daß man sattele, und gehe um schnell mein Reitcostume anzulegen.«
Theophil sah ihr nach, als sie durch die Thüre verschwand, und zwar mit einem gewissen Grolle ob ihres unnachsichtigen Spottes. Dann zog er ein Gedicht aus der Tasche, das er an diesem Morgen niedergeschrieben; er hatte es mitgebracht, um es Karolinen vorzulesen. Nach ein paar Minuten trat sie schon wieder ein, er hielt das Papier noch in der Hand.
»Was haben Sie da, Theophil?«
»Ein Gedicht, das ich Ihnen vorlesen wollte, aber –«
»Aber nicht vorgelesen haben«, ergänzte Karoline, »weil ich unpoetische Person es nicht verdiene.«
»Fräulein! hören Sie mir denn jetzt zu? Kann ich Ihnen denn jetzt ein Gedicht vorlesen, während Sie selbst ein lebendes Gedicht vor mir stehen im grauen reichverbrämten Reitkleide, den runden Strohhut mit weißer Feder auf dem dunklen Haupt – Sie sehen aus wie Margarethe von Valois!«
Karoline machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte lächelnd: »Was ein Costume nicht thun kann!« Dann indem sie den Saum ihres langen Gewandes über den Arm hing, schritt sie dem Dichter voraus in den Hof zu den Pferden.
Sie ritten im Trab über die Felder, weit flatterte die lange weiße Feder Karolinens. Das junge Mädchen sah heute besser aus denn je, da der starke Ritt ihr die sonst farblosen Wangen zu röthen begann.
Theophil warf einen bewundernden Blick auf sie und sagte dann, als die Pferde ruhiger gingen: »Alle Frauen sollten reiten, es ziemt sich eigentlich durchaus nicht, daß ein edles Weib den Boden mit ihrem Fuße berührt.«
Karoline lächelte: »O, wenn den Frauen nichts Härteres zugemuthet würde! Glauben Sie mir übrigens, daß Sie mit ähnlichen Erhebungsgedanken uns im Allgemeinen gar keinen Gefallen thun. Wenn die Einen die Frauen auf die Zelter setzen, schleifen die Andern sie dafür am Boden – in Amerika haben wir es gut, aber hier –«
»Was verlangen Sie hier?«
»Daß die Männer uns als ihres Gleichen in geistiger Hinsicht betrachten.«
»Als ihres Gleichen? nur als ihres Gleichen?«
»Weiter nichts. Diesen Gedanken fand ich auch mit großem Fleiße in einem der Tagebücher meiner Großmutter entwickelt, welche jeden Morgen meine Lecture ausmachen. Ich habe nie einen größern Genuß empfunden, als bei der Lecture dieser edlen tiefen Frauengedanken und ich habe mir heute aus Dankbarkeit fest vorgenommen, ihr ein einfaches Denkmal am Ende des Gartens setzen zu lassen.«
»Haben Sie Jemand, um das auszuführen?«
»Nein, wollen Sie mir Jemand empfehlen?«
»Durch Zufall lernte ich einen Architekten kennen, er wohnt mit mir in einem Hause. Er hat mir neulich Abends aus seinem Leben erzählt. Welche Schicksale hat dieser Mensch gehabt!«
»Bringen Sie ihn mit, bitte.« Theophil versprach ihr das. Dann, als sie nach Hause kamen, war Theophil so heiter erregt, daß er aus freien Stücken sein neues Gedicht aus der Tasche zog und Karolinen vorlas.
Sie fand es sehr schön, sagte aber nach einer Pause, »er möge doch den letzten Vers weglassen – die eigentliche Pointe sei im vorletzten enthalten und so runde es sich viel besser ab.« Theophil sagte nichts darauf, ging aber bald weg. Diese Ausstellung hatte ihn verdrossen, Clara hatte nie etwas getadelt – das kam aber einfach daher, weil alle Gedichte, die er ihr vorlas, an sie gerichtet waren, und das ist ein Umstand, der selbst bei der klügsten Frau jede Kritik zu entwaffnen im Stande ist.
*
Der Architekt Erhard!« sagte Theophil vorstellend, als er am nächsten Tage Karolinens Zimmer mit einem andern jungen Manne betrat. Sie gewahrte, als sie aufsah, eine nicht sehr große, aber kräftige hagere Gestalt mit breiter Brust und starken Schultern. Das Antlitz sah gesund aus, entbehrte aber jeder Färbung, hatte ausdrucksvolle, aber harte Züge, klug und lebhaft blickende, aber nicht große Augen, und stark gelocktes aber etwas ins Röthliche schimmerndes helles Haar.
»Sie haben eine große Aehnlichkeit mit einem meiner Freunde in Amerika«, sagte Karoline unbefangen und freundlich, wie sie immer war, und sind mir daher gleich bekannt vorgekommen.«
»Er sieht aus wie Michel Angelo«, bemerkte Theophil.
»Sagen Sie das nicht«, versetzte mit etwas ungefüger und langsamer Rede der Architekt. »Das ist eine Versündigung an diesem großen Genius!«
»Mein Gott«, rief Karoline, »Sie können ihm doch in den Zügen gleichen, wenn Sie auch kein Baumeister sind wie er.«
»Sie sind gewiß nie in Italien gewesen, Fräulein?«
Karoline bewegte verneinend das Haupt.
»Das dachte ich mir! Sie könnten sonst nicht so ruhig seinen Namen nennen hören.«
Des Mannes Antlitz hatte sich geröthet, indem er das sagte und Karoline betrachtete es mit Vergnügen und ergötzte sich an dem Ausdruck einer Begeisterung, der er so wenig Worte lieh.
»Erzählen Sie mir von ihm, Herr Erhard, ich kenne nur sein ›Jüngstes Gericht‹ und die Deckengemälde aus der Sixtinischen Kapelle nach guten alten Kupferstichen.«
Der Künstler faltete mit naiver Inbrunst die Hände. »O wenn man von ihm erzählen will, wo soll man da anfangen! Soll ich ihn zuerst als Maler, als Bildhauer oder als Baumeister schildern?«
»Fangen Sie mit dem Maler an«, meinte Karoline, »denn da kann ich Ihnen doch folgen. Von seinen plastischen Werken ist mir keines in der Nachbildung bekannt.«
»Leider«, sagte Theophil, »lassen sich in ihm seine verschiedenen Wirkungskreise nicht ganz voneinander trennen, und das ist auch ein gegründeter Vorwurf, den man ihm macht. Als Maler ist er zu plastisch und als Bildhauer zu pittoresk.«
Erhard schlug mit großer Heftigkeit die Hände zusammen und sagte ganz ernsthaft: »Wenn mir Einer in einem einsamen Hohlweg mit einer Million in der Tasche begegnet – er ist sicher vor mir. Aber wenn mir Jemand aufstößt mit einem solchen Urtheil über einen solchen Mann, so ist es ein Glück für ihn, wenn Zeugen zugegen sind – ihre Gegenwart verhindert vielleicht einen Todtschlag!«
Theophil lachte so herzlich wie er seit langer Zeit nicht gethan. »Sie retten mein Leben, Fräulein Karoline, er würde mich ermorden, ich weiß, er trägt seit seiner italienischen Reise immer ein Stilet bei sich.«
Erhard hatte sich wieder etwas beruhigt und als ihn Karoline fragte, was er unter dem Ausdruck: »solches Urtheil« eigentlich gemeint, sagte er nach kurzem Besinnen:
»Ich möchte solche Urtheile moderne Urtheile nennen, denn sie haben Das mit der Mode gemein, daß man sie nachspricht, weil man sie gehört hat, ohne etwas dabei zu denken, wie man die Moden nachträgt, wenn man sie gesehen, auch ohne etwas dabei zu denken.«
»Uns Frauen sagt man aber nach, wir hätten sehr viel Gedanken bei den Moden.«
Ein mildes Lächeln glitt über die harten Züge des Architekten. »Davon weiß ich nichts. Ich bin in einem Kreise aufgewachsen, wo man den Frauen so etwas nicht anheftet, weil sie mit den Moden nichts zu thun haben. Ich bin der Sohn eines Bauern und war selbst ein Bauer bis zu meinem zweiundzwanzigsten Jahre!«
»O das ist höchst merkwürdig«, sagte eifrig Karoline, indem sie ihren Sessel dem seinigen näher rückte, »das müssen Sie erzählen. Sie glauben nicht, wie so etwas mich interessirt.«
»Sie sind sehr gütig, Fräulein, meine Geschichte ist aber sehr einfach. Von frühester Kindheit an habe ich mit Allem, was zum Zeichnen brauchbar, Kreide, Kohle und selbst rother Erde die Wände, denn Papier hatte ich nicht, bemalt. Wie oft bin ich darüber gescholten worden! Der Junge wäre nicht so schlimm wie mancher andere, sagte oft mein guter Vater, wenn er nur nicht Alles verschmierte! Ich sollte thun, was andere Bauern thun, pflügen, säen, mähen und dreschen, und that es endlich auch.
Als ich sechzehn Jahr alt war, starb mein Vater, wir waren zehn Geschwister und die Erbtheile klein; mein Vormund rieth mir mich als Knecht zu verdingen. Dies geschah denn auch und zwar bei einem unserer reichsten Bauern. Er hatte Futterlieferungen nach N. zu machen, von wo meine Heimat nur einige Meilen entfernt ist. So fuhr ich nun jede Woche ein paar mal mit dem Wagen hinüber und da, in N., ging mir ein Licht auf, warum ich bisher immer so unglücklich gewesen an meinem Pfluge. In der schönen Domkirche habe ich bittere Thränen vergossen und an dem steinernen Sacramentshäuschen eines großen altdeutschen Künstlers habe ich wol eine Stunde lang gelehnt und mit glühender Inbrunst gebetet: ›Laß mich dir auch ein solches Haus bauen, o Gott!‹
Doch es wird Sie langweilen, Fräulein. Genug, daß nach mehren recht traurigen Jahren, in denen ich nichts gethan als wie ein Maulwurf in der Erde gewühlt und wie eine Maschine gedroschen und gehauen habe, zufällig ein Herr aus N., der zu uns herauskam, den Deckel einer alten Kiste, auf den ich allerlei Figuren gezeichnet, erblickte. Er sprach von mir mit ein paar andern reichen Männern seiner Stadt – sie machten mich frei – sie schickten mich auf eine Schule und endlich nach Italien.«
Der Architekt war blaß geworden am Schlusse seiner Erzählung und Theophil, der das nicht bemerkte, sagte neckend: »Wie heißt der Edle, der diesen zweiten Michel Angelo auffand?«
»Richtig, Theophil«, fiel Karoline schnell ein, da sie Erhard schonen wollte, »es ist gut, daß Sie Herrn Erhard an sein Versprechen, uns mit Michel Angelo bekannt zu machen, erinnern.«
»Ich war in Italien«, sagte Theophil gedehnt.
»Ich komme ein mal zu Ihnen, Fräulein, wenn Sie allein sind, der da verdient nicht, etwas vom großen Meister zu hören. Er ist viel zu sehr blasirt.«
»Eine verstorbene Freundin von uns Beiden«, schaltete Karoline entschuldigend ein, »behauptete gerade das Gegentheil von ihm – sie fand ihn zu naiv in seiner Weltanschauung.«
»O, Karoline, vertheidigen Sie mich nicht gegen diesen Bären. Ich bin es gewohnt, verkannt, verdächtigt zu werden. Seit Clara todt ist, hat Niemand mehr eine leise Ahnung wie ich denke, wie ich fühle; es ist auch ganz natürlich«, setzte er bitter lachend hinzu, »Niemand kümmert sich darum!«
Karoline war von dem Vorwurf, der in diesen Worten für sie selbst enthüllen war, tief verletzt. Sie hatte das um Theophil nicht verdient. Seit Clara's Tode hatte sie ihre ganze Existenz zur Folie der seinigen gemacht,– aber ihren Charakter ihm zu Gefallen ändern konnte sie nicht, und deshalb grollte er mit ihr. – Clara hatte ihn geliebt und mit der jeder tiefen Frauenliebe eigenen Intuition ihre Seele zum Blumengarten für ihn umgeschaffen – Karolinens Seele blieb wie sie war und sein reizbares Gemüth fand da mehr Dornen als Blüten! Sie hatte ein eigenes dem seinigen ganz entgegengesetztes Urtheil und – keine Leidenschaft für ihn! Was Clara als einziges Hinderniß für den Bund dieser beiden Menschen geahnt, war es vielleicht wirklich – Karoline sah von Anfang an zu sehr in Theophil den Geliebten der Todten. Ihr frisches kräftiges Herz konnte sich nicht einem Herzen erschließen, das in Trauer um ein anderes welkte. – Es begann sich zwischen ihr und Theophil unverkennbar eine Kluft zu öffnen, deren Dasein sie mit Schrecken erfüllte, denn sie hielt sich gebunden durch ihr der Todten gegebenes Wort: ihm in treuer Freundschaft anzuhängen bis zum letzten Augenblicke. Sie that übrigens auch für ihn soviel sie vermochte. Er hatte mehre kostspielige Liebhabereien, und sie wußte ohne sein reizbares Zartgefühl zu verletzen, ihm hundert Dinge in die Hände zu spielen, über deren eigentlichen Werth er nie nachdachte. Er genoß ihren Reichthum, ohne daran zu denken, ja ohne eigentlich zu wissen, wie reich sie sei. Seine Empfindung für sie war ihm selbst ein Räthsel. Sie war ihm merkwürdig und anziehend, und wenn er bei ihr war, verdroß sie ihn und stieß ihn ab.
Auch heute schied er wieder in tiefer Verstimmung von ihr.
Als Theophil die Klage ausstieß, welche wir vorher erwähnten, erhob sich Karoline und sagte zu dem Architekten, ob er nicht die Stelle ansehen wolle, wo sie das Denkmal für ihre Großmutter aufzustellen wünschte.
Die beiden Männer folgten ihr durch den Garten und Karoline führte sie bis an das Ende desselben an eine hohe grüne Schlehdornhecke.
»Sie sehen den Feldweg, der gerade hierher führt und dann sich längs der Gartenhecke hinzieht. Auf diesem Feldweg nun, erzählte mir die alte Magd, kamen um die Mittagszeit die Kinder aus den benachbarten Dörfern, um das Mittagsbrot aus der wohlthätigen Hand meiner Großmutter zu empfangen. Sie konnte aber gewöhnlich die Kleinen nicht erwarten und ging oft, wenn es das Wetter nur irgend erlaubte, an diese Stelle, und die schwachen Augen mit der Hand schützend stand sie hier, an diesen Baumstamm gestützt und schaute nach ihren Lieblingen aus. So möchte ich sie verewigt haben. Statt des Baumstammes auf niederm Sockel ein gothischer Bogen, und daran gelehnt die zierliche Gestalt der alten Dame im weiten faltigen Kleide mit dem malerischen Ueberwurf, wie sie ihn trug, ein kleines Tuch um den feinen Kopf geknüpft und mit der Hand die Augen schützend – wie sie im Leben hundert mal dastand. Dieses Denkmal wäre mir und den Kindern zugleich eine Freude, sie sähen eine große Strecke weit die Gestalt der Wohlthäterin und würden dann von ihr den andern Kindern erzählen, die sie im Leben nicht gekannt haben, – so würde ihre fromme Wohlthätigkeit zur Sage bei dem Steinbild werden. – Wenn Sie wollen, kann auch eine kleine Inschrift, zu der mir aber wirklich aller Verstand fehlt, dem Ganzen die Krone aufsetzen.«
»Diese Inschrift, wer könnte sie besser machen als Theophil«, sagte Erhard von lebhafter Theilnahme für Karolinens Plan erfüllt.
»O, Fräulein Karoline macht das zehn mal besser selbst«, rief Theophil gereizt, weil Karoline die Idee des Denkmals nur an Erhard gewendet vorgetragen.
»Ich würde gar nichts hinschreiben«, sagte Karoline, »die meisten Inschriften sind doch nur Commentare, und die hasse ich im Allgemeinen als eine geistige Bevormundung. Warum nicht Jedem überlassen, was er sich bei der Sache denken will?«
»Wie amerikanisch freiheitabsolutistisch! Jede öffentliche Inschrift als einen Eingriff in unsere Selbständigkeit zu betrachten!« bemerkte Theophil sehr scharf.
»Spotten Sie nur über meine Selbständigkeit – für eine alleinstehende schutzlose Frau ist sie doch ein großes Glück.«
»Ueber Theophil's schlechte Witze« – lenkte Erhard mit richtigem Takte ein – »sind wir ganz von der Sache selbst abgekommen. Erlauben Sie mir die Ausführung des Ganzen zu übernehmen, so erhalten Sie schon in ein paar Tagen eine Zeichnung. Die Gestalt der Dame werde ich auch, soviel es aus Erinnerungen und nach Bildern möglich ist, ähnlich zu zeichnen versuchen und dann mit der Ausführung einen jungen Bildhauer betrauen. Sie thun dabei noch ein gutes Werk, er ist wie ich ein Sohn aus dem Volke und kann Ihr Honorar für seine fernere Ausbildung verwenden. Den Sandstein weiß er schon recht schön zu behandeln und wird Ihnen keine Ursache geben, seine Wahl zu bereuen, dafür stehe ich.«
Karoline war mit Allem zufrieden und die beiden Männer entfernten sich von ihr mit sehr verschiedenen Empfindungen. Erhard erfreut, wohlthätig berührt von ihrem gesunden, ungeschminkten und doch reich begabten Wesen. Theophil hingegen gereizt, erbittert durch diese Kälte und diesen abschließenden Egoismus, wie er es nannte.
Egoismus! Die arme Karoline, wie weit war ihre opferfähige Natur davon entfernt! Als sie ihr Zimmer wieder betrat, sagte sie traurig vor sich hin: »O Clara, dein Vermächtniß hat mir keinen Segen gebracht – er und ich, wir verstehen uns nicht und entfernen uns immer weiter voneinander. O, sende mir einen Engel, daß er mich lehre zu sein, wie du es wünschest, wie du es willst! Lehre meiner ungelenken Natur den Ton, den er liebt, das Wort, das ihn erfreut, die That, die er preist!«
*
Theophil, der bisher so einsam gelebt hatte, war in dem Bade dennoch nach und nach in einige gesellschaftliche Beziehungen gekommen, und daran war allein die Beharrlichkeit einer Engländerin schuld, die ihm gegenüber wohnte. Sie hatte zufällig erfahren, daß ihr vis-à-vis ein berühmter deutscher Dichter sei, und beschlossen, vor ihrer Abreise um jeden Preis seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Sie war sehr reich, Witwe und noch jung und ziemlich hübsch. Da war es denn natürlich, daß ein großer Kreis von Männern sich um sie versammelte. Darunter war nun kein einziger, dem sie nicht bei jedesmaligem Zusammentreffen zugelispelt: »Und der Dichter? Wann werden Sie mir ihn bringen?«
Da war es denn endlich den unermüdlichen Bemühungen und Anstrengungen einiger Verehrer gelungen, mit Theophil so bekannt zu werden, daß sie ihm einen Besuch bei Mrs. Seamans vorschlagen konnten – aber sie scheiterten vollkommen. Theophil erklärte ihnen, in seinem ganzen Leben keiner Dame eine Visite gemacht zu haben, er sei immer auf irgend eine »menschlich vernünftigere« Art bekannt geworden. Mrs. Seamans mußte sich also zu etwas Anderm entschließen und sie verschwor sich mit ihren Anbetern, daß Theophil zu einer Landpartie verlockt werden solle. Das gelang.
Unter einem deutschen Eichenbaum, an grünem Moose lagernd, den langlockigen blonden Kopf in die feine Hand gestützt, den seidenbeschuhten Fuß auf einem Wagenkissen, so fand man die englische Dame, als man ihn ihr vorstellte. Man würde sehr irren, wenn man glauben wollte, die Engländerin habe, nach allen ihren Bemühungen ihn kennen zu lernen, ihn nun besonders zuvorkommend empfangen – kein Gedanke daran.
Nachdem sie der englischen Sitte genügt und ihm die Fingerspitzen gereicht, wiesen dieselben Fingerspitzen mit souverainer Geberde nach dem Moosgrund – der einzige Sitz, den sie anbieten konnte, nachdem sie selbst die höhern Baumwurzeln für sich in Anspruch genommen.
Theophil warf sich auch ohne weiteres der Länge nach zu ihren Füßen hin und sah ihr unbefangen in das blonde feine Gesicht. Sie sprach nur sehr gebrochen Deutsch, er nur sehr wenig Englisch; es war eine hinkende, höchst lakonische Unterhaltung, denn Jedes sprach nur Das aus, wozu sich die Worte ihm boten. Die übrige Gesellschaft rund herum lachte und scherzte aufs heiterste, während die Beiden im Centrum sich in lakonischer Kürze hier und da ein paar Silben zuwarfen.
Theophil war das ganz angenehm, ja es unterhielt ihn sogar der Seltsamkeit wegen und die Engländerin erschien ihm nur als Staffage in dem schönen Waldbild, in das er träumerisch hinein schaute, und so machte er denn auch keine Ansprüche an ihre Unterhaltung. Die Dame verlangte auch nichts Besseres – in ihrem Vaterlande war ja diese Monosyllabenunterhaltung etwas ganz Gewöhnliches in der Gesellschaft, und sie fand nach englischem Maßstabe die Conversation sehr lebhaft.
Als man nach Hause fuhr, wurde Theophil zu ihr in den Wagen gesetzt. Da ergötzte es ihn wieder, welche Ansprüche die Dame machte.
Ehe sie in den Wagen stieg, mußte der Fußtritt abgewischt werden, dann ein Shawl auf ihren Platz gelegt, dann das Verdeck herabgelassen werden, dann durften die Herren nicht rauchen, dann, als es anfing dämmerig zu werden, glaubte sie in jedem Busche Räuber zu sehen und zu hören, kurz sie versäumte nichts von all den Dingen, womit vornehme Damen aller Nationen sich bemühen anzuzeigen, daß sie durchaus dem gewöhnlichen Treiben fremd und vor Allem bange sind wie Kinder, die zum ersten male ausfahren. Das kindische Wesen soll zumeist den Mangel an Kindlichkeit ersetzen und diese affectirte Hülflosigkeit den Schiller von Unschuld und Unerfahrenheit geben. Der große Haufe läßt sich auch oft davon imponiren und entschuldigt sogar einen Mangel an praktischem Sinn, indem er ihn für »vornehm« hält!
Mrs. Seamans war ein Prachtexemplar dieser Gattung »vornehmer« Damen und bot Theophil in ihrer Art zu sein ein ganz neues Studium. Sie hielt seine heitere Aufmerksamkeit für Bewunderung und entfaltete die Blume ihrer Affectation bis zu ihrer höchsten Pracht. Es war aber als hätten ihre Angstrufe die bösen Dämonen geweckt, denn kurz vor dem Thore geschah ein wirkliches Unglück, der Wagen wurde umgeworfen. Mrs. Seamans verletzte sich nicht im mindesten, aber sie fingirte eine Ohnmacht, Theophil führte oder trug sie vielmehr nach Hause, wo sie sich Krämpfen und Zuckungen überließ, die aber leider nur ihre Kammerfrau zur Zuschauerin hatten, da die mitgekommenen Herren sich aus Discretion längst entfernt hatten.
Als Theophil wieder nach Karolinens Landhause kam, erzählte er ihr diese Geschichten und sie ergötzte sich von Herzen daran und lachte viel darüber. Theophil kam übrigens jetzt selten zu ihr, und wenn er kam, war er verdrießlich und recht unangenehm. Er gehörte zu den Menschen, die immer eines Reizmittels, einer Aufregung bedürfen, um leben zu können. Das Verhältniß mit Clara hatte ihm dies in vollem Maße gewährt. Ihre geistreichen, leidenschaftlichen Briefe, die Sorge um ihre Gesundheit, der Zauber des Geheimnisses, in den ihre Verbindung sich hüllen mußte, hatten ihn in fortwährender Spannung erhalten. Sein Schmerz um ihren Verlust war ihm eine Zeit lang so lieb gewesen, daß er ihn gehätschelt hatte, wie ein Kleinod; er war aber eine durchaus moderne Natur und kein Petrarca, der ein Leben hindurch um seine Laura klagte; er hatte jetzt diesen Schmerz in Liedern, Gedanken und Mittheilungen an Karoline erschöpft, er sprach nicht mehr von Clara, obgleich er sie durchaus nicht vergessen: aber in seinen Erinnerungen diente ihre Liebe mehr dazu, seine Eitelkeit zu erhöhen, als sein Gefühl zu rühren. In dieser Nachwirkung übte sie durchaus keinen guten Einfluß auf ihn, denn er hielt es nun unter seiner Würde, sich um eine Frau zu bemühen, von der er im Voraus wußte, daß sie ihm Clara's leidenschaftliche Aufopferung ihres eigenen Wesens nicht mitbringen konnte. Daß Clara ihm an Geist und an Gefühlen so reiche Schätze zu Füßen gelegt, weil das Schicksal ihr versagte, ihm irgend etwas Anderes zu gewähren (war sie nicht verheirathet, kränklich und älter als er?), das bedachte er nicht. Er meinte, jedes junge, schöne, freie, unschuldige Mädchen müßte ihn so hoch über sich stellen, wie Clara es gethan!
Und dann wußte er durch einen Brief Clara's an Karoline, der zufällig in seine Hände gerathen, daß letztere ihrer Freundin gelobt, sich nicht zu vermählen, solange Theophil allein auf der Welt stehe. Hatte sie sich ihm dadurch nicht auf eine gewisse Weise verlobt, wenn auch nicht zur Ehe? So kam es denn, daß, trotz all ihres Bemühens, ihre der seinigen so schroff entgegenstehende Natur in seiner Gegenwart zu mildern und zu verhüllen, er sich, je länger er sie kannte, desto weniger zu ihr hingezogen fühlte, besonders seitdem er nicht mehr das Bedürfniß hatte, von Clara zu sprechen. Er hatte immer in ihrer Gegenwart das drückende Gefühl, als sei er eine ihr von Clara testamentarisch vermachte Sache, die sie auch nur deshalb schone und respectire; Alles, was sie für ihn that, kam ihm vor, als geschehe es nur aus Pietät gegen Clara! Ja, er dachte oft, sie wäre im Stande, ihn aus reiner Pietät zu heirathen – konnte es für einen Mann wie ihn etwas Demüthigenderes geben? Karoline befand sich in noch traurigerer Lage, denn sie fühlte aus dem Vermächtniß Clara's eine Verpflichtung für sich heraus, an die Theophil seinerseits ihr gegenüber nicht dachte. Hatte nicht Clara hundert mal ihr sein Glück auf die Seele gebunden? Sollte sie nicht ihr Leben aufopfern für diese Freundschaft? Der geliebten sterbenden Freundin gegenüber, der sie den einzigen Trost in das Jenseits mitzugeben im Stande war, wie natürlich und leicht war ihr das Alles erschienen und wie bereitwillig hatte sie gelobt, ihre durchaus unabhängige Existenz zu opfern!
Ach, wie schwer wurde ihr jetzt die Erfüllung dieses Versprechens!
Nur eigentlich in einer einzigen Beziehung war es ihr vergönnt, sich mit Erfolg für Theophil zu bemühen. Wir haben es schon erwähnt, daß sie mit einer Art Aufopferung ihrer selbst – denn sie wußte immer seinem Dank zu entgehen – auf die liebenswürdigste Art seinen kleinen Wünschen und Liebhabereien Genüge zu thun suchte. So hatte sie zum Beispiel ihm anonym mit fremdem norddeutschem Poststempel einige sehr kostbare Geschenke »von Verehrern seiner Muse« zukommen lassen. Auf diese Weise hatte er natürlich die Sachen nicht nur ohne Bedenken angenommen, sondern er fühlte sich auch noch geschmeichelt, durch diese redenden kostbaren Beweise seiner Popularität, und er hatte eine doppelte Freude. So hatte sie ihn verwöhnt, ohne daß er es ahnte, aber ihr Reichthum war auch die einzige Eigenschaft, die sie mit Erfolg für sein Glück anwenden konnte – und selbst das mußte auf Umwegen geschehen, was freilich seine durchaus sorglose unpraktische Natur ihr sehr erleichterte.
Seit dem Besuche Erhard's waren mehre Wochen verflossen. Karoline hatte nichts von ihm gehört, da trat er eines Morgens bei ihr ein.
»Was werden Sie von mir denken, Fräulein, daß ich die versprochene Zeichnung noch nicht gebracht habe?« fragte er schüchtern.
»O es ist noch immer Zeit, und es ist gut, daß Sie wenigstens ungemahnt kommen.«
»Ja, ich habe noch nichts für Sie gethan und komme eben, um mich deshalb zu entschuldigen – und dennoch tragen Sie eigentlich die Schuld des Versäumnisses.«
»Wie so? Sagen Sie mir das!«
»O das klingt sehr merkwürdig, ja sogar unglaublich. Den Abend, nachdem ich Sie verlassen, ging ich viel später als gewöhnlich zu Bett. Nun muß ich Ihnen aber vorher noch ein anderes Geständniß machen – ich bin aus einer Gegend Westfalens, wo die Menschen häufig mit einer Gabe oder einer Krankheit oder wie Sie's nennen wollen, behaftet sind, die man das Zweite Gesicht nennt.«
»In der That?« schaltete Karoline mit großer Spannung ein.
»Ich habe das nur zweimal an mir selbst erfahren: ein mal, sechs Monate ehe meine Mutter starb, sah ich ihren Leichenzug und ein mal eine Feuersbrunst im Dorfe, acht Tage ehe sie ausbrach. – Die Vision nun, die ich vor vierzehn Tagen gehabt, trat gerade unter denselben Umständen ein, wie in jenen beiden Fällen. Schon im ersten Schlafe fühlte ich heftige Beklemmungen, bis ich, wie von einer äußern Macht erweckt, mich erheben mußte. In meinem Schlafcabinet hatte ich die Läden geschlossen, aber als ich die Augen öffnete, sah ich, daß es in meinem anstoßenden Arbeitszimmer, zu dem die Thür offen stand, taghell war; der Mond mit seiner ganzen Scheibe blickte ins Fenster und sein volles Licht fiel auf meinen Schreibtisch, der von einer mir unbekannten großen Zeichnung ganz bedeckt war. Ich ging hinein und indem ich näher trat, sah ich einen höchst sorgfältig gezeichneten Plan eines großartig schönen Gebäudes, mit einer so herrlichen Façade in vollendetem gothischen Stil, wie mir etwas Aehnliches nicht bekannt ist. Ich starrte eine ganze Weile lang, entzückt bei dem reinen Wunderlicht des Mondes, die feinen scharfgezeichneten Linien an, als ich plötzlich umblicken mußte. Da standen Sie im Shawl mit Hut und Schleier hinter mir, und indem Sie mit dem Finger auf den Plan deuteten, winkten Sie mir freundlich zu, als wollten Sie sagen: Ich bin mit Ihrer Arbeit zufrieden! – Als ich von Ihnen weg wieder nach dem Plan auf dem Tische blickte, trat eine Wolke vor den Mond, es wurde finster im Zimmer und als die Wolke vorübergezogen, war das Licht nur gerade hinreichend, um mir zu zeigen, daß Sie und der schöne Plan verschwunden seien – es war gewöhnliches Mondlicht ringsum und mein Zimmer zeigte nichts mehr als seinen gewöhnlichen Inhalt! Was sagen Sie dazu, mein Fräulein?«
»Daß Sie geträumt haben!«
»Geträumt! Ich habe mich in der Nacht gar nicht mehr zu Bette gelegt, sondern Licht gemacht und eine Arbeit begonnen, die ich erst heute soweit vollendet habe, um mich davon trennen zu können.«
»Nun, was haben Sie denn gethan?«
»Die wundervolle gothische Façade, die mir die Vision so herrlich vor Augen geführt hat, soweit mein Gedächtniß reichte, gezeichnet. Den Riß des Gebäudes selbst konnte ich leider nicht aufzeichnen, da ich ihn nur flüchtig angeblickt habe, weil die schöne Fronte sogleich meine Aufmerksamkeit auf sich zog.«
Karoline sagte nun nach einer Pause mit lächelndem Munde: »Ich sehe an Ihrem ganzen Benehmen, daß Sie keinen Augenblick an der Erfüllung dieser Vision zweifeln – und am Ende ist es ja auch nicht unwahrscheinlich, daß einem talentvollen Architekten, wie Sie sind, über kurz oder lang die Ausführung irgend eines größern öffentlichen Gebäudes übertragen werde – aber was ich bei Ihrer Vision soll, begreife ich nicht!«
»Sie werden mich auslachen, und ich kann auch selbst nicht den Sinn Dessen, was ich glaube, erklären, – aber die Vision war gerade so, als ob Sie die Bestellerin des Planes, die Erbauerin jenes großartigen Gebäudes seien, die gekommen, um meine Arbeit zu prüfen.«
»Wie lang ist die Fronte meines Palais?« fragte lachend Karoline.
»Es ist kein gewöhnlicher Palast – ich erinnere mich auch deutlich, daß im Plane lauter große Säle, wie bei einem Verpflegungshause, abgetheilt waren, und die Fronte, liebes Fräulein, war mehre hundert Fuß!«
»Du lieber Gott, da müßte ich wol mein ganzes Vermögen hergeben, um Ihr Zweites Gesicht wahr zu machen?«
»Ein paar mal hunderttausend Gulden würde es auf jeden Fall auch bei der einfachsten innern Einrichtung kosten.«
»Es ist dann schade um Ihre verlorene Zeit, Herr Erhard – diesen Palast bestelle ich nicht!«
Erhard sagte lächelnd: »Meine Zeit ist doch nicht verloren, die schöne Fronte kann mich, wenn mir eine Gelegenheit wird, sie auszuführen, zum berühmten Manne machen – und ich danke dann diesen Ruhm einem Gesichte und – Ihnen!«
Karoline wies lachend seinen Dank ab und sprach dann mit ihm von dem Denkmal für ihre Großmutter, dessen Zeichnung er auch jetzt sogleich zu beginnen versprach.
Als er fort war, kam Theophil wieder einmal zu Karolinen. Sie fragte ihn scherzend nach seiner englischen Bekanntschaft, aber zu ihrer großen Verwunderung ging er auf ihren ironischen Ton nicht ein, sondern wies mit einer gewissen Gereiztheit ihre Anspielungen auf die Marotten der Dame zurück.
»Mir scheint«, sagte sie unbefangen, »Mrs. Seamans hat den ersten üblen Eindruck bei Ihnen zu verwischen gewußt.«
»Uebeln Eindruck? Ich weiß nichts von einem übeln Eindruck. Sie ist sehr verwöhnt, und da die aristokratischen Damen Englands noch aristokratischer und ausschließlicher sind, als die unserigen, so fiel ihr Wesen mir besonders auf – aber misfallen hat sie mir nie.«
»Sehen Sie sie viel?«
»Sie schwärmt jetzt für meine Gedichte und da läßt sie mich beinahe jeden Tag um irgend eines Commentars willen herbeirufen. Sie sehen, die Dame theilt nicht ihre Abneigung gegen Commentare.«
Karoline entgegnete hierauf nichts, sagte aber nach einer Weile, sie habe nicht gewußt, daß Theophil's Gedichte schon ins Englische übersetzt seien.
»Das sind sie auch nicht, Fräulein, wie kommen Sie auf den Gedanken?«
»Sagten Sie nicht eben, Mrs. Seamans schwärme für Ihre Gedichte? und ich meine ebenfalls von Ihnen gehört zu haben, sie kenne von unserer Sprache nur ein paar Worte.«
Theophil wurde roth. »Nun ja, sie versteht das Deutsche nicht vollkommen, aber doch gut genug, um so einfache Lieder, wie die meinigen, bewältigen zu können.«
Karoline lächelte.
»Was reizt jetzt wieder Ihre satirische Ader, Fräulein?«
»Durchaus nichts. Mich ergötzt es nur, daß Sie Ihre Gedichte einfache Lieder nennen. Wenn das ein Anderer gesagt hätte!«
»So würde ich sehr dankbar sein! Was kann die Poesie Schöneres bringen, als – einfache Lieder!«
Karoline schwieg auch jetzt, denn sie bemerkte, daß Alles, was sie sagte, Theophil's reizbares Gefühl nur unangenehm berührte.
Er verließ sie bald darauf und diesmal wie jedesmal in neuerer Zeit, wenn er von ihr ging, war die Kluft zwischen ihm und ihr weiter geworden.
*
Caroline war verstimmt, traurig, niedergebeugt, daß es ihr so gar nicht gelingen wollte, mit Theophil in ein mildes behagliches Freundschaftsverhältniß zu kommen, und wenn sie allein war und ihr Stolz nicht gerade von ihm gereizt wurde, schrieb sie auch in demüthiger Selbstanklage sich allein die Schuld dieses Misverhältnisses zu.
Sie hatte ihn jetzt wieder mehre Tage nicht gesehen und sie kämpfte mit dem Gedanken, ob sie nicht durch ein paar freundliche Zeilen an ihn die unangenehmen Eindrücke ihres letzten Zusammentreffens verwischen solle. Sie hatte schon an ihrem Schreibtische Platz genommen, als die Furcht, zudringlich oder lästig zu sein, sie die Feder wieder hinlegen ließ. Sie griff nun nach dem Buche, das in letzter Zeit ihre einzige Unterhaltung, ihr einziger Trost gewesen: dem Tagebuche ihrer Großmutter. Es war begonnen nach der Abreise ihrer Tochter, der Mutter Karolinens, nach Amerika und auch in Briefform an diese gerichtet. Oft war Tage und Wochen lang nichts eingeschrieben und dann kamen wieder seitenlange Schilderungen kleiner Begebenheiten und Ergüsse tief innerlicher Gedanken und Empfindungen – man konnte nichts Sinnigeres und echt Weiblicheres lesen und es würde jedem Fremden unmöglich gewesen sein, der Schreiberin dieser Blätter eine warme Theilnahme zu versagen – wie viel mehr mußten sie dem Kinde ihres Kindes zum Herzen reden.
Als sie heute das Buch aufschlug, traf ihr Auge auf eine Stelle, welche ihre Großmutter vor Jahresfrist geschrieben. Da diese einzige Seite auf Karoline eine entschiedene Wirkung ausübte, so wollen wir sie ganz folgen lassen:
»Seitdem ich deinen letzten Brief empfing, mein geliebtes Kind, habe ich nur einen einzigen Wunsch, außer dem, dich noch vor meinem Tode in meine Arme zu schließen, den Wunsch, reich zu sein. Du brauchst nichts von mir, dein Mann hat für dich und deine Tochter Schätze genug gesammelt – für meine Bedürfnisse und die meiner Pflegekinder reicht meine Pension vollkommen aus – hätte ich also ein Capital, so etwa ein paar mal hunderttausend Gulden, – du siehst, ich bin nicht knauserig, – so könnte ich die ganz und gar für eine Idee verwenden, die dein letzter Brief in mir geweckt hat. Du machst mir darin eine herzbrechende Schilderung des Elendes der Neuangekommenen deutschen Auswanderer in Neuyork, und besonders der Kinder unserer armen Landsleute. Du sagst, viele irren in den Straßen umher und haben ihre Aeltern verloren und rufen nach ihnen, andere hangen an den Gewändern ihrer armen Mütter und die verzweiflungsvolle Miene der Frauen drücke genugsam aus, in welcher Lage sie sich befinden, wenn wir nicht an den deutschen Klagelauten der Kinder das Elend begriffen.
Du versicherst mir, daß du Alle, die dir vor Augen gekommen, mit in dein gastliches Haus genommen und getränkt, gespeist und beschenkt entlassen hast – aber was ist diese einzige Hülfe, diesem unermeßlichen Elend gegenüber!
O diese Kinderwelt! Welch unaussprechlich dankbarer Boden für die Wohlthätigkeit! Bei Erwachsenen bewirkt sie gewöhnlich doch nur eine vorübergehende Verbesserung ihrer materiellen Zustände, ihres leiblichen Wohlseins, an ihrem Charakter, gut oder bös, an ihrer Lebensweise, tugendhaft oder schlecht, ist nichts mehr zu ändern; die Kinder werden höchst wahrscheinlich dadurch, daß man sie dem Elende entreißt, auch zugleich der Verdorbenheit, der Unsitte, dem Laster entrissen! Ich denke mir oft, daß, wenn es keine bettelnden oder doch bettelarmen Kinder gäbe, der Begriff ›Pöbel‹ bald ganz aus der Welt verschwinden müßte und die eigentliche Pflanzschule des Pöbels vernichten, wäre das nicht das beste und radicalste Mittel zur Heilung des größten Schadens der Menschheit?
Laß dir meinen Plan auseinandersetzen. Weißt du, was ich thun würde, wenn ich plötzlich in den Besitz eines Schatzes käme? Bei dir in Neuyork, am Strande, wo die Auswanderer landen, würde ich ein großes Haus bauen mit der goldenen, weithin leuchtenden Inschrift: Asyl für deutsche Kinder. Da sollten denn alle Mütter, alle Väter, die es wollten, ihre Kinder hinbringen, bis sie ihren neuen Hausstand eingerichtet, Arbeit gesucht, ein Unterkommen gefunden. Holten sie sie gar nicht wieder ab, desto besser, dann erzöge man sie, um künftig in ihr Vaterland, dem man sie ohne klare Erkenntniß entrissen hat, als tüchtige Menschen zurückzukehren oder in Amerika dem deutschen Namen Ehre zu machen.
Wenn ich Jemand meinen Plan mittheilte, so würden die klugen Leute, die bei jedem wohlthätigen Plane vorhandenen Worte: Unausführbare, philanthropische Schwärmereien, unpraktische Sentimentalität! gewiß auch mir entgegen schleudern – deswegen sage ich auch nie Jemand so etwas als dir. Du wirst dann sehen, daß deine alte Mutter bis zum Grabe ein warmes Herz für die Menschheit sich erhielt und die heilige Pflicht des Wohlthuns nur nicht in höherm Maßstabe ausübte, weil ihre kleinen Mittel es nicht zuließen. Ach, wäre ich reich! Die Thränen treten in meine alten Augen bei dem Gedanken, wie viel Thränen ich dann trocknen wollte. O, wäre ich reich!«
Tief erschüttert legte Karoline das Buch aus der Hand. Ihrer Großmutter einziger Wunsch war erfüllt worden – ein großes Vermögen war ihr zugefallen, aber – als sie schon im Begriffe war, in den Sarg zu steigen!
Als die alte Dame die Nachricht von der Erbschaft in England erhalten, hatte sie ihren Anwalt rufen lassen und noch ein Codicill, von dem schon früher die Rede war, ihrem letzten Willen hinzugefügt, dann aber immer ihrer Umgebung die Sorge geäußert, Karoline werde sie nicht mehr am Leben finden: »Und ich habe ihr doch so viel zu sagen!« hatte sie dann gewöhnlich hinzugesetzt.
Außer jenem Codicill, das den neuen Reichthum auch ihrer Enkelin in den Schoos legte, hatte sie durchaus keine Andeutung hinterlassen, auf welche Weise sie ihn von ihr, die sie schon für sehr reich hielt, da Karoline ihr nichts von dem Verluste des größten Theiles ihres Vermögens gemeldet, verwendet wünschte. Karoline hatte sich bisher als vollkommen freie Besitzerin jenes englischen Geldes, beinahe einer halben Million, gefühlt.
Sie fühlte sich jetzt nicht mehr so! Die Hände vor die Augen gepreßt, saß sie da, und die stürmischen Gedanken jagten einander in hastigem Fluge. Wie schrecklich war ihr in diesem Augenblick ihre Einsamkeit, die Unmöglichkeit, gegen irgend Jemand ihr volles Herz mit allen seinen Bedenken auszuschütten!
»O wenn Clara noch lebte!« Sie bedachte in diesem Augenblicke nicht – ja sie hatte das eigentlich noch nie bedacht, daß Clara außer Theophil für keinen Gegenstand mehr eine warme Theilnahme zu fassen vermochte – die Liebe für Theophil war freilich geheiligt durch ihre gänzliche Selbstlosigkeit, aber es war doch ein Gefühl, das keinen warmen Strahl auf die Menschheit im Allgemeinen sandte – und selbst die Freundschaft für Karoline war nur um Theophil's willen entstanden – obwol Clara sich selbst vielleicht nicht gestand, daß sie das junge begabte Wesen nur deshalb mit Liebe an sich gefesselt, um in ihm Theophil, nach ihrem Tode, den sie kommen fühlte, einen Trost zu hinterlassen. Daß Karoline auch in diesem Verhältniß glücklich sein werde, hatte sie freilich nie bezweifelt – denn wer konnte nach ihren Begriffen mit Theophil unglücklich sein?
Sie würde jetzt, wäre sie noch am Leben gewesen, der beängstigten Karoline nur ein geringer Trost gewesen sein.
Karoline glaubte das aber natürlich nicht und vermißte sie schmerzlicher als je.
Und doch sagte sie, nach einem Augenblick des Besinnens zu sich selbst: »Warum sollte Theophil mir in dieser Sache nicht ebenso gut, ja noch besser rathen können, als seine Freundin? Männer haben durch größere Welterfahrung einen freiern Blick als wir. Also zu ihm!«
Sie war zu aufgeregt, um abwarten zu können, bis ein Bote nach ihm ging und ihn dann zu ihr brachte, und sie beschloß deshalb, selbst sogleich nach S. zu fahren und ihn dort auf der Terrasse des großen Curgartens zu erwarten, da sie wußte, daß er hier jeden Mittag um diese Zeit zu treffen war.
Nur von ihrer alten Kammerfrau begleitet, war sie nach kurzer Zeit in S. und kaum hatte sie an einem Tischchen Platz genommen, als sie Theophil die Allee heraufkommen sah, und zwar in Begleitung der Engländerin.
Mrs. Seamans stützte sich mit großer Affectation auf seinen Arm, Theophil blieb stehen und war bemüht, eine der langen blonden Locken loszunesteln, welche der Wind unter dem Schirm ihres Hutes hervorgejagt und die dann in unauflösliche Verbindung mit den kleinen Federblumen am Hut gerathen war; die Kleinheit der Engländerin und seine eigene Größe kamen ihm dabei sehr zu statten. Er bemühte sich leicht und anmuthig, da er aber damit doch nicht zu Stande kam, wollte sich Mrs. Seamans todt lachen über sein Ungeschick.
Theophil sah sich nun um, ob nicht irgend eine bekannte Dame in der Nähe sei und mit weiblich gewandtem Finger den kleinen Wirrwarr lösen könne, als sein Blick auf Karoline fiel. Eine dunkle Röthe stieg ihm hoch ins Gesicht, aber er faßte sich doch, ließ die verwunderte Engländerin stehen und ging auf Karoline zu, die sogleich aufstand und ihm entgegenkam.
»Darf ich Sie mit ihr bekannt machen?« fragte er rasch, denn Mrs. Seamans folgte ihm auf dem Fuße. Karoline machte eine bejahende Bewegung mit dem Haupte, und sogleich mit einer gewissen Hast sagte Theophil:
»Fräulein Karoline Senten, Mrs. Lätitia Seamans.« Mit einem unbeschreiblich kalten und impertinenten Blicke maß die kleine Engländerin die große, in Trauer gehüllte Gestalt der Deutschen und neigte dann kaum merkbar ihr Haupt.
Karoline hatte nicht umsonst in Amerika das Licht der Welt erblickt und nahm nicht mit der gewöhnlichen deutschen Güte und Bescheidenheit diese Manieren auf. Ihr Gruß war wo möglich stolzer als der der Engländerin und dann wendete sie sich unmittelbar an Theophil, indem sie ruhig und unbefangen sagte: »Ich bin hierher gekommen, weil ich Sie durchaus in einer für mich höchst wichtigen Angelegenheit sprechen muß – wenn Sie aber für diesen Nachmittag engagirt sind, so haben Sie wol die Freundlichkeit, mir zu bestimmen, um welche Zeit ich Sie bei mir erwarten kann.«
Theophil sah an Karolinens Miene, daß sie nur seine Antwort abwarte, um zu gehen, und wünschte zu verhindern, daß seine beiden Freundinnen so schroff sich trennten. Um dem vorzubeugen, sagte er lächelnd: »Ehe wir von irgend etwas Anderm reden, muß ich Sie bitten mir behülflich zu sein, Madame Seamans schöne blonde Locken aus diesem Feder- und Drathlabyrinthe zu befreien.«
»O, das kann ich selbst«, sagte nun rasch die Engländerin und riß an ihrer Locke, daß die Hälfte des goldenen Haares in den Federblumen hängen blieb.
Karoline hatte keinen Finger gerührt. Sie lächelte nur und fragte: »Nun, wann kommen Sie, Theophil?«
»Heute Abend, rechnen Sie fest darauf.«
Karoline machte gegen Mrs. Seamans gewandt, jedoch ohne sie anzusehen, eine kurze Verbeugung, nickte Theophil freundlich zu und entfernte sich raschen Schrittes.
*
Es war ziemlich spät, Karoline wartete schon lange vergeblich auf Theophil. In dem kleinen grünen Cabinet athmete außer der Bewohnerin Alles Ruhe und Behaglichkeit. Sie aber ging fieberhaft erregt mit raschen Schritten auf und nieder. Endlich, endlich schlug ihr Lieblingshund, eine Neufundländer Dogge, die sie mit aus Amerika gebracht, laut an; Männerschritte ließen sich auf dem Corridor vernehmen, aber wie staunte sie, als ihr Diener die Thür öffnete und statt Theophil – Erhard eintrat.
»Sie verzeihen, liebes Fräulein«, sagte er in seiner eigenthümlich ungewandten, aber herzlichen Weise, »Sie verzeihen, daß ich noch so spät komme, viel zu spät zu einem Damenbesuch, – aber ich habe heute die Zeichnung, die Sie gewünscht, vollendet, und konnte es nicht ertragen, sie Ihnen nicht noch heute zu zeigen! Ich hätte heute Nacht ein Fieber bekommen aus Erwartung und Angst, ob Sie damit zufrieden seien.«
»Und was werden Sie sagen, wenn ich sie Ihnen jetzt nicht einmal aus der Hand nehme, ja Sie ausdrücklich bitte, sie noch eine halbe Stunde bei sich zu behalten, indem ich jetzt unmöglich in der Stimmung zur ruhigen Betrachtung eines Kunstwerks bin.«
Erhard sah sie verwundert, aber nicht gereizt an. »Ich meinte, Fräulein, Sie seien immer ruhig, immer, um mich auch einmal eines eleganten Ausdrucks zu bedienen, in contemplativer Stimmung.«
Karoline schüttelte den Kopf. Da schlug der Neufundländer wieder an und sie sagte rasch: »Sie könnten nur einen Gefallen thun, wenn Sie ein wenig hier nebenan in den Salon treten wollten; ich habe Theophil gebeten, diesen Abend zu mir zu kommen, weil ich mit ihm reden muß – und zwar allein. Sobald ich mein Anliegen ihm mitgetheilt habe, werde ich Sie rufen. Hier, nehmen Sie ein Licht, und hier ein Buch.«
Erhard nahm beides aus ihrer zitternden Hand, er sagte nichts, aber er sah ihr traurig in die erhitzten Augen und sein Schritt, als er das Zimmer verließ, war zögernd und widerstrebend.
Karoline bemerkte das nicht und ging Theophil entgegen, der in dem Augenblicke eintrat, als Erhard das Zimmer verlassen hatte. Sie bot ihm freundlich die Hand und er ergriff sie herzlicher als er seit lange gethan.
»Wie schön ist es bei Ihnen, Karoline! Besonders schön, wenn man von einer Scene kommt!«
»Scene? Wie so?«
»Denken Sie sich, die Engländerin ist eifersüchtig auf Sie! Ja so, ich hatte vergessen, Ihnen zu sagen, daß sie sich seit einiger Zeit einbildet, in mich verliebt zu sein, und sich mir schenken will mit dem Gold ihrer Locken und dem Gold ihrer Schatulle – wahrscheinlich nur, damit es in irgend einer englischen Zeitung heiße, Mrs. Seamans von Bridgewater habe auf dem Continent sich einem Poeten vermählt!«
Karoline war höchst unangenehm überrascht von dieser Mittheilung, und zwar hauptsächlich um der Indiskretion willen, die Theophil damit beging. Sie war wie mit kaltem Wasser übergossen und ging aus ihrem herzlichen Entgegenkommen plötzlich in eine steife Haltung über.
Theophil bemerkte das wohl, legte es aber ganz anders, als Eifersucht, als das erste Zeichen einer erwachenden Neigung aus. Er nahm lächelnd Platz. Sie schenkte von dem bereitstehenden Thee ein, und noch immer hatte er nicht gefragt, was sie ihm sagen wolle, das aber aus dem einfachen Grunde, weil er vergessen hatte, daß sie ihm überhaupt etwas sagen wollte – so erfüllt war er von seinen eigenen Erlebnissen.
Karoline bezwang ihre Gereiztheit und begann endlich selber: »Ich habe Sie gebeten, zu mir zu kommen, weil ich Ihren Rath vernehmen möchte – Ihren aufrichtigen, rückhaltslosen Rath. Sie wissen, ich habe sonst Niemand, den ich fragen kann.«
Theophil sah sie neugierig an und stellte seine Tasse hin.
»Vor allen Dingen thun Sie mir den Gefallen, Theophil, und lesen Sie diese Seite aus dem Tagebuche meiner Großmutter – wie ich sie heute Morgen gelesen habe.«
Theophil hatte, wie die meisten Männer, einen Widerwillen dagegen, auch nur das Geringste sich vorlesen zu lassen, das wußte Karoline und gab ihm deshalb das Buch in die Hand. Er hatte die Seite bald überflogen. »Nun, und was dann?« fragte er ziemlich gleichgültig.
»Nun und was dann?« wiederholte das Fräulein gereizt. »Wissen Sie nicht, daß meine gute Großmutter ein halbes Jahr, nachdem sie das niedergeschrieben, wenige Tage vor ihrem Tode, noch eine große Erbschaft gemacht hat?«
»Ich glaube, Sie haben mir das gesagt. Aber ich meine auch von Ihnen erfahren zu haben, daß Ihr eigenes Vermögen vor Ihrer Abreise von Amerika sehr decimirt worden, sodaß also der Reichthum Ihrer Großmutter der Ersatz Ihres Verlustes wurde.«
»Es ist wahr, ich habe sehr viel verloren, aber mir war von meinem eigenen Vermögen, als ich hierher kam, doch noch immer genug geblieben, um mit Anstand leben zu können.«
»Bitte, erklären Sie sich, was soll ich Ihnen denn nun rathen? – Ich bin heute etwas beschränkt.«
Karoline stand auf, sie war zu erregt, um sich ruhig verhalten zu können. »Mein Gott, so begreifen Sie denn nicht, daß diese Andeutungen meiner Großmutter für mich Befehle sind – Befehle, die ich ausführen muß?«
Theophil lachte laut auf. »Liebes, bestes Fräulein, seien Sie kein Kind! Ich sehe, wir müssen heute Abend die Nationalitäten wechseln und ich muß als praktischer Amerikaner zu Ihnen, der schwärmerischen Deutschen, reden. – Ihre Großmutter schreibt an einem schönen Sonntagmorgen, wo sie gerade nichts Anderes zu thun hat, in ihr Tagebuch: Wenn ich reich wäre, würde ich in Amerika für deutsche Kinder ein Asyl bauen, – sowie ich heute Morgen sagte: Wenn ich reich wäre, würde ich die Gedichte aller Poeten, die keinen Verleger finden können, auf meine Kosten drucken lassen, weil es das sicherste Mittel wäre, recht viel Glückliche zu machen. Ebenso wenig aber, wie ich, wenn mir ein Vermögen in den Schoos fiele, es zu solchem Zweck verschleudern würde, ebenso wenig würde Ihre Großmutter ihre Idee ausgeführt haben, wenn sie wirklich die halbe Million in Händen gehabt.«
»O Gott, Theophil, von Ihnen dachte ich am wenigsten solche herzlose Späße hören zu müssen!«
Aber Theophil blieb in seiner heitern Ruhe. »Wenn Ihre Großmutter irgend einen ernsten Gedanken der Art gehabt, würde sie einige Andeutungen darüber aufgesetzt haben, als sie die Nachricht der Erbschaft erhielt.«
»Damals erwartete sie mich und wollte mir mündlich Alles mittheilen, und als der Tod zu ihr kam, kam er unerwartet!«
»Ich sehe, liebe Karoline, daß Sie das Alles außerordentlich wichtig und ängstlich nehmen, – also, um ebenso gewissenhaft in Ihre Gedanken eingehen zu können, bitte ich mir eine klare Darlegung dieser Gedanken aus.«
»Das ist kurz gesagt, Theophil. Ich denke und dachte vom ersten Augenblicke an, daß es meine Pflicht ist, den frommen Wunsch meiner Großmutter zu erfüllen, – nur über das Wie bin ich unentschieden und da sollen Sie mir rathen.«
»Heißt den Wunsch Ihrer Großmutter erfüllen, die ganze Summe der Erbschaft für einen wohlthätigen Zweck ausgeben – wollten Sie das wirklich thun?«
»Bis auf den letzten Heller!«
Theophil stand auf, und beide Hände Karolinen entgegenstreckend, sagte er in überwallender Wärme: »Sie sind ein edles vortreffliches Mädchen! Ich habe Ihnen in Gedanken sehr Unrecht gethan! Ich hielt Sie für egoistisch, berechnend, kalt! Gott segne Ihr warmes aufopferndes Herz!«
Aus Karolinens Augen stürzten Thränen, sie reichte ihm die Hand und sagte innig: »Ich danke Ihnen – Sie glauben nicht, wie wohl mir dies Lob aus Ihrem Munde thut.«
»Nicht nur Ihnen habe ich mein Unrecht abzubitten – auch Clara muß mir ihre Verzeihung da oben gewähren, daß ich den Engel, den sie mir vererbte, nicht würdigte – wohl hatte sie Recht, wenn sie für mich eine Vereinigung mit Ihnen wünschte – ich Thor habe das nicht früh genug erkannt!«
Karoline trat zurück, auf ihren Zügen spiegelte sich eine unangenehme Ueberraschung – daß Theophil's Anerkennung so weit gehe, hatte sie nicht gewünscht.
Aber erregbar, dem Eindruck des Momentes sich rückhaltlos hingebend, so war Theophil, so konnte, so nur wollte er sein, und stürmisch fuhr er fort:
»Verzeihen Sie mir, Karoline? Und versprechen Sie nicht blos, mir wieder gut sein zu wollen, sondern so gut, daß Sie mit Freuden, und nicht blos wegen eines geleisteten Versprechens, wie bisher, mich Ihren besten, Ihren einzigen Freund nennen wollen?«
Karoline wich immer weiter von ihm zurück, das Herz schlug ihr bis zur Kehle, sie brachte kein Wort heraus.
Theophil nahm dieses Schweigen als eine Ermuthigung, daß er reden, daß er Alles sagen solle. Er kniete vor die Erschrockene hin und sagte ganz leise: »Wollen Sie mir folgen, Karoline, überall hin, durchs Leben?«
Da gab die äußerste Noth dem geängstigten Mädchen, das ein »Nein« nicht zu sagen wagte, obgleich ihr Herz von einem Ja nichts wußte, den Gedanken einer Gegenfrage ein, die eine dunkle Ahnung ihr als einen Rettungsanker zeigte.
»Erst sagen Sie mir, Theophil, wollen Sie mir nach Amerika folgen, das Vermächtniß der Großmutter mir erfüllen helfen, dann will auch ich – das Vermächtniß Clara's erfüllen – bis zum Letzten!«
Theophil, sprang zornig auf. »Wie können Sie in einem solchen Augenblicke von Vermächtnissen, überhaupt von einer Dritten reden! O Karoline, Sie sind doch kalt!«
Sie schwieg; auf die Rücklehne eines Sessels gelehnt, das Gesicht mit dem Tuche verhüllt sprach sie nichts.
Diesmal erbitterte ihr Schweigen den Poeten. »Sie haben anstatt meine warme Frage zu beantworten, eine kalte Gegenfrage an mich gerichtet, Bedingungen gemacht, Verpflichtungen gefodert. Nun wohl denn, Karoline, ich will auch Sie hierin beschämen und ehrlicher sein als Sie! Nein, ich gehe nicht mit Ihnen nach Amerika. Nie wird mein Fuß das Land der Krämer und der Speculanten betreten. Nie werde ich, sobald Ihnen mein Wille gilt, zugeben, daß Sie Ihr Vermögen in jenes Land des Geldes und der Banknoten tragen. Verwenden Sie Ihr Vermögen zum Besten, zur Verschönerung Ihres eigentlichen Vaterlandes, Deutschlands, bereichern Sie es damit, bauen Sie davon eine Kirche, oder machen Sie daraus eine fromme Stiftung, Alles was Sie wollen, und noch heute Abend helfe ich Ihnen die Schenkungsacte aufsetzen und bin stolz darauf, meinen Namen als erster und – nächster Zeuge darunter zu setzen!«
Karoline schüttelte mit dem Kopfe: »Ich muß den Willen der Großmutter erfüllen« –
»Ist das Ihr letztes Wort, Karoline?«
Sie nahm das Tuch vom Gesicht und sagte ruhig: »Und wenn ich Sie nie wieder sehen, und wenn Sie mir ewig grollen sollten – es ist mein fester, unabänderlicher Entschluß – das nächste Schiff bringt mich von hier und wenn kein Mensch mich begleitet – so wird mich Gott nicht verlassen!«
Sie schloß die Augen, sie sank in den Sessel; sie hörte Theophil fortgehen, dann hörte sie ihn das Hofthor zuwerfen. Es dauerte lange, lange, ehe sie aufblickte, aber als sie es that, stand Erhard vor ihr mit gefalteten Händen und sagte so innig und weich wie Niemand ihm wol zugetraut: »Darf ich mit Ihnen gehen? Darf ich Sie begleiten, Fräulein, Ihr Schutz, Ihr Freund, Ihr Diener? Mein Leben für Sie!«
Karoline hatte seine Gegenwart im Nebenzimmer ganz vergessen gehabt, er hatte Alles gehört, Alles hören müssen. Sie nahm seine harte Hand, Thränen stürzten aus ihren Augen, aber sie sagte mit freudiger Stimme:
»Gott hat Sie mir geschickt!«
*
Acht Tage später bekam Karoline einen Brief aus London; sie riß ihn auf, eine Karte fiel heraus, und sie las in schön gestochener Schrift die Anzeige, daß Theophil und Lätitia Seamans ein verlobtes Paar seien.
Sie hatte ihn nie geliebt, aber auf diese Art von ihm getrennt zu werden, von ihm, auf den sie einst ihre ganze Zukunft gebaut, verletzte sie doch tief. Alle Extreme, alle Scenen, jeder schroffe Uebergang, jedes Haschen nach Effect waren ihrer reinen, ruhigen, klaren Natur zuwider.
Sie fühlte sich jetzt wieder ebenso einsam, ebenso verlassen, wie nach dem Tode ihrer Großmutter; denn ihr neuer Freund, der Architekt, hatte sich, als er an jenem Abend von ihr ging, den Fuß vertreten und deshalb seitdem nicht heraus zu ihr kommen können. Sie hatte eine wahre Sehnsucht, diesen einzigen treuen Menschen zu sehen – was lag ihr an der Welt, wenn sie in ihren eigenen Augen sich nicht herabsetzte? Sie beschloß den Architekten in Begleitung ihrer Kammerfrau zu besuchen und hieß sogleich anspannen.
Als sie in sein Haus kam, begegnete ihr auf der Treppe seine Wirthin. »Wohnt hier der Architekt Erhard?« fragte Karoline. Die Frau bejahte und setzte hinzu: »Ich komme eben von ihm, er ist in seinem Arbeitszimmer und wartet auf einen Wagen, der ihn zu Fräulein Senten bringen soll.«
Die Frau öffnete die Thür; Karoline sah den Architekten vor seinem Arbeitstische stehen, die beiden Hände darauf gestützt, um den kranken Fuß zu schonen.
Als sie dicht hinter ihm stand, sah sie, daß er aufmerksam den Plan eines großen schönen Gebäudes mit einer herrlichen gothischen Façade musterte. Jetzt mußte er ihre Nähe gewahren, denn rasch wandte er sich um; sie nickte ihm freundlich zu, er aber rief, wie aus einem Traume erwachend, in kindischem Jubel: »Mein Zweites Gesicht, auf ein Haar meine Vision!«
Karoline stand erschüttert, sie blickte abwechselnd nach dem Plane und nach ihm, dann sagte sie rasch: »Nun machen Sie auch die Inschrift auf die Façade: Asyl für deutsche Kinder!«
Und der harte Mann, der Bauernsohn, nahm wie ein Ritter den Saum ihres Ueberwurfs und indem in ehrerbietiger Scheu seine Lippen ihn berührten, flüsterte er leise: »Sie machen Alle glücklich, den armen Architekten und die armen Kinder!«
Karoline aber sagte ebenso leise: »Das gebe Gott!«
*