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In jeder Gesellschaft gibt es immer eine Persönlichkeit, welche entschieden die erste Stelle einnimmt. Gewöhnlich ist es eine Frau; denn die Frauen herrschen in der Gesellschaft und diese Herrschaft wird ihnen auch Niemand streitig machen wollen, am wenigsten ein Mann, denn der Mann wünscht ja nur deshalb in der Gesellschaft zu glänzen, weil er sie als das Reich der Frauen betrachtet. Ein Mann, der die Frauen nicht liebt, liebt auch nicht Das, was man die Gesellschaft nennt.
In D., einer Residenz zweiten Ranges, war die erste Persönlichkeit der Gesellschaft die junge Frau von Senkendorf. Von ihr sprach man am meisten, sie stand unter der schärfsten Kritik und Jeder, der nicht mit ihr bekannt war, fühlte sich dadurch beschämt – sichere Zeichen, daß sie den Ton angab; aber sie führte diese Herrschaft unbewußt.
Luitgarde von Senkendorf war einundzwanzig Jahr und seit drei Jahren verheirathet. Sie hatte nicht gerade, was man ein schönes Gesicht nennt, und dennoch verdiente sie vollkommen den Namen einer schönen Frau. Ihre großen blauen Augen waren bewunderungswürdig, dabei war sie groß, schlank und blond und hatte den blühendsten, frischesten Teint. Daß sie keinen kleinen Mund und aufgeworfene Lippen hatte, verzieh man ihr um der heitern, liebenswürdigen Worte willen, die aus diesem Munde kamen. Ihre Nebenbuhlerinnen um Erfolge in der großen Welt, verziehen es ihr freilich nicht – sie würden aber noch unerbittlicher gewesen sein, im Falle Luitgarde ganz tadellos gewesen.
Sie war auf dem Lande erzogen; ihr Vater, Graf Sinsheim, hatte sie sehr ungern von sich gelassen, denn er hielt sie für unentbehrlich für sein Haus. Er war nämlich, wie man sich gewöhnlich über ihn ausdrückte, ein Theaternarr. Ein Liebhabertheater, welches er in seinem großen Schlosse erbauen lassen, verschlang alle seine Zeit, seine Theilnahme und sein Geld. Auf diesem Theater war nun Luitgarde trotz ihrer erfahrungslosen Jugend erste Liebhaberin gewesen und zwar mit großer Begabung für ihre bedeutenden Rollen. Was Andere nur nach jahrelanger Uebung erlernen, war ihr angeboren, nie hatte eine lieblichere graziösere Erscheinung sich auf den Bretern bewegt.
Ihr Vater hatte in Entzücken geschwommen seit ihrem ersten Debut und dem Himmel so inbrünstig für dieses unerwartete Glück gedankt, als habe er das große Loos gewonnen, was ihm übrigens nebenbei gesagt viel nützlicher gewesen wäre, denn eines Tages kam sein Rentmeister und erklärte ihm: »Niemand wolle mehr borgen und die alten Gläubiger haben ihn verklagt und auf Pfändung binnen kurzer Frist angetragen.«
Graf Sinsheim konnte nicht rechnen, nur Komödie und den großen Herrn spielen, beides mit wenig Erfolg, obgleich er zum letztern geboren. Er war auch im Innern ein vollkommener Aristokrat und hing mit allen Fasern seines Daseins an seinem Namen, seinem Titel und seinem Stammschlosse, was ihm der einzig würdige Hintergrund für seine hohe Person erschien.
Er gehörte nicht zum edlern ritterlichen Theil der Aristokraten, deren Stolz sie unabhängig von der Anerkennung macht. Sein Mangel an Selbstgefühl fand die Basis seiner Würde nur außerhalb seiner selbst, in seiner Umgebung, seinem Aufenthalt und dem Benehmen seines Umgangs.
Graf Sinsheim verlor alle Fassung vor dem entsetzlichen Worte: Bankerott! Graf Sinsheim bankerott! Was würden seine Standesgenossen, was der Hof, was seine eigenen Söhne sagen, die in Oesterreich als Cavalerieoffiziere das Ansehn und das Geld ihres Vaters so nöthig hatten? Und Luitgarde, was sollte aus ihr werden – aus ihr, seinem Stolze, seiner ersten Liebhaberin?
Der Bruder seiner verstorbenen Gemahlin, der ihn zufällig in dieser Unglückszeit besuchte, rieth ihm, sich an den Fürsten zu wenden, dem er, als er noch Erbprinz war, in seiner Jugend einige Jahre lang als Adjutant zugegeben gewesen.
Der Graf schrieb an den Fürsten, weil er wirklich keinen andern Rath wußte und sich lieber der sehr energischen Leitung seines Landesherrn anheimgab, als einen Blick in das Chaos seiner verwilderten Güterverwaltung zu werfen.
Acht Tage nach Abgang seines Briefes erschien eine Hofequipage im Schloßhof und der Geheimerath von Senkendorf wurde ihm gemeldet.
Der Graf zog einen grünsammtenen, mit Hermelin besetzten Schlafrock an, in dem er zuweilen die Könige spielte, und bereitete sich vor, den Geheimerath zu empfangen, in dem er, nach der Equipage zu schließen, die ihn gebracht, einen Abgesandten des Fürsten vermuthete.
Die beiden Flügelthüren wurden auf einen Schlag geöffnet, wie er es für große Gelegenheiten mit vieler Mühe seinen Bedienten eingelernt, und herein trat oder rannte vielmehr ein auffallend kleiner Mann mit großem dunkelblondem Kopfe.
»Habe ich die Ehre den Grafen Sinsheim vor mir zu sehen?« frug der Ankömmling rasch, indem er seine feine Brille in die Höhe schob und mit seinen scharfen grauen Augen den alten Herrn fixirte.
Auf dessen Bejahung fuhr er fort: »Seine Hoheit haben mich beauftragt, Ihnen das Billet zu übergeben.« Und nun fuhr der kleine Mann mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit in allen Taschen seiner beiden Röcke, riß sich dabei die Kleider halb vom Leibe, konnte aber nichts finden, bis er plötzlich mit einem: »Ach!« zur Thür hinausschoß.
Der Graf sah ihm verwundert nach: »Das ist also der berühmte Geheimerath, Freiherr von Senkendorf, die rechte Hand unsers Fürsten, der Mann, dem das Land eine so vortreffliche Finanzordnung verdankt.«
In diesem Augenblick trat Senkendorf wieder ein, sans façon, wie er nun einmal war. »Ich hatte mein Portefeuille in die Wagentasche gesenkt, weil ich mir unterwegs Einiges notirt.«
»Warum erlauben Sie mir aber nicht, den Bedienten hinabzuschicken, der konnte es ja ebenso gut holen?«
»Warum soviel Umstände«, sagte lachend und rasch, wie er immer sprach, der Geheimerath; »ich bin ein Feind aller Umstände, Herr Graf, und lieber als daß ich einen ausführlichen Befehl ertheile, besorge ich die Sache selbst. Aber lesen Sie nun das Billet des Fürsten.«
Der Graf erbrach mit Spannung das Papier, fand aber nur darin die Worte: »Vertrauen Sie unbedingt dem Ueberbringer. Wenn der Ihnen nicht helfen kann, sind Sie verloren. Er ist der beste deutsche Financier und mein treuester Diener. Daß ich seine Thätigkeit auf einige Tage Ihnen leihe, ist ein Zeichen der besondern Gunst Ihres wohlgewogenen Ludwig.«
»Mein Herr Geheimerath« – begann feierlich der Graf.
»Vor allen Dingen«, fiel ihm Senkendorf rasch ins Wort, »vor allen Dingen rufen Sie Ihren Rentmeister, damit ich über den wahren Stand Ihrer Angelegenheiten Licht erhalte – denn von Ihnen selbst, sagt mir der Fürst, würde ich keine Auskunft erhalten können.«
Der Graf biß sich auf die Lippen. Weniger die Worte als der Ton des Geheimeraths verletzten ihn – und er glaubte sich doch heute ganz besonders würdevoll benommen zu haben. Dabei trug er seinen grünsammtnen Schlafrock, der sonst nie seine Wirkung verfehlte – und doch keine Ehrfurcht! Aber er faßte sich; sah er doch wol ein, daß von diesem Manne seine Zukunft abhing. Nur mit erhöhter Förmlichkeit sagte er daher zu ihm: »Nicht den Rentmeister werde ich holen lassen, sondern einige Erfrischungen. Das scheint mir das Nöthigste.«
»Bitte, bitte«, rief der Unverbesserliche; »ich fühle gar kein Bedürfniß etwas zu nehmen, wol aber dem Zweck meines Hierseins näher zu kommen.«
»Meine Tochter erwartet uns aber zum Kaffee im Speisesaal.«
»Ihre Tochter? Sie haben eine Tochter?« rief Senkendorf mit plötzlich veränderten Zügen; »ja warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt, das ändert freilich die Sache, eine Dame darf man nicht warten lassen.« Und indem er ein wenig seine Halsbinde zurecht zupfte, eilte er zur Thür hinaus dem kopfschüttelnden Grafen voran.
Der Geheimerath verschlang Luitgarden mit den Augen. Sie war freilich ganz ein Mädchen, wie sie ältern Männern – Senkendorf war ungefähr vierzig Jahr alt – zu gefallen pflegen, sehr jung, blühend und heiter und unbefangen. Dabei hatte die junge Gräfin jenes sorglose und doch nie die Grenze überschreitende Benehmen, das eine sorgfältige Erziehung verleiht, und dann, wofür alle Männer empfänglicher sind, als sie selbst gestehen, umgab ihre Person der nicht grell in die Augen fallende, aber desto feinere Luxus, welcher vornehmen Frauen ein Bedürfniß ist und von dem sie nicht ahnen, daß er überflüssig sei – weshalb man ihnen auch eigentlich keinen Vorwurf daraus machen kann.
Daß Luitgarde einen halben Kopf größer war als der Geheimerath, daran störte er sich nicht und constituirte sich sogleich zu ihrem förmlichen Anbeter, indem er ihr hundert kleine Aufmerksamkeiten erwies und ihr soviel schöne Dinge sagte, wie er nur in seinem von langweiligen Combinationen und Speculationen zermarterten Kopfe finden konnte. Luitgarde war stolz und froh darüber, denn der Geheimerath, den man ihr immer als einen der klügsten und unentbehrlichsten Männer im Lande genannt, ehrte sie in ihren eigenen Augen durch seine Auszeichnung auf das höchste und ihre Unschuld verhinderte sie, etwas Anderes darin zu sehen, als ein väterliches Wohlgefallen. Dabei machte sie selbst die Bemerkung, daß es ein kluger genialer Mann sei, bedeutender als alle, die sie bisher bei ihrem Vater kennen gelernt, und ihre junge Seele beugte sich ehrfurchtsvoll und bewundernd vor seinen scharfen Bemerkungen, seinen geistreichen Satiren und seinen klaren logischen Beweisen.
Der Geheimerath aber lebte förmlich neu auf, denn auch der stärkste Geist ist ja eine Pflanze, die der Sonne bedarf, um das Haupt hoch zu halten, und die Sonnen aus zwei achtzehnjährigen Mädchenaugen wirken oft wunderbar belebend! Eine Woche verging, in welcher Senkendorf den Tag über Luitgarden den Hof machte und seinen lange schlummernden Geist bei ihr glänzen ließ, seine Nächte aber ganz allein den Geschäften ihres Vaters widmete und mit dem Rentmeister sich einschloß, der ihn dahin wünschte, von wannen Niemand wiederkehrt.
Dies Leben griff Senkendorf's ohnehin schwächliche Gesundheit bedeutend an und er wurde blaß und mager und erregte dadurch Luitgardens unschuldige Theilnahme in noch höherm Grade.
Eines Morgens trat er in das Zimmer des Grafen und bat diesen die Thüre zu verschließen, weil er eine wichtige Unterredung mit ihm haben müsse.
Als Sinsheim erwartungsvoll ihm gegenüber Platz genommen, begann der Geheimerath:
»Ich habe jetzt eine übersichtliche Kenntniß Ihrer Verhältnisse mir angeeignet, mein Herr Graf, und kann Ihnen mit gutem Gewissen sagen, es steht nicht so schlimm, wie Sie glauben, ja sogar scheint es mir möglich, die von Ihnen so schmerzlich aufgegebene Idee der Gründung eines Majorats für Ihren ältesten Sohn zu realisiren, wenn – eine festere und geübtere Hand die Zügel Ihrer Güterverwaltung ergreift. Ich biete Ihnen die meinige an, solange ich lebe, und stehe für den Erfolg, aber – ich mache eine Bedingung.«
»Was Sie wollen, nur bewahren Sie mich vor Sequestration und erhalten Sie mir mein Schloß und meinen Park; die Güter und alles Andere will ich den Gläubigern cediren.«
»Ist gar nicht nöthig; mit dem Einkommen der Güter, die auf das Doppelte des jetzigen Ertrags gebracht werden können, bezahlen wir nach und nach die Gläubiger, mit denen ich schon Alles arrangiren will, weil sie mir vertrauen werden. Das Schloß mit dem Park, und der Meierei nebst einigen tausend Thalern, natürlich vor der Hand nur das Allernöthigste (die Kosten für ein Liebhabertheater müssen gänzlich von Ihrem Budget gestrichen werden) bleibt Ihnen; dann werde ich von dem Fürsten die Bewilligung zur Errichtung des Majorats für die Zeit, wo die Schulden abgetragen sein werden, erlangen – Alles wird sich arrangiren – Ihr zweiter Sohn muß sich freilich in Ihrem Testament mit einem kleinen Capital abfinden lassen.«
»Das ist ja Alles herrlich. O, lassen Sie sich umarmen, Sie vortrefflichster aller Finanzmänner der Welt.«
»Halten Sie ein mit den Ausbrüchen Ihrer Dankbarkeit, bis Sie mich zu Ende vernommen. Sie fragen mich gar nicht, was bei diesem Arrangement für Ihre Tochter übrig bleibt.«
»Das wird sich schon finden, Vortrefflichster.«
»Nein, nichts wird sich finden. Bei einer guten Verwaltung findet sich nichts, weil nichts verloren geht, da kömmt jeder Pfennig an seine Stelle. Kurzum für Gräfin Luitgarde bleibt nichts, gar nichts übrig! Sie müssen sie ohne Aussteuer verheirathen.«
»Das geht aber nicht! Eine Gräfin Sinsheim ohne Aussteuer! Und wer wird sie dann wollen?«
»Ich. Ich verlange, ich will nichts als sie selbst – und das ist meine Bedingung.«
»Herr Geheimerath!«
»Entschließen Sie sich schnell – Ja oder Nein, denn ich bin nicht mehr jung genug, um zu warten. Sagen Sie Ja, und das ist mein sehnlichster Wunsch, so bestelle ich Postpferde, hole mir ein Handbillet des Fürsten für den Pfarrer des nächsten Ortes und lasse mich übermorgen mit Luitgarden trauen, um schon zu Anfang der nächsten Woche wieder im Ministerium arbeiten zu können, wo meine Gegenwart nicht länger entbehrt werden kann. Aber ich nehme alle Ihre Rechnungen und Acten mit mir, was freilich während mehrer Monate mir die halben Nächte kosten wird, denn meine Dienstgeschäfte nehmen den ganzen Tag in Anspruch. Sagen Sie Nein, so bestelle ich auch Postpferde, schicke Ihnen aber dann einen meiner jungen Angestellten, der vielleicht die Sache auch nicht ganz übel arrangirt, denn meine Gesundheit ist schwächlich und ich kann es nicht verantworten, wenn ich sie um eines Fremden willen aufs Spiel setze und die mir so nöthige Nachtruhe auf lange Zeit hin opfere. Um eines Fremden willen, Herr Graf, um die Wahrheit zu sagen, der einzig durch seine eigene Schuld mit dem schönsten Vermögen und den herrlichsten Gütern in solche Verhältnisse gerathen ist. Wählen Sie!«
»Herr Geheimerath, Sie sehn mich vollkommen aus der Fassung gerathen. Sie entfalten vor meinen Augen eine so ungehofft günstige Zukunft, sogar Erfüllung meines liebsten Wunsches, ein Majorat für meine Familie – welch ein Glück für meinen Sohn!«
»Aber welch ein Unglück für Ihre Tochter, nicht wahr?« frug bitter lächelnd Senkendorf.
»O, ich bitte, ich bitte, Herr Geheimerath! Ja – was soll ich thun?«
»Ihre Tochter fragen.«
»Richtig, richtig, das ist das Kürzeste«, und glücklich, von sich selbst die Entscheidung abzuwälzen, eilte der Graf zu Luitgarden.
Als er ihr Senkendorf's Antrag mittheilte, lachte sie hell auf. »Spaß, Papa, wie wird denn dieser hochgelehrte Mann auf den Gedanken kommen, ein halbes Kind wie ich, eine ganz unwissende Person zu heirathen!«
»Mein Kind, ich habe schon von vielerlei Ursachen gehört, weshalb ein Mann eine Frau genommen, aber wegen Gelehrsamkeit – der Fall ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Aber Papa!«
»Es ist, wie ich dir sage. Er bittet um deine Hand.«
»Gott, welche Ehre!«
»Darüber phantasire ein andermal!« rief nun ganz ungeduldig Sinsheim, »sage mir jetzt Ja oder Nein.«
»Wenn ich es nur selbst wüßte!« Und sie verbarg ihr plötzlich erröthendes Gesicht zwischen beide Hände und stand da, zitternd, wie im Traum.
Ihr Vater rief: »Wenn du nicht Nein sagst, sage ich gewiß Ja und zwar aus voller Seele; mir fällt ein Stein vom Herzen.«
Luitgarde wollte ihren Vater fragen, aber er war schon zur Thür hinaus, um den Geheimerath zu holen, der mehr geflogen als gegangen kam. Wie ein Jüngling, er sah auch viel jünger aus als er war, stürzte er auf sie und umfaßte mit dem Arm ihre schlanke Gestalt, was sie seiner starken Kraft nicht wehren konnte, so sehr sie sich auch bestrebte. Als er aber ihren rothen Mund küssen wollte, bog sie ihr flammendes Gesicht weit zurück und Senkendorf konnte den Kuß nicht erzwingen, denn ihre Lippen waren ihm zu hoch – sie war ja einen halben Kopf größer als er. – –
So war Luitgarde Frau von Senkendorf geworden – aber jetzt nach dreijähriger Ehe war ihre Seele noch immer die eines jungen Mädchens; äußerlich jedoch repräsentirte sie vollkommen die Gemahlin eines der vornehmsten Staatsdiener in D.
Nie sind wol zwei Menschen unüberlegter eine Ehe eingegangen, als der Geheimerath und Luitgarde. Senkendorf war einer von jenen Männern, die bei der größesten äußern Courtoisie und Galanterie gegen das schwache Geschlecht es unendlich tief stellen. Er theilte erstens die Frauen in schöne und häßliche und dann, nachdem er die häßlichen ganz beseitigt, die schönen in sanfte und heftige; um Weiteres kümmerte er sich nicht. Wenn eine Frau hübsch und sanft war, was lag ihm daran, ob sie gebildet, ob tiefer Empfindungen, höherer Begriffe fähig sei? Das Gemüth einer Frau war ihm trotz seiner vierzig Jahre eine vollkommene terra incognita, und es war alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß dies immer so bleiben werde, da diese Gegend ihm gar nicht der Mühe einer Entdeckung werth schien. Nach der Ansicht der Welt liebte er seine Frau außerordentlich, denn er ließ sie frei mit seinem Hauswesen und seinem Einkommen schalten, versagte ihr kein Vergnügen, ließ ihr die freie Wahl ihres Umgangs und – war ihr nicht untreu.
Es dauerte eine geraume Zeit, ehe Luitgarde einsah, wie wenig sie bei ihrem Manne galt. Im Anfang ihrer Ehe war er den ganzen Tag im Ministerium und seine zärtlichen Worte beim Kommen und Gehen ließen sie bedauern, daß er seiner Neigung zu ihr nicht mehr Zeit gönnen dürfe. Als aber einmal der Geheimerath durch Unwohlsein an das Haus gefesselt wurde und der Arzt ihm alles Arbeiten untersagte, lernte sie einsehen, daß Senkendorf's Geschäfte ihr keinen Abbruch thaten. Er beschäftigte sich nun ebenso wenig mit ihr wie früher, und that darin wol nur, was die meisten Ehemänner; aber Luitgarde hatte den guten Glauben und hoffentlich auch mit Recht, daß es hier und da Paare gebe, die ein gemeinsames Interesse wenigstens einige Stunden einer gemeinschaftlichen Unterhaltung genießen lasse. Wenn Luitgarde in ihres Mannes Krankenzimmer trat, frug er jedesmal: »Was willst du, liebes Kind?« Und sagte sie dann schüchtern: »Ich wollte nur nach dir sehen«, dann nickte er mechanisch mit dem Kopfe und las weiter in dem Buche oder der Zeitung, welche er gerade in der Hand hielt. Richtete sie irgend eine Frage, die einen Gegenstand der Kunst oder Wissenschaft betraf, an ihn, so empfahl er ihr Ersch und Gruber oder Pierer's Universallexikon; »du findest da unter dem Buchstaben M oder P Alles viel deutlicher und besser, als ich es dir erklären könnte; gehe nur in meine Bibliothek, liebes Kind.« Frug sie aber nach Etwas, das das Haus und seine Einrichtung betraf, dann wurde er böse und rief in seiner sprudelnden Weise, sie möge ihn mit solchen Details verschonen, davon verstehe er nichts und wolle auch nichts verstehen.
Hätte nun Luitgarde nicht ihren wirklich bewunderungswürdigen Takt und die Erinnerung an das vortreffliche Beispiel ihrer verklärten Mutter gehabt, welche sie im funfzehnten Jahre verloren, so wäre sie bei ihrer großen Jugend doch in sehr übler Lage gewesen.
Von einer wirklichen Liebe zu ihrem Gemahl konnte auch bei dieser Art, sie sich selbst zu überlassen, natürlich nicht die Rede sein; als sie ihn heirathete, kannte sie ihn kaum, und als sie mit ihm verheirathet war, blieb ihr seine Seele beinahe ebenso fremd, und um sich in ihn zu verlieben, dazu war er nicht jung und hübsch genug! Es war ein großes Glück, daß ihr Herz so rein war, daß die Achtung und Ehrfurcht vor Senkendorf sie nicht sobald zu einer klaren Erkenntniß des eigentlichen Zustandes dieses Herzens kommen ließen.
Leider brachten die Bücher, welche sie mit großem Interesse las, ein helles Licht in ihre Seele; besonders bei Schilderungen einer tiefen Neigung wurde es ihr klar, daß eine solche ihr ewig fremd bleiben werde, und die bange Sehnsucht nach Glück, worunter jedes junge edle Herz ja nichts Anderes als Liebe versteht, stieg dann übermächtig in ihr auf.
Diesen Anspruch, dieses Recht auf Glück glaubt ja Jeder in der Jugend zu haben und stellt seine Foderung an das Schicksal mit der vollen Ueberzeugung, daß es ihm gebühre. Glück, ungeheueres Glück ist, was jedes junge Herz als unbestreitbares Recht für sich verlangt.
Mit dem Gedanken an dieses Recht beschäftigt, saß eben Luitgarde vor einem angefangenen Brief an ihrem Schreibtische, als ihr ein Mann gemeldet wurde, ein Schauspieler, der längere Zeit sich im Schlosse ihres Vaters aufgehalten und mit dem sie öfters gespielt hatte.
Er hieß Everhard. Als er eintrat, stellte sie zum ersten mal Bemerkungen über seine Haltung an und fand, daß in seinem Benehmen jene Mischung von Verlegenheit und Dreistigkeit sei, die ein sicheres Zeichen halber Bildung ist. Sie empfing ihn freundlich als einen alten Bekannten.
Als er Platz genommen, bemerkte sie, daß er öfters verstohlen in den Spiegel gegenüber blickte und zwar mit einer gewissen Zuversicht, – sie fand nun auch, daß er viel eleganter als früher aussah; dazu kleidete ihn ein langer Bart, den er sich seitdem wachsen lassen, sehr vortheilhaft. Er war ein schöner Mensch.
Um etwas zu sagen, begann die Dame: »Es ist gut, daß ich Ihren Namen vom Bedienten gehört; ich hätte Sie sonst kaum erkannt!«
»Wegen des Bartes, nicht wahr, gnädige Frau? Ich bin von den Bretern abgetreten und kann jetzt Haar und Bart tragen wie ich Lust habe.«
»Weshalb sind Sie abgetreten?«
»Sie sind sehr gnädig, mich so verwundert zu fragen, oder haben Sie meine Person und mein Spiel so sehr vergessen, um nicht mehr zu wissen, daß es sehr mittelmäßig, unerlaubt mittelmäßig war?«
Luitgarde war zu ehrlich, um ihm widersprechen zu können, und frug deshalb schnell: »Aber womit beschäftigen Sie sich jetzt?«
»Noch immer mit dem Theater, denn ich verstehe nichts Anderes; aber ich bin jetzt Director einer Truppe, die in dem Bade B. während dieses Sommers spielen wird. Ich trete selbst aber nicht auf.«
»Das ist doch – schade.«
»Schade? Seien Sie ehrlich. Hätte ich Ihr Talent! Mit Ihrem Talent und meiner Bühnenkenntniß wollte ich der erste Schauspieler in Deutschland sein. Haben Sie, seitdem Sie verheirathet sind, oft gespielt?«
»Ich – ich habe seitdem nicht gespielt. Mein Gemahl wünscht es nicht – er liebt das Schauspiel nicht.«
»So, so – das ist sehr, sehr traurig. Sie würden dem kleinen Kreise, dem es erlaubt und vergönnt war, Sie zu bewundern, noch so viel Genuß und Freude bereitet haben; denn Sie wissen es wol, ich habe es früher oft genug gesagt, ich halte es geradezu für ein Glück, Sie spielen zu sehen. Seitdem bin ich lebhaft an Sie erinnert worden.«
»Wie so?«
»Es war in Wien, wo ich mich vor einem Jahre aufhielt und die Bekanntschaft der Fichtner machte. Wahrhaftig, das ist im Fache des Lustspiels jetzt die erste Frau der Welt, und diese Frau gleicht Ihnen frappant in Körper und Gesichtszügen, ja in Haltung und Geberden – sogar das Organ ist zum Verwechseln!«
»Wirklich?«
»Ich glaube nicht, daß es eine größere Aehnlichkeit geben kann. Sie könnten kühn als Madame Fichtner auftreten und die Fichtner als Frau Baronin –«
»Senkendorf. Können Sie meinen jetzigen Namen sich nicht merken, er ist doch nicht schwer zubehalten?«
»Nein, das ist er auch nicht, aber – verzeihen Sie – ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß Sie verheirathet sind. Sie sehen noch gerade aus, wie damals, als Sie die siebzehnjährige Comtesse waren.«
»Warum sollte ich aber auch anders aussehen – es ist ja noch nicht so lange her.«
»Freilich, freilich, das meine ich auch nicht. Ich weiß wohl, daß Sie noch in einem Alter sind, wo es eine Impertinenz ist, wenn man vom Conserviren spricht; soviel verstehe ich auch von dem gesellschaftlichen Tone. Nein, ich meine etwas Anderes. Wenn vornehme junge Frauen sich verheirathen, nehmen sie gewöhnlich ein gewisses air de protection, eine Herablassungsmiene gegen unser Einen an, die ich – zu meinem freudigen Erstaunen, denn mir war schon bange davor – bei Ihnen nicht angetroffen habe. Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar für Ihre Aufnahme.«
Und er erhob sich, um Luitgarden näher zu treten und den Saum ihres breiten Kleiderbesatzes mit vieler Grazie zu küssen. Diese kleine Huldigung, so unschuldig sie war, verstieß so sehr gegen die strengen Formen der Gesellschaft, in welcher Frau von Senkendorf sich bewegte, daß sie einen Augenblick die Fassung verlor und dunkelroth wurde. In demselben Augenblick ertönte lautschallend die Klingel der Hausthür, und Luitgarde, die ihres Mannes Art zu schellen erkannte, schrak zusammen, wie man es immer thut, wenn uns ein äußeres Ereigniß, sei es auch das unbedeutendste, aus peinlichen Gedanken reißt. Everhard misdeutete ihr anscheinendes Erschrecken. »Ihr Herr Gemahl liebt nicht das Schauspiel, also wahrscheinlich noch weniger die Schauspieler«, sagte er mit seiner ungeschickten Offenherzigkeit; »ich werde mich entfernen«, und nach einer hastigen Verbeugung war er zur Thür hinaus. Luitgarde rief ihm nach, zu bleiben, aber er hörte es schon nicht mehr. Nach einigen Secunden trat der Geheimerath ein.
»Was war das für ein bärtiger Mensch, liebes Kind, der an der Treppe so eilig an mir vorüberrannte?«
Luitgarde stockte und ohne zu wissen warum scheute sie sich, geradezu die Wahrheit zu sagen. »Es ist ein Künstler – eine alte Bekanntschaft von meinem Vater her –«
»Dachte ich mir's doch – ein Künstler! Wol ein mimischer?« fügte er mit gutmüthigem, aber etwas spöttischem Gesicht hinzu. »Warum hast du ihn nicht zu Tische gebeten? Wer weiß, ob ihm nicht damit ein Gefallen geschehen wäre. Du mußt doch am besten wissen, daß die Künstler nur im Olymp auf eine gedeckte Tafel rechnen können.«
»Everhard ist in guten Verhältnissen«, sagte rasch Luitgarde, denn Senkendorf ärgerte sie zum ersten mal durch seine Mäcenmiene.
»Ist er hier als Schauspieler engagirt?«
»Nein, er selbst hat den Bretern entsagt. Er führt nur die Direction einer Truppe, welche diesen Sommer im Bade B. spielen wird.«
»O da kannst du ja Gelegenheit haben, sein Talent als Director zu bewundern. Von unserm Gute ist das ja nur eine Stunde entfernt.«
»Wirklich – und wann wirst du mir endlich dieses Gut zeigen? Seit drei Jahren versprichst du mir es in jedem Sommer von Woche zu Woche.«
»Nächsten Monat gewiß. Ich wollte erst das neue Haus fertig haben, und das soll in vierzehn Tagen der Fall sein. Wenn ich dich dahingebracht und es dir gefällt, so kannst du einige Wochen draußen bleiben; ich werde in der Zeit den Erbprinzen auf seiner Reise begleiten.«
»Wohin geht die Reise?« frug theilnehmend die junge Frau; aber der Geheimerath gab ihr keine Antwort, denn er hatte ihre Frage gar nicht mehr gehört. Er hatte schon längst, während er diese für ihn ungewöhnlich lange Unterredung mit ihr gehabt, eine auf dem Tische liegende neue Zeitung ergriffen und seine ganze Aufmerksamkeit ihr ungetheilt geschenkt; er sah und hörte nichts mehr. Nachdem Luitgarde ihre Frage mit gleich schlechtem Erfolg wiederholt, nahm sie auch ein Zeitungsblatt zur Hand, aber ihre Gedanken waren nicht dabei.
Der Geheimerath hatte das Zimmer schon eine Weile verlassen, als er plötzlich zurückkehrte, aber nur den Kopf zur Thür hereinsteckend seiner Frau zurief: »Sei doch so gut und lasse die Fremdenzimmer in Ordnung setzen!« Damit war er verschwunden.
Luitgarde erwartete mit Sehnsucht die Essensstunde, um von ihm zu erfahren, wer der Gast sei, den sie bewirthen sollte – es war am Ende eine verzeihliche Neugier!
Als sie Senkendorf frug, sah er sie mit großen Augen an. »Ja, liebes Kind, weißt du denn nicht, daß mein Bruder kommt?«
»Nein, das weiß ich nicht – ich ahnte sogar nicht einmal, daß du einen Bruder hast. Es ist das erste mal, daß du ihn nennst. Auf meine Frage nach deinen Geschwistern hast du mir gesagt, du hättest nur die beiden Schwestern, die Präsidentin und die Generalin.«
»So habe ich dir wirklich nie von meinem Bruder erzählt? Hast du es auch nicht vergessen? Ich glaubte gewiß, dir das Alles längst gesagt zu haben. Ich kann mich freilich irren. Er ist nur mein Halbbruder, er ist zwölf Jahre jünger als ich. Jetzt kommt er von einer Reise in den Orient zurück – seit sechs Jahren hat er uns verlassen und alle möglichen Länder gesehen.«
»Ist er denn so reich, daß er ganz nach seinem Belieben leben kann, wo und wie er will?«
»Er hat ein ziemlich bedeutendes Vermögen von seiner Mutter, meines Vaters zweiter Frau, geerbt, deren einziges Kind er war, denn sie starb bei seiner Geburt. Er hat mir geschrieben, er wolle bei seiner Rückkehr in die Diplomatie eintreten und ich solle ihm einstweilen offenen Weg machen – das mag er selber thun; ihm wird es auch leicht werden, er hat ganz das Zeug dazu.«
Weiter erfuhr Luitgarde nichts über ihren Schwager, denn ihres Gatten einfaches Diner, welches einen Tag wie den andern nur aus Bouillon und aus einem Beefsteak bestand, war beendigt und er erhob sich, um in sein Bureau zu eilen, wo er sich trotz seiner hohen Stellung unendliche Arbeit aufbürdete, denn auch noch für die Abende ließ er sich ganze Actenstöße nach Hause schicken.
Einige Tage später, es dunkelte schon und Luitgarde hatte eben die Kerzen in ihrem Cabinet anzünden lassen und saß lesend auf ihrem Ruhebette, als sie die Augen vom Buche erhob und den Kopf lauschend nach den Fenstern zu wandte. Draußen hielt eine leichte Reisekalesche. Ein Mohr in bunter Tracht sprang vom Bedientensitze und öffnete seinem Herrn den Schlag. Letzterer war eine große Gestalt, die rasch die vordern Treppenstufen hinaufeilte, während sich die Hausthüre öffnete und ein Bedienter mit einem Armleuchter darin erschien.
»Ist der Geheimerath von Senkendorf zu Hause?« frug der Fremde den Bedienten.
»Nein, aber die gnädige Frau ist oben und läßt fragen, ob –«
»Ja, ja, ich bin der erwartete Besuch. Melden Sie mich.«
Rasch folgte er dem Bedienten die Stiege hinauf, oben legte er seinen langen rothgefütterten Mantel ab und betrat, nachdem er ein paar mal mit einer schönen weißen Männerhand sich die kurzen Haare zurecht gestrichen, das Zimmer der Hausfrau.
Luitgarde stand überrascht bei seinem Eintritt auf. Sie hatte natürlich bei ihrem Schwager einige Aehnlichkeit mit ihrem Manne vermuthet, ihn sich also klein und blond gedacht. Dieser Mann war aber groß und dunkel, sein Gesicht vom Kerzenschimmer beleuchtet war braun und von der Sonne verbrannt. Auch er betrachtete verwundert die hübsche große, blonde, rosenrothe Schwägerin; Beide glaubten sich zu irren, bis sich der Fremde nannte:
»Wolf von Senkendorf.«
»Sie heißen Wolf?« sagte Luitgarde, nachdem sie ihn begrüßt und ihr gegenüber Platz nehmen lassen. »Das hat mir Ihr Bruder nicht gesagt und doch scheint mir der Name eigenthümlich genug, um seiner zu erwähnen.«
»Glauben Sie an die Bedeutung der Namen? Erwarten Sie von einem Menschen, der Albert heißt, etwas Anderes als von einem Wolf?«
Luitgarde zögerte zu antworten. »Sie werden mich auslachen, ich schäme mich fast selbst, es zu sagen: Ja! Namen haben eine große Wirkung auf mich und zwar ist dabei entschieden maßgebend, wie der Erste des Namens, den ich kennen lernte, war. So fällt danach meine Meinung für den Einen günstig, für den Andern schlimm aus. Es ist ein Vorurtheil.
»Wie hat sich Wolf der Erste Ihnen gegenüber benommen?«
»Das sind Sie. Noch nie habe ich Jemand kennen gelernt, der Ihren Namen trug.«
»Also finde ich durchaus freies Feld in Ihrem Herzen, meine schöne Schwägerin«, frug Wolf, indem seine großen braunen Augen sich vielbedeutend in die ihrigen versenkten.
Luitgarde erschrak heftig, ohne sich aber im Augenblick klare Rechenschaft abzulegen, weshalb. Indem sie ihre Blicke senkte, blätterte sie gedankenlos in dem Buche, das vor ihr aufgeschlagen lag.
»In welcher Lecture habe ich Sie gestört, gnädige Frau?« frug ihr Schwager mit verändertem Tone.
»Es sieht sehr gelehrt aus für eine Frau« – sie schlug den Titel auf und hielt es ihm hin: es war Menzel's Geist der Geschichte. »Das haben Sie natürlich längst gelesen?«
»Doch nicht. Das ist das Schlimme bei einer solange währenden Reise – man verliert die Literatur des Tages ganz aus den Augen. Sagen Sie mir deshalb – denn Damen wissen am besten ein Resumé, die Crême des Wissenswerthen zu geben: Worüber schreibt man jetzt? Was beschäftigt die meisten Federn?«
Luitgarde hob nachdenkend die Augen zur Decke und sagte nach einer kleinen Pause: »Ich muß in diesem Augenblick schon das Compliment, welches Sie uns Frauen spenden, unwahr machen – ich kann Ihnen kein Resumé geben. Mir kommt die Literatur so bunt, so vielseitig eben vor, daß ich keine besonders hervortretenden Themas in ihr zu bemerken vermag – und ich folge ihr doch mit Aufmerksamkeit, denn ihr gehört mein größtes Interesse.«
»Ihr größtes Interesse«, frug Wolf gedehnt, indem er sich mit halbgeschlossenen Augen in seinen Sessel zurücklehnte, »die Literatur? todte Bücher das größte Interesse einer so schönen, einer so jungen Frau?«
»Mein Gott, wofür sollte ich mich denn interessiren, womit mich beschäftigen?« frug nun Luitgarde etwas spöttisch und wegwerfend entgegen. »Der Geheimerath ist den ganzen Tag mit Ausnahme der Essensstunde oder vielmehr halben Stunde auf seinem Ministerium, mit meinen Freunden komme ich nur Abends zusammen, Talente für Musik und Malerei besitze ich nicht, womit soll ich nun meinen Tag ausfüllen, meinen ganzen langen freien Tag? Doch nicht mit weiblichen Arbeiten, diesem unnützesten und kostspieligsten Zeitvertreib unserer Frauen, die darunter natürlich nichts Anderes verstehen als endloses Vergeuden von Seide, Wolle und Perlen.«
»Auf diese Frage, gnädige Frau, würde man Ihnen in jedem Lande, das ich kenne, eine andere Antwort geben; aber kein einziges ist mir bekannt, wo man sagen würde: Mit Lecture!«
»O doch«, lachte Luitgarde, »in unserm eigenen Vaterlande, unsere eigenen Landsleute würden mir diese Antwort geben, ja sogar mir ein Buch in die Hand legen.«
»Welches?«
»Das Buch, wovor alle Männer den größten Respect und die Frauen nicht den mindesten haben. Das Buch, das unnütz für die Fachgelehrten und unverständlich für die Laien der Kunst, die es behandelt, ist.«
»Sagen Sie mir endlich den Titel dieses merkwürdigen Buches.«
»O es hat deren viele: Suppe, Gemüse und Fleisch, oder: Die allezeit fertige Hausfrau, oder: Winter- und Sommerrathgeber in sparsamen Haushaltungen am Kochherd und Windofen, kurzum und mit einem Worte: ein Kochbuch!«
»Sie spotten«, sagte Wolf ärgerlich, als Luitgarde wie ein Kind über seine Verwunderung lachte. »Wir Männer legen so großen Werth auf ein Kochbuch? Mag sein, daß wir dem Buche zu viel Ehre anthun, der Sache aber gewiß nicht – eine gute Mahlzeit ist und bleibt einer der positivsten Genüsse.«
Luitgarde erhob sich: »Wenn dies das Glaubensbekenntniß meines Herrn Schwagers ist, dann erlauben Sie, daß ich mich auf einige Augenblicke entferne, um anzuordnen, daß man unserm Nachtessen noch einige Schüsseln hinzufüge, denn unsere Frugalität möchte Sie erschrecken; bei uns treffen Sie am Abend nie mehr als zwei Schüsseln.«
Wolf hielt sie zurück. »Ich werde Ihre Entfernung nicht zugeben. Zwei Schüsseln genügen auch mir vollkommen in einem Hause wie das Ihrige, wo sie gewiß gut zubereitet sind. Das ist freilich unerläßlich – ich verabscheue das Mittelmäßige überall, Alles muß so gut und schön wie möglich in seiner Art sein, Alles – Frauen, Pferde und Mahlzeiten.«
»So etwas können Sie auch nur bei einer Schwägerin sagen«, lachte Luitgarde; »nur bei einer Frau, die für Sie so ganz sans conséquence ist.«
»Warum?«
»O es würde Ihnen bei jeder andern den Hals brechen. Diese Zusammenstellung von Frauen, Pferden und Mahlzeiten!«
»Warum? Die Frauen sind unser Glück, die Pferde unser Vergnügen und die Mahlzeiten unsere Erholung. Was ist da Beleidigendes dabei?«
»Sie verrathen gute Anlagen zu Ihrer künftigen Carrière«, sagte heiter Luitgarde. »Sie werden Erfolg haben.«
»Hat Ihnen mein Bruder gesagt –? Ich habe es wieder aufgegeben. Um eines Planes willen habe ich jetzt alle andern aufgegeben. Mich beschäftigt jetzt nur ein Gedanke, den ich gerade Ihnen mittheilen muß: ich will mich verheirathen.«
»Und warum müssen Sie gerade mir den Plan mittheilen?«
»Damit Sie mir eine Frau auswählen. Sind Sie nicht eigentlich meine Schwester, und ist das nicht ein echt schwesterliches Amt?«
»Ich werde mich hüten, mein Herr Schwager, mir die Finger zu verbrennen. Sie werden auch die gewöhnlichen Männeranfoderungen machen. Die Frau soll jung, schön, vornehm, geistreich, gebildet, sanftmüthig und eine vortreffliche Hausfrau sein, Ihre Gäste mit guten Gerichten, einer guten Unterhaltung und einem angenehmen Aeußern zugleich beglücken – Sie zu einem beneidenswerthen Manne machen. Hab' ich's nicht getroffen?«
»Vollkommen.«
»Sie verlangen eben nur Unmögliches, wie Alle.«
»Unmögliches? Hat mein Bruder es nicht gefunden? Und bin ich nicht zwölf Jahre jünger als mein Bruder und hat nicht die Jugend die größten Rechte?«
Luitgarde wurde dunkelroth über das unerwartete Compliment, aber es verletzte sie und misfiel ihr als ein Zeichen der Misachtung bei einem ersten Zusammentreffen.
Ihr Schwager sah an ihren Zügen, daß er einen Fehler begangen, und setzte deshalb einlenkend hinzu: »Eigentlich thun Sie mir bitteres Unrecht, wenn Sie behaupten, ich verlange Dasselbe wie alle Männer, – die Haupteigenschaft für alle Männer haben Sie nicht genannt.«
»Welche?«
»Reichthum, Reichthum ist die erste Eigenschaft, die heutzutage ein Mann aus der großen Welt an seiner künftigen Frau schätzt. Das thue ich aber nicht, obgleich ich selbst nicht reich bin.«
»Dann sind Sie ja ein Phönix«, lächelte Luitgarde so spöttisch, daß Wolf mit all seiner Routine dennoch etwas aus der Fassung kam und nur nach einer Weile den Faden eines gleichgültigen Gesprächs wiederfand, das bald durch die Nachhausekunft seines Bruders unterbrochen wurde. – –
Auf dem Gute des Geheimeraths herrschte große Thätigkeit, denn man erwartete ihn dort mit seiner Gemahlin, die, wie ihr Gatte es ihr vorgeschlagen, dort einen längern Aufenthalt zu nehmen beschlossen. Zwei Tage früher als er es angesagt, traf er ein, aber nur von seinem Bruder begleitet, denn eine leichte Unpäßlichkeit hielt Luitgarde noch für einige Tage länger in der Stadt. Senkendorf schalt und zankte, als er bei seiner Ankunft die Zimmer noch nicht fertig fand, bis Wolf, der sonst klug genug war, sich häuslichen Verhandlungen im Hause seines Bruders fern zu halten, ihn in den Garten führte und ihm unterwegs bemerkte, daß ja auch die den Handwerkern festgesetzte Zeit noch nicht verflossen sei.
»Ja, siehst du, Wolf, so geht es immer, wenn ich mich in häusliche Dinge mische; entweder ich thue den Leuten Unrecht oder ich bin zu nachgiebig.«
»Und doch bist du außer deinen anerkannten guten Eigenschaften für den Staat auch noch praktisch für andere Leute – nur nicht zu deinem eigenen Vortheil.«
Der Geheimerath lächelte und senkte das Haupt, welches er eben zu seinem bei weitem größern Bruder erhoben. Dann sagte er nach einer ziemlich langen Pause:
»Du nennst mich praktisch für Andere. Das muß ich doch beweisen, indem ich es aus Dankbarkeit für deine Anerkennung zuerst für dich bin. Was hast du für einen Plan für die nächste Zeit, die Sommermonate? Was willst du während meiner Abwesenheit, die sechs bis acht Wochen dauern kann, beginnen?«
»Hier auf dem Gute die Oberintendanz führen: die Vollendung der Bauten, der Anlagen beaufsichtigen und dann deiner Frau Gesellschaft leisten.«
»Du bist wirklich sehr gütig, aber – was die Aufsicht betrifft, so rechne ich, daß mein Verwalter da die Interessen meines Geldbeutels und Luitgarde die des guten Geschmacks wahren wird – sie versteht das für eine Frau ganz vortrefflich. Dich also würde nichts abhalten, in der Stadt in meinem Hause zu bleiben; meinen Koch will ich dir dort lassen«, setzte er lächelnd hinzu. »Du könntest dann in aller Muße deine Sammlungen ordnen, die Kisten stehen ja noch nicht einmal eröffnet in der Remise! Bei diesem Geschäft ist dir gewiß ein Stadtaufenthalt bequemer, weil du der Schloßbibliothek zum Rangiren deiner Schätze bedürfen wirst. Was die Einsamkeit meiner Frau betrifft, so sei unbesorgt – sie ist hier nicht verlassen. Auf der einen Seite liegt ganz in der Nähe das Schloß ihres Vaters, auf der andern der sehr besuchte Badeort, wo jetzt sogar ein Theater, ihre besondere Liebhaberei, sich befindet. Sie kann, wenn es ihr beliebt, dahin fahren und nach der Vorstellung zurück; in einer Stunde legt man mit guten Pferden den Weg zurück, und du hast ja heute selbst gesehen, wie meine kleinen Braunen laufen.«
»Das heißt«, sagte Wolf nach einer ziemlich langen Pause mit etwas veränderter Stimme, »das heißt, du willst mich nicht hier haben; um jeden Preis soll ich fortbleiben – in der Stadt, weil du keine bessere Auskunft weißt.«
»Wolf, ich bitte dich.«
»Nein, Karl, ich bitte dich! Füge nur nicht der Beleidigung eine offenbare Falschheit zu! Ich will nicht mit deiner Frau während deiner Abwesenheit unter einem Dache wohnen, sobald du es nicht wünschest, aber ich verlange auch, daß du mir offen erklärst, warum ich deine mir in so kurzer Zeit liebgewordene Häuslichkeit aufgeben soll – sonst muß ich dein Haus für immer meiden, denn ich selbst kann mir nur zwei Gründe zu deinem Benehmen angeben, entweder meine Persönlichkeit ist dir unangenehm oder du bist eifersüchtig.«
Senkendorf lachte so herzlich, daß Wolf wol einsah, er irre in beiden Voraussetzungen.
»Ich will dir alles sagen, Wolf, denn du kannst mit Recht die Wahrheit von deinem Bruder verlangen. Aber ich muß weit ausholen. Du weißt, daß ich in meinem Leben außer ein paar vorübergehenden Liebesgeschichten mich im Ganzen wenig um die Frauen bekümmert, obgleich ich, wie man zu sagen pflegt, sie immer gern gesehen, heißt das die hübschen. Das war auch der einzige Grund, weshalb ich Luitgarde heirathete. Ich wollte in meinem Hause eine junge hübsche Frau sehen. Meine leeren stillen Zimmer fingen mich an zu langweilen – ich fühlte und fürchtete das Alter, als ich gerade zufällig ihre Bekanntschaft machte und sie mit geringer Mühe erhielt. Sie war ganz Das, was ich suchte, und ich habe auch keine Secunde meine Wahl bereut, denn sie ist eine schöne, sanfte, häusliche Frau, überdem hat sie einen Reiz, einen Zauber, der bisher nicht von mir beachtet wurde – ich meine ihre gläubige, kindliche Reinheit, ihre unbefleckte Seele, doch davon hast du keinen Begriff – auch keinen Sinn dafür.«
»Auch du zeigst in der Art, wie du mit deiner Frau umgehst, nicht absonderlich viel Anerkennung«, erwiderte Wolf spöttisch.
Aber der Geheimerath sagte ernst: »Lasse mich ausreden. Mit dir ist es den Frauen gegenüber anders wie mit mir. Obgleich du ihren Werth im Ganzen nicht sehr, vielleicht noch geringer anschlägst als ich, haben sie dennoch in deinem Leben eine bei weitem größere Rolle gespielt. Du hast Leidenschaften gehabt, ich nur Liebeleien und deshalb bist du gefährlicher als ich.«
»Gefährlich? Also bist du doch eifersüchtig?«
»Nein, nein, ich fürchte nicht, daß du Luitgardens Herz gewinnst, aber ich fürchte, daß du es verdirbst.«
»Karl!«
»Ja verdirbst. Denn du wirst dich in sie verlieben. Sie ist von einer Art, wie sie dir noch nicht vorgekommen. Drum wirst du es schon um der Neuheit willen thun. Dein starker leidenschaftlicher Geist wird sich ihrer klaren Seele bemächtigen wollen – es wird dir nicht gelingen, denn ihr seid zu verschieden; sie wird siegen, aber sie wird nicht rein, wie sie war, aus dem Kampfe hervorgehen. Für die Seele einer Frau gibt es keine reinigende Flut wie für den Schwan, jede unreine Berührung läßt einen ewigen unvertilgbaren Flecken zurück. Schon jetzt, wenn ich nicht da bin, hältst du stundenlange Reden vor Luitgarden, ich finde sie zwar jedesmal entrüstet über deinen Unglauben, deine leichten Grundsätze; aber – sie hört dich doch an.«
»Also selbst das wünschest du nicht?«
»Nein, ehrlich gesagt, nein. Ich habe mich bis jetzt blutwenig um meiner Frau Inneres bekümmert. Die vielen Umstände, die du um sie machtest, haben mich erst aufmerksamer auf ihr eigentliches Wesen gemacht – ich habe zum ersten mal über sie nachgedacht und gefunden, daß die beste Eigenschaft ihrer Seele die Unkenntniß alles Unreinen ist – und damit das so bleibe, wünsche ich dich fern.
»Glaubst du wirklich, Karl, ich würde mich in deine Frau verlieben?«
»Ja, aber wenn es auch nicht eintreffen sollte, so wünsche ich doch nicht eure Zusammenkunft. Nicht wegen dir – dir schadet es nichts – von der heftigsten Leidenschaft bist du in drei Monaten geheilt, aber es ist nicht gut für ein Weib, von dir geliebt zu werden – selbst wenn sie diese Liebe nicht erwidert, und das wird Luitgarde nicht.«
»Baust du so fest auf dein Bild in ihrem Herzen?«
»Du spottest jetzt, Wolf, aber ich verzeihe dir. Sie liebt mich nicht, aber sie achtet mich und bin ich auch im Vergleich mit ihr ein ungläubiger Sünder, so fühlt sie doch recht gut, welcher Unterschied zwischen dir und mir ist.«
»Und welcher ist das, wenn ich fragen darf?«
»Ich beneide die Gläubigen und Unschuldigen und du verachtest sie.«
Wolf biß sich auf die Lippen. »Habe ich dir deshalb mein Vertrauen geschenkt, meine unglücklichen Erfahrungen mitgetheilt, auf daß du sie jetzt so grausam benutzest, um deine harten Beschuldigungen zu unterstützen?«
»Rede nicht so sentimental mit mir, Wolf! Die Geschichten, die du mir erzählst, wie dich die eine Frau und du die andere unglücklich gemacht, sind mir freilich eine Warnung gewesen. Sie haben mir gezeigt, daß die Frauen immer dein Spielwerk waren, bis du das ihre wurdest und umgekehrt. Du bist unverbesserlich. Ich bin dein bester Freund, aber meiner Frau bleibe fern, wenn ich nicht da bin.«
»Du bist doch eifersüchtig, Karl; vielleicht gestehst du es dir selber nicht.«
»Eifersüchtig! Wenn du wüßtest, was Luitgarde von dir gesagt hat!«
»Und was?« frug Wolf ganz blaß.
»Ah bah, Kindereien, ich hätte dir gar nichts davon sagen sollen! Also du bleibst in der Stadt, bis ich wiederkomme?«
»Ich bleibe oder werde doch wenigstens nicht hier wohnen.«
Karl Senkendorf gab dankend seinem Bruder die Hand, der sie kalt annahm, dann gingen sie ins Haus zurück; der Geheimerath vollkommen beruhigt und zufrieden, daß er es über sich vermocht, seinem Bruder, dem er eigentlich wohlwollte, so offen die Wahrheit gesagt zu haben, und Wolf in der höchsten Aufregung. Seines Bruders Wort: »Wüßtest du, was sie von dir gesagt« trug die schlimmsten Früchte. Seine mistrauische und schuldbewußte Seele dachte sich darunter das Schlimmste und er schwor der armen Luitgarde bittere Rache, ihr, die doch ganz schuldlos war und die nichts weiter gesagt hatte, als: »Ich fürchte mich vor deinem Bruder!« Und sie hatte Recht.
Der Geheimerath war mit dem Erbprinzen abgereist, Wolf in der Stadt geblieben, und Luitgarde bewohnte allein das eine Tagereise davon entfernte Gut ihres Gemahls. Sie fühlte sich so glücklich wie noch nie seit ihrer Verheirathung. In vollkommener Einsamkeit auf dem von ihr so sehr geliebten Lande zu leben, erschien ihr schon als ein Glück. Aber nach vierzehn Tagen hatte sie doch genug dieser so erwünschten Einsamkeit und beschloß einen Besuch bei ihrem Vater zu machen, den sie seit langer Zeit nicht gesehen und der überdem durch ein Gichtleiden an sein Zimmer gefesselt war. Sie traf dort Everhard, den Schauspieldirector, und seine nur zu sichtbare Freude bei ihrem Eintritt setzte sie förmlich in Verlegenheit.
»Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen«, sagte er ein mal über das andere, und küßte ihre Hand und war ganz roth und strahlend vor Freude.
Der alte Graf sagte lächelnd: »Das ist lauter Kunstenthusiasmus, denn in diesem Augenblicke sprach er noch von dir und behauptete in allem Ernst, du würdest die erste Schauspielerin Deutschlands geworden sein. Du wirst aber mit dem flöteblasenden Kaiser sagen: ›Laß Er's gut sein, wir stehn uns halt so besser.‹«
Luitgarde versuchte in ihres Vaters Lachen einzustimmen, aber sie that es so gezwungen, daß selbst der harmlose Everhard sie durchschaute und auf die Wahrheit schließen mußte, sie fühle sich in ihrer jetzigen Lage doch nicht ganz glücklich. Seine ohnedies schon zu große Theilnahme für die junge reizende Frau wurde dadurch noch gesteigert.
Beim Abschied, als er wiederholte, wie sehr es ihn beglückt, sie zufällig einmal wieder getroffen zu haben, sagte sie unbefangen: »Wenn es Sie freut, so besuchen Sie mich zuweilen.«
»Sie haben mir gesagt, Ihr Herr Gemahl liebe nicht das Schauspiel –«
»Das ist wahr, aber gegen die Schauspieler hat er sich nie geäußert.«
»Das wollen Sie mir nicht sagen, Sie sind so gut.«
»Nein, wirklich nicht. Ueberdem ist er jetzt gar nicht hier; ich bin allein auf Senkendorf.«
Wie Sonnenschein überzog es Everhard's Gesicht. »Wenn Sie es erlauben, gnädige Frau?«
Und sich auf ihres Gemahls Vorwurf, den jungen Mann nicht zu Tische geladen zu haben, besinnend, sagte sie rasch: »Kommen Sie Sonntag zum Essen zu mir.«
Erst als sie die Einladung ausgesprochen, fiel ihr wieder ein, daß sie mit Everhard ein Tête à tête haben werde. Aber was war zu thun? Er hatte zu dankbar zugesagt, als daß sie ihr Wort hätte zurücknehmen können, und da noch bis zum Sonntag zwei Tage hin waren, so beschloß sie, eine Freundin, Frau von Besserer, die in B. die Cur gebrauchte und welche auch Everhard kannte, einzuladen. Sie schrieb ihr noch an demselben Abend und erhielt auch folgenden Tages die Zusage.
Der Sonntag war gekommen. Luitgarde saß in Erwartung ihrer beiden Gäste auf dem Perron ihres schönen neuen Hauses und blickte nach der Landstraße. Ein einfacher Miethwagen, der daherrollte, ließ sie Everhard vermuthen, und er war es auch. Sorgfältigst gekleidet, mit weißer Cravatte und einer gestickten blauen Atlasweste, stieg er aus dem Wagen und kam strahlenden Gesichtes auf sie zu.
»Wie elegant sind Sie, Herr Everhard!« rief ihm die Hausfrau in ihrer freundlichen Weise zu. »Für ein ländliches Diner à trois hätte es wahrhaftig nicht solcher Toilette bedurft.«
»Ich bin nicht nur ein Gast der gnädigen Frau, ich bin auch ein Abgesandter an Sie. Frau von Besserer hat mich mit diesem Billet beauftragt.«
»So kommt sie nicht«, rief Luitgarde, indem sie mit offenbarer Verlegenheit den Zettel aus seinen Händen nahm; »sie kommt nicht und wir haben ein Tête à tête?«
In den Zügen des jungen Schauspieldirectors zeigten sich zwei widersprechende Gefühle; es war die Freude, allein mit Frau von Senkendorf zu sein, und das Bemühen, ihr Misvergnügen wegen Frau von Besserer's Ausbleiben zu theilen.
Luitgarde bestellte, daß man den Tisch unter dem Zelt der Terrasse decke; in freier Luft kam ihr dies Mittagessen mit dem jungen Manne allein unbefangener vor.
Kaum war die Suppe servirt, als sie eine Postchaise bemerkte, welche von der Chaussée den kurzen Seitenweg nach dem Gute einschlug.
»Sollte Frau von Besserer dennoch kommen?« rief Luitgarde. »Vielleicht hat ihr Kopfweh nachgelassen; das wäre ja herrlich!«
Beim Näherkommen sah sie aber mit ihren scharfen Augen, daß keine Dame, sondern ein Mann sich allein im Wagen befand. Es war eine hohe Gestalt; der graue Filzhut und der helle Makintosh kamen ihr sehr bekannt vor. Trug nicht Wolf einen solchen, Wolf, den sie seit der Abreise ihres Mannes nicht gesehen und nach dessen Aeußerungen auch nicht erwartete, denn der Geheimerath hatte von seinen Arbeiten und seinem unnachlassenden Fleiß im Ordnen seiner mitgebrachten Sammlungen gesprochen. Es war aber doch Wolf!
Er stieg aus und frug den entgegenkommenden Bedienten nach der Dame, denn er hatte sie nicht bemerkt. Während er auf dem Umweg eines gewundenen Pfades sich ihr näherte, rang Luitgarde nach Fassung, um ihres Schwagers Verwunderung beim Anblick ihres einzigen Gastes zu begegnen. Unwillkürlich warf sie einen musternden Seitenblick auf Everhard. Er sah gefährlich genug aus mit seinem langen Bart und seinen großen schwärmerischen Augen.
»Ich fürchte zu stören, Frau Schwägerin«, sagte Wolf mit seiner tiefen, harten Stimme, indem ein unausstehlicher Spott aus seinen glänzenden Augen blitzte.
Luitgarde hatte noch immer nicht ihre eigenthümliche Ruhe wieder gefunden. Zum ersten mal in ihrem Leben fühlte sie sich in einer falschen Stellung. In Wolf's Gesicht war seine beleidigende Meinung über sie zu lesen und das peinigte sie doppelt, weil sie ihm kein Recht, ihre Handlungen zu beurtheilen, zugestehen wollte. Ueberdem sagte sie sich, daß er sie weder auf einem Unrecht noch selbst einer Unschicklichkeit ertappt. Die letztere Ueberzeugung gewann denn auch soweit die Oberhand, daß sie mit ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit die Herren einander vorstellen konnte
»Herr Schauspieldirector Everhard aus B. und mein Schwager Baron Wolf Senkendorf.«
»Ebenfalls aus B.«, ergänzte Wolf, indem er sich nach einer flüchtigen Verbeugung von Everhard ab und seiner Schwägerin ganz zuwandte. »Ich wohne jetzt auch in B., mein Arzt hat mir die dortige Cur zur unerläßlichen Gesundheitsbedingung gemacht.
»Das ist ja schön – da sind Sie ja ganz in der Nachbarschaft von Senkendorf. Sie erlauben doch, daß ich ein Couvert für Sie auflegen lasse? Sie sehen, wir sind erst am Anfang.«
»Ich hatte freilich die Absicht, Sie um ein Mittagessen zu bitten, aber wo ein gebetener Gast ist –«
Everhard bemerkte Luitgardens geröthetes Antlitz und sagte deshalb rasch: »Es ist ein Glück, daß Sie gekommen, Herr Baron, denn Ihre Frau Schwägerin war trostlos über das Ausbleiben ihres zweiten Gastes, der Frau von Besserer, die sie jetzt gewiß nicht mehr vermissen wird.«
»Sie sind zu gütig, mein Herr Director«, versetzte Wolf mit dem ironischen Tone, den er für heute einmal angenommen; »hätte ich ahnen können, daß Sie zu Frau von Senkendorf gebeten seien, ich würde mit Vergnügen meinen Wagen Ihnen angeboten und Sie der Incommoditäten eines schlechten Miethwagens, den ich auf dem Hofe stehen sehe, überhoben haben. Aber ich konnte das natürlich nicht ahnen.«
Everhard machte eine Bewegung, die man als eine Verbeugung auslegen konnte, Luitgarde aber saß wie auf glühenden Kohlen. Trotzdem, daß sie ihrem Schwager den Rücken beinahe zudrehte und ihre Stirn ein die tiefsten Falten zog, fuhr er fort unter dem Gewande der übertriebensten Höflichkeit Everhard eine Impertinenz um die andere zu sagen. Selbst in der Art, wie er ihm die feinen Speisen der Tafel aufdrang und aufnöthigte, sah Luitgarde recht gut die höhnische Absicht Wolfs, dem Schauspieldirector etwas Ungewohntes zu bieten.
Sie sah Everhard immer von der Seite besorgt an, ob er die Insolenz ihres Schwagers bemerke, aber seine Züge waren ruhig, obgleich es ihr däuchte, als seien sie blässer als gewöhnlich. Sie wußte gar nicht genug ihre Dankbarkeit für sein ruhiges gehaltenes Benehmen ihm an den Tag zu legen, aber je freundlicher sie gegen ihn war, desto grimmiger und ironischer wurde Wolf, während er immer die halb durchsichtige Maske der übertriebensten Höflichkeit beibehielt. Sie dankte Gott, als das Dessert aufgetragen wurde und sie die Tafel aufheben konnte.
Wolf trieb die Sache soweit, Everhard durchaus in seinem eigenen Wagen mitnehmen zu wollen, und Everhard's entschiedene aber höfliche Ablehnung wurde gar nicht von ihm berücksichtigt. Als er zuletzt erklärte, Everhard's Weigerung geradezu als eine Beleidigung aufnehmen zu müssen, bewog ein flehender Blick Luitgardens Everhard dennoch, den angebotenen Platz anzunehmen. Diesen Blick hatte aber Wolf gesehen und die Röthe, die dabei auf seine Stirne stieg, war noch nicht gewichen, als der Wagen schon mit ihm und dem Schauspieldirector wegrollte. Luitgarde sah ihm nach, aber eine Thräne der Angst verdunkelte ihren Blick. Auf ihrem Zimmer angekommen sagte sie zu sich, indem sie die Hand auf ihr Herz preßte: »Warum dies ängstliche Klopfen? – sie sind mir ja Beide fremd und ich kann mir keine Schuld vorwerfen!«
Dennoch schlief Luitgarde wenig in dieser Nacht. Immer sah sie Wolf's zuckende Augen mit grimmigem Ausdruck auf sie und Everhard gerichtet – dabei fühlte sie sich beängstigt und erbittert wegen der dämonischen Gewalt, die diese Augen über sie ausübten.
Sie stand früher als gewöhnlich am andern Morgen auf und ging in den Park, um ihre heiße Stirne zu kühlen – da stand Wolf plötzlich vor ihr; sie schrak zusammen, aber er beugte sich tief vor ihr und sagte mit der weichen Betonung, die bei einer gewöhnlich harten und tiefen Männerstimme doppelten Reiz hat:
»Luitgarde! seit Tagesanbruch bin ich hier und warte auf Sie – können Sie mir verzeihen? Ist es möglich, daß Sie mir verzeihen?«
»Verzeihen? was soll ich verzeihen?« frug sie verlegen.
»Daß ich gestern so unausstehlich war, einen Ihrer alten Bekannten so abscheulich behandelte! Ach, wenn Sie wüßten, was mich dazu trieb, welches Gefühl – stärker als mein Wille, meine Erziehung und meine Grundsätze!«
Mit der den Frauen eigenthümlichen Gewandtheit das Gespräch von einem ungewünschten Gegenstand abzulenken, sagte Luitgarde rasch und indem sie sich zu einem Lächeln zwang: »Grundsätze? Wie oft haben Sie mir nicht gesagt, Sie hätten keine; das sei ein altmodischer Aberglaube. Man brauche nur feines Ehrgefühl; das ersetze vollkommen, was wir Religion, Grundsätze und Pflichten benennen.«
»Für mich bedarf ich auch dies nicht, Sie haben Recht, es war nur eine angelernte Redeweise. Aber für Sie bedarf ich Alles noch, was ich schon längst als unnöthigen Firlefanz abgeworfen. Für Sie habe ich Religion, Grundsätze! für Sie bin ich fromm und keusch – wenden Sie sich nicht beleidigt von mir ab. O zürnen Sie mir nicht! Ist es ein Unrecht von mir, daß Sie mir so heilig und erhaben sind, daß es mich verletzt, wenn ein rohes Wort, ein gemeiner Blick Sie streift? Können Sie leugnen, daß der ehemalige fahrende Schauspieler Everhard mit seinen verliebten Manieren eine unpassende Gesellschaft für ein so exclusives, feingebildetes Weib, wie Sie sind, ist? Diesen Menschen laden Sie ein und lassen ihn die Wonne Ihrer engelhaften Gegenwart, die Seligkeit, mit Ihnen reden, Sie anschauen zu dürfen, nach Herzenslust genießen?«
»Herr von Senkendorf!«
»Luitgarde, nennen Sie mich nicht so! lassen Sie mich aus all dem bodenlosen Elend, daß Sie die angetraute Frau meines Bruders sind, wenigstens das eine armselige Glück noch retten, mich bei meinem Taufnamen von Ihnen nennen zu hören.«
Luitgarde hatte die Fähigkeit, noch ein Wort zu hören, verloren. Zum ersten mal in ihrem schuldlosen Leben trat ihr die Leidenschaft vor Augen und zwar in ihrer beängstigendsten Gestalt – die Leidenschaft eines rücksichtslosen, verdorbenen und dabei so gewaltigen Geistes wie Wolf. Blaß und zitternd stand sie vor ihm; er täuschte sich und hielt ihr stummes Erschrecken für sprachlose Liebe, er breitete beide Hände ihr entgegen und wollte die ihrigen erfassen, da aber fuhr sie zusammen und flog wie ein erschrecktes Reh dem Hause und ihrem Zimmer zu.
Wolf bekam sie an diesem Tage trotz aller seiner Bemühungen nicht mehr zu sehen; als er aber nach langem Betteln nach mehren Tagen zu ihr drang, war er klug genug, nicht mehr so leidenschaftlich aufzutreten und nur durch traurige Blicke und halbe Worte auf seine unglückliche Liebe zu ihr anzuspielen.
Es gibt nichts Gefährlicheres als die ewige Wiederholung solcher Dinge, weil das Ohr der tugendhaftesten Frau sich zuletzt daran gewöhnt und ohne Erschrecken anhört, wovon sie sich vielleicht einige Wochen früher mit Abscheu abgewendet hätte.
Luitgarde war streng; sie verbot Wolf auf das entschiedenste, seiner Neigung ihr gegenüber zu erwähnen, sie beschwor ihn, sie in eine brüderliche Freundschaft umzugestalten, sie drohte ihm mit Wegweisen aus ihrer Gegenwart, aber er wußte alle ihre Verbote zu umgehen.
Oft saß er ihr stundenlang gegenüber und seine Augen verschlangen ihre liebliche Gestalt; erhob sie sich dann, um ihn zu verlassen, so gerieth er in solche Verzweiflung, daß sie froh war, wenn er in milden, gemäßigten Worten von seiner Liebe sprach.
Und doch war dann Wolf am gefährlichsten. Er hatte eine seltene Geistesbildung, Witz und eine lebhafte, schwungvolle Phantasie, dabei eine merkwürdige Kenntniß des Herzens, und was am gefährlichsten war, er verstand es, seiner sündigen, frivolen Flamme die Maske der tiefsten, heiligsten und keuschesten Liebe zu geben.
Freilich sagte ihr ihre Vernunft, daß ein Mann, der über alle heiligen Gefühle spottete, selbst ein solches nicht hegen könne. Diese Ueberzeugung hatte sie aber nur in seiner Abwesenheit, denn in seiner Gegenwart wußte seine Leidenschaft dennoch immer von neuem sie zu täuschen, Luitgarde litt unglaublich unter diesen Verhältnissen. Sie gehörte nicht zu den gewöhnlichen Frauen, die, ohne sich Rechenschaft abzulegen, von süßen Träumen getragen, in die Zukunft hineinleben und jeden Tag loben, wo sie sich unterhalten, wenn auch der Würze dieses Tages ein Unrecht beigemischt war – vorausgesetzt, daß es nur nicht gegen die äußern Formen verstieß!
Luitgardens fein organisirtes Wesen ließ sie haarscharf die Grenze erblicken, bis wohin eine verheirathete Frau sich im Umgange mit Männern bewegen darf. Sie fühlte klar den Fehler, den sie jetzt beging, indem sie Wolf anhörte; sie erkannte ihr eigenes Unrecht, die Uebertretung ihrer Pflichten.
Jeden Abend lag sie in Thränen gebadet auf ihren Knien und flehte den Himmel um Rath und Trost an. Ach, ihre Reue wäre nicht so lebhaft gewesen, wenn sie sich nicht hätte eingestehen müssen, daß ihr Wolf nicht verhaßt, auch nicht einmal gleichgültig gewesen. Zwar hatte nie ein liebender Blick aus ihrem Auge ihn getroffen, äußerlich war sie ihm fern und fremd geblieben, aber zitterte nicht ihr Herz, wenn sie seinen Schritt vernahm, lauschte sie nicht gern wie Sirenentönen seiner schmeichelnden Stimme und schwieg nicht in seiner Gegenwart das lebhafte Gefühl seines Unrechts gegen seinen Bruder, wovon sie doch so durchdrungen war?
Was sollte sie aber thun? Sie hatte den Willen, doch es fehlte ihr an Muth zur Ausführung. Ihm ihre Zimmer verbieten zu lassen, das wagte sie nicht, weil er der Bruder des Hausherrn war und dies ein Scandal der Dienerschaft gegenüber gewesen wäre. Auf längere Zeit zu ihrem Vater gehen, das hatte der Geheimerath ihr verboten, und wenn sie dies Verbot überschritt, mußte sie sich rechtfertigen und ihm die ganze Schuld aufdecken. Davor schauderte ihr – so blieb sie und bangte und sorgte.
Da hatte sie einen tief bedeutsamen Traum. Ihre Mutter erschien ihr und breitete ihr die Arme entgegen, um sie zu empfangen, denn sie selbst war gestorben und flog dem Himmel zu. Die Mutter sprach zu ihr: »Dank dem Allmächtigen, daß ich dich rein und schuldlos wieder habe! Wie hat meine Seele um dich gebangt – aber Gott ist barmherzig!«
»Gott ist barmherzig!« klang es noch in Luitgardens Ohr, als sie erwachte, und klar und unumstößlich stand nun der Vorsatz in ihrem Herzen, sich rein und schuldlos um jeden Preis zu erhalten, rein und schuldlos zu ihrer Mutter zurückzukehren. Was war ein vorübergehendes peinliches Geständniß? Im schlimmsten Falle der Schein einer Schuld in den Augen ihres Gemahls gegen eine wirkliche Schuld. Und sagte ihr nicht ihr Herz, daß sie einer Schuld entgegenging?
Sie schrieb am frühen Morgen an Wolf und untersagte ihm auf das bestimmteste, ihr Haus während der Abwesenheit ihres Gatten wieder zu betreten; dann benachrichtigte sie ihn, daß, im Fall er ihrem Wunsche entgegenhandle, sie augenblicklich zu ihrem Vater reisen werde, um diesen von Allem in Kenntniß zu setzen und seinen Schutz gegen ihn anzuflehen. Sie schickte den Brief durch einen reitenden Boten an ihren Schwager ab.
Am Nachmittag, zu der Zeit, in welcher Wolf gewöhnlich zu kommen pflegte, ging Luitgarde wie im Fieber umher. Sie fürchtete sein Kommen im höchsten Grade und doch gab es einen widerspenstigen Nerv in ihrem Herzen, wenn auch ganz im Hintergrunde ihres Herzens – der fürchtete sein Ausbleiben! Aber zur gewöhnlichen Stunde rollte sein Wagen auf den Hof und sie sah ihn aussteigen. Sogleich schellte sie und befahl dem eintretenden Diener, rasch die Kalesche anspannen zu lassen – da stand auch Wolf schon vor ihr.
Er war blaß, so blaß wie sie ihn nie gesehen, seine dunkeln Augen umschleiert von tiefer Traurigkeit. Aber in Luitgardens Innerm flüsterte eine Stimme, daß er gar nicht fähig sei, einen so tiefen Schmerz zu empfinden, wie sein sprechendes Gesicht ihn ausdrückte, und dennoch bedurfte sie ihrer ganzen Willenskraft, um diesem traurigen Antlitz gegenüber ihrem Entschlusse treu zu bleiben.
Da der Diener noch im Zimmer ihrer Befehle harrte, so sprach sie mit zitternder Stimme: »Ich fahre zu meinem Vater und muß mir deshalb die Freude Ihres Besuchs auf ein ander mal erbitten.«
»Ich gehe sogleich«, sagte Wolf mit der klanglosen Stimme, die im Augenblick einer tödtlichen Beleidigung einem jeden heftigen Menschen, der sich beherrschen muß, eigen ist, – »ich gehe sogleich, aber vorher muß ich meine Frau Schwägerin um einen Augenblick Gehör bitten.«
Luitgarde trat an das Fenster und öffnete weit beide Flügel, als fürchte sie, sich im geschlossenen Zimmer mit Wolf zu befinden; dann erst winkte sie dem Diener abzutreten, nachdem sie ihren Befehl, augenblicklich anzuspannen, wiederholt.
»So weit ist es also mit mir gekommen«, sagte Wolf, indem er mit wuthflammenden Augen vor die noch immer am offenen Fenster verweilende Luitgarde trat, »so weit, daß Sie mich behandeln wie einen Ehrlosen, wie einen Dieb, wie einen Räuber, und nur in Gegenwart Ihrer Domestiken oder bei offenen Thüren und Fenstern mit mir reden?«
Wie der Vogel vor der Klapperschlange unter dem Einfluß dieser dunklen Augen erbebend und gegen ihren eigenen Willen davon beherrscht, trat Luitgarde vom Fenster ab und ließ sich gesenkten Blickes auf ihr Ruhebett nieder.
»Was habe ich Ihnen gethan, unbarmherziges, ja herzloses Weib! Habe ich Sie nicht wie eine Heilige angebetet? habe ich nur je gewagt, die Spitzen Ihrer Finger, ja den Saum Ihres Kleides zu berühren?«
»Sie haben mir vorgeredet, was ich als die Frau Ihres Bruders, ja überhaupt als eine verheirathete Frau nicht hören durfte«, versetzte Luitgarde, indem sie ihren ganzen Muth zusammennahm.
»Was habe ich Ihnen vorgeredet? Habe ich Ihnen je von meiner Liebe geredet?«
»Sie sprachen nie von etwas Andern,«, sagte Luitgarde, ihn verwundert ansehend.
»Das nennen Sie von meiner Liebe sprechen, wenn ich Ihnen sage, daß, seit ich Sie kenne, ich ein anderes Leben führe, daß Alles, was mich früher interessirte, den Werth für mich verloren, daß eine ganz neue Welt durch Ihren veredelnden Einfluß mir aufgegangen! O Luitgarde, Sie haben wenig Ahnung von der Leidenschaft eines Mannes wie ich bin, wenn Sie glauben, meine Worte enthielten eine Schilderung, ja nur eine Mahnung an das Gefühl, das meine Adern mit Feuer füllt.«
»Schweigen Sie, um Gottes willen«, rief Luitgarde in blasser Angst, denn Wolf's brennende Augen machten ihr den Athem stocken.
»Ich schweige«, sagte er, indem er die Augen schloß und sich zurücklehnte; »ich schweige und – Sie bleiben, Luitgarde. Sie müssen bleiben. Bestellen Sie, daß man die Pferde wieder ausspanne; bestellen Sie das und geben Sie mir die Hand zum Zeichen Ihrer Verzeihung!«
Er kniete vor sie hin; seine dunkeln, gewaltigen Augen flammten mit übernatürlicher Gewalt in ihre unschuldige Seele und trübten und beleuchteten grell mit ihrer düstern Glut das milde, bewußtlose, dämmernde Halbdunkel, das bis jetzt in ihrem jungfräulichen Gemüth geherrscht.
Da näherten sich Schritte und der Bediente meldete, daß der Wagen vor der Thür halte.
Luitgarde war aufgesprungen; ihre Hand, die Wolf ergriffen, hatte er beim Eintritt des Dieners losgelassen und sich in vollkommener Selbstbeherrschung auf einen Fauteuil geworfen. Die junge Frau sah nach ihm hin, kein Zug seines Gesichtes verrieth die Aufregung, in welcher er noch vor einer Secunde geglüht, und ruhig spielte seine schöne Hand mit der Kette seiner Uhr, während die junge Frau so sehr zitterte, daß sie nicht ihrer Stimme traute, dem Diener eine Antwort zu geben.
Als dieser darauf wartend stehen blieb, erhob sie sich plötzlich entschlossen, und ohne Wolf noch einmal anzublicken, schritt sie rasch zur Thür hinaus. Auf dem Corridor stand ihre Kammerfrau mit Mantel und Hut; sie nahm ihr Beides aus den Händen und flog die Treppe hinab, ohne sich nur die Zeit zu nehmen, es anzulegen.
Drinnen im Zimmer saß Wolf noch immer in derselben nachlässigen Stellung, nur umspielte jetzt, wo er allein war, ein unausstehliges Lächeln des Triumphes seine Lippen und deutlich hätte man auf seinen Zügen lesen können: »Auch sie konnte mir nicht widerstehen!«
Aber plötzlich riß ihn der starke Ton eines wegrollenden Wagens aus seinen Siegerphantasien. Er sprang auf, riß das Fenster auf – wirklich es war so! Durch die beginnende Dämmerung rollte rasch der Wagen Luitgardens auf der Chaussée fort, fort in der Richtung ihres väterlichen Schlosses. Aber ebenso wenig wie früher die Aeußerungen seines Triumphes, hätte Luitgarde jetzt die Zeichen seiner Wuth sehen dürfen – der heftigste Zorn entstellte bis zum Unkenntlichwerden seine sonst so einnehmenden Züge! Jetzt würde er keiner Frau der Welt einen andern als einen furchterregenden Eindruck gemacht haben. –
Luitgardens Seele begann sich wieder zu beruhigen, die milde Nachtluft kühlte ihre heiße Stirne und als die Sterne aufgingen, war ihr Inneres von einem ebenso reinen, klaren Licht erfüllt, wie es von diesem milden Leuchten der Nacht ausströmte. –
Wir sind wieder im Sinsheimschen Schlosse. Der Graf sitzt wieder seiner Tochter gegenüber beim Dessert und sind auch ihre Wangen nicht mehr so roth, ihre Augen nicht mehr so fröhlich wie damals, als sie noch die junge Comtesse war, so sieht sie doch heiterer und zufriedener aus als im Hause ihres Gemahls.
Der ihr eigenthümliche Ausdruck von Offenheit und klarer Selbsterkenntniß war in ihre lieblichen Züge zurückgekehrt. Luitgarde gehörte zu jenen Menschen, die man beim ersten Anblick zu durchschauen glaubt; oft sind es zwar gerade die tiefsten Gemüther, die klügsten Geister, aber etwas haben sie alle gemein – sie wünschen nichts zu verbergen, ihre Vergangenheit ist wenn auch nicht geradezu vor dem himmlischen Richterstuhle, doch vor dem menschlichen rein und fleckenlos. Dieser Ausdruck war in der letzten Zeit bei Luitgarden nicht so deutlich hervorgetreten. Wolfs Umgang hatte die Klarheit ihrer Seele mit einem trüben Schleier bedeckt – jetzt waren diese Nebel verzogen und die Sonne ihres Innern, ihres guten Gewissens, überstrahlte wieder hell und klar ihr liebliches Antlitz. Luitgarde war auch nicht dazu gemacht, unter dem Gefühl einer Schuld zu leben. Sie hatte ein zu starkes Rechtsgefühl, um ihrer sonst lebhaften Einbildungskraft in diesem Punkte das geringste Uebergewicht zu gönnen. Sie kannte genau den Werth und die Dauer eines jeden ihrer Vergehen und war deshalb in der letzten Zeit, wo sie rathlos sich Wolfs Einfluß nicht zu entziehen wußte, höchst unglücklich, umsomehr da sie recht gut die Stimme ihres Innern hörte, die ihr von seinen Vorzügen und ihrer Berechtigung zu seiner Liebe vorreden wollte. Sie wußte auch recht gut, daß diese Stimme aus ihrem schwachen Herzen und nicht aus ihrer klaren Vernunft entsprang.
Sie erzählte ihrem Vater, daß sie heute Morgen an ihren Gatten geschrieben und ihn benachrichtigt, daß sie sich bis zu seiner Rückkehr in Sinsheim aufhalten werde.
Da wurde Everhard gemeldet.
»Das ist schön! gnädige Frau«, rief er im Eintreten; »Sie entfliehen in alle Welt und Ihre Verehrer können Sie nicht wieder finden, wenn sie nicht gerade so obstinirt sind, wie ich.«
»Wie so?«
»Schon zwei mal bin ich auf Ihrem Gute gewesen und immer kurzweg abgewiesen worden: Sie seien verreist, ohne Auskunft wohin.«
Luitgarde ahnte, daß Wolf ihren Leuten verboten, Everhard von dem Orte ihres Aufenthaltes zu benachrichtigen.
»Ich ließ mich aber nicht abschrecken; überall suchte ich Sie, im Badeort und zuletzt – hier. Ihr Herr Schwager, den ich nach Ihnen frug, erklärte ebenso wenig zu wissen wie ich; ist das wahr?«
»Ist mein Schwager noch in B.?« frug Luitgarde, um seine Frage nicht zu beantworten.
»Ja, er ist noch da, wird aber übermorgen, wie er sagte, nach München reisen, um mit einem Freunde, seinem orientalischen Reisegefährten, sich ein Rendezvous zu geben.«
Luitgarde fiel diese Nachricht auf und zwar aus dem Grunde, weil Wolf nie eines Freundes erwähnt und überhaupt zu jenen Menschen gehörte, die eine so selbständige egoistisch kalte Stellung einnehmen, daß man nicht begreifen kann, wie sie jemals in nahen freundschaftlichen Beziehungen zu irgend Jemand gestanden; ja von denen man nicht begreift, daß sie eine Mutter, daß sie Geschwister gehabt.
»Wissen Sie auch, gnädige Frau, warum ich Sie so eifrig gesucht? Auch Sie, Herr Graf, wird Das interessiren, was ich Ihnen mitzutheilen habe. Es handelt sich um einen Kunstgenuß. Ich habe einen Brief von der Fichtner aus Wien erhalten, worin sie mir schreibt, daß sie nächstens einen Ausflug nach unserer Gegend machen werde, und mir verspricht, dann bei meiner Gesellschaft aufzutreten. Sie können sich vorstellen, wie alle Herrn in B., die in Wien diese ausgezeichnete Schauspielerin gesehen, sich auf diesen Genuß freuen. Und Sie, gnädige Frau, Sie, die Sie mit der Fichtner diese merkwürdige Aehnlichkeit haben, diese Aehnlichkeit in Stimme, Figur, Haltung – wie muß es Sie erst interessiren, Ihr Ebenbild agiren zu sehen?«
»Das thut es auch«, sagte Luitgarde freundlich und der Graf rief: »Ich spüre jetzt schon nichts mehr von meiner Gicht. In welchem Stücke wollen Sie sie auftreten lassen?«
»In ›die beiden Aerzte‹ oder in der ›Debütantin‹, zwei kleine unbedeutende Lustspiele, in denen sie unübertrefflich ist und die beide hier nicht bekannt sind.
»Ich kenne sie«, sagte Luitgarde, »sie sind beide in Papas Bibliothek, ich werde sie studiren. Bewahren Sie uns nur eine gute Loge«, setzte sie hinzu, denn sie hatte überlegt, daß Wolf bis dahin weggereist sein werde und sie also recht gut nach B. kommen könne.
Everhard blieb noch zum Abend, denn er war ein Liebling des alten Grafen, dessen kleinen und großen Schwächen er in neuester Zeit besonders huldigte. Wir wissen, daß es um Luitgardens willen geschah; sie selbst ahnte nichts hiervon. Everhard liebte sie wirklich, und so paradox es klingen mag: eine wahre und innige Liebe ist in einem unverdorbenen Gemüthe weniger sichtbar als jene, die eben in ihrer Absichtlichkeit und Aeußerlichkeit sich verräth, da die wahre Neigung sich scheu verhüllt und nur in kleinen unschuldigen Listen und in ihrer nicht ganz zu verhüllenden Empfindlichkeit einem geübten Auge erkennbar wird.
Sie war die erste wirklich gebildete Frau, die Everhard genauer kennen lernte, und dies sowie ihre einfache ehrliche Natur hatte für ihn, der meist nur mit ganz verschrobenen und unwahren Frauencharakteren zusammengetroffen, einen großen Reiz; ihre persönliche Liebenswürdigkeit vollendete ihren Sieg über sein ehrliches Herz.
Obgleich er sich selber sagte, daß seine Liebe ganz und gar hoffnungslos sei, so war er doch an diesem Abend vollkommen selig.
War sie nicht wieder in ihrem väterlichen Hause? Konnte er nicht ganz und gar vergessen, daß sie einem Andern gehörte? Saß sie ihm nicht freundlich gegenüber wie in jener Zeit, wo er mit ihr Komödie spielen durfte und ihr in des Dichters Worten sagen konnte, wie lieb er sie hatte? Freilich war die Neigung zu ihr seit jener Zeit wieder mehr in den Hintergrund seiner Seele getreten, weil damals ihre mädchenhafte Schüchternheit ihn im Umgang mit ihr so befangen machte, daß er selbst ganz eingeschüchtert wurde. Als er sie aber als Frau wieder gesehen, hatte ihre Freundlichkeit den schlummernden Funken wieder erweckt; ahnungslos hatte sie ihm das größte Unglück durch ihr sanftes, anspruchsloses Benehmen zugefügt; ohne ihre wahrhaft freundschaftliche Theilnahme würde nie die Liebe zu ihr in ihm diese Macht bekommen haben. Luitgarde war bei Tag und bei Nacht sein einziger Gedanke, sie zu sehen, zu sprechen, seine einzige Freude!
Und davon ahnte sie nichts, gar nichts, denn Wolf's eifersüchtige Worte hatte sie nicht beachtet und so schürte sie nur durch ihre sich immer gleich bleibende Milde und Freundlichkeit die traurige Flamme.
Es waren einige Tage verflossen. Wieder saß der Graf am Nachmittag seiner Tochter gegenüber und wieder trat Everhard bei ihnen ein, aber diesmal mit trauriger Miene.
»Denken Sie sich, die Fichtner hat mir abgeschrieben; sie kommt nicht, ein Unwohlsein fesselt sie in Wien. Sie hat die Reise ganz aufgegeben, weil – nach ihrer Herstellung ihr Urlaub schon zu bald zu Ende laufen würde.«
»Wie schade«, riefen Vater und Tochter, »wir hatten uns so sehr auf sie gefreut!«
»Schon wegen der Aehnlichkeit«, sagte Luitgarde.
»Wegen der Aehnlichkeit«, scherzte ihr Vater, »könntest du ja an ihrer Stelle auftreten – du würdest ihrem Namen keine Schande machen.«
Everhard ergriff den Gedanken und malte ihn in heiterer Laune aus.
»Das wäre herrlich, gnädige Frau! Sie träfen den Morgen zur Hauptprobe als Madame Fichtner ein, ich stellte Ihnen als solcher die Mitglieder vor, dann zögen Sie sich unter dem Vorwande einer starken Reisemüdigkeit auf Ihr Zimmer zurück bis zum Abend, wo Sie von dem versammelten eleganten Badepublicum mit Enthusiasmus als Madame Fichtner empfangen würden. Selbst die alten wiener Verehrer der vortrefflichen Schauspielerin würden Sie dafür halten, denn ich behaupte es von neuem, Sie gleichen ihr vollkommen, und was das Spiel betrifft –«
»Stille, stille«, rief lachend Luitgarde, »malen Sie mir die Sache nicht zu schön aus, ich wäre sonst wahrhaftig im Stande, so ein Abenteuer zu wagen! Wüßte ich nur gewiß, daß mich Niemand erkennen würde! Wir armen Frauen!« setzte sie hinzu. »Die Lust am Abenteuerlichen, die den meisten Menschen angeboren ist, müssen wir unser ganzes Leben lang in uns verschließen, während die Männer ihr nach Herzenslust Genüge thun können! Kenne ich doch einen jungen Diplomaten aus einer der ältesten rheinischen Grafenfamilien, welcher jahrelang mit einer Schauspielertruppe in ganz Deutschland herumgezogen ist und den primo amoroso agirte. Man weiß das und es schadet ihm nichts, nicht in seiner Carrière, nicht bei der Gesellschaft.«
»Ich wußte gar nicht, gnädige Frau, daß Sie solche Sympathie für Abenteuer und Abenteurer hätten.«
»Nein, nein, dagegen protestire ich. Für das Erstere wol, aber für die Letztern durchaus nicht! wenigstens nicht für Solche, die man so nennt.«
Und Luitgarde bemühte sich, Everhard zu beweisen, daß ein Mensch, der Neigung zu Abenteuern habe, und ein Abenteurer etwas ganz Verschiedenes sei, das gelang ihr aber nicht; denn Everhard fehlte die Geistesbildung und das feine Gefühl, welche derartige Nuancen zu unterscheiden wissen; er kam bei solchen Gelegenheiten immer wieder auf seine ersten Behauptungen zurück und wurde langweilig. Luitgarde empfand zum ersten mal in ihrem Leben, daß, wenn eine Frau über eine Neigungsverschiedenheit streitet, sie mit ihrem Gegner in Gewohnheiten und Erziehung, sowie in gesellschaftlichem Takt gleichstehen muß. Sie ließ deshalb das Thema fallen und kam, um nur nicht mehr zu streiten, wieder auf ihres Vaters scherzhaften Vorschlag, als Frau Fichtner aufzutreten, zurück.
Ihr Vater, der auch genug abenteuerliche Neigungen hatte und unter andern Lebensumständen gewiß ein Abenteurer geworden wäre, fing nun an, sich im Ernste für die Idee zu passioniren. »Ist dein Mann nicht abwesend, dein Schwager abwesend – kein Mensch würde es entdecken, und welch ein Vergnügen!«
»Es ist aber keine neue Idee, liebster Vater; in einer französischen Provinzstadt trat schon einmal ein ganz gewöhnlicher Schauspieler als Talma auf.«
»Du bist aber keine gewöhnliche Schauspielerin und ich bin überzeugt, Madame Fichtner würde selbst dir zurathen. Sie soll ja eine geniale Frau sein, sie würde den größten Spaß an diesem qui pro quo finden.«
»Das ist die Frage, liebster Vater. Erstens vertraut mir Madame Fichtner gewiß nicht ihren Ruf an und zweitens, da Sie doch nun so ernsthaft reden, ist die Sache ja unmöglich. Die öffentlichen Blätter würden ja ausplaudern und man würde in Wien von dem Gastspiel der Fichtner lesen, während sie ruhig dort auf der Bastei spazieren geht oder in Hitzing ein Glas Gefrornes verspeist.«
»Dafür ist die österreichische Censur gut«, fiel Everhard ein. »Unsere bösen Blätter dürfen mit ihrem ›incendiarischen‹ Inhalt gar nicht dahin; in Wien sieht man deshalb kein Tagblatt aus unserer Gegend, und dann könnte ich überhaupt verhindern, daß irgend ein Bericht über Sie geschrieben würde. In B. sind zwei Zeitungsberichterstatter; wenn ich ihnen zwei Freibillets gebe und sie bedeute, nichts zu berichten, weil die Fichtner aus besondern Rücksichten nicht wünsche, daß man in Wien erfahre, sie sei auswärts aufgetreten, so schweigt Alles.«
»Das glauben Ihnen aber die Berichterstatter nicht und überhaupt Niemand. Eine Schauspielerin will nicht über sich berichtet haben? Das ist zu unwahrscheinlich!«
»Für die Fichtner nicht; denn wenn diese Frau die gewöhnliche Eitelkeit ihrer Standesgenossinnen besäße, würde sie nach solchen Erfolgen am Burgtheater, welches doch maßgebend ist, schon längst eine Kunstreise gemacht haben, um auch draußen ihren Ruhm zu verbreiten.«
Luitgarde sah Everhard an. Die Lust, ein ganzes Publicum zu mystificiren, die Freude, einmal wieder ihrer alten Passion, dem Komödiespielen zu fröhnen, vor Allem aber der kleine abenteuerliche Hang, von dem sie früher gesprochen und der wirklich ein Zug, wenn auch ein bis jetzt tief verborgener, ihres Charakters war, ließen die übermächtigste Lust an dieser Komödie in der Komödie in ihr aufschießen. Sobald die beiden Männer merkten, daß sie ernstlich daran dachte, redeten sie ihr aufs eifrigste zu, der Graf, weil sein Blut wieder auf die Breter kam, und Everhard – ja Everhard's Eifer war leicht begreiflich – brachte es sie doch in eine Gemeinschaft mit ihm, an die seine kühnsten Wünsche nicht gereicht.
Als sich Luitgarde zu Bette legte, war sie schon halb entschlossen. Das Morgenlicht zwar schadete sehr der Lampenbeleuchtung ihres Planes, aber anders wurde es, als am Nachmittag Everhard wieder erschien, der, obgleich seine Gegenwart bei Aufführung eines neuen Stückes für diesen Abend höchst nöthig gewesen wäre, es sich dennoch nicht versagen konnte, Luitgarde die ausgeschriebene Rolle zu bringen und der deshalb Publicum und Schauspieler im Stich gelassen.
Anfangs wurde die Rolle entschieden zurückgewiesen aber – als Everhard fortgegangen, saß die Geheimeräthin, Freifrau Luitgarde von Senkendorf, geborene Gräfin von Sinsheim in ihrem Sessel und lernte eifrigst die Rolle des jungen Mädchens in den »beiden Aerzten«, worin sie – als Madame Fichtner heute über acht Tage aufzutreten versprochen!
Freilich hatte Everhard sich viele Mühe gegeben, es soweit zu bringen, und hätte er sie nicht so sehr geliebt, wäre es ihm auch nicht gelungen; aber die Liebe macht erfinderisch. Erstens mußte er Luitgarden die Versicherung geben, daß er ihren Schwager abreisen sehen, zweitens daß Niemand der Badegesellschaft am Abend, wo sie auftreten würde, Zutritt auf dem Theater haben solle. Man wollte die Freunde der Fichtner auf ein Souper vertrösten, das der Director nachher ohne sie geben würde – weil sie plötzlich unwohl geworden. Dann die Gewißheit, daß keiner der Mitspielenden jemals die wirkliche Fichtner gesehen, was auch zufällig die Wahrheit war; dann zuletzt als Hauptsache: Everhard's Ehrenwort, nun und nimmermehr der Sache zu erwähnen außer an die Fichtner, der er offenherzig die ganze Mystification schreiben sollte, doch ohne den Namen Luitgardens anzuführen, weil letztere zu gewissenhaft war und die liebenswürdige Frau in Wien au fait wissen wollte, für den Fall, daß sie zufällig etwas von der Sache erfahren würde.
Soweit war alles abgemacht, denn daß das halbe Logenpublicum aus Luitgardens Gesellschaft in der Residenz bestand, darum kümmerte sie sich nicht. Everhard hatte ihr versprochen, sie selbst zu schminken, und sie erinnerte sich recht gut, wie sie oft ihren eigenen Vater nicht erkannt, wenn er eine gute Maske hatte, um den Kunstausdruck zu gebrauchen.
Acht Tage sind schnell verflogen, besonders für Leute, die nichts thun. Vor dem Conversationssaal in B. saß die ganze Gesellschaft und trank Kaffee und die Herren rauchten Cigarren und die Damen rückten alle Augenblicke ihre Stühle anders, um dem Rauche aus dem Weg zu kommen. Aber der Rauch kräuselt sich eigensinnig immer am liebsten um lange Locken, wogende Blumen und wallende Federn; man weiß, daß er immer den Damen nachzieht und sich nicht um seinen officiellen Hofmeister, den Wind, kümmert. Das Gespräch kräuselte und zog sich auch immer um eine Dame, um die Fichtner und ihr Auftreten an diesem Abend. Man tadelte den Director, daß er nicht einmal eine Notiz in die heutige Zeitung einrücken lassen und daß selbst auf den Zetteln, die eben ausgegeben, nur: Madame Fichtner, aber nicht kaiserlich königliche Hofschauspielerin stand. Da trat ein junger, nein, es war eigentlich ein alter Mann, vor, einer von Denen, die zum Wohl der Gesellschaft Alles wissen, und entschuldigte den Schauspieldirector.
»Heute Morgen wußte der Director noch nicht ganz sicher die Ankunft der Fichtner, sie traf auch nur gerade noch zur Hauptprobe ein.«
»Haben Sie sie gesehen?« rief man von allen Seiten.
»Ja!« (Herr von Plessen hatte immer Das gesehen, was alle Welt gern gesehen haben wollte.) »Ja, ich habe sie gesehen!«
»Wie sah sie aus?«
»Hm hm, ganz gut. – Sehr elegant, für ein Reisecostume sehr elegant.«
»Kannten Sie sie von Wien her, Herr von Plessen?«
»Sehr intim, sehr intim, cela va sans dire.«
»Haben Sie sie gesprochen?« frug ein obstinirter Inquisitor, einer von Jenen, für die Herr von Plessen selbst keine Autorität war. »Haben Sie sie gesprochen?«
»Nur einen Augenblick – sie war sehr pressirt.«
Von alledem war nun keine Silbe wahr. Herr von Plessen hatte Luitgarde, die als Madame Fichtner in einem ihr von Everhard an der nächsten Eisenbahnstation entgegengeschickten Wagen wirklich angekommen, weder gesehen noch gesprochen.
Das Gesicht in einen dichten Schleier gehüllt trat sie zur Probe an Everhard's Arm auf die Breter und ließ sich durch ihn bei den übrigen Schauspielern mit unerträglichem Zahnweh entschuldigen. Sie flüsterte kaum hörbar ihre Rolle und als sie das Haus verließ, wußten die Mitspielenden von ihr nicht viel mehr als Herr von Plessen.
Sie empfand die heftigste Reue über ihr dem jungen Director so unbedachtsam gegebenes Versprechen, und nur weil sie es ihm so fest versprochen und ihn in Unannehmlichkeiten zu bringen fürchtete, hatte sie ihm nicht am Morgen noch ihre Weigerung geschrieben. Je näher der Termin gekommen, desto mehr war die Lust zum Abenteuerlichen in ihr erbleicht; es ging ihr wie den meisten jungen Damen, die in ihrer Sophaecke von kühnen Amazonenthaten träumen und über die gezwungene Unthätigkeit des weiblichen Geschlechts klagen, und, wenn sie auch gerade nicht nach Emancipation seufzen – das thut wenigstens keine kluge Frau – doch meinen, es gebe Verhältnisse, wo den Frauen mehr Wirken zuerkannt werden könnte; dann aber, sobald sie ein Gewehr losdrücken sehen, sich schreiend die Ohren zuhalten, oder, wenn sie ein Pferd besteigen sollen, nicht in den Steigbügel ohne Tabouret kommen. Wie gesagt, Luitgarde war in diesem Punkte um kein Haar besser als ihre Schwestern; doch war sie es in einem Punkt, in der Beharrlichkeit. Wenn sie einmal Ja gesagt, so blieb es dabei, und das kann man leider nicht allen Frauen nachsagen – aber, wenn wir gerecht sein wollen, auch nicht allen Männern!
Als Luitgarde angekleidet war und mit zitternden Händen ihre langen blonden Locken vor dem Spiegel geordnet, trat Everhard ein, um sie zu schminken und ihr den Degen mitzubringen, den sie zu der Fechtstunde brauchte, welche sie im Stück zu nehmen hatte. Glücklicherweise hatte ihr Vater, da er sie schon in zarter Jugend zur Primadonna seines Theaters bestimmte und also in ihr eine künftige Jungfrau von Orleans sah, ihr Fechtunterricht ertheilen lassen und Luitgarde konnte ganz vortrefflich den Degen handhaben. Aber jetzt seit ihrer Verheirathung, wo sie immer ein friedliches Leben geführt und keine Waffe in die Hand genommen, war ihr förmlich bang vor dem glänzenden Stahl. Everhard schlug ihr zur Uebung ein paar Gänge vor und holte sich rasch ein anderes Rappier. Luitgarde willigte ein, war ihr doch in ihrer Angst jeder Vorschlag willkommen, und als sie ein paar Secunden dem Director fechtend und parirend gegenüber gestanden, wuchs durch die ungewohnte Anstrengung plötzlich ihr gesunkener Muth. Indem ihre Wangen zu glühen begannen, klopfte auch ihr Herz nicht mehr so ängstlich. Everhard, dem ihre Angst viel Sorge gemacht, bemerkte wol diese glückliche Veränderung und beschloß sie zu benutzen und Luitgarde jetzt gleich in das Theater zu bringen. Er sah auf seine Uhr, es war auch hohe Zeit. Dicht verschleiert im verschlossenen Wagen brachte er sie zum Schauspielhause. Es gelang ihm, sie unbemerkt durch ein kleines Nebenpförtchen einzuführen.
Die Ouverture hatte schon begonnen, als Luitgarde, die sich wie im Traume befand, zwischen die Coulissen trat. Die Schauspieler umringten sie von allen Seiten, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, als die Schelle des Souffleurs ertönte und der Vorhang aufrollte.
Als an Luitgarden die Reihe war aufzutreten, stand Everhard neben ihr und flüsterte ihr zu: »Zeigen Sie um Gottes willen keine Angst; bedenken Sie, daß Sie eine der gewandtesten, geübtesten Schauspielerinnen Deutschlands vorstellen, und seien Sie kühn! Bilden Sie sich im Ernst ein, Sie wären die Fichtner!«
Mit todtenbleichen Wangen unter der Schminke trat sie aus den Coulissen. Da wurde in der Prosceniumsloge des ersten Ranges ein Schreckenslaut vernommen, er kam von einem Herrn, der ganz allein saß; unwillkürlich sah Luitgarde hin und ihre Blicke trafen auf Wolfs wohlbekannte dunkle Augen. Vor dem Gedanken: er ist hier, er, den du so weit glaubtest, er, dein ärgster Feind, der Einzige, der dich sicher erkennen wird – schon erkannt hat! verging ihr auf einen Moment die Besinnung. Glücklicherweise dauerte das Beifallklatschen zu ihrem Empfang noch immer fort. Die wiener Verehrer der Fichtner hatten eine förmliche Claque im Theater organisirt und strebten aus allen Kräften, der Künstlerin zu zeigen, in wie dankbarer Erinnerung sie ihr köstliches Spiel gehalten.
Das Applaudiren dauerte mehre Minuten. Wie durch einen Zauber war die falsche Fichtner plötzlich gefaßt; der Gedanke: ich will ihn täuschen und das ganze übrige Publicum mit, indem ich wirklich so gut spiele wie die Fichtner – hob ihren Muth. Sie verbeugte sich dankbar mit leichter Grazie, wandte Wolf so viel als möglich den Rücken und sah nur nach der andern Seite, wo sie ihren Vater wußte. Der Schrecken über die Gegenwart ihres Schwagers hatte sie ganz den Schrecken vor dem Publicum überwinden lassen. Mit etwas veränderter Stimme begann sie ihre Rolle zu sprechen – aber als sie belebter und wärmer wurde, vergaß sie das. Sie war zu leidenschaftliche Schauspielerin, um nicht nach und nach ganz in ihre Rolle einzugehen; ihr Spiel war so gut, wie die meisten der Zuschauer nie etwas gesehen, und Diejenigen, welche glaubten sie in Wien gekannt zu haben, riefen ein über das andere mal: »So kann nur die Fichtner spielen!«
Die äußere Aehnlichkeit war auch wirklich täuschend, die Natur hatte schon das Meiste gethan und Everhard, der vortrefflich zu schminken verstand, mit Hülfe seines guten Gedächtnisses das Uebrige in Luitgardens Antlitz ergänzt.
»Sie ist die Fichtner wie sie leibt und lebt, jeder Zoll!« sagte er, in freudigem Stolz an der Coulisse lehnend und dem Spiele der geliebten Frau folgend.
Als der erste Act vorüber war, wurde er hinausgerufen. Es verlange Jemand dringend ihn zu sprechen.
Auf dem Corridor stand Wolf. Everhard, der ihn in der Loge nicht bemerkt, war beinahe ebenso erschrocken wie Luitgarde.
»Wie kommt es denn, Herr Director«, frug Wolf in seinem gewöhnlichen hochmüthigen Tone, »daß heute Abend Niemand auf die Bühne gelassen wird? Sonst konnte doch Jedermann«, setzte er spöttisch hinzu, »dieser Ehre theilhaftig werden.«
Everhard hatte sich wieder gefaßt und antwortete ruhig: »Ich bedauere recht sehr, Herr Baron, aber Madame Fichtner hat mir es zur Bedingung gemacht. Sie hat hier eine Menge von Bekannten und fürchtete, daß das Wiedersehen und Begrüßen mancher alten Freunde sie zu sehr zerstreuen werde.«
»Freilich hat Madame Fichtner« – er betonte den Namen mit unaussprechlichem Hohn – »hier sehr viele alte Freunde, deren Begrüßung ihr lästig werden möchte! Ich bedauere aber dennoch, es ihr nicht ersparen zu können. Haben Sie die Güte, ihr dies Zettelchen zu übergeben; sie wird mir dann wol Audienz in der Garderobe oder sonstwo geben.«
»Ich bedauere unendlich, Herr Baron, nicht die Ehre haben zu können, Ihr Commissionär zu sein, aber die Directionsgeschäfte nehmen mich am heutigen Abend zu sehr in Anspruch.«
Rasch sich umwendend wollte er sich entfernen, als Wolf ihn vor Zorn bebend am Arme faßte und leise sagte:
»Sie müssen mich hören, Sie müssen meinen Auftrag ausrichten, oder –«
Aber Everhard schüttelte mit einer leichten Bewegung seines kräftigen Körpers des Barons Hand von seinem Arm, und sich dicht vor ihn stellend, sagte er mit jener Mäßigung, die eigentlich keine mehr ist, weil schon der grenzenloseste Zorn unter ihrer Hülle ruht: »Herr Baron, beleidigen Sie mich nicht, oder, wenn Sie das wollen, geben Sie mir Genugthuung – ein Gang mit Ihnen würde mir nicht nur zur größten Ehre, sondern auch zur größten –«
»Freude gereichen«, sagte Wolf höhnisch wie immer, wenn er Everhard gegenüberstand; »ich kann mir das lebhaft vorstellen, ich bin Ihnen und – Andern lästig, aber ich gehe nicht! Und ebenso wenig schlage ich mich mit Ihnen, Herr Schauspieldirector!«
Everhard wollte eine sehr heftige Antwort geben, als sich eine zarte Hand auf seine Schulter legte; er wandte sich um und Luitgarde stand hinter ihm; sie hatte die Schminke von ihrem todtbleichen Gesicht gewischt und außerdem nur über ihr Kleid, worin sie im ersten Act aufgetreten, eine Mantille geworfen.
Wolf sah sie einen Augenblick wirklich mit tiefer Bewegung an, dann gewann aber, indem er die Ueberzeugung faßte, daß sie nur um Eberhard's willen gekommen sei, der Zorn in ihm die Oberhand und machte sich auch sogleich im bittersten Hohne Luft.
»Ha, Madame Fichtner! Es freut mich unendlich, bei dieser Gelegenheit die Ehre Ihrer Bekanntschaft zu genießen –«
»Wolf! nicht diesen Ton, er ist durchaus unanständig der Frau Ihres Bruders gegenüber –«
»Die Frau meines Bruders, als Schauspielerin – das ist unmöglich – die Frau Geheimeräthin von Senkendorf in diesem räucherigen Theatergange!«
Da fuhr Everhard auf, trotzdem daß Luitgarde die Hand auf seinen Arm preßte. »Noch ein Wort – noch ein Wort der Beleidigung gegen diese Dame, Herr Baron, und ich gebrauche mein Recht als Eigenthümer dieses Hauses!«
»Stille, stille, um Gotteswillen!« rief Luitgarde dazwischen. »Was wollen Sie noch, Herr Baron?« wandte sie sich an diesen; »sind Sie noch nicht zufrieden?«
»Ich gehe«, sagte er mit stechendem Blick, »aber nur unter der Bedingung, daß Sie mich morgen früh empfangen, wenn ich Ihnen meine Aufwartung mache. Wo muß ich Sie aufsuchen, im Gasthof als Madame Fichtner oder im Hause meines Bruders?«
»Bei meinem Vater«, sagte eiskalt Luitgarde und nahm Everhard's Arm, um sich auf die Bühne zurückzubegeben, denn man hörte das Publicum wie wüthend klopfen und rufen, da der Zwischenact schon ungewöhnlich lange währte.
Es dauerte nun noch eine Weile, bis Luitgarde von neuem geschminkt war. Everhard machte ihr dabei Vorwürfe, daß sie zwischen Wolf und ihn getreten.
»Ich konnte nicht anders, die furchtbarste Angst verzehrte mich, daß infolge dieses leichtsinnigen Scherzes vielleicht ein Unglück geschehen könne, und als der Theaterdiener, den ich nach Ihnen frug, mir sagte, ein großer Herr mit einem Bart habe Sie rufen lassen, dachte ich mir Alles. Daß ich erst mit meinem Schnupftuch die Schminke abwischte, müssen Sie entschuldigen – so konnte ich nicht vor meinen Schwager Wolf treten, der Contrast wäre zu arg gewesen.«
»Ich dachte Ihnen Alles zu ersparen; darum weigerte ich Ihrem Schwager, sein Bote an Sie zu sein. Sie sollten nichts erfahren.«
Das Gespräch wurde abgebrochen durch die Schelle des Souffleurs, denn das Publicum wollte sich nicht mehr beruhigen.
Jedermann würde denken, Luitgarde sei nach dem Vorhergegangenen nun ganz unfähig gewesen, ihre Rolle gut auszufüllen; dem war aber durchaus nicht so. Sie spielte noch besser wie im ersten Act. Die Aufregung worin sie sich befand, hatte sich mit dem ebenfalls steigenden Affect ihrer Rolle verschmolzen und daß Wolf die Keckheit hatte, auch im zweiten Act sich wieder breit in seiner Loge zu zeigen, stachelte ihren weiblichen Muth und ließ den einen Gedanken gegen ihren Beleidiger besonders klar werden: je besser ich spiele, desto mehr ärgere ich ihn! Und das gelang ihr.
In der Fechtscene war sie reizend, das Publicum applaudirte wie rasend, selbst die Damen klatschten in die Hände und Niemand saß stille, als Wolf, dessen höhnisch durchzogene Mundwinkel das einzige Lebenszeichen an der großen Gestalt mit dem gelblich blassen Gesicht waren.
Nach dem Stücke wurde einstimmig die Fichtner gerufen, der Director erschien und zeigte an, daß leider die Künstlerin sogleich nach Hause gefahren, da sie, noch von der Reise angegriffen, wegen Unwohlsein sich keinen Augenblick länger habe aufhalten können.
Noch in der Nacht fuhr Luitgarde mit ihrem Vater, der sie mit Lobsprüchen über ihr herrliches Spiel überschüttete, nach Hause.
»Kein Mensch konnte dich erkennen«, setzte er triumphirend hinzu.
Erkannt hatte sie freilich Niemand außer Wolf, selbst ihre Freunde aus der Residenz nicht, wenn sie auch alle riefen: »Welche Aehnlichkeit mit Frau von Senkendorf; alles, sogar die Stimme!« Nein, die Wahrheit hatte Niemand geahnt außer Wolf, denn die Leidenschaft macht nicht immer blind, es gibt Menschen, denen sie nur alle Sinne schärft, und zu denen gehörte er, wie er überhaupt auch im gewöhnlichen Leben zu jenen beneideten Unglücklichen gehörte, die jeder Täuschung unzugänglich; Jene, für welche nur die kahle Wahrheit besteht!
Luitgarde lag krank in ihrem Zimmer in Sinsheim. Sie hatte eine fürchterliche Scene mit Wolf gehabt. Am Morgen nach dem Schauspiel war er wirklich gekommen und sie hatte ihn angenommen, weil sie am Abend ihr Wort gegeben.
Wolf war gar nicht nach München gereist, sondern hatte nur einen kurzen Ausflug in eine benachbarte Stadt gemacht. Hier hatte er von dem Gastspiel der Fichtner gehört, und war zurückgekommen, weil er gehofft hatte – wie er sagte – Luitgarde im Theater zu sehen.
Er hatte ihr jetzt die bittersten Vorwürfe machen wollen, daß sie sich ihm solange entzogen und zwar um eines Menschen wie Everhard willen, denn er stellte sich wenigstens, als halte er jenen für ihren begünstigten Anbeter.
Luitgarde hatte darauf in der höchsten Aufregung ihm geboten, augenblicklich ihr Zimmer zu verlassen und er hingegen Bedingungen gemacht; – von ihr verlangt, daß sie nach Senkendorf zurückkehre, ihn dort empfange, und nur unter dieser Bedingung gab er ihr das Versprechen, gegen seinen Bruder von ihrer Extravaganz, wie er es nannte, zu schweigen.
»Sagen Sie alles dem Geheimerath«, hatte darauf Luitgarde gerufen, »lieber will ich von ihm mishandelt werden wegen einer Unbesonnenheit, als seine Verachtung verdienen.«
Mit diesen Worten war sie aus dem Zimmer in ihr Cabinet geeilt und hatte Wolf allein gelassen mit seiner Enttäuschung und seinem Zorne!
Trotz allem von ihr bewiesenen Muthe war ihr aber doch nun, da sie sich allein befand, gar nicht wohl zu Muthe. Sie fürchtete doch sehr ihren Gemahl und doppelt wegen des Vergehens, das sie sich ihm gegenüber zu Schulden kommen lassen. Erstens war sie einem seiner Befehle ungehorsam gewesen, zweitens betraf gerade dieses Verbot Etwas, das ihm besonders unangenehm war; sie erinnerte sich, wie Alles, was er Komödie und Komödianten nannte, ihm zuwider war – er würde ihr eher alles Andere verziehen haben; und dann die ganze Art und Weise der Begebenheit. Sie wußte nur zu gut, wie sehr sein praktischer nüchterner Sinn Alles, was an Mystification und Täuschung streifte, haßte und verdammte, und was hatte sie gethan!
Jetzt, da es vorüber, stand ihr das Alles klar vor Augen, vorher hatte sie so fest auf das Geheimniß gerechnet, daß es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, wie sie ihr Betragen im Falle der Entdeckung, ihrem Gatten gegenüber, vertreten wolle. Sie bekam Fieber aus Angst und zum Uebermaße des Schreckens kam auch heute ein Brief des Geheimeraths an sie, worin er ihr in wenigen Worten, wie er das immer that, seine Ankunft binnen sechs Tagen anzeigte.
Luitgarde war, wie die meisten phantasievollen lebhaften Frauen, im höchsten Grade ängstlich, und in ihrer Einbildung erschienen ihr natürlich die Dinge zehn mal schlimmer als sie waren, und die Möglichkeit einer guten Wendung der Sache kam nie in ihren geängstigten Sinn. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß es ihrem Schwager Ernst mit seiner Drohung sei, ebenso wenig, daß dann ihr Gemahl sie auf das schnödeste behandeln, ja sie verstoßen werde. Was sollte in diesem Falle mit ihr geschehen? – Sie mußte dann zu ihrem Vater zurückkehren und das erschien ihr jetzt, nachdem sie wieder einige Wochen unter seinem Dache zugebracht, sehr hart.
So wenig Sympathien zwischen ihr und ihrem Gatten bestanden, so mußte sie sich doch gestehen, daß er ein Mann im ganzen Sinne des Worts war. Nie, seitdem sie ihn kannte, hatte er ein Wort gesagt, das eines solchen unwürdig, nie eine Handlung geübt, mit der sie nicht vollkommen harmonirt. Sie hatte früher ihn in ihrem stillen Sinne hundert mal kalt, wortkarg, egoistisch und ironisch genannt, jetzt gestand sie sich aber doch, daß man ihn auch ebenso gut ernst, besonnen und einen Charakter voll achtungswürdiger Festigkeit nennen könne. Sie hatte in seinem Hause eine durchaus freie, sorgenlose, unabhängige Stellung, war geehrt um ihres Mannes und um ihretwillen.
Hingegen ihr Vater! Wie viel tausend mal mußte sie nicht um seiner thörichten, hochmüthigen Reden, um seiner kindischen, unüberlegten Handlungen willen erröthen? War er nicht jetzt selbst, wo ihr Gemahl doch so sehr für ihn gesorgt, ewig derangirt und in Schulden, ohne sein Geld auf eine andere, als die thörichtste Art, an Schmeichler und Schmarotzer, zum Fenster hinauszuwerfen, und sah sie nicht immer wie die Bessern, welche das Haus betraten, nur um ihretwillen Nachsicht mit ihm hatten? Und welche Gesellschaft versammelte sich in der Regel bei ihm!
Darin konnte sie auch nichts ändern, denn er war eigensinnig wie alle unvernünftigen Menschen.
Sie hatte noch einige nothwendige Einrichtungen in ihrem Hause vor der Ankunft ihres Gemahls zu treffen und beschloß deshalb, sobald sie sich etwas erholt, auf ihr Gut zurückzukehren.
An dem Tage, an dessen Schluß sie ihren Gemahl erwartete, ließ sich ihr Schwager melden; sie hatte, weil sie voraussah, daß Wolf zu seines Bruders Ankunft eintreffen werde und sie ihn dann nicht abweisen konnte, aber die Pein eines Alleinseins mit ihm vermeiden wollte, ein junges Mädchen, eine entfernte Verwandte aus der Residenz, zu sich eingeladen. Diese befand sich auch bei ihr, als sie Wolf eintreten ließ.
Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und war augenscheinlich in der tiefsten Bewegung.
»Ich habe Ihnen eine äußerst wichtige Nachricht mitzutheilen, liebe Luitgarde; haben Sie aber die Gnade, mir einen Augenblick Gehör bei Ihnen allein zu gewähren«, sagte er mit bittender Stimme.
»Meine Cousine wird nicht misbrauchen, was sie hört, reden Sie nur«, entgegnete sie kalt.
»Nein, nein, Sie irren sich, Luitgarde. Was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft nicht den unangenehmen Gegenstand, den Sie fürchten, es betrifft – meinen Bruder, Ihren Gemahl!«
Nach einer kleinen Zögerung sagte sie zu ihrer Gesellschafterin: »Gehen Sie hier nebenan in das Cabinet, liebes Kind, ich werde Sie sogleich rufen«, und als sich diese entfernt, zu Wolf: »Nun, was gibt es?«
»Hier das neueste Blatt der Bremer Zeitung: Das Dampfschiff ›Hektor‹ ist im Kanal von einem der großen transatlantischen Boote überfahren worden und rettungslos untergesunken.«
»Und?« frug Luitgarde ahnungsvoll und blaß.
»Und auf diesem Schiffe muß sich meiner Berechnung, ja seinem eigenen Briefe nach, mein Bruder mit dem Prinzen befunden haben.«
»O Gott, so schwer strafst du mich!« rief die junge Frau entsetzt und in Verzweiflung.
»Strafen – Strafe wofür?« frug Wolf, indem er ihr näher trat.
Sie schwieg, doch zwischen ihren vor das Antlitz gepreßten Händen rieselten Thränen hervor.
»Luitgarde, was meinen Sie mit Ihrer Schuld? Denken Sie dabei an mich, oder an Ihr Auftreten auf dem B.schen Theater?«
»An Beides!« rief Luitgarde in der Unbedachtsamkeit ihres großen Schmerzes.
Da fiel Wolf zu ihren Füßen und rief im Uebermaß einer Leidenschaft, von der erschreckt sie aus ihrer Versunkenheit emporfuhr: »So bist du schuldig meinethalb? O Dank, Dank dem süßen, süßen Geständniß! Denn wenn du dich schuldig fühlst, so hast du mich in deinem Herzen geliebt; eine andere Schuld kannst du nicht haben.«
Sie sah mit starren, weit offenen Augen in sein liebeglühendes Antlitz – sie wich langsam von ihm zurück, aber sie begriff noch immer nicht, daß derselbe Mund, der vor wenig Minuten ihr die Todesbotschaft ihres Gatten verkündet – jetzt um ihr im Schrecken erstarrtes Herz – um Liebe werben könne – einen solchen Egoismus, eine solche Gefühllosigkeit vermochte sie nicht zu fassen.
Aber Wolf ließ sich nicht beirren; er war einer von den Menschen, denen die Zeit, die Umgebung, die Umstände, Alles gleichgültig ist, wenn sie nur ihr Ziel erreichen. Rücksichten kannte er nicht, sobald ihm Etwas galt; sein Glück ging über Alles.
»Luitgarde, stoßen Sie sich nicht an den Augenblick«, sagte er, endlich ihr schmerzliches Staunen verstehend, »ich habe keinen andern. Mein Bruder ist todt – Sie sind frei. Ich liebe Sie, wie nie ein Weib geliebt wurde. Jetzt in dieser Stunde entscheiden Sie, ob Sie mein werden wollen – sonst muß ich auf ewig fort! Ich kann Ihnen nicht auseinandersetzen, was mich bewegt, gerade jetzt in diesem Augenblick eine Erklärung von Ihnen zu verlangen; aber es genügt wol, wenn ich Ihnen sage, daß ein Wendepunkt in meinem Leben eingetreten. Ich stehe an einem Kreuzweg und habe keine, keine Frist; für einen Weg muß ich mich entscheiden. Der eine Pfad ist der, den ich bisher gewandert – der Pfad der Sünde! Und mein ältester Gefährte steht an ihm und reicht mir mit dringender Bitte die Hand. Der andere Pfad – brauch' ich ihn erst zu nennen? Am andern Pfade stehen Sie; – reichen Sie mir die Hand, so bin ich gerettet für das Leben und vielleicht noch für ein Jenseits, wenn ich Ihrem holden Glauben vertrauen lerne – denn Sie wissen wol, Luitgarde, ich habe keinen!«
»Schweigen Sie, schweigen Sie um Gottes willen!« rief die geängstigte Frau dem immer noch knienden Wolf zu. »Sind Sie wahnsinnig, von einer Frau zu verlangen, daß sie in einer und derselben Viertelstunde ihren Gatten beweint und ein neues Band knüpft?«
»O, wenn Sie wüßten –«
»Nein, nein, gehen Sie; ich will Sie nie, nie mehr sehen!«
»Bedenken Sie, was Sie thun, Luitgarde! Ein Mensch, und zwar keiner der schlechtesten, geht darüber rettungslos zu Grunde! Wenn Sie mir ja nur ein kleines Zeichen geben, daß ich wiederkommen darf, so will ich gehen und in einem Jahr Sie erwarten – wo Sie wollen.«
»Nein, nein; nie, nie!«
»Nun gut, gut!« Bebend vor Zorn schritt er mit düsterm Antlitz im Zimmer auf und ab, während die zitternde Frau in der Fensternische lehnte.
Er wollte, er konnte sie nicht aufgeben, und doch mußte er fort! Es war nicht nur sein Herz, das so gebieterisch redete, es war auch sein Stolz und seine männliche Eitelkeit. Er glaubte sich noch nie von einer Frau aus freiem Entschluß abgewiesen, und diese, in deren Herz, das sagten ihm seine Beobachtungen, diese, in deren Herz einst eine Saite, wenn auch leise, doch sehr vernehmlich für ihn geklungen, die sollte ihn nun abweisen? Unmöglich, unmöglich!
Das schmerzlichste Nachdenken arbeitete auf seiner breiten Stirn; endlich wendete er sich wieder zu ihr:
»Gut, ich gehe, Luitgarde, aber ich gehe nach England; ich will Gewißheit, morgen Gewißheit, ob Karl lebt oder nicht. Wollen Sie mich begleiten? Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre und Ihrem Herzen, dem Einzigen, was mir heilig ist, daß, bis wir Gewißheit haben, kein Wort von Liebe meinen Lippen entschlüpfen soll.«
Die junge Frau hielt die Hände fest vor das Antlitz und schüttelte nur mit dem Kopfe.
»Luitgarde, sei barmherzig!« rief er nun mit ganz veränderter Stimme, »mache mich nicht wahnsinnig! Ich beschwöre dich, gehe mit nach England! Laß dich begleiten von wem du willst, aber gehe mit – du mußt mitgehen!«
»Nein, nein!« rief sie nun mit letzter Kraft und fiel in die Knie.
Wolf glaubte, sie sei ohnmächtig, und riß an der Klingel. Als die Leute eintraten, erhob sich aber Luitgarde, die nur ein übermäßiges Zittern aller Glieder hingeworfen, und ließ sich in ihr Schlafzimmer bringen. Wolf aber setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb einen langen leidenschaftlichen Brief an sie, einen von jenen Briefen, von denen die Augen brennen und das Herz erzittert, wenn man sie liest. Diesen Brief gab er ihrer Kammerfrau mit der Weisung, ihn, sobald die Dame sich etwas erholt, zu übergeben. Das geschah. Luitgarde las ihn aber nicht. Ihre Tugend war jetzt eine solche geworden, der man nicht mehr übermüthig vertraut, bei der man in bescheidener Demuth der Versuchung ausweicht, weil man fühlt, daß man ein menschliches Herz im Busen trägt. Luitgarde war gerettet.
Als Wolf bis zum Abend des folgenden Tages keine Antwort von ihr erhielt, reiste er ab mit seinem Freunde, einem Franzosen, den er bei seinem neulichen Ausflug wieder getroffen und der ihn abgeholt. Dieser Mann, er hieß Marquis de Lansère, sah aus, wie Wolf nach zehn Jahren aussehen mochte, und dennoch war er jünger als er; aber er war auch nur eine gewöhnliche Natur, während bei Wolf jeder Nerv mit dem härtesten Stahl zu vergleichen war. Doch jetzt bei seiner Abreise sah dieser auch einmal aus wie ein niedergeschlagener Mensch; aber »das geht vorüber!« sagte lächelnd sein Freund und er hatte Recht.
Luitgarde saß unglücklich wie noch nie in ihrem Cabinet. Sie wußte noch nichts Entscheidendes über das Loos ihres Gemahls, obgleich sie nach der Residenz geschrieben; sie hatte noch keine Antwort erhalten, es waren freilich erst einige Tage verflossen.
Bei dem Gedanken an den möglichen Tod des Geheimeraths fühlte sie den heftigsten Schmerz, ebenso heftig als wenn sie ihn mit wirklicher Frauenliebe geliebt, denn sie war edel genug, sich eines Unrechts gegen ihn anzuklagen, und er war dann aus dem Leben gegangen, ohne ihre Reue vernommen, ohne ihr verziehen zu haben. Bei diesem Gedanken überströmten fortwährend Thränen ihr kummervolles Antlitz. Sein Benehmen gegen sie, das sie oft früher in ihrem stillen Sinne getadelt, erschien ihr nun in einem ganz andern Lichte. Sie begriff sich selbst und ihre Anfoderungen an den ernsten Mann nicht, und wie alle enthusiastischen edlen Gemüther, wenn sie sich einmal im Unrecht fühlen, schob sie nun alles Unrecht auf ihre Seite. In dieser trostlosen, sich selbst verkleinernden Stimmung hörte sie einen Wagen auf den Hof rollen. Wie konnte sie jetzt Besuch empfangen? Unmöglich. Sie riß an der Glocke, um den Befehl zu geben, daß man sie als unwohl entschuldige; aber da hörte sie schon einen raschen Männerschritt den Corridor entlang kommen – sie wollte sich schnell in ein anderes Zimmer entfernen, aber es war zu spät – die Thüre flog auf und – kaum traute sie ihren Augen bei dem schwachen Lampenlicht – der Geheimerath, ihr Gemahl stand vor ihr.
Ja, er war es – er breitete ihr die Arme entgegen und mit einem Freudenruf stürzte sie, nicht an seine Brust, nein zu seinen Füßen und preßte ihr Antlitz in seine umfangenden Hände.
»Kind, Kind, was fällt dir ein?«
»So bist du nicht auf dem ›Hektor‹ gewesen? Gott sei Dank!«
Gerührt, tief gerührt beugte sich Senkendorf zu seiner jungen Frau: »So war es Das, mein liebes Kind, was dich so erschüttert und niedergeworfen? So galt dieser Kniefall dem Allerhöchsten, den du verehrst und für mein Leben dankst? Ich kann nur deine Angst segnen, denn so erfuhr ich, daß du mich wirklich liebst, mein süßes Kind, mehr als ich hoffte, und mehr als ich hoffen durfte! Doch nun komm an meine Seite, setze dich zu mir.«
»Nein, nein«, rief Luitgarde, »den ersten Augenblick unsers Wiedersehens, eines Wiedersehens, das eine so große Gnade Gottes für mich ist, will ich nicht mit einer Lüge beflecken. Ich habe nicht vor Gott – ich habe vor dir gekniet.«
»Und was warf dich zu meinen Füßen?«
»Das Gefühl meiner Schuld!«
Todtenblässe bedeckte plötzlich die Wangen des Geheimenraths. Denn war er auch zu abgeschlossen, um sein Glück in Luitgardens Hände zu legen – seine Ehre, sein Höchstes hatte er vertrauensvoll in ihre Hut gegeben. Und wie jeder Mann, dachte er bei dem Wort Schuld aus Frauenmund immer nur an einen Treubruch, an ein Verbrechen.
»Wer ist der Verräther, an wem räche ich meine Ehre und strafe deine Schuld?« rief er mit veränderter Stimme, indem er einen Schritt zurücktrat und ihr seine Hände entzog.
Sie sah erschrocken auf. Sie verstand ihn nicht.
»Rede, rede, wie heißt dein Verführer?«
»O, Karl!« sie nannte ihn zum ersten mal in ihrem Leben bei seinem Namen; »o, Karl, so arg ist es nicht, dein Name und mein Gewissen schützen deine Ehre – die ist fleckenlos geblieben, Gott sei Dank!«
»Nun, und was ist es denn?« frug rasch und erleichtert aufathmend Senkendorf; denn ein Zweifel an ihre Versicherung kam nicht in seine Seele, er war zu scharfsichtig, um nicht den Ausdruck der Wahrheit auf ihren Zügen zu erkennen.
»Was es ist« – sagte Luitgarde und erhob sich, selbst erleichtert bei dem Gedanken, daß es doch noch eine größere Schuld hätte zu gestehen geben können; »was es ist, sollst du erfahren, haarklein, eher habe ich nicht Ruhe!«
Und an seine Seite geschmiegt, von seinem Arm umschlungen, erzählte sie ihm die Geschichte ihrer Gastrolle. Er unterbrach sie nicht. Als sie geendigt, sagte er, sie ernst ansehend: »Man hat dich wol erkannt?«
»Nur dein Bruder – fahre morgen in die Stadt, da wirst du selbst hören, daß die Welt nur über eine große Aehnlichkeit der Schauspielerin mit mir staunt – die Wahrheit hat Niemand errathen.«
»Niemand als Wolf, und der wird schweigen«, sagte ernst aber nicht unfreundlich der Geheimerath.
»Er wird schweigen, denn er ist für immer fort.«
»Wie so?«
Und nun erzählte sie, aber mit möglichster Schonung; denn sie sprach von Wolf's Liebeserklärungen, als seien es nur unwillkürliche Ausbrüche einer heftigen Leidenschaft, aber nicht berechnete Verführungsversuche gewesen – war er doch ihres Mannes einziger Bruder. Verschweigen durfte sie ihm aber nicht seine Annährung, denn im Fall er dennoch wiederkehrte, konnte nur ihr Gemahl selbst sie vor ihm schützen, das fühlte sie wol.
Der Geheimerath hörte auch dies Geständniß, ohne sie zu unterbrechen, an; aber als sie schwieg, sagte er mit einer Milde, die sie nie bei ihm vermuthet:
»Ich sehe wohl, ich muß dem kleinen Brausekopf vollkommene Amnestie gewähren, weil ich den großen Fehler beging, mein unmündiges Volk mit einem leeren Throne zurückzulassen. Du mußt dir einen Fürsten darauf wählen, sonst sind wir verloren. Wen setzest du für alle Ewigkeit darauf?«
»Dich, o dich!« rief sie, tief gerührt von seiner Güte, »wer anders als so ein milder Herrscher verdiente den Thron?«
»Wo ist aber der Thron?« frug Senkendorf, indem er sich inniger als je zu ihr bog und gerührt wie in ein heiliges Kinderauge in ihre klaren blauen Augensterne sah.
Sie lächelte, wurde dunkelroth und preßte ihre weiche, jetzt für immer treue Hand auf ihr pochendes Herz, indem eine Thränenflut ihre Blicke verdunkelte.
Bei Luitgarde war das ein echt weiblicher Zug. Seitdem sie gefehlt und er ihr vergeben, so mild und edel vergeben, liebte sie ihren Gemahl, aber bei ihm war es eigentlich kein echt männlicher Zug, daß, seitdem sie ihn liebte, er sie wieder liebte. Hier pflegt die Wirkung sonst umgekehrt zu sein.
Etwa vierzehn Tage nach den zuletzt erzählten Begebenheiten war Luitgarde nach der Residenz gereist, wo ihren Gemahl seine Geschäfte unerläßlich festhielten.
Sie ging aus einem Zimmer in das andere, ließ die Jalousien öffnen, die Möbel zurechtrücken, kurz alle jene kleinen Versuche machen, durch die man aus einer Wohnung, die längere Zeit unbewohnt gewesen, die Stickluft und Unbehaglichkeit zu vertreiben sich bemüht, die uns wider Willen melancholisch stimmt und an Tod und Sarg erinnert.
Aber Luitgarde sah fröhlich und blühend aus wie in ihrer Mädchenzeit. Das neue innige Verhältniß mit ihrem Gemahl, seine große Freundlichkeit und Herzlichkeit, seine Theilnahme an ihren Beschäftigungen und Studien, ja selbst an ihren kleinen Fraueninteressen, rührte sie tief bei dem ernsten viel beschäftigten Staatsmann und ihre offenkundige lebhafte Dankbarkeit bestärkten ihn immer von neuem, nicht darin zu ermüden. Fand er doch selbst einen nie geahnten Genuß im Verkehr mit ihrem frischen, lebhaften Geist, mit ihrem kindlichen, offenen Wesen. Die Liebe zu seiner Frau füllte in seinem Herzen ein ihm bis jetzt selbst verborgenes Fach.
Er trat jetzt lächelnd zu ihr. »Du ahnst wol nicht, liebes Kind, von wem ich eben diesen Brief erhalten und wer seinen Besuch für die nächste Stunde darin ankündigt?«
»Doch nicht Wolf?«
»Nein, Wolf nicht, aber seine Frau.«
Luitgarde schlug lachend die Hände zusammen. »Ist es möglich? So schnell getröstet?«
»Nein, die Sache ist noch viel besser. Er ist seit vier Jahren verheirathet. Mit einer Mexikanerin.«
»Also Cortez der Eroberer und Amazili!«
»Scherze nicht zu viel; eigentlich ist die Sache doch recht traurig. Das arme Geschöpf ist offenbar ein Opfer seiner Eitelkeit. Nach ihrem Briefe, der in sehr schlechtem Französisch verfaßt ist, scheint sie eine mexicanische Schönheit gewesen zu sein. Er brachte sie dazu, mit ihm zu fliehen, aber ein ehemaliger Anbeter von ihr, ein Engländer, holte das Paar ein und vermochte meinen liebenswürdigen Herrn Bruder, sich in seiner Gegenwart von einem Mönche trauen zu lassen. Wolf lebte nun zwei Monate mit ihr auf einem Landhaus, das er gemiethet, und da verließ er sie unter dem Vorwand einer Geschäftsreise und seitdem hat sie ihn nicht wiedergesehen. Vor einem Jahr erhielt sie einen Brief aus Paris, den sie mir beigelegt hat. Er war von einem Marquis Lansère, dem einzigen Busenfreunde Wolf's. Der Brief hatte keinen andern Zweck, als Wolfs Anwesenheit in Paris seiner Frau zu verrathen, damit sie ihn dort aufsuche. Er schließt mit den Worten: ›Sie staunen, Madame, warum ich meinen Freund, dessen Geheimniß ich allein seinem Vertrauen verdanke, verrathe? Sie werden mich aber begreifen, wenn ich Ihnen sage, daß auch mich eine verlassene Gattin von einem Ende der Welt zur andern verfolgt. Wolf soll sich nicht länger seines größern Glückes bei mir rühmen! Mein bester Freund soll alles mit mir theilen.‹«
»Eine saubere Freundschaft« sagte Luitgarde.
»Höre nur weiter. Die junge Frau reiste mit ihrer zweijährigen Tochter, von deren Existenz damals Wolf noch nichts ahnte, ihm mit dem ersten Schiffe nach Paris nach. Sie ist aber zu schüchtern, direct zu ihm zu gehen, und zeigt ihm daher schriftlich mit rührenden Worten ihre Ankunft an, und wie sie brenne, ihm sein Kind, sein Ebenbild in die Arme zu legen. Sie wartet mehre Stunden, er kommt nicht, aber am Abend langt endlich ein Brief von ihm an, worin er ihr seine abermalige Abreise anzeigt und sie bittet, von aller Verfolgung abzustehen, denn er sei fest entschlossen de rester libre à tout prix. Dann sagt er ihr noch mit grausamer Härte, wie er sie nicht mehr lieben könne, weil sie sicher im Einverständniß mit dem jungen Engländer sich ihm als Gattin aufgezwungen; das bilde eine ewige Scheidewand zwischen ihnen. Du kannst es hier selbst in seinem Briefe lesen.«
»Abscheulich, abscheulich, nicht einmal sein Kind zu sehen!«
»Höre nur zu Ende. Die arme Frau hielt sich nun in Paris bis vor einigen Wochen auf, das Klima nicht vertragend, mit jedem Tage leidender, dabei in eingeschränkter Lage, denn sie ist nicht reich und ihre Aeltern wollen sich seit ihrer Flucht nicht mehr ihrer annehmen. Nur ein Bruder unterstützt sie.«
»Dieser Bruder wirst du jetzt sein«, sagte Luitgarde, indem sie vertrauensvoll ihre Hand auf Senkendorf's Arm legte.
»Das versteht sich von selbst, mein Kind, ich werde sie betrachten wie eine Schwester, ich kann es auch mit aller Sicherheit, denn ihr Trauschein und mehre gerichtliche Zeugnisse liegen bei.«
»O über euch Männer mit euerm verbrieften und unverbrieften Glauben! Aber du bist doch gut!«
»Höre nun den Schluß. Vor einigen Tagen erhielt die Mexicanerin abermals einen Brief Lansère's, worin er ihr Wolf's Aufenthalt bei mir und seine Familienverhältnisse auseinandersetzt. Derselbe Lansère zeigt aber nun wieder Wolf die Ankunft seiner Frau hier an, wie ich aus einer schriftlichen Aeußerung meines Bruders entnehmen kann, denn ich erhielt vor einigen Tagen einen Brief von ihm, worin er seine Abreise mit der Flucht vor einer zudringlichen Betrügerin entschuldigt und hinzufügt, er verdanke die Warnung vor ihr nur seinem einzigen Freunde, den er auf dessen Wunsch nach England begleite. ›Mir ist es jetzt einerlei, wohin ich gehe‹, schließt sein Brief, ›laß nur mein Andenken durch Verleumder nicht bei dir schwärzen.‹ Ist das nicht großartig ergötzlich?« frug nun in Lachen ausbrechend Senkendorf.
Luitgarde sah an der leichten Art, wie er die ganze Sache nahm, wie wenig er eigentlich seinen Bruder geliebt.
Die Mexicanerin wurde in dem Wagen des Geheimeraths von diesem abgeholt und zu seiner Frau gebracht. Sie war ein trauriger Anblick, es lebte eigentlich nichts mehr äußerlich an ihr als ihre Augen, die zwei Feuerbränden gleich trotz ihrer dunklen Farbe den vor ihr Stehenden anglühten und beständig im Ausdruck wechselten. Sie war klein und schmächtig gebaut, dabei zum Erschrecken mager; eine von jenen Frauen, deren Körper nur die Hülle ihrer Leidenschaften ist und von diesen verzehrt wird.
Aber dennoch rührte sie Luitgarde tief durch die Ausbrüche ihrer mütterlichen Dankbarkeit, als jene ihr anbot, sie möge ihr Haus als ihre und ihres Kindes Heimat betrachten.
Das Mädchen war reizend. Trotz ihrer zarten Jugend trug sie die Klugheit ihres Vaters mit seinen weitgeöffneten dunkeln Augen zur Schau, sie hatte überhaupt eine seltene Aehnlichkeit mit ihm. Als sie ein paar Tage da war, wußte Luitgarde oft nicht, wer klüger sei, die Mutter von dreiundzwanzig oder die Tochter von drei Jahren, denn die erstere war in ihrem unvernünftigen Schmerz um Wolfs Verlust und ihrer unauslöschlichen Liebe und Sehnsucht nach dem Treulosen der stolzen Luitgarde beinahe ein Gegenstand der Misachtung. Wenn die Treue einer Frau wiederholte absichtliche Mishandlungen, ja den Verrath selbst überlebt, ist sie nichts Besseres als der Instinct des Thieres.
Aber der Gesundheitszustand der Fremden war so bedenklich, daß sich jedes strenge Gefühl ihr gegenüber verwischte. Ihre Tochter wich nicht von dem Bette, das sie bald nicht mehr verlassen konnte. Das Kind benahm sich wie eine Erwachsene und wurde so sehr des Geheimeraths Liebling, daß Luitgarde ihm erklärte, sie sei eifersüchtig. Sie selbst liebte die kleine Isabelle wie ihr eigenes Kind, und als die Mutter ihrer letzten Stunde entgegenging, nahm sie in jene Welt die Beruhigung mit, daß ihre Tochter nicht verwaist zurückblieb – ihre Tochter, der sie ihr liebefähiges weiches Herz vererbt, die aber glücklicherweise damit den starken Geist ihres Vaters zu verbinden schien.
Wolf ließ nichts mehr seit seinem Verschwinden von sich hören. Ist aber Isabelle schön und groß geworden, so wird er wol nicht verfehlen, sich einzustellen und seine egoistische Eitelkeit wird von den Talenten und der Liebenswürdigkeit seiner gefeierten und bewunderten Tochter jeden Tribut erheben, zu dem der liebendste und sorgsamste Vater sich nur je berechtigt geglaubt hat. Und Isabelle wird dann Alles vergessen haben. Wenn eine Frau wie Luitgarde ein Kind wie Isabelle erzieht, kann es nur eine liebende, ja eine großmüthig aufopfernde Tochter werden.
Auf Everhard hat die Liebe zu Luitgarden einen durchaus erhebenden und veredelnden Einfluß geübt. Wir haben gehört, daß er sagte, er verstehe nichts als das Theater; der Bühnenkunst hat er sich nun im edelsten Sinne gewidmet. Er ist jetzt einer der beliebtesten Lustspieldichter geworden und Luitgarde ist seine schärfste Kritik. Ihr liest er zuerst seine Stücke vor – und daß er immer ihren Tadel beachtet und ihn nie übel nimmt, ist eben doch ein Beweis, daß noch etwas von der alten Liebe in seinem Herzen geblieben. Doch ist er heiter und unbefangen. Vermählt hat er sich nicht, denn er trägt ein Ideal in sich, von dem er glaubt, daß es lebe und zwar in eines Andern Besitz – der Irrthum aller erfolglos Liebenden!
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