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Wie man in den Ländern, wo man am kümmerlichsten ißt und am schlechtesten die Speisen zubereitet, den schönsten Namen dafür hat, ebenso macht man es an den Orten, die in einer häßlichen Gegend liegen; da hat man die schönsten, pomphaftesten Namen für alle Plätze und jedes dürftige Eckchen: Schöne Aussicht, Rosenhöhe, Luisenlust; und dann die Straßen und Thore von Städten, die mitten in einer Sandwüste liegen, die haben erst schöne, lieblich klingende Namen: Rheinstraße, Neckarthor, Mainthor – und ringsum kein Tropfen Wasser für das brennende Auge!
An solch einem »Mainthor« kam eines Abends von der pappelbepflanzten, staubigen Chaussée her eine müde Wandrerin, die ein kleines Päckchen unter dem Arme trug. Es war ein auffallend hübsches Mädchen, zwar keine erhabene, classische Schönheit, aber frisch und blühend, wie eine eben entknospete wilde Rose. Die welligen gescheitelten Haare umgaben ein rundes, volles Gesichtchen mit einem reizenden Stumpfnäschen. Die hellen Augen, die rothen Lippen, die weißen Zähne, Alles zeugte von einer ungetrübten, unverkümmerten achtzehnjährigen Gesundheit. Ein etwas kurzes und enges Cattunkleidchen umschloß eine kräftige, aber doch schlanke Gestalt; die halb ergraute schwarze Merinoschürze gab einen Beweis mehr von der demüthigen Lebensstellung Derjenigen, die sie trug.
Das Mädchen blieb am Thore stehen und sah etwas beklommen in die leeren Straßen, die sich vor ihr aufthaten. Die Frau des Thorschreibers betrachtete sie mit mitleidigen Blicken; an sie wandte sich das Mädchen. »Können Sie mir nicht sagen, wohin ich gehn muß – was ich thun soll, um hier einen Dienst zu bekommen? Ich bin ganz fremd und kenne keinen Menschen in der Stadt.«
»Da haben Sie aber viel Courage, hierher zu kommen!«
»Warum? Man hat mir gesagt, hier brauche man alle Tage Dienstmädchen, und ich kann arbeiten – und ich arbeite gern.«
»Woher sind Sie?«
»Aus Lauterbach. Mein Vater war Weber, der ist aber schon lange todt. Ich habe mich mit der Mutter vom Haubensteppen ernährt – die ist aber auch vor sechs Wochen gestorben«, setzte sie mit einem Seufzer hinzu.
»Warum trägst du denn keine Trauer um deine Mutter?« fragte nun barsch die Frau.
»Weil ich keine Trauerkleider habe. Du lieber Gott! Ich habe nur zwei Kleider, und die sind alle beide bunt.«
»Hast du denn keine Geschwister?«
»Doch, zwei Brüder und eine Schwester; der eine Bruder ist Schneider und auf der Wanderschaft, der andere ist Weber und arbeitet zu Hause – der hat Mühe, sich selbst, seine Frau und sechs Kinder durchzubringen.«
»Aber deine Schwester?«
»Der geht's gut. Die ist verheirathet an einen entsetzlich reichen Mann, einen Stahlfabrikanten in Solingen. Ja, der geht's gut.«
»Warum gehst du denn nicht zu deiner Schwester?«
»Was fällt Ihnen ein? Ich kann ja mein Brot verdienen – wozu soll ich meinem reichen Schwager zur Last sein?«
»Du könntest ja auch dort arbeiten.«
»Nein, nein, das mag ich nicht. Das würde aussehe, als gebe man mir das Gnadenbrot – oder ich würde die Magd im Hause sein, und das mag ich auch nicht bei meiner eigenen Schwester.«
Als das Mädchen schwieg, legte die Thorschreiberin den Finger an die Nase und besann sich; endlich sagte sie: »Da kommt mir ein guter Gedanke, ich kann dir vielleicht einen schönen Dienst verschaffen; aber brav mußt du sein, und fleißig und treu, und meiner Empfehlung keine Schande machen, hörst du?«
»Wie werde ich denn anders?« fragte die Achtzehnjährige mit einem so klaren Aufschlag ihrer dunkelblauen Augen, daß selbst die Frau unwillkürlich ausrief: »Ja du siehst ehrlich aus.«
Sie nahm nun das Mädchen mit sich in die Stube, und während sie sich ankleidete, um die Fremde begleiten zu können, erzählte sie ihr, daß sie in ein vornehmes Haus sie bringen wolle, zu einer gnädigen Frau, bei der ihre Schwester Köchin sei. Dort hoffe sie ihr die Stelle des plötzlich erkrankten Hausmädchens zu verschaffen.
Gretchen, denn das junge angehende Dienstmädchen ist unsere Heldin, Gretchen ging lustig neben der etwas hektischen Thorschreiberin durch die langen, leeren, hell erleuchteten Straßen der Residenz. Endlich kam man an ein großes reich verziertes Haus mit einem Balcon und einem Einfahrtsthor.
Die Frau klingelte, der Bediente kam eilfertig herbeigesprungen; als er aber die beiden Gestalten gewahrte, ließ er sie in der halboffenen Thür stehen und ging mit einem geringschätzigen Blicke wieder fort.
»Ist meine Schwester unten, Herr Peter?« rief ihm die Thorschreiberin nach.
»Wo soll sie sonst sein!« antwortete mürrisch der Lakai, ohne nur den Kopf zu drehn, indem er seine Zimmerthür ins Schloß warf.
»Ist das der Herr?« lispelte Gretchen kaum hörbar.
»Warum nicht gar! das ist nur der Bediente; der Herr würde freundlicher gewesen sein, aber er ist todt – hier im Hause ist kein Herr – nur eine Dame mit ihrer Tochter.«
»So, so – aber wie war der Mensch schön geputzt! den hätte ich in Lauterbach für einen Prinzen gehalten; unser gnädiger Herr hat keinen so staatsmäßigen Bedienten.«
Sie waren während dessen in das Souterrain gestiegen. Die kochende Schwester äußerte ihr höchstes Wohlgefallen an Gretchen und war sehr erfreut in der Aussicht, eine Stelle bald wieder besetzt zu sehn, deren Erledigung ihr sehr unbequem war und um die Hälfte Arbeit mehr zuschob. Die Kammerjungfer, welche eben, zufällig wie immer wenn sie in der Küche reden hörte, herab kam, meldete den neuen Ankömmling der Herrschaft, und dieser wurde bald zur Musterung hinauf beordert.
Mit Zittern und Zagen folgte sie der voranschreitenden Kammerfrau über die teppichbelegten Treppen. Als die Flügelthür oben aufging, glaubte Gretchen ohnmächtig zu werden von all dem Glanze. Eine große Astrallampe erhellte blendend einen weiß und grau gemalten Salon. An den Wänden ein goldumrahmtes Bild neben dem andern, ein Teppich mit lauter großen Blumen auf dem Boden, die Möbel mit grünem Moos überzogen – dafür hielt wenigstens Gretchen den hochgeschorenen Wollsammet.
Hinter der Lampe saß eine ältliche Frau, die wiederum dem entzückten Landmädchen als das Musterbild aller weiblichen Schönheit erschien, obgleich die Dame selbst die Zeit der Schönheit weit hinter sich wußte. Ihr gegenüber saß ein Wesen, das den Kopf nach den Eintretenden umwandte – die erschien nun Gretchen geradezu wie ein Engel – so Jemanden konnte es auf Erden gar nicht geben! Es war die sechzehnjährige Tochter des Hauses.
»Du willst als Hausmädchen bei mir eintreten?« fragte nach ziemlich langer Pause die Dame, nachdem ihre scharfen Augen das zitternde Mädchen vom Wirbel bis zur Sohle gemessen.
»Ja ja.«
»Sage gnädige Frau«, flüsterte die Kammerjungfer Gretchen ins Ohr.
»Ja, gnäd'ge Frau.«
»Hast du schon mehr gedient?«
»Nein, aber ich werde … ach, verzeihen Sie, aber ich habe so unmenschliche Angst, ich habe noch nie mit so hohen Leuten geredet.« Dabei kamen einige Thränen in die Augen des armen Mädchens.
Sie hätte sich nicht besser benehmen können. Frau von Pahlen's größte Leidenschaft war es zu »imponiren«, und ihre bitterste Klage, daß die »dienende Classe keinen Respect mehr habe.« Der sichtbare Eindruck, den ihre Gegenwart auf Gretchen gemacht, gewann dem Mädchen ihre Gunst, und sie wurde noch denselben Abend »auf ihr gutes Gesicht«, wie die Baronin sich ausdrückte, im neuen Amte installirt. Gretchen war selig, und es freuten sich die Engel im Himmel gewiß über ihr inbrünstiges Dankgebet beim Einschlafen.
Wer Gretchen am Thore gesehn hätte und ihr vier Tage darauf im Hause der Baronin begegnet wäre, würde sie kaum erkannt haben.
Das Fräulein vom Hause, Juliane oder Liane, wie ihre Mutter, eine große Jean-Paulistin, sie nannte, hatte Gretchen ein abgelegtes Morgenkleid geschenkt. Die Kammerjungfer hatte sie gelehrt, die Haare, die sie früher in einem festgeflochtenen Kranz mit einem hohen Hornkamme oben auf dem Haupt befestigte, tief im Nacken, wie es Mode war, aufzunesteln. Ein kleines Seidentüchelchen, eine Foulardschürze, alles Geschenke Lianens, vollendeten den zierlichen Anzug der kleinen Bäuerin.
Nur die plumpen lauterbacher Schuhe – von denen sie freilich keinen dort verloren, wie es im Volksliede heißt –, nur die saßen noch an Gretchen's Füßen und machten einen plebejischen Lärm in den aristokratischen Räumen; denn wir müssen es mit Bedauern gestehen, Niemand im Hause hatte so große Füße, wie Gretchen – da konnte ihr Niemand helfen, als der Schuster, und der ließ auf sich warten. Liane war zwar ein paar Finger breit höher, als ihre junge Magd, aber ihre schmalen Schuhe konnten nicht die ungepreßten, arbeitgewöhnten Füße der Bäuerin in sich aufnehmen. Lianens Füßchen waren, wie ihre ganze Person, schmal und zierlich. Die übrigen Hausgenossen gehörten alle der kleinen Menschenrasse an; selbst Frau von Pahlen war klein und dick; nur die beiden schönen, blühenden Jungfrauen, Herrin und Magd, waren groß und schlank und schön, jede in ihrer Art. Liane war blond, Gretchen brunet. Man konnte nichts Besseres thun, um ein Bild von Anmuth zu sehn, als einen Blick in Lianens Psyche werfen, wenn sie davor saß und sich von Gretchen frisiren ließ, die sich merkwürdigerweise in ein paar Wochen zu des Fräuleins Zofe aufgeschwungen. Gretchen war so gewandt und anstellig, so fleißig und willig, so heiter und demüthig, daß Liane eine förmliche Zuneigung zu ihr faßte und von Niemandem anders mehr als von ihr bedient sein wollte. Mochte die Mutter ihr auch noch so oft vorstellen, daß Gretchen's Hände, die Haus und Gange und Zimmer scheuern und alle grobe Arbeit verrichten müßten, nicht geeignet seien, ein seidenes Kleid zuzuschnüren, daß Lisette, die vom Hoffriseur für vieles Geld unterrichtete Lisette besser die Haare flechten könne, als die Bäuerin, die nie »einen anständigen Kopf unter den Händen gehabt« – es half nichts. Lisette durfte nicht mehr das Schlafzimmer ihrer jungen verzogenen Herrin betreten, und Gretchen mußte Alles dort besorgen, was sie freilich mit dem größten Stolze erfüllte. Welche Mühe gab sie sich, Lianens Haar, das wie hundert Goldwellen am Boden tanzte, wenn sie saß, sorgfältig zu kämmen und zu flechten – und das gelang ihr, wie ihr Alles gelang!
»Ist es so recht?« fragte sie, indem sie eine der dicken Flechten aufsteckte.
»Ja, Gretchen, nur immer so fort. Es ist schade«, sagte Liane mit einem tiefen Seufzer, »daß ich nicht heirathe; um deinetwillen wäre es mir lieb – ich hätte dich dann zu meiner Kammerjungfer gemacht, und du hättest es sehr gut bei mir haben sollen.«
»Warum wollen Sie denn nicht heirathen, gnädiges Fräulein?«
»Das geht nicht, aus vielen Gründen. Erstens kann die Mama nicht sein ohne mich; sie ist immer verdrießlich, wenn ich nicht bei ihr bin; und dann, siehst du, dann mag ich nicht heirathen, die Männer sind mir so zuwider! Ich bin zwar erst sechzehn Jahre alt, aber ich weiß schon gewiß, daß ich nie, nie heirathen werde. O, wie ärgere ich mich über die Männer; sie glauben, sie brauchen nur die Hand auszustrecken, so hängt an jedem Finger ein Mädchen! Ich will ihnen zeigen, daß man ohne sie leben kann, und alle meine Freundinnen wollen es so machen wie ich, keine will heirathen – denk dir, wie schön! Du darfst auch nicht heirathen, Gretchen.«
Gretchen schwieg.
»Gretchen, du schweigst. Um Gottes willen, du wirst doch nicht einen so abscheulichen Gedanken haben, du wirst doch nicht heirathen wollen?«
»Ja, bis jetzt habe ich es immer so gemeint, gnädiges Fräulein.«
»I, warum denn? Weißt du denn am Ende schon gar Einen, den du möchtest?«
»Bewahre!« lachte Gretchen. »Aber ich dachte immer wenn ich in der Jugend tüchtig gearbeitet und mir etwas gespart hätte, wollte ich mit fünf- bis sechsundzwanzig Jahren einen braven Handwerksmann heirathen und dem seine Wirthschaft fleißig versorgen, damit ich ein Haus hätte, wenn ich alt würde.«
»Du bleibst bei mir, und wenn du alt bist, will ich schon für dich sorgen; dann werde ich auch bald alt sein – du bist zwar zwei volle Jahre älter als ich, schon achtzehn Jahre alt!«
»Nein, nein, ich will mich im Alter nicht um Gottes willen versorgen lassen. Sie Fräulein können es mit dem Heirathen halten, wie Sie wollen, Sie können von Ihrem Gelde leben; aber ich – so wie ich jetzt dienen muß, muß ich später mich gut zu verheirathen suchen; das nennt man bei uns Leuten eine Versorgung.«
»Pfui Tausend, Gretchen!«
Ein paar Tage schmollte Liane förmlich mit Gretchen; aber dann konnte ihre gute, liebevolle Natur es nicht aushalten, und die alte Freundlichkeit brach wieder hervor; überdies hoffte sie, dem Mädchen die dummen Heirathsgedanken auszutreiben.
*
Drei Jahre war Gretchen im Hause der Baronin und war zur Kammerjungfer avancirt. Lisette hatte ihren Abschied begehrt und sich mit einem Goldschmiede vermählt, und Frau von Pahlen hatte auf die Bitten ihrer Tochter Gretchen in ihre Stelle rücken lassen, da dieselbe ohnedies mit größter Gewandtheit alle Handgriffe der Toilette der erfahrenen Kammerzofe abgelernt; Frau von Pahlen wäre auch mit dem Tausche vollkommen zufrieden gewesen, wenn nicht Lianens »Familiarität« mit der Jungfer ihr täglich mehr ein Gräuel geworden. Als Gretchen eintrat, betrachtete sie ihre Tochter noch als ein Kind, aber jetzt – für ein neunzehnjähriges Fräulein schickte sich dieses vertrauliche Benehmen mit einem Dienstboten wahrhaftig nicht. Durch ihr Schelten darüber erreichte sie aber weiter nichts, als daß Liane ihre Unterhaltungen mit Gretchen heimlich Morgens und Abends in ihrem Zimmer führte, wodurch die Sache natürlich noch mehr Reiz bekam.
Das Fräulein und die Zofe hatten sich auffallend entwickelt und verändert in dieser Zeit. Gretchen hatte durch den Umgang mit dem vornehmen Mädchen unwillkürlich eine Geistesbildung erhalten, die, wenn sie auch oberflächlich war, sie doch weit über alle ihre dienenden Genossinnen stellte. Liane hingegen hatte durch den Gedankenaustausch mit dem ganz unverdorbenen Landmädchen, das im hohen Grade Das besaß, was man gesunden Menschenverstand nennt, und was bei der Erziehung einer jungen, vornehmen Dame nur vertilgt, aber wahrhaftig nicht erweckt wird, auch ein köstliches Gut gewonnen. Hundert Dinge, über die sie früher die verkehrtesten Ansichten gehabt, gewannen durch Gretchen's reine Naturbeleuchtung mit einem male erst das rechte Licht. Besonders bildete sich in Lianen dadurch Etwas aus, dessen heiliger Name so oft misbraucht wird, echte Humanität; dabei war sie ein geistreiches, originelles, bedeutendes Mädchen, die trotz ihrer Jugend bald eine Art Autorität in ihrer Gesellschaft wurde. Dieses Ansehn tröstete ihre Mutter über ihr Aussehn; denn wir müssen es mit Bedauern gestehen, obgleich Liane ihren schönen Teint, ihre regelmäßigen Züge, ihr volles Haar noch besaß, so war sie doch unbegreiflicherweise, wie Frau von Pahlen versicherte – denn es lag nicht in der Familie –, Das geworden, was man bei den Leuten »etwas stark« nennt, außerhalb ihres Hörkreises aber mit dem fürchterlichen Worte »dick« belegt. Sie hieß – wer kann sich nun noch für sie interessiren? – sie hieß: die dicke Pahlen, zum Unterschied von einer magern Cousine. Und das war Liane, die vor drei Jahren noch so aristokratisch schmal gewesen – jetzt hatte sogar Gretchen eine Taille, die volle vier Finger breit schmäler war!
Liane lachte über den Kummer ihrer eitlen Mutter: »Besser, als wenn ich auszehrend wäre! Hast du nicht noch gestern gehört, wie der fremde Prinz im Theater laut sagte, daß man es beinahe in den Logen hörte: ›Was hat Fräulein von Pahlen für einen schönen Kopf!‹ Was willst du mehr, Mütterchen?«
Frau von Pahlen bemerkte nicht Lianens Ironie und schwieg für heute, um morgen das Embonpoint ihrer Tochter aufs neue zu beklagen.
Gretchen hingegen sagte: »Bei uns, Fräulein, würde Jeder, der Sie sähe, sagen: das ist ein Staatsmädel!«
Liane lachte sie auch aus und dachte an andere Dinge.
Eines Morgens trat Gretchen blaß bei ihrer jungen Herrin ein. Ihre Augen waren roth geweint.
»Was ist dir – was hast du?«
»Ich weiß nicht wie ich es bei Ihnen anbringen soll; besser, ich sage es auf einmal. Ich will heirathen.«
»Gretchen, bist du toll? Ich hielt dich für so gründlich geheilt!«
Denn ihre Ehescheu hatte Liane in vollem Flor erhalten; sie gefiel den Männern, die Männer gefielen ihr – aber zum Heirathen keiner, und mehre Körbe hatte schon ihr sonst so freundlicher Mund ertheilt. Und nun wollte ihr treues Gretchen sich an einen »dieses Geschlechtes« ausliefern!
Aber Gretchen war es Ernst, und sie erzählte jetzt, wie Alles gekommen.
»Der Mann, den ich heirathen will, ist der Portier des Grafen Rechtern da drüben.«
»Was! der mit dem glattgekämmten Haar? Geh, der ist ja kein Bischen hübsch, und jung ist er auch nicht mehr.«
»Eben deswegen gibt es einen braven Mann, gnädiges Fräulein. Unser einer kann nicht wie die Vornehmen Jemanden nehmen, weil er jung und hübsch ist. Ueberdies hat Anton Vermögen. Er hat ein älterliches Haus, das ihm gehört und ungefähr fünfhundert Gulden werth ist, dann hat er sich zweihundert Gulden von seinem Lohne erspart, das macht ja siebenhundert Gulden!«
Liane lachte hell auf. »Und das nennst du ein Vermögen! So viel kann ich dir schenken ohne die Mama zu fragen. Papa hat mir jährlich achthundert Gulden Toilettengeld ausgesetzt; da bleibst du besser bei mir; ich spare dann ein paar Jahre, kleide mich einfach, das hält Jedermann nur für eine liebenswürdige Laune, und du bist dann reicher allein, als mit deinem Anton. Wahrhaftig, ich will es auf deinen Namen in der Sparcasse anlegen. Thu das, Gretchen, schlag dir den Anton aus dem Sinne!«
»Ich habe es gut überlegt. Anton bekommt eine Stelle als Grenzaufseher, denn der Graf duldet keine verheiratheten Bedienten.«
»Ach, dieser Graf, der sollte froh sein, wenn eine Frau seine langweilige Nähe erträgt, wenn es auch nur die Frau seines Portiers ist. Aber so sind diese Männer!«
»Er hat dann ein gutes Gehalt, vierundzwanzig Gulden den Monat und freie Heizung. Er läßt sich dahin versetzen, wo er zu Hause ist, wir haben dort freie Wohnung, ich wasche und bügele für seine Kameraden – und das geht prächtig.«
»Gretchen, du mußt mir jetzt die Wahrheit sagen, aber die reine Wahrheit, wie ich sie immer von dir gewohnt bin.«
»Ich werde wahr sein wie immer.«
»Hast du den Anton lieber als mich?«
Gretchen sah das Fräulein einen Augenblick überrascht an, dann sagte sie langsam und bestimmt: »Nein. Denn wenn ich mir denke, Sie Beiden, Sie und der Anton, lägen im Wasser, und ich könnte nur Einen retten, so würde ich Ihnen die Hand geben und den Anton in Gottes Namen ertrinken lassen. Aber dennoch verlasse ich Sie, so lieb ich Sie habe, und heirathe den Anton.«
»Aber warum denn?«
»Erstens will ich keine alte Jungfer werden, zweitens nie Jemandem zur Last fallen. Drittens machte es mir viel Spaß, ein eigenes Hauswesen zu haben. Viertens …« Eine dunkle Röthe bedeckte die reine Stirn Gretchen's. Liane sah sie durchdringend an.
»Viertens, Gretchen, nun, viertens?«
»Ich habe Kinder so lieb!« – Dabei verhüllte sie mit der Schürze ihr purpurnes Antlitz. Liane aber hatte eine Thräne im Auge.
»Der vierte Grund, Gretchen, ist der einzige Grund, den ich gelten lasse. So heirathe denn in Gottes Namen. Wenn du aber einmal zwei Kinder hast, dann schenke mir eines; nicht wahr, Gretchen, du schenkst mir eines?«
Gretchen schwieg einen Augenblick, dann sah ihr gesunder Sinn mit einem male das Komische von Lianens Begehren an sie ein, und sie brach in helles Lachen aus; Liane lachte mit, und Gretchen war Braut.
Anton war im ganzen Sinne des Wortes ein braver Mensch. Er hatte zwölf Jahr als Militär gedient und keine einzige Strafe erlitten; was ihm aber hauptsächlich die Gunst des schönen Gretchen's eingebracht, war, daß sie nie einen rohen Spaß und eine gemeine Aeußerung von ihm gehört; das kam daher, weil er, wie er selbst sich ausdrückte, »was auf sich hielt«. Gretchen gab ihm das glänzende Zeugniß, daß er sich viel anständiger betrage als sein Herr.
Anton war glückselig über die schöne Braut und führte sie am nächsten Sonntage wie ein König am Arme spazieren; aber mit der eigenthümlichen Würde, die ältern gedienten Soldaten eigen ist, gab er seine Freude und sein bräutliches Glück Niemandem laut zu erkennen. Er nannte Gretchen »Sie« und »Jungfer Braut«. Da sie nicht in ihn verliebt war und ihn nur aus Vernunftgründen heirathete, so gefiel ihr diese Zurückhaltung außerordentlich, und sie wußte ihm förmlich Dank dafür. Als sie einmal im Kaffeehause vor dem Thor, wo er sie mit Wein und Kuchen regalirte, laut lachte, wie es ihre Gewohnheit war, sagte Anton: »Jungfer Braut, lachen Sie gefälligst nicht so laut, die Leute sehen nach uns.«
Anstatt sich darüber zu ärgern, sah ihn Gretchen dankbar an – es freute sie, einen Mann zu bekommen, der so viel auf äußern Anstand hielt; er machte ihr dadurch einen vornehmen Eindruck; sagte doch Frau von Pahlen immer dasselbe zu ihrer Tochter.
Drei Monate darauf heirathete Gretchen. Zehn Meilen von der Residenz war ihr neuer Wohnort. Liane bezahlte einen Hauderer, der sie mit ihrem Manne hinbrachte; denn ihr liebes Gretchen sollte die Hochzeitsreise nicht im Stellwagen machen. Gretchen's Myrtenkranz, den sie ihr zur Trauung selbst eingeflochten, behielt sie zum Andenken und schied mit vielen Thränen von der dienstbaren Freundin; selbst Anton gab sie die Hand. Er küßte aber mit vielem Anstand die Fingerspitzen und versetzte gravitätisch: »Seien Sie tausend mal bedankt, gnädiges Fräulein, für die meiner Jungfer Braut – wollte sagen Jungfer Frau – erwiesene Gnade und Leutseligkeit!«
*
Einige Wochen darauf besuchte Liane ihre ehemalige Kammerfrau. Es war ein Abschiedsbesuch, denn das Fräulein hatte endlich ihre Mutter bewogen, mit ihr zu reisen und sie auf einige Zeit nach Italien zu bringen.
Liane war entzückt von Gretchen's kleinem reinlichem Hause, dessen innere und äußere Wände Anton mit bewundernswürdigem Dilettantismus selbst angepinselt. Das Häuschen enthielt freilich nichts, als im untern Stockwerk Stube, Kammer und Küche, und im zweiten dasselbe. Die Thüren, die Treppen waren beinahe undurchdringlich eng, die Decken konnte Liane mit der Hand erreichen; aber sie fand doch Alles allerliebst, denn Alles glänzte und gleißte von Reinlichkeit und Nettigkeit, und sie erklärte Gretchen, sie werde, sobald sie von Italien zurück und die Mama irgendwo in der Nähe auf einem Landsitze gut untergebracht sei, auf ein paar Wochen herauskommen und oben die Zimmer bewohnen. Vor dem Hause war ein Blumengärtchen, dahinter ein Gemüsegarten und ein Weinberg, alles unbegreiflich klein, wie es in der Wohnung der sieben Zwerge Schneewittchen fand – aber in den Augen Gretchen's waren es Besitztümer, um die sie jeder König beneiden mußte. Ein Hauptreiz der jungen Frau war überhaupt die ihr angeborne Heiterkeit und Genügsamkeit; ihre Erscheinung fiel wie ein Sonnenstrahl in jedes Menschen Leben, und der mismuthigste Mensch mußte bei ihr seiner Natur untreu werden. Das sagte ihr heute Liane, aber Gretchen sah sie verwunderungsvoll an und fragte: »Warum soll ich denn nicht zufrieden sein? Ich bin ja das glücklichste Menschenkind auf Gottes Erdboden. Ich habe einen guten, braven Mann, der mir kein hartes Wort sagt, ein schönes neues Haus, liebe Freunde und ein reichliches Auskommen, vortreffliche Gesundheit und vor Allem – sie streckte nach Liane die Hand aus – die Theilnahme meines lieben gnädigen Fräuleins, die mich behandelt wie ihres Gleichen, wie eine Schwester – was ihr Gott vergelten möge, indem er sie ebenso glücklich macht, wie ich es bin.«
Liane schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe deinen Sinn nicht, und also ist auch dein Glück für mich keines. Laß mich, wie ich bin; ich bin ja auch heiter, wenn auch in anderer Weise wie du. Dein Glück kommt aus dir und spiegelt Alles, was dich umgibt und dir gehört, auf solche Weise, daß du glaubst, es käme von außen, und so Das, womit du Andere beschenkst, als eine fremde, unverdiente Gabe wieder in dir aufnimmst. Mein Glück muß mir von außen kommen, ich muß geistreiche Menschen sprechen hören, in einer reichen Natur schwelgen, ein gutes Buch lesen, schöne Musik hören; dann bin ich aufgeregt, und in dieser Aufregung glauben die Menschen eine Fülle innern Reichthums zu erkennen. Sie täuschen sich aber, ich bin nicht genial, nicht geistreich, nicht erfinderisch – ich bin nur empfänglich.«
Die junge Frau des Grenzwächters hatte der gebildeten Dame aufmerksam zugehört, so aufmerksam, daß eine tiefe Falte sich auf ihre sonst so glatte Stirn gelegt. Sie hatte Lianen vollkommen verstanden; wo ihr Kopf nicht ausreichte, hatte ihr überreiches Herz nachgeholfen.
»Sie thun sich selbst Unrecht, gnädiges Fräulein«, sagte sie ernst, indem sie leise und wie in ehrfurchtvoller Liebe Lianens seidenen Aermel berührte. »Ich kenne Sie besser, als Sie sich selbst kennen. Ihr Herz verlangt Zweierlei, und weil ihm das nicht gewährt wird, ja, streng versagt bleibt, so wird ihm mit andern Dingen der Mund geschlossen und ihm weisgemacht, diese seien ihm Bedürfniß.«
»Was sind denn die zwei Dinge, die meine Seele verlangt?« fragte gespannt Liane.
»Zu leiden und zu lieben.«
»Dummes Zeug!«
»Nein, nein, ich muß Ihnen jetzt die volle Wahrheit sagen, sonst drückt sie mir das Herz ab. Seit drei Jahren denke ich nur an Sie. Wenn Sie Nachts auf dem Balle waren und ich zu Hause bis zwei, drei Uhr aufsaß, um Sie zu erwarten, habe ich mich bei meinem Strickstrumpf nur mit Ihnen beschäftigt und da habe ich so lange gegrübelt, bis Sie mir klar wie ein Krystall geworden. Sie werden sich erinnern, hundert mal mir gesagt zu haben: ›Gretchen, ich möchte etwas recht Großes thun, so eine Pilgerfahrt nach dem Heiligen Grabe‹. Oder wenn Sie ein ander mal sagten: ›Schade, daß wir beide protestantisch sind, wir könnten sonst Barmherzige Schwestern werden‹; oder auch wieder: ›Wenn meine Mutter nicht wäre, ich würde Vorsteherin einer Kleinkinder-Bewahranstalt und sorgte für die armen Kleinen.‹ Ich habe mir nie gewünscht, für Andere zu leiden, im Gegentheil, ich wünschte mir eine glückliche eigene Existenz und darum habe ich auch geheirathet.«
»Nun gut, du hast mir jetzt bewiesen, daß ich zu leiden wünsche; beweise mir auch, daß ich je zu lieben gewünscht!«
»O, das ist bald geschehen. Wie oft haben Sie nicht gesagt: ›Wenn ich doch eine Schwester hätte, oder wenn mir doch Jemand sein Kind zur Pflege anvertrauen wollte – wie würde ich das lieben! O, so lieben können ohne Rückhalt, so fürs ganze Leben, das muß himmlisch sein!‹«
»Gretchen, Gretchen! wir sind ganz verschiedener Meinung. Unter deinem ›Lieben‹ verstand ich etwas ganz Anderes. Jene Liebe, die du meinst, damit hast du vollkommen Recht. Aber das ist etwas ganz Natürliches. Jeder nicht ganz verhärtete Mensch würde in meiner einsamen Stellung sich ein Wesen herbeisehnen, das er lieben könne mit voller Seele, eine Freundin oder ein Kind – was ist daran so Merkwürdiges?«
»Merkwürdig ist es auch nicht, nur natürlich, obgleich mich dies Verlangen nie unglücklich gemacht hat. Mein Herz wünscht zu lieben, und so liebe ich denn, so viel es geht: Sie, Anton, unsere Freunde; und wenn sie sich alle nicht von mir lieben lassen wollten, würde ich das erste beste Bettelkind und meine Vögel, meine Hühner, meine Blumen und meine Bäume lieben und vollkommen zufrieden sein.«
Liane schwieg, dann summte sie leise Diefenbach's schönes Lied vor sich hin:
»Lieb' ist nur Glück und wird es ewig sein,
Blieb' auch mit ihr ein treues Herz allein.«
Plötzlich aber lachte sie und sagte: »Du hast mich mit deinen Reden so verstrickt, daß ich ganz vergessen habe, deine Behauptung zu widerlegen, daß ich mich nämlich nicht mehr wie jedes Kind, das eine Puppe begehrt, nach Liebe sehne und nach Leiden gar nicht. Du hast durchaus Unrecht. Und es ist so wie ich sage. Ich brauche viele Menschen, viele Natur, viele Musik und viele Bücher zu meinem Glücke, dann fehlt mir nichts.«
»Glauben Sie mir, Fräulein, wenn Sie einmal ein Herz finden – aber damit es Ihnen der Mühe werth dünke, muß dieses Herz in einem dreifachen Kasten verschlossen sein, denn was so in Ihrem Wege liegt, beachten Sie nicht –, dann werden Sie weder Menschen noch Natur, weder Musik noch Bücher mehr verlangen; im Gegentheil, Sie werden dann alles Andere verachten.«
»Sollte ich mich vielleicht doch in Anton geirrt haben?« sagte Liane halblaut zu sich, denn sie glaubte, eine leidenschaftliche Liebe hätte Gretchen's Ansichten diese Färbung gegeben. Gretchen aber hörte ihre Worte und sagte heiter: »Nein, nein, Sie haben sich in Niemandem geirrt, als in sich selbst.«
Bald darauf fuhr Liane weg; aber noch aus dem Wagen rief sie Gretchen nach: »Du bist ganz im Irrthum, ganz und gar im Irrthum.«
Als Anton nach Hause kam, war er verwundert, Gretchen nicht wie immer am Küchenfeuer zu finden; sie saß in der Stube am Fenster bei tiefer Dämmerung und stützte das Haupt auf ihre hübschgeformten, aber rauhen Hände. Bei seinem Eintritte sprang sie auf.
»Bist du schon da, Anton? Ach, und ich habe noch nichts fürs Nachtessen gerichtet. Verzeih, aber das Fräulein war heute zum Abschiedsbesuche bei mir, und da habe ich eben noch immer daran gedacht. Für uns Leute schickt sich aber das Nachdenken nicht, wir versäumen darüber das Nöthige – aber gleich soll's fertig sein.«
Und sie schoß eilfertig zur Thür hinaus. Anton lächelte und rief ihr nach: »Es thut ja nichts, Gretchen, bin ohnedies so erhitzt, daß es mir gesunder ist, erst ein Bischen zu ruhen; übereile dich ja nicht, Kind!«
Gretchen fegte aber wie eine kleine Hexe im Häuschen herum. In drei Secunden stand eine brennende Kerze auf glänzendem Messingleuchter vor Anton, und zehn Minuten später Teller und Gläser und Brot und Bier, und ehe eine halbe Stunde verging, ein gutes, tüchtiges Nachtessen, das für den müden, fleißigen Anton sich schickte und dem er auch alle mögliche Ehre erzeigte. Gretchen saß ihm gegenüber, ohne zu essen – seitdem die Arbeit fertig, war sie wieder in Gedanken versunken – sie war wie zweierlei Wesen – Niemand würde in der flinken Arbeiterin die kluge, sinnige Frau, Niemand in der so träumerisch Dasitzenden die eben noch so rührige Köchin erkannt haben. Das träumerische Wesen verschwand aber glücklicherweise für Anton nach einigen Tagen.
*
Sechs Jahre sind vorüber gegangen; Gretchen ist Witwe und muß vier Kinder ernähren; Liane aber ist mit ihrer Mutter noch immer wieder nicht von Rom zurückgekehrt und hat auch nicht ihrer ehemaligen Kammerjungfer geschrieben. Gretchen würde es recht schlecht gehen, wenn sie nicht die fleißige, praktische Frau wäre, als welche wir sie kennen. Sie hat einen kleinen Laden angelegt, da sie wegen der Pflege ihrer vier Kinder nicht durch feine Arbeit etwas verdienen konnte; der ganze kleine Ort kauft Kaffee und Zucker am liebsten bei ihr, denn der einzige andere Kaufmann war ein Trunkenbold und beinahe nie zu Hause, sodaß die armen Leute ihn oft, um ihr sauer erspartes Geld an ihn los zu werden, aus dem Wirthshause holen mußten. Gretchen war immer da, und wenn sie in der Küche beschäftigt war, saß ihr ältestes Töchterlein, das fünfjährige Sannchen, auf dem Schemel in der Kammer, die jetzt zum Magazin umgestaltet worden, indem Gretchen eine Thüre brechen lassen, die direct durch das Blumengärtchen in die Straße führte. Sannchen rief dann mit heller Stimme nach der Mutter, sobald Jemand in den Laden trat, und wenn sie kam, freute Jeder sich an ihrem Anblick, denn Gretchen war trotz ihrer siebenundzwanzig Jahre noch eine außerordentlich hübsche Frau.
An dem Tage, an welchem wir den Faden unserer Erzählung wieder aufnehmen, saß sie vor ihrer Thür auf der Bank und putzte Salat für das Abendessen. Sannchen war neben ihr beschäftigt, Düten zu kleistern, was sie aber nur bewerkstelligen konnte, indem sie ihr ganzes rundes Gesichtchen und ihre weiße Schürze mit einer viel größern Portion Kleister bedeckte, als das eigentlich dazu berechtigte Papier. Aber sie war ungeheuer ernst und stolz – war es doch das erste mal, daß ihr die Mutter diese Staatsaction nach unsäglichem Bitten überließ. Die beiden Buben waren damit beschäftigt, das jüngste Kind, ihre zweijährige Schwester, zum Kutscher zu dressiren, indem sie als Pferde agirten; aber die Kleine konnte zu ihrem größten Verdrusse das Halten der Zügel, sowie das Schwingen der Peitsche nie mit dem gehörigen Effect der Bauern ausführen, und die Rosse mußten sich immer wieder von neuem ausspannen, um dem Kutscher die unentbehrlichen Handgriffe beizubringen.
Gretchen sah mit stiller Freude abwechselnd auf ihre vier blühenden Kinder. Da knarrte die Hausthür hinter ihr, sie wandte den Kopf, und ein freundliches »Guten Abend, Herr Eberhard!« tönte aus ihrem frischen Munde.
»Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen, Frau Berg? Ich habe gemalt bis jetzt und bin der Ruhe und der frischen Luft bedürftig, wie ein eingesperrter Hänfling.«
Gretchen neigte anmuthig ihr Haupt und sprang ins Haus, um drinnen einen Stuhl zu holen.
Der junge Mann wollte sie zurückhalten. »Es ist ja Platz für uns Beide auf der Bank –« aber sie enteilte ihm.
Es war ein auffallend hübscher Mann, ein junger Maler, der seit einigen Wochen Gretchen's beide Oberstübchen bewohnte, um von hier aus Streifzüge in die reizende Umgegend zu machen und für den Winter eine skizzengefüllte Mappe heimzubringen.
Der Maler lehnte zurück auf seinem Stuhl und sah die junge Witwe aufmerksam an. Sie fühlte das und erröthete. Ihr Rothwerden bemerkte Eberhard natürlich auch, und ebenso gut errieth er dessen Ursache.
»Wie Sie so jung aussehen, Frau Berg!« sagte er lächelnd. »Niemand wird glauben, daß Sie die Mutter dieser vier Kinder sind.«
Gretchen wurde noch röther.
Eberhard aber, mit jener echt männlichen etwas grausamen Neigung zum Necken begabt, fuhr unbarmherzig fort: »Daß Sie noch so feuerroth werden können! Aber es gefällt und trägt besonders dazu bei, Sie so jung erscheinen zu lassen.«
»Reden Sie doch lieber von den Kindern – da höre ich Ihnen so gern zu«, sagte Gretchen, indem sie die abgeschälten Salatblätter zusammenraffte und sich zum Gehen erhob.
»Gut, bleiben Sie nur, so will ich von den Kindern reden und Ihnen zum hundertsten male wiederholen, daß Sie eine glückliche Mutter sind, vier so gesunde, schöne Kinder zu haben.«
Gretchen hatte sich wieder gesetzt. »Es ist wahr, und es ist doch recht schade, daß die Kinder von ihrem Vater nicht mehr gesehen werden können; er hätte große Freude an ihnen.«
»Woran starb Ihr Mann?«
»Ach, das ist eine traurige Geschichte!« sagte Gretchen mit plötzlich umdüsterter Stirn. »Vor vierzehn Tagen war es gerade ein Jahr – ich saß so wie heute und putzte Salat; die kleine Marie lag auf dem Grase bei mir. Da sah ich vom Walde her einen Trupp Leute kommen; in der Mitte war eine Bahre, worauf ein Mann lag, der beinahe ganz mit einem Grenzwächter-Mantel bedeckt war. Das konnte ich aber erst sehen, als sie schon ganz nahe waren. Du lieber Gott, es war mein armer Mann, den sie mir halbtodt nach Hause brachten! Die Schmuggler, denen er allein in den Weg getreten, hatten ihm eine Kugel durch die Brust geschossen. Seine Kameraden konnten nichts Anderes, als ihn zu mir bringen. Er sprach nicht mehr, aber er kam noch zu voller Besinnung, gab mir die Hand, winkte den Kindern zu …! Er starb um Mitternacht; ich war allein bei ihm, denn der Chirurg war nach Hause gegangen, weil er doch nicht mehr helfen konnte. Seine Kameraden hatte ich beredet, oben in Ihrem Zimmer ein wenig zu ruhen; denn sie waren müde, sie hatten zu Vieren den schweren Mann abwechselnd zwei Stunden Wegs getragen. – Möge Sie der Himmel behüten, lieber Herr Eberhard, je dabei zu sein, wenn eines gesunden Menschen Seele sich in ihrer Kraft von dem Körper trennen und Weib und Kinder hülflos zurücklassen muß – der arme, arme Anton – ich mochte ihm zureden so viel ich wollte, er fand keinen Trost! Ich bat ihn, sich auf mich zu verlassen, ich werde gewiß die Kinder brav erziehen und der Himmel werde mir auch beistehen und mir eingeben, wie ich uns Alle ernähren könne – er aber schüttelte immer nur traurig den Kopf, bis ein heftiger Krampf ihn faßte und seinem Leben und seinen Sorgen zusammen ein Ende machte.«
»War er ein junger Mann?«
»Nein, er war funfzehn Jahre älter als ich, aber er sah gut und gesund aus; hübsch war er in seinem Leben nicht gewesen, wie er mir selbst oft sagte, – aber ein guter, braver Mann, das hätte ihm sein Feind nachsagen müssen, wenn er einen gehabt hätte.«
»Arme Frau!«
»Ich bin doch nicht so beklagenswerth, als Sie vielleicht glauben, Herr Eberhard! Nach dem Tode Anton's besann ich mich, was ich anzufangen habe, um mich und meine vier Kinder zu erhalten; denn ich besaß nichts als dies Haus und hundert Gulden in der Sparkasse. Ich beschloß, einen Laden anzulegen, und hatte bald Kunden genug; von den hundert Gulden hatte ich die Einrichtung und die ersten Einkäufe für den Laden besorgt. Mein Weinberg, den Anton im letzten Jahre durch einen vortheilhaften Kauf vergrößert, beinahe um das Vierfache, hat mir vorigen Herbst ein hübsches Capital in den Keller gelegt – für meinen Wein sind mir schon über hundert Gulden geboten worden, aber ich gebe ihn nicht. Aus dem Gemüsegarten schicke ich Spargel nach der Stadt, die mir gut bezahlt werden. Kurz, ich stehe mich recht gut und brauche nicht mein Einkommen – und ich bin froh, daß es meinen Kindern nun an nichts fehlen wird, wenn sie auch vaterlos sind.«
Eberhard machte sich im Innern Vorwürfe, daß er so wenig Miethe für seine Zimmer zahlte; er hätte gern von seinem Wenigen das kleine Gut der Witwe vermehrt.
Gretchen gefiel ihm außerordentlich, er hatte nie ein weibliches Wesen ihrer Art gesehen. Alle Frauen der untern Classen, die er bis jetzt hatte kennen lernen, besaßen nicht ihre moralische Kraft, ihre Charakterstärke, ihre ruhige Heiterkeit und vor Allem ihr gebildetes, anständiges Benehmen. Nie noch hatte ihn ein Wort aus ihrem Munde verletzt. Als er ihr einmal ein Compliment machte über ihre reine Aussprache und ihre gute Art, sich auszudrücken, hatte sie ihm freilich einen Theil des Räthsels gelöst, indem sie ihm erzählte, sie verdanke das Alles ihrer frühern Herrschaft, dem Fräulein Liane, die sich so viel mit ihr beschäftigt. Das erklärte ihm wol ihr äußeres Benehmen, aber ihre übrigen guten Eigenschaften waren doch nur ihr Verdienst; das sagte er ihr auch, aber Gretchen wies lachend diese Behauptung zurück, indem sie erklärte, sie habe gar keine besondern Eigenschaften; das komme ihm nur so vor, weil sie besser rede, besser sich kleide, mehr »die Einrichtung verstehe« wie außerdem ihres Gleichen.
Eberhard selbst stammte aus ziemlich beschränkten Lebensverhältnissen. Sein Vater war Hofmusikus gewesen, er hatte im Orchester des königlichen Hoftheaters die Baßgeige gespielt, wofür ihm jährlich ein Gehalt von sechshundert Gulden ausbezahlt wurde. Er hatte drei Söhne gehabt, die sämmtlich die Künstlerlaufbahn eingeschlagen. Der älteste war Schauspieler, und zwar Director einer kleinen Gesellschaft in einem ostpreußischen Städtchen. Der zweite, ein geschickter Musikus, hatte sich in Wien als Geschäftsführer einer Instrumentenhandlung anwerben lassen. Der dritte, unser Maler, der Ludwig hieß, war durch frühe Unterstützung des Landesfürsten in den Stand gesetzt, eine große Akademie der bildenden Künste zu besuchen. Er war Landschaftsmaler, aber trotz gewiß sehr bedeutendem Talent noch ohne Namen, denn seinen Bildern fehlte – die Farbe. Die vortrefflichste Zeichnung, die genialste Auffassung vermochte nicht für die leblosen Farben seiner Bilder zu entschädigen. Seine Bäume waren, statt grün, braun, seine Himmel, anstatt blau, grau, und seine Staffagen sahen eher verblichenen Gespenstern als lebenden Wesen gleich. Das hatte sogar das unkünstlerische Gretchen mit ihrem einfachen, richtigen Takte bemerkt, indem sie zu Eberhard sagte: »Warum sind Ihre Bilder alle so traurig? Malen Sie doch einmal ein lustiges, buntes Bild!«
Eberhard aber lächelte in künstlerischem Selbstgefühl und hielt Gretchen's Tadel für den Ausspruch eines ungebildeten, wilden Geschmacks, der grelle Farben liebe. – –
Vier Wochen später saß er eines Abends wieder mit Gretchen vor ihrer Thür; er hielt einen Brief in der Hand und sein Gesicht drückte freudige Aufregung aus.
»Wenn Sie wüßten, was der Brief enthält!« sagte er triumphirend.
»Nun«, lächelte Gretchen mit ihrer kindlichen Anmuth, »nun – sagen Sie mir es endlich; ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich bin zu dumm zum Rathen.«
»Er kommt aus dem Cabinet des Fürsten!«
»Sind Sie vielleicht Hofrath geworden?«
»Bewahre, bewahre! Nein. Ich will es Ihnen jetzt sagen. Dieser Brief enthält das Versprechen eines Reisegeldes nach Italien – die Erfüllung meines heißesten Wunsches!«
»Also Sie gehen fort?«
»Ja, und so bald wie möglich.«
Gretchen sagte nichts mehr, aber eine leichte Blässe machte plötzlich die Farbe von ihren schönen Wangen verschwinden. Eberhard, der sie gerade ansah, weil er eine Antwort erwartete, bemerkte es mit großem Erstaunen. Endlich sagte er: »Sie sind mit einem male so blaß – was ist Ihnen?«
»Blaß?« Und sie wandte ihre großen klaren Augen so voll nach ihm hin, als wollte sie sagen: »Verleumde nicht die Unschuld in eitler Bethörung!« und eine tiefe Röthe überzog dabei wieder ihre Stirn, ihre Wangen, sogar ihren runden Hals. Eberhard aber sah vor sich hin; eine sonderbare Beklemmung hatte ihm plötzlich den Athem genommen, es kam über ihn wie die Ahnung eines großen, nie geträumten Glücks.
Es gibt Menschen, die sechsundzwanzig Jahre alt werden, ohne je an Liebe gedacht zu haben – zu diesen gehörte Eberhard. Freilich muß ein Mann, wenn er gesund an Geist und Körper ist, dann von etwas Anderm ausschließend in Anspruch genommen worden sein; das war auch der Fall bei dem Maler: seine Kunst und das Bestreben, etwas Bedeutendes in ihr zu leisten, hatte bisher jede Fiber seines Wesens in Anspruch genommen. Der Gedanke, daß er jung und hübsch, im Frühling des Lebens sei, war ihm nur in Beziehung zu seiner Kunst gekommen. Gretchen hatte er immer aufmerksam angesehen, weil sie ihm so malerisch vorkam – ihre Kinder aus demselben Grunde. Jetzt wurde sie bleich, weil er ging!
»Sollte sie dich lieben – die Arme?« Dann sah er sie wieder an. Sie strickte, aber auch selbst das unanmuthigste aller weiblichen Geschäfte kleidete sie nicht häßlich. Mit gleichförmiger Ruhe hob sie die Maschen von den Nadeln, sie machte kein Geräusch, sie bewegte nicht maschinenmäßig ihre Hände: leicht und leise glitt die Arbeit von ihren fleißigen Fingern – sie sah nicht auf, obgleich der Maler seit einer Viertelstunde schwieg. Alles war still ringsum. Die Kinder waren bei einem Nachbar zur Pflaumenernte geladen; kein Wagen rasselte wie gewöhnlich auf der langen geraden Chaussée, nur das Flattern von ein paar scheuen Schwalben, die dicht am Boden hinflogen, störte zuweilen die leblose Stille.
»Es gibt ein Gewitter«, sagte plötzlich die Witwe – »ein Gewitter, so spät, wer hätte jetzt noch an ein Gewitter gedacht!«
»Wer hätte jetzt an ein Gewitter gedacht!« wiederholte wie träumend Eberhard.
Gretchen war aufgestanden, um ihre Kinder nach Hause zu holen. Der Donner begann schon leise zu rollen. Sie wollte eben das Haus verlassen, wo sie noch ein Umschlagetuch für das kleinste Kind geholt.
»Ich will mit Ihnen gehen, Gretchen«, sagte der Maler.
Es war das erste mal, daß er sie bei ihrem Taufnamen nannte; sie sah ihn ganz erschrocken an.
Es ist ein uralter Vergleich, der der Liebe mit einer plötzlich überhand nehmenden Feuersbrunst; es gibt aber ein für alle mal keinen bessern. Diese Erfahrung mußte wieder der arme Eberhard machen, der auch von den plötzlich überhand nehmenden Flammen da, wo er erst ganz kürzlich nur ein Fünkchen gesehen, beinahe erstickt wurde. Bei dem Gefühl seiner Liebe peinigte ihn wie alle zum ersten mal Liebenden der quälende Zweifel an Gegenliebe.
Obgleich Eberhard auch Gretchen's erste Liebe war – denn Anton hatte ihr nie diese Empfindung eingeflößt, und sie selbst hatte nur vermocht, sich dies momentan vorzuspiegeln –, dennoch hütete sie so gut ihre Blicke und Geberden, daß der Maler auch nicht die leiseste gegründete Vermuthung fassen konnte. Denn außer ihrem Erbleichen und Erröthen in seiner Gegenwart gab sie durchaus keine Empfindung für ihn kund – und »die Farbe wechseln, das ist ja nichts!« rief in seinem einsamen Zimmer Eberhard in zornigem Humor, »das ist gar nichts Besonderes heutzutage, wo so Viele die Farbe wechseln!«
Ein Tag um den andern verging, ohne daß auch nur das Mindeste sich im Zustande der beiden Liebenden änderte oder ein Wort ihr Gefühl verrieth. Nach wie vor kam am Abend Eberhard herunter und setzte sich zu Gretchen, sprach aber dann beinahe nur noch mit den Kindern, wenn er überhaupt sprach. Gewöhnlich aber sagte er nichts, dampfte seine Cigarre und ließ in langen künstlichen Kreisen den Rauch in die blaue, klare Herbstluft steigen.
Gretchen nähte oder strickte, das Gesicht tief auf ihre Arbeit gebeugt. Die Kinder tummelten sich zwischen den Beiden umher.
Eines Abends stand Gretchen's ältester Sohn vor ihr, er war erhitzt aus dem Walde gekommen, und seine Mutter legte besorgt die Hand auf seine glühende Stirn.
»Ich wollte, ich wäre wieder so alt wie dieses Kind – dann wäre Alles gut«, sagte Eberhard spöttisch; »ich wüßte dann nichts von Dingen, die mir jetzt das Leben unerträglich machen.«
Gretchen erhob ihr klares Auge verwundert zu ihm auf. »Mir ist es immer unbegreiflich«, sagte sie sanft, »wie man Unmögliches wünschen kann. Das habe ich nie verstanden! Was für mich nicht im Bereiche Dessen liegt, was geschehen kann, existirt nicht für mich.«
»Was liegt denn für Sie im Bereiche des Möglichen?«
»Sonderbare Frage!« lächelte Gretchen, aber jetzt ganz dunkelroth. »Sonderbare Frage – Alles, was geschehen kann.«
»Sie können nicht Alles wissen, was geschehen kann.«
»Wissen nicht, aber ungefähr voraussehen.«
»So«, sagte Eberhard heftig werdend bei Gretchen's klarer Ruhe, »so sehen Sie vielleicht auch voraus, daß nächstens Jemand zu Grunde geht, woran Sie allein schuld sind?«
»Herr Eberhard!« – Sie verstand ihn nicht; Eberhard sah das ein und fuhr deshalb fort: »Ja, zu Grunde geht, und Sie könnten es mit Einem Worte verhindern.«
Nun begriff ihn Gretchen. Sie wurde todtenblaß. In demselben Augenblicke schrie drinnen im Hause ihr jüngstes Kind; sie sprang auf und eilte hinein, Eberhard ihr nach und faßte auf dem dämmerigen kleinen Flur ihren Oberarm. »Gretchen, warum fliehen Sie?«
»Marie weint.«
»Sie weint nicht mehr, sie ist nun still, sie ist eingeschlafen; wecken Sie sie nicht, kommen Sie wieder mit mir ins Freie!«
Sie lehnte es entschieden ab und löste nicht trotzig, aber ernst und ruhig ihren Arm aus seiner Hand.
»Gretchen, ich verspreche Ihnen, nichts mehr zu sagen, gar nichts mehr, was Sie nicht hören mögen; kommen Sie nur wieder heraus.«
»Jetzt muß ich in die Küche gehn, aber später komme ich wieder.«
Er ließ sie los und kehrte traurig auf die Bank zurück.
Eine halbe Stunde war vergangen, und die Witwe war noch immer nicht wieder da. Eberhard ging ins Haus, die Treppe hinauf, wo er an der Küche vorbei mußte: sie war nicht darin, und die Stubenthür wagte er nicht zu öffnen. Als er schon oben auf der Treppe war, rief ihn einer der Jungen an: »Herr Eberhard, wo ist die Mutter?«
»Woher sollte ich das wissen?« entgegnete der Maler lauter und unfreundlicher als es nöthig war.
Seit diesem Abende, wo eigentlich doch nichts vorgefallen, nichts ausgesprochen worden, war das bisher so harmlos freundliche Vernehmen der beiden Liebenden entschieden gestört. Sie grollten miteinander, sie grollten, ach – und wie liebten sie sich!
Gretchen schlief keine Nacht mehr. Ihr noch so jungfräuliches, reines Herz drohte von einem plötzlichen, nie geahnten Gefühle zu zerspringen; denn Gretchen hatte wirklich nie die Liebe auch nur geahnt – sie war theils zu unschuldig, theils zu unwissend dazu. In unserer jetzigen lehrreichen Zeit kann man aus Büchern lernen, was jedes Ding ist – sogar die Liebe. Gretchen las aber keine Bücher – und das gab ihr auch in den Augen Eberhard's noch einen Reiz mehr, wie überhaupt Menschen immer Das an Andern schätzen, was ihnen selbst mangelt, und umgekehrt. Denn wir müssen es gestehn – Eberhard hatte entsetzlich viel gelesen; er hatte die Lesewuth, jene eigenthümliche Krankheit – an der gewiß auch meine Leser leiden! Seitdem er buchstabiren gelernt, verschlang er jedes Buch, ja, jedes bedruckte Blatt Papier. Er vergaß darüber Essen und Trinken, Schlafen und Spielen. Als sein Vater, dem es zu arg wurde, es ihm verbot, las er heimlich; er wurde ertappt und geprügelt und wieder ertappt und wieder geprügelt, aber er las und las, worauf er nur Hand legen konnte. Dies Lesen war der einzige Gegenstand der Unzufriedenheit seines Vaters gewesen und von diesem immer als ein Laster bezeichnet worden – so erschien ihm selbst jetzt noch, wo er doch im Mannesalter stand und nicht mehr Alles glaubte, was man ihm als Kind gesagt, ein Mensch, der nicht las, als ein höheres, reineres, besseres Wesen. Seine Bücherleidenschaft hatte sich zwar, seitdem sein Talent zum Zeichnen sich zu entwickeln begonnen, etwas abgekühlt, aber dennoch gab es Tage, wo er sich am Abend mit einem Buche in der Hand niederlegte und am Morgen aufstand, ohne die Augen geschlossen zu haben.
Gretchen, die dies an den verbrauchten Kerzen merkte, wunderte sich darüber und sagte dann naiv: »Um so eines Buches willen den Schlaf, das Beste, was wir haben, zu versäumen!«
Jetzt versäumte sie aber auch den Schlaf, und nicht einmal um eines Buches willen, wie sie sich erröthend gestand – ach nein, nur um einer thörichten Einbildung willen!
*
Was werden meine Freunde sagen? Ist sie nicht von ganz niederer Herkunft? Ich bin zwar auch kein Prinz, gehöre aber doch zum Mittelstande; aber sie, die Tochter eines armen Bauers, eines Webers! Und dann – Witwe, und dann – vier Kinder, und zwar vier Kinder eines Grenzwächters, eines ehemaligen Bedienten! Und dann – kein Vermögen und keine Bildung.«
Wol hundert mal hatte Eberhard so zu sich selbst gesprochen und immer mit den Worten schließen müssen: »Ich kann aber nicht leben ohne sie! Ich muß sie fragen!«
So ging er denn eines Morgens, nach wochenlangem Kampfe, mit zitterndem Herzen die Treppe hinab. Die Kinder waren theils in der Schule, theils im Garten. Gretchen saß in der Küche und schälte Kartoffeln. Sie war wieder blaß geworden, als er zu ihr trat.
»Ich mochte Sie gern um etwas fragen!«
»So kommen Sie gefälligst in das Zimmer, Herr Eberhard.«
»Nein, nein, bleiben Sie nur bei Ihrer Arbeit, Gretchen; ich setze mich auf den Schemel hier zu Ihnen. Ich habe heute Morgen einen Wechsel für meine italienische Reise bekommen: tausend Thaler schenkt mir unser Fürst dazu.«
»Das ist viel!«
»Ich bliebe aber jetzt lieber hier.«
»Sie haben aber doch gesagt, diese Reise würde Ihnen viel nützen, ja, sie sei sogar unentbehrlich zu Ihrer Ausbildung.«
»Das habe ich mir nur eingebildet. Ich kann hier auch noch viel lernen. Ich mache zuweilen einen Ausflug nach München. Da sehe ich gute Muster, ich studire fleißig die Natur, führe ein stilles, eingezogenes Leben; so kann ich auch zu Hause viel lernen. Diese italienische Reisenothwendigkeit ist am Ende weiter nichts, als ein Künstleraberglaube. Jemand, der Talent und Fleiß hat, kann auch in der Heimat ein guter Künstler werden, und wem diese beiden Dinge abgehn, aus dem wird auch in Rom nichts.«
»Ich verstehe es nicht, meine aber, da seit Jahrhunderten alle Künstler nach Italien pilgern oder wenigstens zu pilgern wünschen, es müßte doch etwas daran sein.«
»Das ist so rechte Frauenredensart: Weil es alle Leute thun, muß etwas daran sein! Wie viele Menschen sind das Opfer solch unsinniger Nachahmungswuth geworden! Es ist beinahe sündhaft, so etwas zu sagen.«
»Warum werden Sie denn so ärgerlich, Herr Eberhard? Ich habe es wahrhaftig nicht böse gemeint – ich habe Sie nicht beleidigen wollen.«
»Und doch haben Sie mich beleidigt – mehr als das, tief gekränkt!«
»Gekränkt?«
»Ja, weil Sie mit allen Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln mich fortschicken wollen. Fort, nur fort von Ihnen, weiter wünschen Sie nichts!«
»Herr Eberhard!«
Sie hatte Thränen im Auge, das war mehr, als der Maler gehofft, geahnt! In stürmischer Freude umfaßte er die zitternde Frau; doch nur eine Secunde lang weigerte sie sich nicht, dann aber entfloh sie ihm und weinte bitterlich.
»Warum weinen Sie, Gretchen, während Sie jubeln sollten? Wir lieben uns ja!«
»Und ist das kein Unglück?«
»Wenn sich zwei Menschen lieben, so ist das immer ein Glück, ein Glück so groß, das alles daran hangende Unglück davon überstrahlt wird. O, Gretchen!«
»Eberhard, Eberhard, was soll aus mir werden!«
»Meine – ja, meine Frau!«
»Das kann Ihr Ernst nicht sein!«
»Er ist es! Mir ist Alles gleichgültig um deinetwillen. Du bist mir lieber als Alles – durch eine Welt von Hindernissen führe ich mein Gretchen zum Altar!«
»Wenn sie Ihnen aber nun nicht folgt?«
»Gretchen!«
»Ja, ja, nicht folgt! – Was soll denn aus meinen Kindern werden?«
» Meine Kinder!«
Sie schüttelte traurig mit dem Kopfe. »Es geht nicht!«
Sie wurden gestört. Das älteste Kind kam aus der Schule nach Hause. Eberhard ging wieder auf sein Zimmer, aber immer und immer wieder tönten ihm Gretchen's letzte Worte: »Es geht nicht!« traurig im Herzen nach. Sie war ihm durch ihre Verweigerung noch zehn mal theurer geworden – Eberhard war darin ein echter Mann!
Am Abend suchte er sie wieder auf; sie war nun wieder vollkommen gesammelt.
Als er mit seinem Werben wieder in sie drang, sagte sie von neuem: »Es geht nicht! Wir haben Beide kein Vermögen, und ich muß für meine vier Kinder sorgen, sonst bin ich hier und dort verdammt.« – Er stellte ihr vor, was er alles verdienen wollte – aber sie glaubte nicht daran. Zuletzt sagte sie: »Vielleicht entsteht freilich aus meiner Verweigerung ein noch größeres Unglück. Ihnen ist das Leben verbittert, und ich könnte dann aus Jammer und Elend sterben, und meine Kinder wären dann ganz verlassen. Aber ich darf Ihnen doch nicht Gehör schenken. Zuweilen ist es mir auch, als rief eine innere Stimme: Du darfst es um seinetwillen nicht. Er ist jung und begabt, ihm steht die Welt offen; wenn du seine Frau wirst, ist sie ihm geschlossen – er wird dann aus einem Künstler ein Handwerker.«
»Gretchen, wer gab dir solchen Gedanken ein! Das kommt nicht aus dir!«
»Sie meinen, das wäre zu klug? Ach, die Liebe und das Unglück machen klug; mir ist oft, als wäre ich eine Andere geworden, als sei ein Licht in mir aufgegangen und ich könnte nun Alles sehen, wovon ich früher nichts wußte.«
Aber jemehr sie ihn zurück wies, desto dringender wurde Eberhard. »Du liebst mich nicht, Gretchen, sonst würdest du nicht so vernünftig sein.«
»Ich liebe Sie nicht? Gott verzeihe Ihnen die Sünde! Eben weil ich Sie liebe, darf ich nicht. Aber ich glaube, wenn Sie mir lange zuredeten, so würden Sie mich doch überzeugen können, daß eine Heirath mit mir zu Ihrem Besten sei; denn was der Mensch gern glaubt, darüber ist er leicht zu täuschen.«
»Gretchen, gewiß.«
»Unterbrechen Sie mich nicht, Eberhard, ich muß Ihnen jetzt Alles sagen. Also wenn auch der eine Grund meiner Weigerung beseitigt werden könnte, so gibt es auch noch einen andern, der es nie wird – meine Kinder.«
»Die habe ich ja lieb wie du.«
»Das weiß ich, und davon rede ich auch nicht. Ich rede davon, daß ich für meine Kinder sorgen muß und für Niemanden anders. So lange ich mein ganzes Dichten und Trachten auf das Wohl der Kinder wende, solange wird es mir auch gelingen, sie gut zu versorgen. Ich muß ihnen mit Aufbieten aller meiner Kräfte ihr kleines väterliches Erbtheil zusammenhalten und vermehren.«
So redete sie, aber sie überzeugte nicht den jungen Maler. Es verging wieder längere Zeit, eine Zeit der Qual und namenlosen Aufregung für Beide. Eberhard bat vergebens, und Gretchen weigerte vergebens, denn er bat immer wieder von neuem. Endlich erklärte ihm Gretchen, wenn er nicht abreise und sie aufgebe, werde sie eine alte Tante zu sich nehmen und dieser nicht mehr von der Seite gehn, um jedes Gespräch mit ihm zu vermeiden.
Nun wurde der Maler böse und fing an, seine Sachen zu packen.
Aber sonderbarerweise war das Erste, was er brauchte, ein Bindfaden, und wieder sonderbarerweise konnte er den nirgend anders bekommen, als in Gretchen's Laden. Er ging hinab, um ihn zu holen. Das kleine Sannchen saß im Laden und bewachte die Schätze des Hauses. »Rufe deine Mutter, Sannchen, ich muß Bindfaden haben.«
»Die Mutter hat Besuch. Das Fräulein aus der Stadt ist wieder da – was hat die Mutter für eine Freude gehabt!«
In demselben Augenblicke trat Liane mit Gretchen in den Laden. Der Maler verbeugte sich und wollte gehn, aber Gretchen sagte: »Bleiben Sie, Herr Eberhard, und erlauben Sie, daß ich Sie meinem lieben Fräulein vorstelle, von der ich Ihnen soviel erzählt habe. Sie ist vorige Woche aus Italien zurückgekehrt, wohin Sie ja nächste Woche gehen.«
»Sie sind sehr genau in Ihren Berichten!« sagte Eberhard, indem er eine bittere Lache aufschlug.
Liane sah den unvernünftigen Menschen verwundert und dann ihre Freundin fragend an; die hatte aber kein Auge für sie, sondern beschäftigte sich, um ein paar zerstreute Zuckerkrümchen von dem Ladentische aufzulesen.
Da Alles schwieg, sagte Liane nach einer Weile: »Wir wollen in den Garten gehn.« Eberhard folgte, obgleich ihn Niemand dazu aufgefodert. Draußen erzählte das Fräulein mit der ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit von Italien; Eberhard wurde mehr und mehr von ihren Schilderungen gefesselt, und zuletzt sagte er: »Es ist gefährlich, Ihnen zuzuhören, Fräulein; Ihre Schilderungen haben etwas Verlockendes, man muß Ihnen folgen.«
»Nun«, lachte Liane, »bei Ihnen thut das ja nichts, Sie wollten ja ohnedies hin!«
»Sagen Sie: ich sollte«, versetzte Eberhard mit einem bedeutsamen Blicke nach Gretchen.
Liane sah diesen Blick wol, aber in ihrer Unbefangenheit glaubte sie, er bedeute nichts Anderes, als ein gemeinschaftliches, unschuldiges Geheimniß der Beiden – an ein Liebesverhältniß dachte ihr Herz nicht.
Beim Weggehn foderte sie Eberhard auf, vor seiner Abreise zu ihr zu kommen, weil sie ihm einige recht gute Empfehlungen mit nach Rom geben wolle, Briefe an zuverlässige und nützliche Freunde. Eberhard sagte es mit Danksagungen zu.
Als sie weg war, fragte Gretchen ihn sogleich: »Nun was sagen Sie zu meinem Fräulein?«
»Daß ich Ihren Geschmack nicht begreife. Sie haben sie mir immer als schönes Mädchen geschildert, sie ist ja aber viel zu dick.«
»Schämen Sie sich, wenn Sie weiter nichts von ihr zu sagen wissen! Aber so sind die Männer! Laßt einen Engel auf die Erde steigen, der nur einen kleinen äußern menschlichen Fehler hat, so werden sie alle darüber schreien; die andern Eigenschaften aber, die glänzendsten Eigenschaften werden sie nicht bemerken!«
»Seien Sie nur nicht so böse, Gretchen, ich will ja zugeben, daß Ihr Fräulein ein Engel ist – das verträgt sich ja auch ganz gut mit der Wahrheit – es gibt ja Posaunenengel.«
Die junge Witwe schloß ärgerlich die Thür hinter sich zu; Eberhard aber hatte durch den kleinen Streit mit ihr wieder etwas heitere Laune gewonnen und stieg hinauf, um weiter zu packen. Er war nicht mehr so unentschlossen, er ging nicht mehr aus Groll – nein, Lianens beredter Mund hatte mit seinen reizenden Schilderungen einen Funken in sein Künstlergemüth geworfen, dessen schnell aufschießende Flamme die Sonne seiner verschmähten Liebe etwas erbleichen machte.
Zwei Tage darauf reiste er ab, reichlich mit Briefen versehen, unter andern auch mit mehren von Liane. In der Nacht, die auf seine Abreise folgte, hörte Sannchen ihre Mutter in Einem fort schluchzen – Gretchen sagte auf des Kindes besorgtes Fragen, sie habe einen so traurigen Traum gehabt.
*
In dem kleinen grau und weißen Salon, den wir als Schauplatz des ersten Debuts Gretchen's im Hause der Baronin kennen, saß einige Jahre später Liane auf derselben Stelle, wo sie damals gesessen. Der Eintretende konnte sie jetzt freilich nicht mehr für einen Engel halten, denn sie sah sehr irdisch aus – aber hübsch und anmuthig war sie noch immer. Wer auf den kindlichjungfräulichen Ausdruck ihres Gesichts nicht gerade achtete, hielt sie für eine schöne junge Frau, denn sie hatte die »imposante Fülle« ihrer Gestalt schon längst gegen die »sylphidenhafte Schlankheit« ihrer frühern Jahre eingetauscht. Sie hatte aber mit ihrem »Embonpoint«, wie Frau von Pahlen sich immer noch kummervoll ausdrückte, nicht das gewöhnliche Phlegma starker Leute bekommen. Sie war lebhaft und anregbar, wie es nur ein junges Mädchen sein kann; ihr blaues Auge wechselte beständig im Ausdruck, ihr rother Mund behielt vielleicht zu wenig seine ursprüngliche schöne Form; ihre schweren goldenen Locken, die in schöner Harmonie zu ihrer ganzen Figur paßten, umtanzten beständig ihr bewegliches Haupt, und selbst ihre weißen, runden Hände waren nicht still und ruhig – sie mußten mit den anmuthigsten Geberden die feurige Sprache ihres Mundes begleiten. Liane hatte in neuer Zeit viele Feinde bekommen: sie war den meisten Frauen ihrer Bekanntschaft zu bedeutend geworden, und das verzieh man ihr nicht! Auch hatte sie ein zu entschiedenes Urtheil, eine zu klar und unzweideutig ausgesprochene Ansicht aller Dinge – und das schickte sich nicht – sie war ja nicht einmal verheirathet – ein Fräulein und eine Meinung haben! Zuweilen unterstand sie sich sogar, witzig und satirisch sein zu wollen, wenn auch nur über Dinge, nie über Menschen; aber das schickte sich wieder nicht für ein Fräulein, und was sich am allerwenigsten für ein Fräulein schickte und woraus man ihr sogar einen Vorwurf, als sei sie coquett, machte, war, daß sie allen Männern gefiel, den jungen und den alten, den verheiratheten und den ledigen – nur aus dem einzigen Grunde, weil sie unterhaltend war und bekanntlich die Männer im Allgemeinen mehr als die Frauen von einem Uebel geplagt werden, das man Langeweile nennt; zuweilen sterben sie ja sogar daran. Das ist doch noch keiner Frau geschehen, wenn es auch viele gibt, die zeitweise an jenem Uebel leiden; aber das sind nur Frauen, die eigentlich aufgehört haben, Frauen zu sein, um Puppen zu werden.
Liane hatte sich in ihrem Leben noch nicht gelangweilt; wenn ihre ganze Umgebung auch dazu gemacht schien, sie endlich dahin zu bringen, so sprudelte ihr innerer Reichthum so üppig und erzählte ihr hundert lockende Märchen, daß sie darüber die trostlose Wirklichkeit vergaß.
Sie war in diesem Augenblicke aber nicht auf ihr Inneres verwiesen, sie führte eine lebhafte Unterhaltung; der Gegenstand war eigentlich ihr Lieblingsthema: ihr eigenes, oft so hart und ungerecht geschmähtes Geschlecht, den Männern gegenüber, zu vertheidigen, wobei sie sich in ihren Behauptungen freilich auch oft etwas zu weit gehen ließ, wie dies ja immer bei lebhaften Menschen, wenn sie streiten, so natürlich ist.
Einer der anwesenden Herren, ein etwas kahlköpfiger Regierungsrath, hatte eben den Männern die Gabe einer lebhaften schöpferischen Einbildungskraft zugesprochen und hinzugesetzt: »Die Frauen, ich meine natürlich nur die gewöhnlichen Frauen (mit einem huldigenden Blick auf Liane), bringen es mit ihrer Einbildungskraft nie weiter, als sich in den Kopf zu setzen, alle Männer seien in sie verliebt.«
Liane lachte hell: »Und das hat wol nie umgekehrt stattgefunden?«
»In solchem Maße nicht, nein.«
»Was werden Sie dazu sagen, Herr Regierungsrath, wenn ich Ihnen nicht nur nicht beistimme, sondern geradezu das Gegentheil behaupte von Dem, was Sie gesagt?«
»Behaupten Sie immerhin; auf jeden Fall wird es eine geistreiche Phantasie.«
»Nun gut, also ich behaupte, daß die Frauen nicht nur eine starke, sondern auch eine viel bessere ›Art‹ von Einbildungskraft besitzen, als die Männer. Die Männer bilden sich nur Das ein, was ihnen angenehm und bequem ist. Die Frauen aber bilden sich aus Gewissenhaftigkeit gerade umgekehrt ein, was ihnen schwer und unangenehm ist.«
»Zum Beispiel, mein gnädiges Fräulein?«
»Nun, zum Beispiel: eine Frau bildet sich ein, sie erfülle ihre Pflicht nicht, während sie thut, was in ihren Kräften steht, und noch darüber.«
»Und das bildet ein Mann sich nie ein?«
»Nein, die Männer sind stets überzeugt, daß sie sich und Andern genug thun!«
Der Regierungsrath lächelte nachsichtig und galant. »Fahren Sie fort; was bilden sich die Frauen noch mehr für unbequeme Dinge ein?«
»Nun – nun – was sage ich nur gleich? Ja, eine meiner Bekanntinnen hat einen ganz unwürdigen Gemahl, den sie längst hätte verlassen sollen, wenn sie der Pflichten sich bewußt wäre, die sie gegen sich selber hat; aber sie bildet sich ein, sie liebe den Unwürdigen, und ihre Pflicht erheische, bei ihm zu bleiben, solange noch ein Hoffnungsstrahl von Besserung für ihn vorhanden sei.«
»Und Sie, mein Fräulein, Sie wissen ganz gewiß, daß sie ihn nicht liebt und auch nichts zu seiner Besserung beitragen wird? O, wie werden Sie noch einmal so ganz anders über Ihr eigenes Geschlecht und über sich selbst urtheilen! Sie sind unendlich viel besser, als Sie selbst wissen.«
»Nein, nein, das ist nicht wahr«, rief Liane eifrig.
Sie hatte überhört in ihrem heiligen Streite pro domo, daß sich die Thüre geöffnet und ein schlanker, sehr von der Sonne gebräunter Mann eingetreten war. Er stand hinter ihrem Stuhle, und indem er sich über ihre Schulter beugte, sagte er mit einer tiefen, aber unendlich wohllautenden Stimme:
»Was ist nicht wahr?«
Bei dem Klange dieser Stimme fuhr Liane so heftig herum, daß ihre blonden Locken sich mit dem dunkeln langen Haare des Fragenden vermischten, da er sich tief zu ihr gebückt; einen Augenblick war sein Gesicht wie von einem Goldschleier halb überdeckt. Sie erröthete über ihre Hast, aber es war, als ob sie auch noch über etwas Anderes erröthete.
»Herr Eberhard! das ist schön, daß Sie noch kommen«, sagte sie freundlich; »wenn auch so spät, so halten Sie doch Ihr Wort.«
»Sie sind sehr gütig. Sagen Sie mir aber, was Sie so erzürnt hat, als ich eintrat. Was hat Ihnen der Herr Regierungsrath so Aergerliches behauptet?«
»O«, lachte Liane, »er that mir den unendlichen Affront, zu behaupten, ich sei viel besser als ich selbst wisse.«
»Wollen Sie mir nicht den ganzen Streit mittheilen?«
»Nein, nein, ich will nun nicht mehr streiten, auch nichts mehr hören, ich will nun ruhen.«
Und im Vorgefühl der allerseligsten Ruhe schlug sie das Auge zu Eberhard auf, der noch immer hinter ihr stand.
Es gibt keine größeren Widersprüche, als in dem Charakter einer Frau, wenn sie anfängt, zu lieben. Die Stolzeste wird dann die Demüthigste, die Kälteste die Innigste; es ist als ob die Liebe an ihre zarte, weiche Seele die letzte Hand lege und ihr eine oft ganz andere Färbung gebe. Liane war im Begriffe, sich zu verlieben; ihr Herz pochte schon im bangen Vorgefühle einer sich nahenden Leidenschaft, und zwar einer Leidenschaft für Eberhard, den Maler.
Eberhard war vor einigen Wochen, nach langem Aufenthalte, aus Italien zurückgekehrt, ein anderer Mensch, ein anderer Künstler. Die Welt konnte aber freilich nur das Letzte beurtheilen. Seine Arbeiten, die er aus Rom mitbrachte, waren Meisterwerke, vollkommene Leistungen, wie man von keinem neuern Maler in der kleinen Residenz noch gesehen hatte. Was seinen Gemälden früher fehlte, das hatte er in Rom ihnen zu geben gelernt; untadelige Zeichnung, das erste Erfoderniß des echten Künstlers, war ihm ja schon früher eigen gewesen; seine Gemälde hatten aber jetzt Farbe und Leben bei der genialsten und doch correctesten Zeichnung. Eberhard war gleich bei seiner Ankunft zu Liane gegangen, um ihr zu danken, denn ihre Empfehlungen waren ihm von unendlichem Nutzen gewesen, er wurde überall um ihretwillen mit offenen Armen aufgenommen. Das sah er ein und empfand die größte Hochachtung für ein Mädchen, die in der Ferne so warme Freunde hatte. Ueberall, wo sie gewesen in Italien, hörte er nur Gutes und Schönes von ihr – selbst die Frauen dort legten nicht den Maßstab an Lianens Charakter, wie ihre deutschen Landsmänninnen es thaten – der Süden war auch eigentlich das rechte Land für sie, und dort hatte sie auch ihren Geist in der Art emancipirt, daß sie selbst wagte, über Dinge ein Urtheil zu haben, um welche sonst ein junges Mädchen sich nicht kümmert. Bei Eberhard hatte das günstige Urtheil, welches Lianens römische Freunde in ihm für sie rege gemacht, sich jetzt vollkommen bestätigt.
Eberhard hatte eine traurige Erfahrung gemacht, eine Zeit durchlebt, welche alle seine frühern Erlebnisse sehr in den Schatten stellte, eine große aber unglückliche Liebe. Die Frau eines in Rom lebenden deutschen Diplomaten, eine eitle aber geistreiche, eine kalte, aber die Leidenschaft mit großer Wahrheit spielende Frau, hatte Eberhard in einer ihrer Launen zum Opfer ausersehen, und er ging in die Falle. Um ihretwillen wollte er berühmt werden, um ihretwillen strengte er sich an seiner Staffelei über die Maßen an, vom frühen Morgen, bis die Sonne untersank; aber sein Körper ertrug das nicht und er erkrankte tödtlich. Da wurde ihm klar, daß die Dame nur mit seinem Herzen gespielt, denn sie erkundigte sich nicht ein mal nach ihm, als er so krank lag. Er genas, aber innerlich und äußerlich war er verändert. Aus dem harmlosen, kindlichen, gläubigen jungen Menschen war ein zwar etwas mistrauischer, verschlossener, aber tüchtiger Mann geworden. Was sein Aeußeres betraf, so zeigte das beinahe dieselbe Veränderung, aus einem blühenden und weiß- und rothwangigen Jüngling war ein fester, brauner Mann mit scharf markirten Zügen geworden.
Wie jeder tief fühlende Mensch, der einmal eine traurige Erfahrung in der Liebe gemacht, so wollte auch Eberhard nie wieder einem Weibe sein Herz öffnen. Er hatte aber auch keine Ahnung, daß er jemals Lianen lieben werde; er kam täglich in ihr Haus, er gab ihr Unterricht im Malen und hatte immer Etwas mit ihr zu sprechen, was er nur aus ihrem Munde erfahren zu können meinte. –
Eines Tages machte sie ihm einen Vorschlag, der ihn in die peinlichste Verlegenheit setzte. Sie hatte nämlich ihre Mutter bewogen, sie einmal hinaus aufs Land zu begleiten, und zwar zu Gretchen, bei der sie ein Mittagsessen bestellt.
Frau von Pahlen war auf den Plan nur eingegangen, weil sie hoffte, durch ihre Gegenwart die Intimität mit Gretchen etwas zu beschränken. Liane schlug Eberhard vor, sie zu begleiten.
»Ich muß gestehn, gnädiges Fräulein«, sagte er verlegen, »daß ich kaum wage, mit Ihnen dahin zu fahren. Schon längst hätte ich nämlich Frau Berg einen Besuch machen sollen, und nun, da ich es so lange aufgeschoben, schäme ich mich, mit Ihnen zu kommen.«
»Sie müssen mit uns, schon wegen der Mama, die sich in meiner und Gretchen's Gesellschaft zu Tode langweilen würde; schlagen Sie mir den Freundschaftsdienst nicht ab!«
»Aber unter Einer Bedingung denn. Wir haben noch vier Tage Zeit – haben Sie die Gewogenheit, Gretchen zu schreiben, daß ich mitkomme.«
»Wie Sie wollen«, sagte Liane lachend; »ich hätte Sie aber nicht für einen solchen Pedanten gehalten.«
Obgleich Eberhard wünschte, Gretchen einmal wieder zusehen, wollte er sie doch nicht überraschen; er fürchtete, sie werde ihr Gefühl verrathen; denn wenn auch in seiner Seele diese Liebe längst erbleicht war, so glaubte er mit männlicher Zuversicht doch noch an deren Bestehn in Gretchen's Herzen, und leider täuschte er sich diesmal nicht!
Er hatte seitdem nichts von ihr erfahren. Die einzige Person seiner Bekanntschaft, die etwas von ihr wissen konnte, war Liane, und die hatte er nicht direct nach ihr zu fragen gewagt; nur zufällig erfuhr er, daß sich in ihren Verhältnissen wenig geändert.
Eine Eisenbahn führte jetzt von der Residenz nach Gretchen's Wohnort. Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen, an welchem der Maler mit den beiden Damen durch das Thor der Stadt dem Eisenbahnhofe zufuhr.
Liane, die ihm gegenüber saß, war ihm nie so schön vorgekommen, wie heute. Ein grüner Reisehut mit wehendem Schleier umschloß ihr blühendes Gesicht, und ein leichtes, schottisches Reisemäntelchen verhüllte ihre Gestalt. Sie trug heute keine Locken; Eberhard sagte ihr: »Sie sollten immer Ihr Haar glatt scheiteln, das steht Ihnen besser.«
»Bemerken Sie denn so etwas?«
»Er ist ja ein Maler, Kind!« sagte Frau von Pahlen.
»Aber ich bin ja kein malerischer Gegenstand, Mama!«
»Doch, Sie wären eine vortreffliche Helena. Die classischen Züge und der südliche Ausdruck Ihres Gesichts …«
»Bitte, bitte, vergessen Sie nicht, daß ich lebe und keine todte Leinwand bin, die man nach Herzenslust ironisch kritisiren kann.«
»Gnädiges Fräulein!«
»Herr Eberhard hat Recht«, sagte Frau von Pahlen mit mütterlich befriedigter Eitelkeit, indem sie ihm einen gnädigen Blick zuwarf, »du hast wirklich ein classisches Profil, und wenn du nicht so stark wärest …«
In demselben Augenblicke ertönte ein Pfiff – die Baronin glaubte zu spät zu kommen und fing an zu lamentiren; der Kutscher trieb jedoch ihre beiden schönen mecklenburger Pferde so tüchtig an, daß die kleine Gesellschaft doch noch zu rechter Zeit einsteigen konnte; aber auf eine Minute war es freilich angekommen.
Als Frau von Pahlen es sich in ihrer Ecke bequem gemacht, sagte sie aufathmend: »Diese Eisenbahnen sind eine entsetzliche Erfindung! Man wundert sich, daß jetzt alle Welt an den Nerven leidet, und Niemand kommt auf die ganz einfache Erklärung, daß ganz allein die Eisenbahnen und die Dampfschiffe daran schuld sind.«
»Wie so, Mama?«
»Nun, wegen der Angst, die man aussteht, zu spät zu kommen – was ruinirt denn mehr die Nerven? Ich schlafe jedesmal den Vorabend vor einer Eisenbahnreise mit Herzklopfen ein, denn nicht nur hat man den chagrin, zu spät zu kommen, man wird auch noch von dem Pöbel – der immer am Bahnhofe steht – ausgelacht, wenn der Zug Einem vor der Nase abpfeift, wie es mir schon einige mal geschehen.«
»Sie wollen eben immer noch das Hauswesen versorgen, Mama; man muß heutzutage Alles leichter nehmen.«
»Nicht weil ich mein Hauswesen zu gut versorgen will, komme ich zu spät – nein, mein Kind, ich komme zu spät, weil ich nicht gewohnt bin, mich beeilen zu müssen, wie ein Tagelöhner, dem man einen Abzug macht, wenn er zu spät zur Arbeit kommt.«
»Aber Sie sind doch immer zu rechter Zeit fertig, wenn wir am Hof speisen.«
»Weil das um eine Stunde geschieht, wo jeder anständige Mensch fertig sein kann, ohne sich zu echauffiren. Aber Morgens acht Uhr! Ich bin nicht gewohnt, Morgens acht Uhr wie ein Offizier fertig angekleidet und pünktlich erscheinen zu müssen, ich bin gewohnt, daß man auf mich wartet, wie jede ältere Dame von Stande es verlangen kann; an dieses plebejische Hetzen werde ich mich nie gewöhnen können!«
Liane lachte, obgleich ihre Mutter ziemlich ärgerlich war, und sagte gutmüthig: »Ich bin ein Kind der jetzigen Zeit und habe gelernt, daß Niemand auf uns wartet und daß ich, trotzdem daß ich den ersten Platz bezahle, doch ebenso früh da sein muß wie der Bettler, der im Stehplatze weiter fährt.«
»Dieser letzte Unterschied wird auch noch aufhören«, sagte Frau von Pahlen – »wir werden auch noch mit den Bettlern auf einem und demselben Platze fahren müssen, aber natürlich bezahlen, während jene umsonst mitkommen. O, ich sehe die Zeit mit starken Schritten herannahen, wo nur noch Derjenige etwas gilt, der nichts ist und nichts hat!«
»Das Letztere schwerlich«, sagte Liane; »das Haben wird immer wichtiger; das Sein freilich …«
»Wird auch immer wichtiger, mein Fräulein«, sagte mit leiser Ironie der Maler, den übrigens die kleinen Ausbrüche der Baronin sehr ergötzten. »Bemerken Sie denn nicht – daß man immer mehr – so unsinnig es lautet – etwas sein muß, bevor man etwas wird?«
Liane schüttelte mit dem Kopfe. »Es ist in dieser Beziehung viel besser geworden in der Welt – jedes Genie kann sich Bahn brechen, wo es ihm beliebt.«
Das Wort Genie war für Lianens Mutter das Stichwort ihrer übeln Laune, und wenn es in ihrer Gegenwart genannt wurde, konnte sie sich nie eines Ausfalles auf unsere »geniale Zeit« enthalten. Genie war ihr ärgstes Scheltwort. Wenn die Kammerfrau ihr die schönste Spitze beim Plätten zerrissen, so wußte sie sie nicht härter zu strafen, als mit den Worten: »Du bist ein Genie!« Selbst Liane wurde in sehr bösen Stunden so von ihr genannt; aber das geschah glücklicherweise nur selten. Auch jetzt rief das unglückliche Wort bei Frau von Pahlen einen ganzen Strom von Klagen über die Zeit hervor.
Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn man nach langer Abwesenheit die Räume betritt, in denen man sich einst nur in liebender Empfindung bewegte – die Erinnerung wirft dann einen solchen Zauber in jeden Winkel, daß die alten Empfindungen uns traumhaft, wenn auch nur momentan, wieder umschweben; besonders ist dies bei einer ersten Liebe der Fall, und daher kommt wol das Sprichwort: »Alte Liebe rostet nicht«. Auch des Malers Herz schlug wieder wie seit lange nicht, als er Gretchen's Haus betrat. Sie und ihr Haus waren unverändert, nur war sie stiller geworden, es ruhte ein geistigerer, höherer Ausdruck als früher auf ihrer Stirn – die Unbefangenheit war von ihr gewichen, und mit ihr auch jene Lustigkeit, die jeden Schmerz ihr früher übertäuben half; nur eine stille Heiterkeit war ihr geblieben.
Eberhard reichte ihr die Hand; sie wagte aber nicht sie anzunehmen, denn die ihrige zitterte so sehr, daß sie sich zu verrathen fürchtete. Der Maler vergaß einen Augenblick ganz und gar die beiden Damen, mit welchen er gekommen, und blickte gespannt in Gretchen's blaue Augen, als suche er da etwas Verlorenes; endlich sagte er: »Gretchen, Sie sind schöner geworden.«
»Was würden unsere Stadtdamen von Gretchen's Alter um dieses Compliment geben!« sagte Frau von Pahlen; aber dann rief sie eifrig: »Gretchen, gehe gleich nach dem Wagen und hole den Braten, den ich für heute Mittag mitgebracht; auch Wein und Confect wirst du dort finden; dann lasse uns im Garten decken und ein recht frugales, aber gutes Essen auftragen zum Beweis deiner häuslichen Gewandtheit.«
Im Garten hatte Gretchen schon eine Bank mit Kissen für die Dame belegt, die sie auch ohne weitere Bemerkung annahm, um dann aber sogleich in Klagen über den Staub, den Zug, den starken Duft vom nahen Hyacinthenbeete auszubrechen. Frau von Pahlen gehörte zu den Leuten, die immer etwas zu klagen und zu befehlen haben. Wenn man ihr eine Compagnie zur Verfügung gestellt, sie würde keinem Mann eine Stunde Muße gelassen haben. Liane hatte sich deshalb gewöhnt, beinahe gar keine Bedürfnisse zu haben, gar keine Bedienung zu brauchen; denn wenn sie ebenso viele Wünsche gehabt hätte wie ihre Mutter, so wäre es unmöglich gewesen, Beide zu befriedigen.
Auch für Eberhard, wie für alle ihre Bekannten, hatte die Baronin immer Aufträge; aber er unterzog sich denselben mit so langsamer Grazie, daß wenigstens durch die langwierige Erfüllung die Zahl derselben verkürzt wurde.
Gretchen flog hin und her; aber nie ist wol so viel äußere Thätigkeit mit so viel innerer Aufregung verbunden gewesen. Ihre Hände und ihr Herz flogen zugleich, aber ihre Züge waren ruhig. Eberhard verwandte kein Auge von ihr; endlich fragte er sie nach ihren Kindern.
Mit mütterlichem Stolz brachte sie ihre blühende kleine Schar; sie waren alle Vier groß und schön geworden. Sannchen half der Mutter schon ganz jüngferlich geschäftig, schleppte die Teller und Gläser herbei und deckte den Tisch wie ein kleiner Kellner. Liane war verstimmt: mit Gretchen war wegen der Mama nichts anzufangen, und Eberhard sprach kein Wort. Endlich trug Gretchen die Suppe auf. Liane flüsterte ihrer Mutter Etwas ins Ohr, was auf der Stirn der ältern Pahlen tiefe Falten hervorrief; aber Liane ließ nicht ab. Endlich sagte Frau von Pahlen sehr trocken:
»Gretchen, setze dich zu uns an den Tisch. Thue es nur.«
»Danke unterthänigst, gnädige Frau. Sie sind sehr gnädig, aber ich muß in der Küche ab- und zugehen.«
»Sie hat mehr Takt als du!« sagte Frau von Pahlen ziemlich laut zu Liane.
Als man gegessen und der Kaffee aufgetragen worden, foderte die Baronin den Maler auf, seine Cigarre anzuzünden – sie war heute überhaupt ganz besonders herablassend gegen ihn –, und Eberhard ging ins Haus, um Feuer zu holen.
Drinnen am halb erloschenen Küchenfeuer stand Gretchen und starrte in die Kohlen. Sie hörte ihn nicht kommen, er legte die Hand auf ihre Schulter – wie eine Sünderin fuhr sie zusammen.
»Gretchen, haben Sie nie bereut, daß Sie ein liebendes Herz von sich gehen hießen?«
»Nein, nie«, sagte sie, wieder mit ihrer alten Ruhe. »Es mußte durchaus so sein. Und Sie, seien Sie ehrlich, haben Sie sich nicht gefreut, daß Sie dem Netze entgangen?«
»Ich sage auch Nein, Gretchen. Ich habe seitdem eine Unwürdige geliebt; diese Erfahrung hättest du mir sparen können.«
»Sie haben geliebt, seitdem? Ja, das hätte ich mir freilich denken können – warum sollten Sie auch nicht! … Sehen Sie Fräulein Liane oft?« setzte sie plötzlich hinzu.
»Welch ein Ideengang! Ja, ich sehe sie oft und ich verehre sie sehr, das ist jedoch Alles; lieben werde ich aber nie mehr, ich habe zu viel Unglück darin.«
»Wenn Sie Fräulein Lianen liebten, so wäre das auch schon an sich ein Unglück, denn bekommen würden Sie sie doch nie.«
»Meinen Sie?« Und ein kaum merklicher Spott flog um seinen Mund.
»Kein Gedanke! Die alte Dame würde ihr Kind eher tödten als einem Bürgerlichen geben; darauf verlassen Sie sich.«
Eberhard schwieg gedankenvoll – dann wendete er sich zum Gehen; aber an der Thür kehrte er noch einmal um und sagte, der Witwe herzlich die Hand reichend: »Leben Sie wohl, Gretchen; Gott segne Sie und Ihre Kinder – wer weiß, wann wir uns wieder allein sehen!«
Als er draußen war, sagte Gretchen wie unbewußt: »Wer weiß, wann wir uns wieder allein sehen!« und ihr Mund zitterte krampfhaft, und Thräne um Thräne fiel in die verglimmenden Kohlen und half sie vollends auslöschen. Wie oft hatte sie den Himmel angefleht, daß Eberhard's Liebe zu ihr verlöschen und ihn nicht ferner in seinem Glücke stören möge, – für gute Menschen gibt es aber oft keinen größern Schmerz, als wenn der Himmel ihr Gebet erhört!
Im Eisenbahnwagen saß Eberhard wieder Lianen gegenüber. Ihre Kleider dufteten immer nach Reseda, weil sie diese Blüten so sehr liebte, daß sie immer eine Menge davon in ihren Sachen aufbewahrte. Diesen Duft trug die laue Abendluft nun fortwährend in Eberhard's Antlitz; er sog ihn leise ein und betrachtete dabei des Fräuleins liebliche Züge, was er ungestört thun konnte, denn sie schlug die Augen nieder. Da erinnerte er sich an Gretchen's Worte: »Sie werden sie doch nie bekommen« – und Gedanken und Wünsche und Vorsätze stiegen in ihm auf, daß wie im Rausche sein Kopf ihn zu schmerzen begann.
Eine der allgemeinsten Eigenschaften des Menschen ist ja die Lust nach Verbotenem, Unerreichbarem. Wer weiß, ob Eberhard je nach Lianens Besitz gestrebt hätte, wenn ihm nicht Gretchen gesagt: »Die bekommen Sie nicht!«
Eine halbe Stunde schon dauerte die Rückfahrt, und Niemand von den Dreien hatte ein Wort gesprochen. Frau von Pahlen schlief, Eberhard entwarf Plane, und Liane lag in der Ecke mit halb geschlossenen Augen. Die kleine Lampe des Wagens brannte immer düsterer; bei ihrem spärlichen Scheine sah aber dennoch Eberhard, daß sich Liane immer fester in ihren kleinen Mantel wickelte. Er bog sich weiter vor zu ihr und sagte leise: »Ist Ihnen kalt – darf ich Ihnen meinen Mantel geben?«
Diese Worte enthielten gewiß nur eine unbedeutende Frage, und dennoch zitterte Liane zusammen, als sie sie hörte – daran war aber nur der Ton, in dem sie ausgesprochen wurden, schuld. Sie hatte Eberhard's Stimme einer solchen Modulation gar nicht für fähig gehalten!
»Das ist der Ton, wenn Lieb' um Liebe wirbt.«
Liane hatte ihn nie vernommen, wenigstens hatte sie bis jetzt kein Ohr dafür gehabt: denn es geht damit wie mit der Sprache: sie will nicht nur geredet, sondern auch verstanden sein.
»Ernstlich, soll ich Ihnen meinen Mantel geben?«
»Nein, nein, ich friere nicht, mir war nur so schauerlich zu Muthe; ich dachte an Sterben, an Begrabenwerden und da wickelte ich mich unwillkürlich fester in meinen Mantel.«
»Meine Gedanken waren gerade den Ihrigen entgegengesetzt. Ich dachte an ein neues Leben.«
»Wie? wo?«
»Es war nur ein schöner beglückender Traum. Der Resedaduft Ihres Gewandes hatte mich hinein gewiegt. O, wie ich diesen Duft liebe! Und ich kann jetzt nie mehr diesen Duft einathmen, ohne Ihr Antlitz vor mir zu sehn, Ihre Stimme zu hören.«
»Sie haben eine große Einbildungskraft«, sagte Liane, nur um etwas zu sagen; denn in der Verlegenheit, in welche die nur halb verstandenen Worte des Malers sie versetzten, konnte sie nach Frauenart nicht schweigen.
Die Beiden sprachen nichts mehr, aber bis zur Ankunft fühlte Liane Eberhard's Blick auf sich gerichtet und wagte den ihrigen nicht mehr aufzuschlagen. – –
Das lebhafteste Bewußtsein eines Glückes hat wol jeder Mensch beim Erwachen; da ist der Glückliche doppelt glücklich, besonders an einem hellen, sonnigen Morgen. Liane hätte am andern Tage laut aufjubeln mögen vor Freude, und wagte sich doch nicht zu gestehn, weshalb sie so froh war. Sollte der Dichter wirklich Recht haben:
»Lieb' ist nur Glück und wird es ewig sein,
Blieb' auch mit ihr ein liebend Herz allein.«
Sollte wirklich jedes andere Glück nichts sein gegen das Glück, zu lieben, und sollte sie das wirklich im siebenundzwanzigsten Jahre noch erfahren?
Um elf Uhr kam Eberhard, wie immer, zur Malstunde. Liane saß schon an der Arbeit, als er eintrat. Sie hob kaum den Kopf, um ihn zu begrüßen, denn er sollte ihre flammenden Wangen nicht sehen; aber sie bemerkte dennoch, daß er im festlichen Anzuge war, und, war es Traum oder Wirklichkeit? Ein rothes Band schimmerte aus dem Knopfloche.
»Mein gnädiges Fräulein«, sagte Eberhard mit heiterer, unbefangener Stimme, »Sie nannten sich gestern ein Kind der jetzigen Zeit; ich will Sie als Repräsentantin derselben betrachten und eine Abbitte für meine gestrige Verleumdung derselben an Sie richten.«
»Welche denn?«
»Habe ich nicht gesagt, man müsse heutzutage etwas sein, um etwas zu werden?«
»Und weiter?«
»Nun bin ich nichts, gar nichts gewesen und dennoch etwas, ja, sehr viel geworden. Gestern Abend bei meiner Nachhausekunft fand ich ein freundliches Billet des Ministers, worin er mir privatim mittheilt, daß der Fürst mir die erledigte Stelle des Galerie-Directors mit zwölfhundert Gulden Gehalt übertrage, und dann – und dann –« er stellte sich dicht vor Liane und entfaltete breit ein rothes Band im Knopfloche – »Ritter unsers Ordens. Denken Sie sich, gnädiges Fräulein«, sagte er lachend, »und das Alles wie vom Himmel gefallen, denn ich habe mich um nichts beworben, weil ich nichts zu erhalten dachte. Oder – haben Sie vielleicht für mich intriguirt?«
Liane lachte auf. »Welch ein Einfall, Herr Eberhard! verzeihen Sie, mein Herr Director! Erstens fällt es mir nicht ein, zu intriguiren, und zweitens würde es mir auch nicht gelingen, weil ich keinen Einfluß habe.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Wahrhaftig, ich sage mit David Veit: ›Glücklich kann ich keinen Hund machen.‹«
»›Aber unglücklich recht viele Menschen!‹«
»So kennen Sie ihn also auch? Den Nachsatz wollte ich Ihnen verschweigen. Sie haben also auch alle Briefe von Rahel und an Rahel, diesen klügsten unserer gedruckten Frauencharaktere (wir andern, wir sind nur gedrückte Frauencharaktere) gelesen?«
»Was hätte ich nicht gelesen!«
»Das ist schön von Ihnen – nichts auf Erden geht über ein gutes Buch.«
In diesem Augenblicke trat Frau von Pahlen ein. Liane erzählte ihrer Mutter von Eberhard's Anstellung. Die Dame beglückwünschte ihn mit großer Höflichkeit und Ceremonie; Eberhard fühlte doch schmerzlich den gänzlichen Mangel an Herzlichkeit, die sonst in solchem Augenblicke so natürlich hervortritt. Er sah, daß er ihr nichts, gar nichts war, als der Zeichnenlehrer ihrer Tochter. Der Thor hatte sich eingebildet, Frau von Pahlen sei seine Freundin!
Aber gerade die Kälte und Entfernung dieser Frau spornte sein Verlangen, um ihre Tochter zu werben. Eberhard's Charakter hatte sich in der letzten Zeit in der Weise gestählt und gehärtet, daß jedes Hinderniß den Gegenstand eines Wunsches auch gleich zum Bedürfniß machte. Solche Charaktere sind nicht selten und sichere Bürgschaften eines guten Erfolges. Je ferner ihm Liane gestellt wurde, desto mehr begehrte er sie an seine Seite, und wir zweifeln, daß wenn sie von Anfang an ihm erreichbar gewesen, er je nach ihr getrachtet. Ja, wer weiß, ob Gretchen's Worte: ›Sie bekommen sie nie‹ nicht den Keim zu seiner ganzen, später aber wahren und tiefen Neigung gelegt!
Ueberdies hatte Eberhard am Ende so aristokratische Gewohnheiten angenommen, daß eine Frau seiner eigenen Herkunft ihm jetzt schon aus diesem Grunde nicht mehr gefallen konnte. Gretchen wäre vollends jetzt eine Unmöglichkeit gewesen. Seitdem Eberhard ein ausgezeichneter Maler geworden, und er jeden Preis für seine Bilder verlangen konnte, hatte er sich mit einem geschmackvollen Luxus umgeben, und man weiß nur zu gut, wie Jedem, der sich einmal diesem Dämon in die Arme warf, der Luxus zum Glücke des Lebens unentbehrlich dünkt, und wie jede Rückkehr zur ursprünglichen Einfachheit ihm als eine große Entbehrung, ja, als ein Unglück erscheint.
Liane war zwar im Verhältniß zu ihren Standesgenossinnen und besonders zu ihrem eigenen Vermögen anspruchslos und einfach, aber es war eben doch die Einfachheit einer vornehmen Dame, die er mit feinem Takt unendlich viel schöner fand, als den glänzenden Pomp eines Emporkömmlings. Er studirte jetzt förmlich ihren Charakter, denn seine Liebe hatte noch nicht jenen Grad erreicht, der alle Beobachtung in blinde Vergötterung verwandelt. Er hatte noch ein Auge für ihre Fehler, und deren entdeckte er jetzt mehre, und eigentlich machte ihm das mehr Freude als Gram; denn ein vollkommenes Weib würde keinem Manne behagen: er verlöre dann eines der höchsten ehemännischen Vergnügen – seine Frau zu kritisiren und zu belehren!
Eine glänzende Eigenschaft Lianens war, daß sie selbst ihre Fehler kannte. Freilich hätte sie sie nun auch ablegen können, das that sie aber nicht – sie nahm es sich nur vor. Eine ihrer schlimmsten Eigenschaften war ihr Mangel an Ausdauer, und darin war sie gerade das Gegentheil Eberhard's. Wenn sich etwas in ihren Pfad stellte, suchte sie einen Umweg einzuschlagen, und war keiner zu finden, so kehrte sie unverrichteter Sache wieder um. Hingegen war sie einer großen augenblicklichen Aufopferung fähig, einer kühnen Handlung; aber sie mußte im Rausche des Enthusiasmus oder der Leidenschaft begangen werden – mit kühlem, nüchternem Blute konnte sie nur dulden, nicht handeln.
Diese Eigenschaften durchschaute Eberhard glücklicherweise für seine Plane zur rechten Zeit, und er begann auf ihren Enthusiasmus, aber nicht auf ihre Ausdauer zu bauen. Eberhard war nicht ungeschickt; in kurzer Zeit hatte er in Lianens Herzen eine Leidenschaft angefacht, die seine kühnsten Wünsche übertroffen haben würde, wenn er nicht selbst bei seinem Werben sich auch so tief hinein verstrickt, daß seiner Liebe, die ihm über den Kopf gewachsen, die ihrige kaum genügte. Es ist ein gefährliches Spiel, Herzen zu erobern. Hätte er nicht früher bei kaltem Blute alle Plane und Maßregeln sich ausgedacht, jetzt wäre er nicht mehr fähig dazu gewesen.
Einen kleinen Querstrich machte ihm Gretchen's Besuch im Hause der Frau von Pahlen – denn sie hätte beinahe der Baronin zu früh die Augen geöffnet.
Liane war nämlich seit einiger Zeit in Folge ihrer innern Aufregung, ihrer tief verhüllten Kämpfe und Sorgen unbegreiflich rasch mager geworden. Die Baronin, die dies als ein höchst glückliches Ereigniß betrachtete, hatte sich über dessen Ursache nicht den Kopf zerbrochen, wie man dies bei angenehmen Dingen eben nicht zu thun geneigt ist. Gretchen aber, besorgt um Lianens Gesundheit und ihr vielleicht inniger und wahrer ergeben als die eigene Mutter, drang in die Frau von Pahlen, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, und machte überhaupt so viel Aufhebens von dem veränderten Aussehen Lianens, daß Frau von Pahlen förmlich mistrauisch ihre Tochter zu beobachten begann, was sie bisher wenig gethan, da sie immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war.
Liane sah kein anderes Mittel, als Gretchen mit in das Vertrauen zu ziehen. Sie gestand ihr ihre Liebe zu dem Maler. Gretchen veränderte keine Miene; daß der armen Frau Hören und Sehen verging, konnte natürlich das Fräulein nicht bemerken. In leidenschaftlichem Strome sprudelten die Worte aus Lianens blassem Munde, aber ihr farbloses Antlitz röthete sich, als Gretchen fragte: »Was soll daraus werden?«
»Ich liebe ihn, bis ich sterbe, und ich werde bald sterben.«
»Er wird Sie bewegen, ihm Ihre Hand zu reichen.«
»Davon hat er noch nichts gesagt.«
»Wenn er es aber sagt, was werden Sie dann antworten?«
»Sein ist mein Leben; ich thue Alles, was er wünscht; sein Glück geht mir über das Glück meiner Mutter, verzeihe mir Gott!«
»So wird es denn gerade so kommen, wie ich mir dachte, als Sie mit ihm bei mir waren! Sie müssen ihn sehr lieb haben, weil Sie sich so bis zum Unkenntlichwerden verändert haben; wie sind Sie mager und blaß geworden!«
»Du meinst wol, ich könne Eberhard nicht mehr gefallen?«
»O, Dem werden Sie jetzt viel besser gefallen. Erstens sehen Sie um seinetwillen so aus, und dann fand er Sie früher zu stark und endlich sind Sie überhaupt jetzt schöner.«
»Ach Gott, was nützt mir das? O, ich bin so unglücklich!«
»O, Fräulein, klagen Sie nicht, das ist Sünde! Ich will Ihnen etwas von mir erzählen, da werden Sie sehen, ob Sie im Vergleich mit Andern nicht glücklich sind. Auch ich habe geliebt nach dem Tode meines Mannes, als Sie in Rom waren, einen hübschen, jungen, guten Menschen, der mich sehr lieb hatte und mich trotz meiner vier Kinder heirathen wollte.«
»Nun, und warum nahmst du ihn nicht?«
»Weil ich nichts hatte, weil er nichts hatte, weil meine Kinder nicht aufgeopfert werden durften, weil ich für Die und nicht für ihn arbeiten mußte! O Gott, das war ein Unglück! Aber Sie, Sie haben ja kein anderes Leid, als sich selbst und Ihre Vornehmheit aufzuopfern – und das ist ja ein Glück! Was hätte ich darum gegeben, wenn ich dem Manne meines Herzens eine Krone hätte zu Füßen legen können!«
Liane sprang auf und fiel ihrer ehemaligen Dienerin um den Hals. »Gretchen, du bist ein herrliches Geschöpf!« rief sie, indem sie die Wangen der schmerzlich lächelnden Frau mit Küssen bedeckte – »von dir muß ich lernen, mich glücklich zu preisen! Ja, du hast Recht, beim allmächtigen Gott! und ich sollte ihm danken, daß er mich so hoch begnadet hat, dem Manne meiner Liebe beweisen zu können, daß er mir über Alles geht, ja, daß ich stolz und glücklich bin, ihm Alles, Alles aufzuopfern!«
Liane hatte ihre Zeichnenstunde von der elften Stunde auf neun Uhr Morgens verlegen müssen: das hatte Eberhard von ihr verlangt, um sie ungestörter sprechen zu können; denn um diese Stunde war die Baronin gewöhnlich noch nicht mit ihrer Toilette fertig, die für sie das Hauptgeschäft des Tages bildete und die bei ihr immer mehr Zeit in Anspruch nahm; denn da die Natur stets geiziger gegen sie wurde, so mußte die Kunst immer großmüthiger nachhelfen, um das Bild herzustellen, welches Frau von Pahlen allein für das einer Dame ihres Standes würdige hielt.
»Es ist die unabweisbare Verpflichtung der höhern Stände« – pflegte sie immer mit großer Salbung zu sagen, – »körperlich wie geistig nirgends häßlich zu erscheinen. Nur gemeine Leute haben den Vortheil, sich zu zeigen, wie sie sind, – was natürlich sehr bequem ist, aber für uns unmöglich. Einen verlorenen Zahn uns einsetzen zu lassen, ist ebenso sehr unsere Pflicht, wie es unsere Pflicht ist, darüber zu wachen, daß uns nicht ein heftiger oder ein unartiger Ausdruck entfährt. Alles bei uns muß Ruhe, Harmonie und Anmuth sein.«
»Wenn dem nur so wäre, gnädige Frau!« sagte einmal Eberhard achselzuckend zu ihr. »Wenn wirklich die ganze vornehme Welt diesen Grundsatz festhielte und man sicher wäre, nie in ihr von einem Mislaute berührt zu werden, dann wäre es wirklich der Mühe werth, die Aufnahme in dieselbe zu erstreben.«
Diese Aeußerung Eberhard's war unendlich unvorsichtig, denn sie stürzte ihn von dem kleinen Piedestal, auf welchem er in der Baronin Gunst gethront. Eberhard war Lianens schon zu sicher – deswegen benahm er sich der Mutter gegenüber so unklug.
Frau von Pahlen sagte zu Lianen weiter nichts über diese Sache, als: »Der Galeriedirector Eberhard ist um kein Haar besser als alle die andern Künstler; er behauptet, es sei nicht der Mühe werth, ein anständiger Mensch zu sein.«
Das hatte nun Eberhard nie behauptet, aber auf ein klein wenig Lüge kam es der hochwohlgeborenen Dame nicht an. Sie war noch der echte Typus jener Zeit, wo Alles erlaubt war, »was sich gut machte«.
*
Wissen Sie, Liane, daß ich dies Leben nicht länger ertrage?«
»Was soll ich denn thun?«
»Sie sollen mich zu Ihrer Mutter gehen lassen, um ihr zu sagen, daß wir uns lieben.«
»Ich will selbst gehen, Ludwig; erlauben Sie mir das.«
»Gut; aber heute, Liane, reden Sie mit ihr. Der Erbprinz macht eine Reise nach dem Orient; wie Sie wissen, hat er mir angeboten, ihn zu begleiten.«
»Ludwig!«
»Nun wohl, ich bleibe hier, sobald ich ihm sagen kann, weshalb; also reden Sie, damit wir es erklären können.«
»Aber die Mutter wird außer sich sein – das wird doch nicht so schnell gehen!«
»Entschließen Sie sich, Liane; der Augenblick zu reden ist gekommen – es ist mir nicht möglich, es länger hinausgeschoben zu sehen.«
»Ich bin zu Allem bereit«, sagte Liane weinend, »nur gehen Sie nicht fort!«
Nach der Zeichnenstunde trat Liane in das Toilettencabinet der Baronin. Die Dame stand eben vor ihrer Psyche und warf den letzten Blick auf das Meisterwerk ihrer Kammerfrau. Sie war befriedigt und wendete sich gerade ab, als Liane eintrat und, nachdem sie dem Kammermädchen einen Auftrag gegeben, die Thür verschloß.
»Was machst du, Kind? Ich will hinübergehen und die Zeitung lesen. Es interessirt mich sehr, etwas von den Empfangsfeierlichkeiten unserer Prinzessin in P. zu hören.«
»Ich muß mit Ihnen reden, Mama. Zürnen Sie mir nicht, aber ich habe meine Hand versagt, ohne Sie zu fragen.«
»Kind, Kind, was soll das heißen? Du wolltest ja nicht heirathen?«
»So war es, aber so ist es nicht mehr. Ich kann nicht leben ohne den Mann meiner Wahl. Mama, seien Sie gut!« Und sie kniete vor ihrer Mutter und legte schluchzend den Kopf in ihre Knie.
»Laß die Redensarten, um Gottes willen, Kind! nur jetzt keine Scenen – das ist nur der Moment! Wer ist es, wie heißt er?«
»Ludwig Eberhard.«
Die Dame sank mit einem leisen, graziösen Schrei auf die Ottomane; denn sie stammte aus der Zeit, wo bei den Damen Ohnmachten noch Mode waren. Trotzdem, daß gewiß Lianens Nachricht ihr sehr unangenehm war, konnte sie doch nicht eine leise Regung der Befriedigung unterdrücken, daß endlich ein Moment gekommen, wo sich eine Gelegenheit bot, ihrer »geistreichen« Tochter zu zeigen, wie eine Frau von Stande sich in solcher Lage betragen muß. Frau von Pahlen war so gut erzogen, daß die Erziehung alle Natur aus ihr herausgetrieben.
Liane war heftig erschrocken nach dem Kölnisch-Wasser-Glase gesprungen. Sie begoß und bestrich mit fliegenden Händen die Mama, die kaum »Contenance« behalten konnte bei der muthwilligen Zerstörung des Kunstgebäudes ihrer Locken. Endlich hatte sie es satt und erwachte.
»Aus meinen Augen, unwürdige Tochter deines großen Vaters! Ist es möglich? Die einzige Tochter des Staatsministers Freiherrn Ludwig von Pahlen will dem Sohne eines Mannes ihre Hand schenken, der mit der Baßgeige aufspielen mußte, wenn ihre Aeltern walzen wollten!«
Wir haben schon früher gesagt, daß Frau von Pahlen es nicht so genau mit der Wahrheit nahm, wo es ihr gerade gelegen kam.
»Sie haben doch nicht mit dem Papa auf der Bühne getanzt?« fragte Liane, die trotz aller Gemüthsbewegung ihre Lippen leise zucken fühlte.
»Alberne Frage! Er war Hofmusikus und spielte auf den Hofbällen.«
»Das hat er nie gethan, Mama; das hat überhaupt noch nie ein Hofmusikus gethan.«
»Was weiß ich von den Verhältnissen dieser Leute! Aber für dich werde ich den Arzt rufen lassen.«
»Thun Sie das, Mama; er wird Ihnen sagen, daß ich sterbe an einer unglücklichen Liebe.«
Frau von Pahlen fiel nun in einen andern Ton. Sie nahm die Hand ihrer Tochter. »Es kann dein Ernst nicht sein, Liane! Es ist wol nur so eine geniale Laune. Ueberlege es nur einmal, und du wirst selbst einsehen, daß es unmöglich ist. Jede Hofgesellschaft würde dir verschlossen sein. Bei einer Begegnung würden dich deine frühern Anbeter nicht einmal ›gnädige Frau‹ nennen, nur vielleicht hier und da noch eine mitleidige Seele, die Andern aber nach jetziger moderner Manier ›Frau Eberhard‹. Denke dir das, Kind, du müßtest ja jedesmal erröthen!«
»Im Gegentheil, Mama, das würde mich freuen. Bei seinem Namen genannt zu werden, erinnerte mich ja stündlich daran, daß ich ihm gehören darf.«
»Liane, Liane!«
Frau von Pahlen wußte sich nun nicht mehr zu helfen. Nachdem alle ihre triftigen Gründe bei ihrer Tochter nichts zu fruchten schienen, sank ihr wirklich das Herz, und alle ihre gute Erziehung verließ sie zum ersten mal, um der natürlichsten Entmuthigung Platz zu machen. Sie weinte wie ein Kind und rief dabei ihren verstorbenen Mann zu Hülfe, der sie zu sich nehmen möge, von einer Welt, wo sie Niemanden mehr habe und eine unnatürliche Tochter ihr das Herz breche.
Hätte sie gleich diesen Ton angeschlagen, so wäre Liane vielleicht zu entmuthigen gewesen; denn sie liebte ihre Mutter trotz aller ihrer Schwächen. Aber Frau von Pahlen hatte durch ihre nichtigen Einwände gerade erst Lianen recht deutlich gezeigt, daß gar nichts Wichtiges und Wesentliches gegen ihre Verbindung mit Eberhard einzuwenden war. Nun bedauerte sie blos mit dem Gefühle, ihr nicht helfen zu können, den Jammer ihrer Mutter.
»Ich will jetzt gehen, Mama. Ruhen Sie ein wenig, und wenn Sie mir etwas zu sagen haben, lassen Sie mich rufen.«
Mehr als zwanzig mal wurde Liane zu ihrer Mutter gerufen; immer von neuem wußte Frau von Pahlen einen wichtigen Einwurf, aber ohne das gottlose Kind zu überzeugen.
Als am andern Morgen Eberhard kam, lag Frau von Pahlen mit heftiger Migräne noch zu Bett. Liane theilte Ihrem Geliebten die Vorfälle des gestrigen Tages mit.
»Liane«, sagte Eberhard mit beklommener Summe, »gestehen Sie mir offen – bereuen Sie nicht, mir Ihr Wort gegeben zu haben?«
»Ludwig!«
»Alles kann jetzt noch ungeschehen gemacht werden. Niemand weiß darum, als Ihre Mutter und das treue Gretchen. Wenn Sie die Wünsche Ihrer Mutter nicht unberücksichtigt lassen wollen, so reise ich mit dem Erbprinzen. Bis ich wiederkehre, hat sich vielleicht Manches verändert. Ueberlegen Sie es noch einmal, Liane; heute Abend aber schreiben Sie mir bestimmte Antwort. Bis dahin schickt es sich wol, daß ich Sie verlasse.«
Und er nahm seinen Hut. Diese wenigen Worte waren ihm sehr schwer geworden; aber seine tiefe, innige und reine Liebe zu dem Mädchen hatte allen Egoismus, alle kleinliche Eitelkeit, allen geschmeichelten Stolz des glücklichen Erfolges in ihm verwischt.
Liane stellte sich ihm lächelnd in den Weg und reichte ihm beide Hände hin. »Nimm sie beide, Ludwig; denn nur wenn ich dir Alles gebe, Leben und Zukunft, kann ich noch glücklich sein. Wozu schreiben? Der Brief würde nur ein Wort enthalten: Dein, dein, dein!«
Eberhard umfaßte ihre beiden Hände und küßte sie abwechselnd – so glücklich hatte er doch nie zu werden geglaubt.
Liane fühlte, daß Eberhard ein entschiedenes Auftreten von ihr verlangte, daß er, wenn sie es unterließe, an ihrer Liebe zweifeln würde. Im Grunde galt es ja auch nur, den Vorurtheilen ihrer Mutter zu trotzen; das Vorurtheil der übrigen Welt hatte sie ja nicht einmal gegen sich; denn im Allgemeinen fand diese Welt einstimmig, daß der talentvolle, gebildete, schöne Mann eine ganz passende Partie für Liane Pahlen sei.
Und so blieb sie denn fest und vor der einfachen Entschiedenheit ihres Willens beugte sich Frau von Pahlen viel schneller, als ihre Tochter es zu hoffen gewagt. Die alte Dame war kein Charakter, der an fortwährender Reibung und am häuslichen Zwiste Gefallen fand: das hätte ihren Nerven zu viel zugemuthet und sie hätte es auch am Ende ebenso unanständig gefunden, als einen bürgerlichen Schwiegersohn zu haben. So ergab sie sich denn seufzend in ihr Loos. Der erste Besuch aber, den ihre Kinder als Verlobte machten, galt Gretchen. Es war Eberhard's ausdrückliches Verlangen gewesen. Alles Blut schoß zu Gretchen's Herzen zurück, als Eberhard ihr Liane als seinen Braut vorstellte: aber gleich darauf röthete sich ihr sanftes Gesicht von einem freudigen Glanze, als er hinzusetzte:
»Und Sie, Gretchen, sind es nun doch eigentlich, der ich mein Glück verdanke. Sie sind es, die mit einem Worte in mir die Energie geweckt haben, nach einem Preise zu ringen, den ich früher nicht zu hoffen wagte, nicht zu erstreben den Muth hatte!«
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