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Siebentes Kapitel

Als Adrian Montag abends sich nach dem Chelsea-Viertel begab, stellte er unterwegs Betrachtungen über den Charakter dieses Stadtteils an. Chelsea war jetzt nicht mehr, was es einst gewesen. Noch in der spätviktorianischen Zeit gemahnten seine Insassen einigermaßen an Höhlenbewohner – sie waren es gewöhnt, sich zu ducken, nur hie und da hauste ein Genie oder ein Geschichtsforscher in ihrer Mitte. Scheuerfrauen, Künstler, die nur mit Müh und Not den Mietzins aufbrachten, Schriftsteller mit einem Tageseinkommen von viereinhalb Shilling, Ehepaare, reif für den Scheidungsgerichtshof, Dämchen, die um einen Shilling die Stunde jedermann in ihre Kammer ließen, Freunde eines guten Tropfens, begeisterte Anhänger von Turner, Carlyle, Rossetti und Whistler; ferner einige Schankwirte, eine beträchtliche Anzahl dunkler Ehrenmänner und Leute, die sich viermal in der Woche von Hammelfleisch nährten. Hinter einer stattlichen Häuserzeile am Themsekai sah es immer ehrsamer aus, und jetzt schien diese Wohlanständigkeit sogar schon an die unverbesserliche King's Road heranzureichen und offenbarte sich dort in Bollwerken der Kunst und des modernen Geschmacks.

Angela Forests Haus lag in der Oakley Street. Adrian entsann sich der Zeit, da es noch nicht die leiseste persönliche Note aufwies und von einer Familie eingefleischter Schöpsenvertilger bewohnt war. Angela lebte nun seit sechs Jahren in diesem Heim und hatte es in ein entzückend behagliches Nest verwandelt. Adrian hatte alle die schönen Schwestern der Familie Montjoy gekannt, die man in der Londoner Gesellschaft traf; von ihnen war Angela die jüngste, schönste und besaß am meisten Witz und Geschmack. Sie war eine jener Frauen, die trotz ihres untadligen Rufs und sehr bescheidenen Vermögens dennoch durch die vornehme Eleganz ihrer Person und Umgebung allgemein Neid erregen. Ihre beiden Kinder, ihr schottischer Schäferhund (fast der einzige, den es noch in London gab), ihr Spinett, ihr Himmelbett, ihre Kristallgläser, Möbelbezüge und Teppiche – alles zeugte für Adrians Gefühl von feinstem Geschmack, erfüllte jeden mit Behagen. Und sie selbst nicht minder: ihre noch immer vollendet schöne Gestalt, die klaren, lebhaften dunklen Augen, das Oval des Gesichts, der elfenbeinfarbne Teint, das eigentümlich Frische ihrer Stimme. Alle Schwestern der Familie Montjoy hatten diese eigenartige Aussprache von ihrer Mutter, einer Schottin, geerbt und dadurch im Laufe von dreißig Jahren auf die Sprechweise der Londoner Gesellschaft nicht unbeträchtlichen Einfluß geübt. Ihr Einkommen war unbedeutend, ihr Gatte lebte im Irrenhaus, dennoch war Angela überall in der Gesellschaft willkommen. Wie kam das? Adrian pflegte zur Erklärung den Vergleich mit einem baktrischen Kamel heranzuziehn. Die beiden Höcker jenes Tiers gemahnten an die beiden Gruppen der ‹Gesellschaft› und waren durch ein schmales Joch miteinander verbunden, das selten öfter als einmal benützt wurde. Die Montjoys, eine alte Gutsbesitzerfamilie in Dumfriesshire, waren im Lauf der Jahre zahllose Verbindungen mit dem Adel dieser Grafschaft eingegangen und hatten sozusagen einen Stammsitz auf dem Vorderbuckel inne – eine etwas langweilige Position mit engbegrenztem Gesichtsfeld: der Kopf des Kamels war dem Auge im Weg. Angela wurde oft in große Häuser geladen, deren Mitglieder sich hauptsächlich mit Jagden beschäftigten, mit dem Hofdienst, dem Ehrenpräsidium von Spitälern und der Förderung junger Debütantinnen. Sie nahm diese Einladungen nur selten an, das wußte Adrian. Sie saß fest und sicher auf dem zweiten Höcker, der über den Schwanz hinweg weiten und anregenden Ausblick bot. War das eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft auf dem Hinterbuckel! Viele, darunter Angela selbst, waren von dem Vorderbuckel dorthin übersiedelt, andre waren am Schwanz des Kamels herauf geklettert, andre wieder waren vom Himmel gefallen oder kamen – aus Amerika. Um auf diesem Höcker einen Sitz zu ergattern, was Adrian selbst nie gelungen war, mußte man über Gewandtheit auf verschiednen Gebieten verfügen; dazu brauchte man entweder ein ausgezeichnetes Gedächtnis, um alles Gelesene und Gehörte prompt und wortgetreu wiederzugeben, oder aber eine Portion Mutterwitz. Wer keins von beiden besaß, konnte sich vielleicht einmal für kurze Zeit auf diesen Sitz schwingen, aber ein zweitesmal gewiß nicht wieder. Auch eine Persönlichkeit mußte man sein, die ihr Licht nicht unter den Scheffel stellte, doch nie zum ausgesprochenen Sonderling wurde. Hervorragende Leistungen auf irgendeinem Gebiet waren erwünscht, aber nicht unerläßlich. Bildung und gute Erziehung waren willkommen, doch nur dann, wenn sie nicht Langweile hervorriefen. Schönheit galt als Passierschein, mußte aber mit Temperament gepaart sein. Geld war wünschenswert, konnte aber dem Eigner nur im Verein mit andern Vorzügen einen Platz verschaffen. Der ausübende Künstler mit guter Stimme errang sich nach Adrians Beobachtung dort oben eher einen Platz als der schaffende. Organisatorische Begabung ließ man gelten, wenn sie nicht zu nüchtern und zu wenig geräuschvoll am Werk war. Einige Leute verdankten, wie es schien, ihren Platz der Fähigkeit, hinter den Kulissen Drähte zu ziehn und ihre Nase in jedermanns Topf zu stecken. Doch das bei weitem wichtigste Erfordernis war Redegewandtheit. Von diesem Hinterhöcker aus wurden zahllose Zügel gelenkt, doch war sich Adrian nicht im klaren, ob die Lenker das Kamel auch nur einen Schritt weiterbrachten; sie selber bildeten es sich freilich ein. Und inmitten dieser bunt zusammengewürfelten Gesellschaft saß Angela unerschütterlich im Sattel; sie erhielt so viel Einladungen, daß sie sich das ganze Jahr kostenlos durchfuttern und jedes Wochenende irgendwo als Gast hätte verbringen können. Um so mehr wußte ihr Adrian dafür Dank, daß sie dem Gesellschaftsleben so standhaft entsagte, um mit ihren Kindern und ihm beisammen zu sein. Gleich nach ihrer Hochzeit mit Hauptmann Ronald Forest war der Krieg ausgebrochen. Sheila und Ronald kamen erst nach Forests Rückkehr zur Welt. Jetzt waren sie sieben und sechs Jahre alt, richtige kleine Montjoys, wie Adrian ihrer Mutter immer wieder versicherte. Sie glichen ihr auch unverkennbar äußerlich und im Temperament. Aber Adrian allein wußte, daß nichts von allem, was Angela gelitten, sie so traurig machte wie der Gedanke, sie hätte diese Kinder eigentlich nicht haben dürfen. Diese Sorge war es, die wie ein Schatten auf ihren Zügen lag, wenn sie nicht grade lebhaft sprach. Er allein wußte auch, daß die sexuelle Besessenheit, die Forest knapp vor Ausbruch des Wahnsinns geplagt, den Geschlechtstrieb in ihr so ertötet hatte, daß sie seit vier Jahren eigentlich ein Witwendasein ohne alles erotische Verlangen führte. Ihm selbst brachte sie, wie ihm schien, echte Neigung entgegen, doch keine Spur von Leidenschaft.

Eine halbe Stunde vor dem Dinner fand Adrian sich ein und ging sogleich ins Schulzimmer hinauf, die Kinder zu besuchen. Eben erhielten sie vor dem Schlafengehen von der französischen Erzieherin Milch und Zwieback; sie empfingen Adrian mit hellem Jubel und drängten ihn, doch mit der Geschichte fortzufahren, die er ihnen unlängst zu erzählen begonnen hatte. Die Gouvernante zog sich zurück, sie wußte, was jetzt kommen würde. Adrian nahm den Kleinen gegenüber Platz, sah in die erwartungsvoll leuchtenden Kinderaugen und begann dort, wo er stehengeblieben war: «Der Mann, der die Baumkähne zu bewachen hatte, war ein Riesenkerl, kaffeebraun vom Scheitel bis zur Sohle; man hatte ihm wegen seiner gewaltigen Kraft diese Aufgabe anvertraut, an jener Küste trieben sich nämlich weiße Einhörner herum, eine wahre Landplage.»

«Pah! Onkel Adrian, Einhörner gibt's doch gar nicht.»

«Heutzutage freilich nicht mehr, Sheila.»

«Wohin sind sie denn gekommen?»

«Am Ende blieb nur eines übrig, und das lebt in einer Gegend, wohin die Weißen nicht vordringen können, wegen der Bubufliege.»

«Die Bubufliege, was ist denn das?»

«Die Bubufliege, Ronald, frißt sich ins Fleisch der Wade ein, legt dort Eier, und daraus schlüpfen ihre Jungen.»

«O weh!»

«Also wie ich vorhin schon sagte, trieben sich an dieser Küste weiße Einhörner herum. Der braune Wächter am Strand hieß Mattagor und verfuhr mit den Einhörnern auf folgende Weise: Zunächst lockte er sie mit Krinibobs an die Küste hinab –»

«Krinibobs? Was ist denn das?»

«Beeren; sehn aus wie Erdbeeren und schmecken wie Karotten. Mit diesen Krinibobs lockte er sie also an den Strand, dann schlich er hinter ihnen her –»

«Er ist ihnen doch mit den Krinibobbeeren vorangelaufen, wie hat er sich da hinter ihnen herschleichen können?»

«Er zog die Krinibobs gewöhnlich über einen aus Pflanzenfasern gedrehten Faden und hängte diese Kette zwischen den Zauberbäumen auf. Sobald die Einhörner an den Beeren zu knabbern begannen, sprang er lautlos auf den bloßen Füßen aus seinem Versteck im Gebüsch hervor und band die Tiere zu zweit mit den Schwänzen aneinander.»

«Haben die denn nicht gespürt, daß er sie an den Schwänzen zusammenband?»

«Nein, Sheila. Der Schwanz ist bei den weißen Einhörnern ganz gefühllos. Dann schlich er sich in den Busch zurück und schnalzte mit der Zunge, da rannten die Einhörner in wilder Flucht davon.»

«Rissen sie sich dabei nicht die Schwänze aus?»

«Nie. Das war eben Mattagors Kunst, beim Zusammenbinden gab er gut acht, er war nämlich sehr lieb zu Tieren.»

«Da kamen die Einhörner wohl nie wieder hin?»

«Doch, Ronny. Sie knabbern Krinibobs gar zu gern.»

«Ist der braune Mann je auf Einhörnern geritten?»

«Ja. Manchmal sprang er mit einem Satz auf zwei zusammengebundene Tiere, stand mit einem Fuß auf dem Rücken des einen, mit dem andern auf dem des zweiten und sprengte mit trocknem Lachen in den Dschungel hinein. Die Kähne waren, wie ihr euch denken könnt, bei ihm in guter Hut. Die Regenzeit war vorbei, und mit ihr schienen auch die Blutegel so ziemlich verschwunden; der Zug der braunen Gesellen wollte eben aufbrechen, da –»

«Da? Was war da, Onkel Adrian? Weiter, es ist nur Mutti.»

«Weiter, Adrian!»

Doch Adrian schwieg, sein Blick hing an der Erscheinung der nahenden Angela. Dann sah er zu Sheila hinüber und fuhr in seiner Erzählung fort: «Aber ich muß euch jetzt noch erklären, warum der Mond so wichtig war. Sie konnten den Auszug nicht antreten, ehe nicht der Halbmond hinterm Geäst der Zauberbäume emporstieg.»

«Warum nicht?»

«Das werde ich euch gleich berichten. In jenen Tagen hatten die Menschen, besonders jener Stamm brauner Phwataleute, Hochachtung vor der Schönheit. Schöne Dinge wie etwa Mutti, Weihnachtsgeschenke oder heurige Kartoffeln machten großen Eindruck auf sie. Und ehe sie sich auf ein Unternehmen einließen, mußten sie ein Omen haben.»

«Omen, was ist das?»

«Ihr wißt doch, was ein Amen ist, es kommt immer am Schluß, na, und ein Omen kommt am Anfang und bringt Glück. Und das Omen mußte schön sein. Nun war der Halbmond das Schönste, was es in der dürren Jahreszeit gab, drum mußten sie warten, bis er durchs Geäst der Zauberbäume zu ihnen kam, wie ihr eben Mutti durch die Tür zu uns kommen saht.»

«Aber der Mond hat doch keine Füße.»

«Nein, die Mondfrau schwimmt in einem Kahn. Und an einem klaren Abend schwammen sie heran, schöner als alles Schöne auf Erden, schlank und herrlich anzuschaun. Mit so gütigem Blick sah sie die Männer an, daß alle wußten, ihr Auszug müsse erfolgreich sein. Sie neigten sich tief vor ihr und sagten: ‹Glückbringendes Omen, wenn du mit uns ziehst, dann wandern wir furchtlos durch sandige Wüsten und über die wilden Wasser des Meeres, dich vor unsern Augen. Und das Glück, das du uns bringst, macht uns selig in alle Ewigkeit. Amen.› Nach diesem Gebet stieg der Phwatastamm in die Baumkähne, Mann für Mann und Frau für Frau, bis alle in den Booten saßen. Und durchs Geäst der Zauberbäume lugte die Mondfrau hervor und segnete sie mit ihren Blicken. Doch ein Mann war zurückgeblieben, ein alter Phwataknabe, der sich so sehr nach der Mondfrau sehnte, daß er darüber alles andre vergaß und auf sie zukroch, in der Hoffnung, er könnte vielleicht ihre Fußspitzen berühren.»

«Sie hatte doch gar keine Füße!»

«Er glaubte eben, sie habe welche. Ihm kam der Halbmond wie eine Frau vor, ganz aus Silber und Elfenbein; und so kroch er zwischen den Zauberbäumen ein und aus und konnte sie nicht erreichen, sie war ja die Mondfrau und fern, so fern.»

Adrian schwieg. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Dann rief er: «Fortsetzung folgt», und eilte hinaus. Angela holte ihn in der Halle ein.

«Adrian, du verdirbst mir die Kinder. Ihr Interesse an den technischen Errungenschaften der Gegenwart darf nicht länger durch Märchen und Fabeln gestört werden, begreifst du das nicht? Als du fort warst, fragte mich Ronald: ‹Mutti, glaubt denn Onkel Adrian wirklich, daß du die Mondfrau bist?›»

«Und was gabst du ihm drauf zur Antwort?»

«Etwas Diplomatisches. Aber sie setzen einem scharf zu, die kleinen Kobolde.»

«Geh, sing mir doch das Negerlied vom ‹Wasserträger› vor, ehe Dinny und der Amerikaner kommen.»

Während sie so saß und sang, ruhte Adrians Blick in stummer Anbetung auf ihr. Sie hatte eine gute Stimme und trug jenes seltsam bestrickende Lied anmutig vor. Kaum waren die letzten Töne verklungen, da meldete das Stubenmädchen: «Miß Cherrell. Professor Hallorsen.»

Hocherhobenen Haupts trat Dinny ein. Adrian vermochte den Ausdruck in ihren Augen kaum zu deuten. Schuljungen sahn so drein, wenn sie drangingen, einen ‹Neuling› durchzuwalken. Nach ihr kam Hallorsen; riesengroß wirkte er in diesem kleinen Empfangszimmer, seine Augen blitzten vor gesunder Kraft. Als ihm Dinny vorgestellt wurde, machte er eine tiefe Verbeugung. «Vermutlich Ihre Tochter, Herr Kustos?»

«Nein, meine Nichte; eine Schwester des Hauptmanns Hubert Cherrell.»

«Ah, wirklich? Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, gnädiges Fräulein.»

Adrian gewahrte, wie die Blicke der beiden sich trafen und kaum wieder voneinander loskamen.

«Professor, wie behagt es Ihnen im Piedmont-Hotel?»

«Die Küche ist ausgezeichnet, zuviel Amerikaner sind mir dort.»

«Die nisten jetzt dort wohl wie die Schwalben?»

«Stimmt! Aber in vierzehn Tagen sind wir alle wieder auf und davon geflogen.»

Dinny war jeder Zoll eine Engländerin; überdies hatte der Kontrast zwischen Hallorsens blühender Gesundheit und Huberts erschöpftem Aussehn ihren Groll sogleich noch erhöht. So ließ sie sich denn neben diesem Urbild eines Mannes und Eroberers nieder, fest entschlossen, ihm möglichst viel Pfeile in den Leib zu bohren. Hallorsen wurde jedoch sofort von Angela ins Gespräch gezogen. Dinny hatte noch nicht ihre Suppe ausgelöffelt (Kraftbrühe mit einer Dörrpflaume), da maß sie ihn verstohlen und änderte ihren Plan. Schließlich war er hier ja doch Fremder und Gast und sie nach allgemeiner Ansicht eine Dame; man mußte es auch anders deichseln können. Viele Wege führen nach Rom. Nein, sie wollte ihm keine Pfeile in den Leib bohren, sie würde ihn mit honigsüßem Lächeln berücken. Das war taktvoller gegenüber Angela und Onkel Adrian und aussichtsvoller für das Gelingen ihres Kriegsplans. Mit bewundernswerter Schläue verhielt sie sich zunächst abwartend; als sich Hallorsen dann in das verfängliche Gebiet der englischen Politik hinauswagte – er sah sie augenscheinlich als bedeutende Offenbarung menschlicher Tatkraft an –, warf sie ihm einen ihrer Botticelliblicke zu und meinte: «Wir sollten uns mit der Politik Amerikas ebenso ernsthaft befassen wie mit der unsern. Aber ist sie denn wirklich ernst zu nehmen?»

«Kaum, Miß Cherrell, bin ganz Ihrer Meinung. Für die Politiker der ganzen Welt gibt es nur ein Gebot: ‹Wenn du in der Regierung sitzst, sag nur ja nicht dasselbe wie in der Opposition; sonst mußt du am Ende das durchführen, was schon deine Vorgänger als undurchführbar erkannt haben.› Zwischen den Parteien gibt es meiner Meinung nach nur einen wirklichen Unterschied: die eine sitzt im Staatsomnibus auf den Bänken, die andere hält sich taumelnd an den Griffen fest.»

«In Rußland liegt das, was von der andern Partei noch geblieben ist, jetzt wohl unter den Bänken.»

«In Italien ebenfalls», bemerkte Angela.

«Und Spanien?» fügte Adrian hinzu.

Hallorsen ließ ein Lachen hören, das ansteckend wirkte. «Diktaturen sind keine politischen Systeme», erklärte er. «Diktaturen sind Hanswurstiaden.»

«Sie sind kein Spaß, Professor!»

«Oder ein schlechter, Professor!»

«Was verstehn Sie unter Hanswurstiaden, Professor?»

«Bluff. Mag sich auch die Natur der Menschen geraume Zeit den Vorschriften des Diktators scheinbar fügen, endlich wird der Bluff doch offenbar und – schwupps! ist er weg.»

«Wenn aber die Mehrheit des Volkes mit der Diktatur einverstanden ist», wandte Angela ein, «dann ist sie doch eine demokratische, vom Volke anerkannte Regierungsform?»

«Höchstens dann, Mrs. Forest, wenn sie von der Mehrheit des Volkes jährlich neu bestätigt wird.»

«Diktatoren setzen viel durch», bemerkte Adrian.

«Das Land zahlt einen hohen Preis dafür, Herr Kustos. Denken Sie nur an Diaz in Mexiko. Zwanzig Jahre hindurch machte er aus seinem Land den Garten Eden; aber was ist seit seinem Rücktritt dann geworden? Man kann aus dem Volk nicht für die Dauer etwas herausholen, was es noch nicht in sich hat.»

«Unser politisches System und das Ihre, Professor, nicht minder», erklärte Adrian, «kranken daran, daß eine ganze Menge von Reformen, die der gesunde Menschenverstand des Volkes herbeiwünscht, darum nie zur Ausführung gelangen, weil unsre kurzlebigen Politiker sich nicht dafür einzusetzen wagen, aus Angst, sie könnten die Macht verlieren, die sie sowieso gar nicht besitzen.»

«Tante May», murmelte Dinny, «meint, man könne der Arbeitslosigkeit dadurch steuern, daß man von Staats wegen die Elendsviertel niederreißen und gesunde Wohnungen bauen läßt. So könnte man zwei Fliegen mit einem Schlag treffen.»

«Eine ausgezeichnete Idee!» rief Hallorsen und wandte ihr das strahlende Gesicht voll zu.

«Dieser Antrag fände starke Gegner: Die Zinsgeier der Elendsviertel, die Geldmenschen, die ihr Kapital hineinsteckten, und die Bauunternehmer», bemerkte Angela.

«Und zu all dem erfordert die Geschichte einen Haufen Geld», fügte Adrian hinzu.

«Spielend leicht zu machen», meinte Hallorsen. «Ihr Parlament könnte zur Durchführung dieser für das Volkswohl so wichtigen Sache eine Anleihe beschließen; was wäre denn mit einer solchen Staatsanleihe schon gewagt? Das Geld fließt doch zurück und wird ja nicht wie bei einer Kriegsanleihe verpulvert. Was kostet England die Arbeitslosenunterstützung?»

Niemand wußte Bescheid.

«Ich bin der Ansicht, man könnte durch den Wegfall dieser Unterstützung die Zinsen einer großen Anleihe decken.»

«In der Politik», meinte Dinny zuckersüß, «tut nichts so not wie schlichtes Vertrauen. Darin sind Ihre Landsleute uns über, Professor Hallorsen.»

In die Züge des Amerikaners trat flüchtig ein Ausdruck, als wollte er sagen: ‹Honig um den Bart!›

«Allerdings hatten wir eine gehörige Portion schlichten Vertrauens, als wir nach Frankreich in den Kampf gegen Deutschland zogen. Aber wir haben diesen Vorrat aufgezehrt. In der nächsten Zeit werden wir uns auf die Sorge um das Heimatland beschränken.»

«Habt ihr euch euer schlichtes Vertrauen bis auf den heutigen Tag bewahrt?»

«Ich fürchte, das war einmal, Miß Cherrell. Damals hielt es unter zwanzig nicht einer für möglich, daß die Deutschen uns dort drüben verdreschen könnten.»

«Ich gebe mich geschlagen, Professor.»

«Bitte, kein Anlaß. Sie beurteilen Amerika nach den Verhältnissen in Europa.»

«Denken Sie doch an Belgien, Professor», warf Angela ein. «Auch bei uns gab es zu Kriegsbeginn noch schlichtes Vertrauen.»

«Verzeihung, gnädige Frau, aber ging Ihnen der Einfall in Belgien wirklich so nah?»

Adrian zog mit der Gabel Kreise auf dem Tischtuch. Er blickte auf und antwortete Hallorsen: «Mir persönlich gewiß. Vielleicht gab dieses Ereignis bei der Heeresleitung, Admiralität und Hochfinanz nicht den Ausschlag, vielleicht auch nicht bei einem Großteil der Gesellschaft, bei den Politikern und so weiter. Sie alle wußten, daß wir im Kriegsfall so gut wie sicher auf die Seite Frankreichs treten mußten. Aber einfachen Leuten wie mir und zwei Dritteln der über die politische Lage nicht so genau informierten Bevölkerung, der Arbeiterklasse, eigentlich der ganzen Nation schien der Einfall in Belgien das Entscheidende. Es war, als ginge ein berghoher Riese auf einen winzigen Knirps los, der aber hielt ihm mannhaft und unerschrocken stand.»

«Treffend formuliert, Herr Kustos», rief Hallorsen.

Dinny schoß das Blut in die Wangen. War dieser Mann wirklich so großmütig? Dann kam sie sich Hubert gegenüber beinahe wie eine Verräterin vor und bemerkte säuerlich: «Der Anblick Belgiens soll sogar Roosevelt aufgerüttelt haben.»

«Er hat so manchen von uns aufgerüttelt, Miß Cherrell. Doch wir waren ja dem Kriegsschauplatz so fern, und nur Ereignisse, die sich in der Nähe abspielen, peitschen das Gemüt auf.»

«Stimmt. Und wie Sie ja selbst sagen, wart ihr weit vom Schuß und habt erst gegen Kriegsende eingegriffen.»

Hallorsen blickte fest in ihre etwas herausfordernde Miene, verneigte sich und schwieg. Als er nach diesem seltsamen Abend von ihr Abschied nahm, fügte er hinzu: «Ich fürchte, Sie sind mir böse, Miß Cherrell.» – Dinny lächelte und blieb stumm.

«Dennoch hoffe ich, Sie wiederzusehn.»

«So! Weshalb denn?»

«Nun, ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß Sie Ihre Meinung über mich noch ändern werden.»

«Professor Hallorsen, ich habe meinen Bruder sehr lieb.»

«Ich habe Ihrem Bruder mehr vorzuwerfen als er mir, davon bin ich noch immer überzeugt.»

«Darüber werden Sie hoffentlich bald Klarheit erhalten.»

«Das klingt ja wie eine Kampfansage.»

Dinny warf den Kopf zurück. Sie ging auf ihr Zimmer, zu Bett; verdrossen biß sie sich die Lippe. Den Feind hatte sie weder überrumpelt noch bezaubert, sie empfand auch keinen ausgesprochnen Haß gegen ihn, sondern war sich über ihre Gefühle selbst nicht recht im klaren. Seine Größe gab ihm eine peinliche Überlegenheit über die andern. ‹Er gleicht einem jener Helden aus den Wildwestfilmen›, dachte sie, ‹der eines der halb verzweifelten, halb erwartungsvollen Mädels von der Farm entführt – wie der einen nur anschaut! Als hätt er einen schon vor sich auf dem Sattelknopf. Ein urwüchsiger Kraftkerl in Frack und weißer Weste. Ein starker, aber gewiß kein stiller Mann.› Ihr Zimmer lag auf der Gassenseite, vom Fenster aus sah sie die Themse, die Platanen des Kais und den weiten, sternklaren Nachthimmel. «Wer weiß», sagte sie laut zu sich, «vielleicht kommst du nicht so rasch aus England fort, wie du glaubst.»

«Darf ich herein?»

Dinny wandte sich um und sah Angela im Türrahmen stehn.

«Wie gefällt dir unser Freund, der Feind? Adrian kann ihn gut leiden.»

«Onkel Adrian lebt zuviel unter Gebeinen. Drum steigt ihm der Anblick eines Menschen von Fleisch und Blut zu Kopf.»

«Mag sein. Dieser Hallorsen ist der Typ eines männlichen Manns, ein Kerl, den die Frauen anbeten. Aber du hast dich tapfer gehalten, Dinny, anfangs schillerten deine Augen allerdings so grün wie Katzenaugen.»

«Jetzt gewiß noch grüner, da ich ihn ohne Kratzer entwischen ließ.»

«Tut nichts, wirst schon noch Gelegenheit dazu finden. Adrian hat ihm für morgen eine Einladung nach Lippinghall überbracht.»

«Was?!»

«Du hast weiter nichts zu tun, als dort zwischen ihm und Saxenden Zwietracht zu säen, und Hubert hat gewonnenes Spiel. Adrian hat es dir nicht erzählt, aus Angst, du könntest deine Freude verraten. Der Professor möchte die Jagd in England kennenlernen. Der arme Kerl hat keine Ahnung, daß er dabei in den Käfig der Löwin hineintappt. Deine Tante Emily wird ihm gegenüber entzückend liebenswürdig sein.»

«Hallorsen!» murmelte Dinny. «Er muß skandinavischer Herkunft sein.»

«Seine Mutter stammt, wie er mir sagte, aus alter angloamerikanischer Familie, vermählte sich aber mit einem zugewanderten Nordländer. Im Staat Wyoming ist er daheim.»

«Die weiten, offenen Prärien. Angela, warum bringt mich nur der Ausdruck ‹männlicher Mann› so in Harnisch?»

«Weißt du, das wirkt wie ein Zimmer mit einem Strauß flammender Sonnenblumen. Doch ‹männliche Männer› sind nicht nur in den weiten Prärien zu Hause. Auch Saxenden gehört zu dieser Gattung, wie du bald merken wirst.»

«Da bin ich aber neugierig!»

«Jawohl. Gute Nacht, liebe Dinny. Möge kein ‹männlicher Mann› dich im Traum heimsuchen!»

Als Dinny sich entkleidet hatte, holte sie wieder Huberts Tagebuch hervor und überlas nochmals eine Stelle, auf die sie beim Blättern gestoßen war: ‹Fühl mich hundsmiserabel heut abend, geradezu krepiert. Nur der Gedanke an Condaford hält mich noch aufrecht. Möcht wirklich wissen, was der alte Dr. Foxham sagte, wenn er mich hier beim Kurieren der Maultiere sehn könnte. Ich hab da ein Gebräu gegen ihre Kolik erfunden, das dreht einem den Magen um, wenn man nur dran riecht; aber es bringt die Biester bald wieder auf die Beine. Na, der Herrgott muß in guter Laune gewesen sein, als er die Eingeweide der Maultiere schuf! Gestern nacht hab ich geträumt, ich steh zu Haus am Rand unsres Jagdgehegs, und vor mir flattert ein Schwarm Fasanen auf. Doch um keinen Preis der Welt war ich imstande, den Hahn zu spannen – scheußlich, total gelähmt. Ich muß immer an den alten Haddon denken, wie er mich als Kind aufs Pferd setzte, und an seine Mahnung: ‹Vorwärts, Master Bertie! Die Beine anpressen, an die Mähne festhalten!› Der gute alte Haddon! Ein origineller Kauz. Endlich hat der Regen aufgehört. Es ist trocken, zum erstenmal seit zehn Tagen. Und Sterne gucken hervor.

Ein Schiff, ein Eiland, dort des Mondes Sichel,
Nur wenig Sterne, doch wie grell sie flimmern!

Könnt ich nur schlafen …!›


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