Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bobbie Ferrar hatte eines jener Gesichter, die mitten im Sturm und Wetter unerschüttert bleiben. Mit andern Worten: er war der ideale, unentwegte Beamte, so unentwegt, daß man sich das Funktionieren des Auswärtigen Amtes ohne ihn einfach nicht vorstellen konnte. Staatssekretäre mochten kommen und gehn, Bobbie Ferrar blieb, glatt, unerforschlich, und prachtvoll blinkten seine Zähne. Unzählige Staatsgeheimnisse barg er in der Brust, ob auch sonst noch was, wußte niemand. Unbestimmbaren Alters, klein und gedrungen, schien er überall unbeteiligter Zuschauer. Seine Stimme klang tief und weich. Im schwarzen Anzug mit feinen hellen Streifen, eine Blume im Knopfloch, hauste er in einem großen Empfangszimmer, wo es fast nichts zu sehen gab als die Leute, die den Minister des Äußern besuchen wollten und statt seiner Bobbie Ferrar zu sehn bekamen. In der Tat, ein Prachtsexemplar! Seine Schwäche war die Kriminalistik: Es gab keinen interessanten Mordprozeß, ohne daß Bobbie Ferrar nicht wenigstens eine halbe Stunde auf einem meist eigens für ihn freigehaltnen Sitz dabei assistiert hätte. Und er bewahrte die Protokolle aller jener Schwurgerichtsverhandlungen sorgsam in einer schön gebundnen Ausgabe. Er war ein Mann von Charakter; das bewies schon der Umstand, daß niemand sich mit ihm überwarf, obwohl fast jeder gegen ihn aufgebracht war. Die Leute kamen zu Bobbie Ferrar, nicht er zu ihnen. Warum? Was für Leistungen machten Bobbie Ferrar zu einer so wichtigen Persönlichkeit? Er war der Sohn eines Landjunkers, führte nicht einmal den Titel «Honourable». Und doch war dieser leutselige, unergründliche Mann immer auf dem laufenden, sein Wort war das Alpha und Omega des Auswärtigen Amts. Ohne ihn, seine Blume und sein mattes Lächeln wäre sein Ministerium eines Vorzugs beraubt gewesen, der ihm einen fast menschlichen Anstrich verlieh. Im Amt war er schon vor dem Weltkrieg gewesen, aus dem er rechtzeitig heimgekehrt war, wie es hieß, nur um das Ministerium davor zu bewahren, daß es seinen Charakter verlor, und um gewissermaßen Englands Eigenart zu wahren. Solange seine untersetzte Gestalt mit der Blume im Knopfloch und der undurchdringlichen Miene täglich gemessenen Schrittes in und aus dem hohen grauen Gebäude trat, konnte England nicht jenes eckige, überlaute, gehetzte Wesen annehmen, das der Krieg ihm aufdrängen wollte.
Am Morgen von Huberts Hochzeitstag blätterte er eben in einem Tulpenzwiebelkatalog, als man ihm Sir Lawrence Monts Karte übergab. Gleich drauf trat dieser selbst ein und fragte: «Sie kennen den Grund meines Besuches, Bobbie?»
«Vollkommen», erwiderte Bobbie Ferrar mit zurückgeworfnem Kopf, runden Augen und tiefer Stimme.
«Hat der Marquis Sie gesprochen?»
«Gestern hab ich mit ihm gefrühstückt. Ist er nicht erstaunlich?»
«Unser prächtigster alter Knabe», stimmte Sir Lawrence bei. «Was gedenken Sie also in der Sache zu tun? Der alte Sir Conway Cherrell war der beste spanische Gesandte, der je aus dem Auswärtigen Amt hervorging, und Hubert ist sein Enkel.»
«Hat er wirklich eine Narbe?» fragte Bobbie mit leichtem Grinsen.
«Natürlich hat er eine.»
«Hat er sie wirklich bei jener Gelegenheit bekommen?»
«Sie ungläubiger Thomas, natürlich!»
«Erstaunlich!»
«Warum?»
Bobbie Ferrar wies die Zähne. «Wer kann das beweisen?»
«Hallorsen beschafft die Zeugenaussage.»
«Aber die Angelegenheit fällt nicht in unser Ressort.»
«So? Doch Sie könnten sie dem Innenminister nahelegen.»
«Hm!» brummte Bobbie Ferrar mit tiefer Stimme.
«Sie könnten jedenfalls mit den Bolivianern drüber reden.»
«Hm!» erwiderte Bobbie Ferrar in noch tieferm Ton und überreichte Sir Lawrence Mont seinen Katalog. «Haben Sie schon diese neue Tulpensorte gesehn? Fabelhaft, was?»
«Passen Sie auf, Bobbie!» versetzte Sir Lawrence, «Hubert ist mein Neffe, ein durch und durch anständiger Kerl. So etwas geht doch nicht! Verstanden?»
«Wir leben in einem demokratischen Zeitalter», gab Bobbie geheimnisvoll zurück. «Die Sache ist im Parlament zur Sprache gekommen – Prügel, nicht?»
«Wenn nochmals Staub aufgewirbelt wird, müssen wir das nationale Moment hervorkehren. Hallorsen hat seine Kritik zurückgenommen. Nun lege ich die Sache ihn Ihre Hände. Ohne guten Grund werden Sie sich nicht dafür einsetzen, und wenn ich Sie den ganzen Vormittag dazu dränge. Aber Sie werden gewiß Ihr Bestes tun, weil diese Anklage wahrhaftig eine Schande ist.»
«Stimmt vollkommen», erwiderte Bobbie Ferrar. «Möchten Sie nicht zur Schwurgerichtsverhandlung im Mordprozeß von Croydon gehn? Unglaublich interessant! Ich hab zwei Plätze, einen davon hab ich meinem Onkel angeboten, aber der mag zu keiner Schwurgerichtsverhandlung gehn, solang die Hinrichtung nicht durch den elektrischen Stuhl erfolgt.»
«Ist jener Mensch schuldig?»
Bobbie Ferrar nickte. «Der Indizienbeweis steht allerdings auf sehr schwachen Füßen.»
«Nun, leben Sie wohl, Bobbie, ich verlaß mich auf Sie.»
Bobbie streckte ihm freundschaftlich grinsend die Hand hin.
«Auf Wiedersehn!» murmelte er durch die Zähne.
Sir Lawrence begab sich nach dem Westen ins «Coffee House», wo der Portier ihm ein Telegramm übergab: «Heirate Jeanne Tasburgh heute zwei Uhr, Pfarrkirche St. Augustin im Grünen. Du und Tante Emily herzlichst eingeladen. Hubert.»
Sir Lawrence trat ein und sagte zum Kellner: «Bringen Sie mir geschwind eine Stärkung, ich muß jetzt in die Kirche, zusehn, wie man meinen Neffen ins Joch spannt.»
Zwanzig Minuten später fuhr er mit dem Auto nach der Pfarre St. Augustin. Er kam einige Minuten vor zwei dort an und begegnete Dinny auf der Treppe.
«Heut siehst du blaß und interessant aus, Dinny.»
«Ich bin es auch, Onkel Lawrence.»
«Geht diese Geschichte aber im Eiltempo!»
«Jeannes Werk. Ich fühle mich so furchtbar verantwortlich, Onkel. Du mußt wissen, ich hab sie für ihn gefunden.»
Sie betraten die Kirche und steuerten auf die vordersten Kirchenstühle zu. Außer dem General, seiner Frau, Mrs. Hilary und Hubert waren nur noch zwei Zuschauer und ein Kirchendiener zugegen. Der Organist schlug ein paar Töne an. Sir Lawrence und Dinny nahmen in einem der Kirchenstühle Platz.
«Tante Emily fehlt», flüsterte Sir Lawrence, «tut mir gar nicht leid, sie läßt sich so leicht rühren. Wenn du einmal heiratest, dann laß auf die Anzeigen drucken: ‹Tränenspenden dankend verbeten.› Was lockt nur bei Hochzeiten soviel Salzwasser hervor? Sogar Gerichtsvollzieher vergießen Tränen.»
«Der Schleier!» erklärte Dinny. «Heut wird niemand weinen, weil die Braut keinen trägt. Sieh doch, da kommen Fleur und Michael!»
Sir Lawrence musterte die beiden durch sein Monokel, als sie das Kirchenschiff entlang näher schritten.
«Acht Jahre sind es jetzt her, seit ich bei ihrer Trauung war. Alles in allem sind die beiden nicht so schlecht gefahren.»
«Wahrhaftig nicht», flüsterte Dinny. «Fleur sagte mir erst gestern, Michael habe ein goldenes Herz.»
«So, wirklich? Nun, Dinny, es gab Zeiten, da hatte ich meine Zweifel.»
«Doch nicht an Michael?»
«Keine Spur, er ist ein Prachtskerl! Aber Fleur war ein- oder zweimal nahe dran, aus dem Taubenschlag zu flattern. Doch seit ihres Vaters Tod ist sie eine musterhafte Frau. Ah, da kommen sie!»
Die Orgel hatte mit einem Vorspiel begonnen. Alan Tasburgh führte die Braut am Arm durchs Kirchenschiff. Dinny bewunderte sein stattliches, gesetztes Auftreten. Jeannes Wangen glühten, sie sprühte vor Lebenskraft. Hubert war, die Hände auf dem Rücken, lässig dagestanden; doch als er sie erblickte, wandte er sich um, und sein gefurchtes, düsteres Gesicht begann zu strahlen. Dinny spürte ihre Kehle wie verengt. Dann sah sie Hilary, der still hereingekommen war, im Ornat auf den Stufen des Altars stehn.
«Onkel Hilary gefällt mir wirklich!» dachte sie.
Hilary hatte die Traurede begonnen.
Dinny hörte zu, was sie sonst in der Kirche nie tat. Sie wartete auf das Wort «Gehorsam» – es kam nicht. Sie wartete auf die üblichen sexuellen Anspielungen – sie unterblieben. Jetzt verlangte Hilary die Ringe. Jetzt steckte er sie ihnen an. Jetzt sprach er ein Gebet. Jetzt das Vaterunser, die Neuvermählten begaben sich in die Sakristei. Wie unglaublich schnell das alles vorüber war!
Sie erhob sich von den Knien.
«Erstaunlich prompt erledigt», flüsterte Sir Lawrence. «Wohin gehn die beiden jetzt?»
«Ins Theater. Jeanne will in London bleiben. Sie hat eine Arbeiterwohnung aufgetrieben.»
«Stille vor dem Sturm. Wenn nur Huberts Angelegenheit endlich aus der Welt geschafft wäre!»
Da kamen auch schon die Brautleute aus der Sakristei zurück. Auf der Orgel erklang der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn. Als Dinny die beiden das Kirchenschiff herabkommen sah, empfand sie, begeistert und zugleich bekümmert über den Verlust des Bruders, Genugtuung und Eifersucht. Dann merkte sie, daß auch Alan von mancherlei Empfindungen bewegt schien, und verließ den Kirchenstuhl, um zu Fleur und Michael hinzugehn. Als sie jedoch Adrian an der Eingangstür gewahrte, trat sie auf ihn zu.
«Was gibt's Neues, Dinny?»
«Soweit ist alles in Ordnung, Onkel. Ich geh geradewegs zu Angela zurück.»
Eine kleine Schar von Hilarys Pfarrkindern hatte sich draußen versammelt – das Volk läßt sich so gern durch die Geschicke des lieben Nächsten rühren. Quiekende Hochrufe erschollen, als Jeanne und Hubert ins Auto stiegen und davonfuhren.
«Fahr doch mit mir im Wagen, Onkel», bat Dinny.
«Ist es Forest unangenehm, daß du bei ihnen wohnst?» fragte Adrian im Auto.
«Er ist ganz höflich, nur schweigsam. Sein Blick hängt unverwandt an Angela. Er tut mir furchtbar leid.»
Adrian nickte. «Und sie?»
«Hält sich prachtvoll; tut, als wäre nichts geschehn. Er rührt sich überhaupt nicht fort, verbringt die ganze Zeit im Speisezimmer und sieht zum Fenster hinaus.»
«Er muß glauben, alle seien gegen ihn verschworen. Wenn er länger bei Vernunft bleibt, wird dieser Argwohn schwinden.»
« Muß er denn wieder verrückt werden? Es gibt doch auch Fälle vollkommener Heilung.»
«Soviel ich sehe, meine Liebe, gehört sein Fall wohl nicht dazu. Seine erbliche Belastung spricht dagegen und sein Temperament.»
«Früher hätte er mir vielleicht ganz gut gefallen. Er hat kühn geschnittne Züge, doch seine Augen sind entsetzlich.»
«Hast du ihn schon zusammen mit den Kindern gesehn?»
«Noch nicht. Doch sie sprechen in ganz nettem, unbefangnem Ton von ihm, er scheint ihnen also keinen Schreck eingejagt zu haben.»
«Im Sanatorium warfen sie mir eine Menge Fachausdrücke an den Kopf. Komplexe, dominierende Vorstellungen, Verdrängungen, Ideenflucht – und dergleichen mehr. Ich entnahm daraus nur so viel, daß bei seinem Leiden schwere Depressionen mit Zuständen wilder Erregung wechseln. In letzter Zeit trat beides in so leichtem Maße auf, daß man ihn fast als normal betrachten konnte. Nur muß man sich vor einer Wiederkehr dieser Anfälle hüten. Forest war seit jeher rebellisch veranlagt. Im Krieg ereiferte er sich über die Führer, nach dem Krieg über die Demokratie. Auch zu Hause wird ihn gewiß dies oder jenes in Harnisch bringen. Kommt es dazu, dann klappt er über kurz oder lang wieder zusammen. Wenn Waffen im Haus sind, solltet ihr sie fortschaffen, Dinny.»
«Ich werd es Angela sagen.»
«Es wird wohl besser sein, wenn ich nicht bis zum Haus mitkomme», meinte Adrian traurig in der Nähe seines Fahrziels.
Auch Dinny stieg aus. Eine Weile sah sie ihm noch nach, wie seine hohe Gestalt ziemlich gebeugt davonging, dann schritt sie die Oakley Street hinab und schloß die Tür auf. Forest stand auf der Schwelle des Speisezimmers. «Kommen Sie herein», sagte er, «ich will Sie sprechen.»
Eben war in dem getäfelten Raum mit den grüngoldnen Wänden der Lunch abgetragen worden. Auf dem alten, schmalen Eßtisch sah Dinny eine Zeitung, einige Bücher und eine Aschenschale. Forest schob ihr einen Stuhl hin und blieb mit dem Rücken zum Kamin stehn, der Flammen vortäuschte. Er sah sie nicht an, sie hatte also Gelegenheit, ihn gründlicher als bisher zu betrachten. Sein schönes Gesicht machte einen recht unerfreulichen Eindruck. Die hohen Backenknochen, das energische Kinn, das krause, graumelierte Haar, all das stach seltsam ab gegen die gierigen, flackernden, stahlblauen Augen. Seine gedrungene Gestalt, die in die Hüften gestemmten Hände und der vorgeneigte Kopf stimmten nicht recht zu diesen Augen. Mit mattem Lächeln lehnte sich Dinny erschreckt zurück. Er wandte sich ihr zu und fragte: «Was redet man über mich?»
«Hab kein Wort gehört; ich war jetzt nur bei der Hochzeit meines Bruders.»
«Ihr Bruder Hubert hat geheiratet? Wen denn?»
«Ein Mädchen namens Jeanne Tasburgh. Sie haben sie vorgestern gesehn.»
«Ach ja, ich hab sie eingesperrt.»
«Jawohl. Weshalb?»
«Sie kam mir gefährlich vor. Wissen Sie, ich bin freiwillig in die Anstalt gegangen, man hat mich nicht zwangsweise interniert.»
«Ich weiß, ja, Sie sind ganz freiwillig dort gewesen.»
«Es war dort nicht einmal so schlecht, aber –! Na, wie seh ich denn jetzt aus?»
Dinny erwiderte sanft: «Ich hab Sie früher nie gesehn, nur einmal aus der Ferne. Doch mir scheint, Sie sehn sehr gut aus.»
«Es geht mir auch gut. Ich habe meine Muskeln trainiert. Drauf hat mein Wärter geachtet.»
«Haben Sie viel gelesen?»
«In der letzten Zeit ja. Was halten die Leute von mir?»
Bei dieser Wiederholung seiner Frage sah ihm Dinny voll ins Gesicht.
«Was sollen sie von Ihnen denken, wenn man Sie nie zu Gesicht bekommt?»
«Sie wollen damit sagen, ich sollte mit Leuten zusammenkommen?»
«Ich kann Ihnen freilich nicht raten, Hauptmann Forest, aber ich sehe nicht ein, warum Sie es nicht sollten. Mich sehn Sie doch auch.»
« Sie mag ich gut leiden.»
Dinny streckte ihm die Hand entgegen.
«Sagen Sie mir ja nicht, daß ich Ihnen leid tu», rief Forest schnell.
«Warum sollt ich das sagen? Ich bin überzeugt, Sie sind völlig gesund.»
Er bedeckte die Augen mit der Hand.
«Ich bin es. Doch wie lange noch?»
«Warum nicht immer?»
Forest wandte sich dem Kamin zu.
Dinny fuhr schüchtern fort: «Wenn Sie sich keine Sorgen machen, wird Ihnen nichts weiter geschehn.»
Schnell wandte sich Forest nach ihr um: «Sind Sie viel mit den Kindern zusammen gewesen?»
«Nicht viel.»
«Haben Sie an ihnen irgendeine Ähnlichkeit mit mir entdeckt?»
«Keine; sie geraten Angela nach.»
«Gott sei Dank! Und was hält Angela von mir?» Diesmal suchte sein Blick den ihren, und Dinny erkannte, daß von ihrer Antwort jetzt vielleicht alles, alles abhing.
«Angela ist froh über Ihre Rückkehr.»
Er schüttelte heftig den Kopf. «Unmöglich.»
«Die Wahrheit scheint oft unmöglich.»
«Sie haßt mich also nicht?»
«Warum sollte sie's?»
«Hören Sie – Ihr Onkel Adrian! Was ist zwischen den beiden los? Bitte, stellen Sie es nicht in Abrede.»
«Mein Onkel betet Angela an», entgegnete Dinny ruhig, «drum eben sind sie Freunde geblieben.»
«Nur Freunde?»
«Nur Freunde.»
«Sie wissen vermutlich nicht alles.»
«Ich weiß es ganz bestimmt.»
Forest seufzte: «Sie sind eine gute Seele! Was täten Sie an meiner Stelle?»
Wieder fühlte Dinny jene schwere Verantwortung auf sich lasten.
«Mich wahrscheinlich Angelas Wünschen fügen.»
«Was wünscht sie denn?»
«Ich weiß nicht. Sie weiß es wohl selbst noch nicht.»
Forest wanderte zum Fenster und wieder zurück.
«Ich muß etwas für die armen Teufel, meine Schicksalsgefährten, tun.»
«Oh!» rief Dinny bestürzt.
«Ich hab bei alledem noch Glück gehabt. Die meisten, denen es so geht wie mir, werden von Amts wegen als gemeingefährlich erklärt und zwangsweise eingesperrt. Wäre ich arm gewesen, ich hätt mir dieses Sanatorium nicht leisten können. Der Aufenthalt dort war ja schlimm genug, aber doch noch tausendmal besser als in den gewöhnlichen Anstalten. Ich hab mir von meinem Wärter so manches erzählen lassen. Er kennt zwei oder drei dieser Häuser.»
Schweigend stand Forest da. Dinny fielen die Worte ihres Onkels ein: ‹Er wird über irgend etwas in Harnisch geraten und klappt dann wieder zusammen.›
Plötzlich hob Forest wieder an: «Würden Sie sich mit der Irrenpflege befassen, solang Sie noch irgendeine andre Beschäftigung finden: Sie nicht und auch niemand andrer, der Gefühl und Nerven hat. Das mag vielleicht hie und da ein Heiliger tun; aber wieviel Heilige gibt es in der Welt? Wer sich mit uns abgeben will, der darf weder Herz noch Mitgefühl haben, nur eine Haut so dick wie Sohlenleder. Hart muß er sein wie Stahl und ohne eine Spur von Nerven. Wer zarte Nerven hat, der ist ärger für uns als die Dickhäuter. Der wird fahrig und nervös und steckt uns damit an. Wo gibt es da einen Ausweg? Mein Gott, wie oft hab ich schon drüber nachgedacht! Und dann – die Geldfrage. Niemand, der Geld hat, sollte in eine dieser Anstalten gesteckt werden. Nie und nimmer! Sperrt ihn zu Hause irgendwo ein – irgendwo. Hätt ich nicht gewußt, daß ich mich jederzeit aus dem Staub machen kann, hätt ich mich nicht sogar in der schlimmsten Zeit an diesen Gedanken geklammert, ich stände nicht hier, tobsüchtig wär ich geworden, Herrgott, tobsüchtig! Hätt ich nicht Geld gehabt, Geld! Aber wie viele haben Geld? Vielleicht fünf von hundert. Und die andern fünfundneunzig armen Teufel pfercht man irgendwo ein, ob sie wollen oder nicht, man pfercht sie ein! Diese Anstalten mögen noch so gut nach wissenschaftlichen Prinzipien geleitet sein, sie bedeuten den Tod. Jawohl! Die Leute draußen meinen, wir sind so gut wie tot – wer kümmert sich noch um uns? So denkt man in Wahrheit, und wenn man noch soviel von wissenschaftlicher Behandlung faselt. Wir sind schamlos, sind überhaupt keine Menschen mehr, die mittelalterliche Vorstellung vom Wahnsinn spukt noch immer in den Gehirnen. Eine Schmach und Schande sind wir, Verlorene. Versteckt uns, begrabt uns lebendig, human, versteht sich, wir leben ja im zwanzigsten Jahrhundert! Human? Versuchen Sie es nur. Unmöglich durchzuführen. Übertünchen wir also das ganze Elend. Eine dicke Schicht Tünche ist noch das einzige. Was bleibt sonst übrig! Mein Wort darauf, mein Ehrenwort! Ich kenne das.»
Dinny hörte reglos zu. Plötzlich lachte Forest auf. «Aber wir sind nicht tot, das ist eben das Unglück, wir sind nicht tot. Wären wir's doch nur! Alle diese armen Wichte sind nicht tot, sie fühlen jeden Schmerz genau so wie die andern, vielleicht mehr als andre. Davon kann ich ein Lied singen. Aber wie kann man ihnen helfen?» Er fuhr sich an den Kopf.
«Ihnen helfen», sagte Dinny sanft, «wäre das nicht herrlich!»
Er starrte sie an.
«Noch eine Schicht Tünche – das ist alles, was wir tun, was wir tun werden.»
‹Weshalb zerbrechen Sie sich also den Kopf?› wollte Dinny erwidern, doch sie drängte die Worte zurück.
«Vielleicht werden Sie das Heilmittel finden, Hauptmann Forest, aber dazu brauchen Sie Geduld und Ruhe.»
Forest lachte auf. «Sie müssen sich zu Tod gelangweilt haben.» Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab, dem Fenster zu.
Dinny stahl sich lautlos aus dem Zimmer.