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Die Langeweile hatte ihn fortgetrieben aus der Stadt. Aber er pflegte auch auf Reisen zu gähnen. Das flache Land mit seinen monotonen Pappelalleen, mit seinen stillen Dörfern und den endlosen Getreidefeldern . . . wie langweilig! Die großen Städte mit ihrem Fremdentrubel, ihrem Staub und ihren Ausstellungen . . . wie langweilig! Und erst das Gebirgsnest, in das ihn nach zielloser Fahrt der Zufall verschlagen hatte . . . wie langweilig! Und er that doch als Reisender seine Pflicht und Schuldigkeit. Er kaufte sich den »Führer durch X und Umgebung«, bestaunte das blaue »Meerauge« mit den zu fetter Trägheit aufgefütterten Forellen, untersuchte die Pfahlbautenreste am See und die Burgruine auf der Höhe des Waldberges, in dem einsam gelegenen Forsthaus ließ er sich Gemsbraten auftischen, in der Meierei aß er Butterbrot und schlürfte warme Kuhmilch, sogar die Dorfkirche besuchte er und unternahm jeden als »reizend« geschilderten Ausflug, jede als »interessant« empfohlene Tour. Aber ihn langweilte jeder Schritt, den er that, das leere Geschwätz seiner Führer, die kostümierten Dorfpuppen, die auf allen Wegen und Stegen umherlungerten, die müden verschwitzten Gesichter der Touristen, der Sonnenschein und das Regenwetter, sogar die findige, immer neue Art, in welcher er überall und von jedem geprellt und geschnitten wurde. Und nach langweiligem Tag der Abend im Speisesaal des Hotels! Zwei-, dreihundert Gäste an langen Tafeln; die Teller überklapperten das spärlich rinnende Geplauder der Menschen, die sich fremd waren, und in gleichmäßigen Zwischenräumen produzierte eine »heimische Sängergesellschaft«, kostümiert natürlich, mit gezierter »Urwüchsigkeit« eines ihrer dutzendmal gehörten Stücklein. Entsetzlich!
Noch einen letzten Tag, dann wieder weiter! Ein vorschriftsmäßiger Ausflug war ja noch abzufrohnen, der obligate Spaziergang in die »Klamm«. Die Hände in den Taschen des leichten Sakko vergraben, ohne Blick nach rechts oder links, so wanderte Egon den Weg dahin, dessen erste Hälfte über sonnige Wiesen führte. Dann begann ein breites Waldthal, welches enger und enger wurde. Ein reißender Bach schäumte zwischen felsigen Ufern, und aus der Tiefe der Schlucht hauchte eine erfrischende Kühle. Immer steiler wurde das Gehäng, immer näher trat es an den Bach heran, kahle Felsen, von dünnen Wasserfäden überronnen, schoben sich zwischen den Bäumen hervor, und dann verschwand alles Wachstum, und zwischen engen, wild zerklüfteten Steinwänden, so hoch getürmt, daß der Himmel nur noch herniederschimmerte als ein schmaler, lichtblauer Streif, tobte und rauschte das weiße Wasser, schoß durch finstere Schachte, stürzte sich in tiefe Kessel, gurgelte über Kies und Klötze und bildete stille Becken, auf welche sich der zarte Wasserstaub der zerschellten Tropfen niedersenkte gleich einem von Elfenhänden gewebten Schleier, der in den Farben des Regenbogens schillerte, wenn ihn ein Sonnenstrahl aus der Höhe traf.
Auf dem Balkensteg, der mit eisernen Klammern an der Felswand festgehalten war, durchwanderte Egon die Klamm. Was er sah, das alles war ja ganz hübsch, aber er hatte das alles schon zu dutzendmalen gesehen, noch großartiger, noch wilder und romantischer. Als er die Klamm durchschritten hatte und die Höhe der Schlucht erreichte, trug er aus dem dämmerigen Felsengrunde keinen anderen Gewinn empor unter den freien Himmel, als Langeweile und Ermüdung. Zwischen schattigen Büschen warf er sich in das blumige Gras und starrte hinunter in das Zwielicht der tiefen Schlucht. Ihm war so öd, so leer zu Mute. Felsen und Wasser, Himmel und Wald, Welt und Leben, alles widerte ihn an. Er stützte das Haupt auf die Hände und begann zu grübeln. Wenn es nur eines noch gäbe, nur ein einziges, um seine schläfrige Seele aufzurütteln, um diese ertötende Langeweile zu verscheuchen. Er sann und sann. Was war dieses eine, wo war es zu finden? Was ihm das Leben bieten konnte, das hatte er ausgekostet bis zur Neige. Ein Elternpaar, das ihn verzogen und verzärtelt, und dann die Reichtümer, die er geerbt – sie hatten ihm jeden Wunsch, den er nur empfinden konnte, längst gewährt, hatten ihn alles genießen lassen, was ein Menschendasein an Genuß nur zu finden vermag. Was also noch?
Er sann und sann, und seine irrenden Gedanken wiegten sich auf dem eintönigen Rauschen und Gemurmel, das emporquoll aus der Tiefe. Diese dumpfen geheimnisvollen Laute schlichen sich tiefer und tiefer in sein Ohr, das Denken erlosch in ihm, und er lauschte nur noch, lauschte und lauschte, bis es ihm war, als würde dieses dumpfe Tönen zu klar verständlicher Stimme, welche zu ihm sprach wie aus einer anderen Welt.
Aus einer anderen Welt? Er lächelte, und wie ein süßer Reiz überkam ihn die Empfindung, daß es ein Neues war, was jetzt in seinen wieder erwachenden Gedanken keimte. Das rauschende Gewässer sprach zu ihm wie verheißungsvolles Locken, wie freundliches Rufen: Komm, komm, komm! Er lauschte . . . und wieder lächelte er.
»Wenn ich es thäte?«
Und weshalb nicht? Er war ja Herr seiner selbst, er ließ ja keine Seele zurück, die um ihn hätte jammern und klagen müssen. Es blieben hinter ihm nur lachende Erben, und er konnte die Genugthuung mit sich hinunternehmen, daß seine letzte Laune doch wenigstens einem halben Dutzend Menschen eine wirkliche Freude gemacht hatte. Weshalb also nicht? Was ihm das Leben seiner fünfunddreißig Jahre geben konnte, das hatte er genommen mit beiden Händen . . . nur eines stand ihm noch aus: das Letzte, das einzig Neue noch, der Tod.
Lächelnd rückte er bis an den Rand des Abgrundes und beugte das Gesicht über die Tiefe. Ihn schauderte nicht. Was er sann, was er sich ausmalte von den Empfindungen des letzten Augenblicks, das ergötzte ihn. Er fühlte, wie sein Blut in Wallung kam, wie sein Herz in raschen Schlägen pochte, wie es glühte und sprühte in seinem Innern. Seltsam! Jetzt, da er sterben wollte, spürte er nach langer Zeit zum ersten male wieder, daß er lebte. Und dieses köstliche Empfinden sollte ihm zerrinnen in die alte Langeweile? Nie und nimmer! Es galt ja nur einen raschen Schritt, nur einen kurzen Schmerz, und er nahm diesen reizvollen Augenblick unzerstört mit hinüber in die schmerzlose Ruhe, in eine Ruhe ohne Langeweile, ohne Ekel und ohne Bitterkeit.
Tiefer und tiefer neigte sein Haupt sich über den Rand der Schlucht, und schon wollten seine Hände sich öffnen und den Halt verlieren. Da plötzlich schlug aus nächster Nähe der Wechsel zweier Stimmen an sein Ohr. Er horchte auf, und wie Neugier überkam es ihn . . . er wollte die letzten Menschen sehen. Lautlos drückte er die Zweige des Gebüsches zur Seite. Nur wenige Schritte vor ihm, auf einer Moosbank, saß ein junges Paar; die Ähnlichkeit der beiden verriet ihm, daß sie Geschwister waren. Egon betrachtete die Züge des jungen Mannes; es war ein schmales, feines Gesicht von blasser Farbe, ein wenig entstellt durch die blaue Brille, welche die Augen bedeckte; die schmalen Lippen lächelten, die Hände waren auf einen Stock gestützt, der Kopf lag etwas in den Nacken gedrückt . . . es war die Haltung eines Blinden. Seine Schwester schien um wenige Jahre älter zu sein. Ihre Gestalt war zart und von weichem Ebenmaß; aber aus jeder Bewegung sprach ein fester Wille. Ernste Sanftmut redete aus jedem Zuge des durchgeistigten Gesichtes, aus dem ruhigen Glanz der dunklen, schönen Augen. Sie schien soeben erst von einem Gange zurückgekehrt, denn Egon hörte sie sagen: »Ich wäre gerne noch länger geblieben, aber ich hatte Sorge um dich.«
Der Blinde schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe mich nicht von der Bank gerührt und habe ruhig gewartet, bis du kamst. Wärst du doch länger geblieben!«
»Ich habe mich schwer getrennt . . . es war so schön!«
Der Blinde atmete tief auf. »Sag' mir, was du gesehen hast.«
Nun schilderte die Schwester ihre Wanderung durch die Klamm. Es war ein Malen mit Worten. Man hörte aus ihrer Sprache, wie tief und mächtig die Schönheit des Erschauten auf ihre Seele gewirkt hatte, wie sie ganz erfüllt war von dem wundervollen Reiz des genossenen Bildes. Und was sie empfunden, das teilte sich aus ihren Worten dem Bruder mit, der in Spannung lauschte. Seine Wangen begannen sich zu röten, es lag auf seinem Gesicht wie ein begeistertes Schauen nach innen, und mit glücklichem Lächeln sprach er vor sich hin: »Wie schön! Wie schön!« Dann legte er die Hand auf den Arm der Schwester: »Sag' mir . . . wie war es weiter?«
»Ich kam an eine Stelle, an welcher hoch über meinen Häupten die Felsen sich schlossen, so daß mir der Himmel entschwand. Rings um mich her war tiefe Dämmerung. Ich sah an den Felsen keine Farbe mehr. Alles grau und dunkel; nur in der Tiefe schimmerte der weiße Schaum des Wassers, und die Tropfen, die von der Höhe fielen, leuchteten noch ein wenig, als hätten sie in ihrem kleinen Herzen ein Stäubchen Sonne aus dem hellen Tag mit heruntergestohlen in die Finsternis.«
»Ich sehe sie . . . ich sehe sie, wie sie fallen und leuchten,« stammelte der Blinde. »Sie fallen in mich hinein, wie ein Gruß von der Sonne . . . sag' mir, wo die Sonne steht?«
»Dort oben steht sie, gerade über dir.«
Der Blinde hob das Gesicht, er lächelte, und mit einem tiefen Zuge sog er die Sonnenwärme in seine Brust. Dann wieder: »Sag' mir, wie dir zu Mute war?«
»Ich stand . . . und da überfiel es mich plötzlich wie ein Bangen und Fürchten, wie ein Sehnen nach dem hellen Tag. Und ich dachte an dich und sorgte mich, meine Hände, mit denen ich mich festhielt am Geländer, zitterten, ich eilte vorwärts, und als ich über mir den blauen Himmel wieder sah, da war mir, als käm' ich aus dem Grab gestiegen, als wär' ich erwacht zu neuem Leben. Mir war so wohl, und alles, was ich sah, so voller Farbe, so sonnig und so schön! Die grünen Büsche neigten sich über den Rand der Felsen und griffen wie mit hundert kleinen Fingerchen in den blauen Himmel. Saftiges Moos und üppiges Flechtwerk spann sich über die steilen Wände hernieder, kleine Quellen sprudelten über die Stufen und flossen dann über die letzten schrägen Steine ganz sachte in ein großes Becken, in welchem das Wasser stille stand und mir zu Füßen lag wie ein blauer Spiegel, aus dem mein Gesicht mir entgegenlächelte wie mitten aus dem Himmel heraus. Hätt' ich nicht an dich gedacht, hier wär' ich gerne noch ein Weilchen geblieben . . . es war so schön!«
»So schön! So schön! Wie du es sagst, so seh' ich es vor mir . . . Gott ist so gut, daß er mich leben läßt und sehen mit deinen Augen.« Mit glückseligem Lächeln neigte der Blinde das Haupt gegen die Schulter der Schwester. »Und sag' mir, wie ist der Platz, vor dem wir sitzen?«
»Einige Schritte vor dir gehen die Stufen hinunter in die Schlucht. Von hier aus siehst du über ihren Rand hinweg. Drüben steigen die Hügel an, auf denen dunkler Wald mit hellen Wiesen wechselt; und hinter ihnen siehst du die hohen Berge; die kahlen Felsen sind von zartem Duft überflossen, der Schnee, der noch auf ihren Spitzen liegt, schimmert wie mattes Silber, und über allem der weite Himmel, blau und wolkenlos . . .«
»Mit seiner Sonne! Ich sehe sie nicht . . . aber wenn ich so das Gesicht hebe, dann fühl' ich die Wärme auf meinen Augen, auf meinem ganzen Gesicht . . . als hätte sie Hände, um mir die Wangen zu streicheln.«
So plauderten sie weiter . . . und Egon saß regungslos, die Hände waren ihm in den Schoß gesunken, er starrte mit feuchten Augen ins Leere und lauschte nur immer. Und als er hörte, daß die beiden den Platz verlassen wollten, ging es ihm wie ein Schmerz durch die Seele. Hastig sprang er auf und drückte die Zweige auseinander. Dort drüben im sonnigen Walde sah er sie dahin schreiten Arm in Arm, und er hörte noch die Stimme des Blinden: »Sag' mir, wie ist der Weg, den wir gehen?«
»Wir gehen im Walde. Wenn du hineinblickst zwischen die Bäume, siehst du ein zitterndes Gemisch von goldigem Licht und bläulichem Dunkel, denn der leichte Windhauch, den du fühlst, rührt die Blätter, und ihre Schatten spielen über das Moos. Die Rinde der Buchen glänzt wie graue Seide, und wenn du vor uns durch die lichter stehenden Bäume zur Höhe blickst, dann siehst du . . .«
Die Stimme erlosch, und Egon war allein. Doch immer noch starrte er der Richtung zu, in welcher die Beiden seinen Blicken entschwunden waren. »Er . . . und ich?« so stammelte er mit zuckenden Lippen. »Er dankt seinem Schöpfer für ein Leben, welches ich von mir werfen will, wie ein wertloses Ding. Mich widert an, was meine Blicke finden . . . und ihn entzückt, was er nicht sehen kann mit Augen.«
Die Hände fielen ihm nieder, er hob das Gesicht und ließ die Blicke langsam in die Runde gleiten. Und was er sah, erschien ihm wie eine neue Welt.
»Er ist der Sehende . . . ich war der Blinde!«
Und während er diese Worte murmelte, sah er das Antlitz des Blinden vor sich, mit geschlossenen Lidern, und dennoch mit Augen, groß und leuchtend. Mit ernstem Blicke waren diese Augen auf ihn gerichtet, und er hörte die Stimme des Blinden fragen:
»Sag' mir, was willst du beginnen?«
»Sterben will ich.«
»Sag' mir, weshalb du sterben willst?«
Er suchte nach einer Antwort und fand sie nicht. Was hätte er sagen können wider das Leben, wider die Menschen, wider alles . . . wie konnte es Geltung haben vor diesem einen, den er hatte sagen hören: »Gott ist gut, daß er mich leben läßt und sehen mit fremden Augen.« Und während er so stand, nach Worten ringend, die er nicht finden konnte, erschien ihm die »Laune«, die ihn angewandelt hatte an dieser Stelle, so häßlich und erbärmlich, daß ihn Scham und Reue überkamen.
Mit hastigen Schritten floh er den Rand der Schlucht und eilte dem Walde zu, in welchem er die beiden hatte verschwinden sehen. Und es war ihm, als ginge er nicht allein, er glaubte an seiner Seite einen leisen Schritt zu hören, er fühlte eine weiche Hand auf seinem Arme, die ihn führte, und zwei große, schöne Augen sahen ihn an in Mitleid und Erbarmen. Dieser Blick verließ ihn nicht mehr; auf dem ganzen Wege sah er vor sich nur immer dieses Antlitz mit den sanften stillen Zügen . . . und als er das Dorf erreichte und dem Blinden und seiner Schwester begegnete, schoß ihm jählings eine heiße Blutwelle aus dem Herzen in die Wangen.
Er war ein Neues suchen gegangen. Und was hatte er gefunden? Das ewig Alte.