Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Das Hagelwetter.

Zu höchst im Dorfe, auf einem aus dem sanft geneigten Berghang vorspringenden Grashügel, den nur wenige Obstbäume beschatteten, stand sein kleines Häuschen. Innerhalb der vier rissigen Wände gab es nicht viel des Sehenswerten; ein wahrer Schatz an Reichtum und Schönheit aber war die Aussicht, welche man von der Hausbank über das liebliche Waldthal, über den tiefblauen See und das am Ufer freundlich hingelagerte Dorf mit seinen weißblinkenden Häusern genoß. Um dieser Aussicht willen stiegen die Sommergäste gerne zu dem kleinen, hochgelegenen Häuschen hinauf. Und wenn der Naz nicht gerade auf der Wanderung war, dann machte er gerne den Wirt und bot seinen Gästen ein Glas Geißmilch zur Erfrischung an. Fragte man ihn, was man für den Trunk zu bezahlen hätte, dann drehte er den Rücken und brummte: »Ah, lassen S' mich aus, was wird's denn kosten!« Doch wehe dem Gast, der nach diesen Worten nicht auf den Einfall kam, ein ausgiebiges Trinkgeld auf die Hausbank ober auf das Gesims des immer offenen Fensters zu legen. Ihm wußte der Naz mit seiner gewetzten Zunge gar übel zuzusetzen.

Denn auf das Geld ging er aus, wie der Teufel auf eine arme Seel'. Wo es nur auf eine Meile weit einen Groschen zu riechen gab, da war der Naz gleich unterwegs. Das war ihm nun freilich nicht zu verdenken. Denn der Verdienst, den sein »Geschäft« ihm abwarf, hatte kaum die Mäuse in seinem stillen, einsamen Haus ernährt.

Unser Naz . . . seinen vollen Namen habe ich niemals nennen hören, zuweilen nur geschah es, daß er zum Unterschied von irgend einem Namensbruder der »Glaser-Naz« genannt wurde . . . unser Naz also war wohlbestallter Glasermeister für das Dorf und eine weite Umgegend; an die vier Stunden hätte er wohl wandern dürfen, um einem Konkurrenten ins Gehege zu kommen. Daraus mag auch zu schließen sein, daß sein Geschäft alles andere eher war, als eine Goldgrube. Was Wunder also, daß innerhalb der zwanzig Jahre, seit denen Naz die Glaserei betrieb, im Dorfe und all den umliegenden Gehöften kein noch so häßliches Dirnlein sich gefunden hatte, welches der Versuchung, Frau Glasermeisterin zu werden, nicht leichten Herzens entronnen wäre.

Einsamkeit zehrt. Und da der Naz auch außerdem wenig zu beißen hatte, so wurde mit der Zeit aus dem heiteren Burschen ein zaundürres, eingetrocknetes Männlein mit einem welken, furchigen Gesicht, das schon ein recht greisenhaftes Ansehen zeigte, obwohl der Naz die Fünfzig noch lange nicht erreicht hatte.

Die saure Gurkenzeit seines Geschäftes war der Winter. Vom ersten Schneefall bis zum letzten Tauwettertag brauchte der Naz keine Hand zu rühren. Die Leute im Dorfe lieben es nicht, im Winter ihre Zimmer zu lüften, denn die Ofenwärme hat flinke Füße. Und wo die Fenster nicht »strabbeziert« werden, da zerschlägt man wenig Scheiben. Und wenn das Unheil dennoch einmal ein Fenster klirren machte, dann wurden die Sprünge mit Papier verklebt, das that schon seine Dienste bis zum Frühjahr.

Wenn aber der Föhn die Berge freigeblasen hatte vom drückenden Schnee, und die Zeit der Märzenstürme vorüber war, dam kam für den Naz eine harte Zeit. Da mußte er an jedem grauenden Morgen die schwere Glaskraxe auf den Rücken nehmen und über hohe Bergpässe aus- und einwandern, um in den weit zerstreuten Gehöften die Schäden zu heilen, welche Winter und Föhn unter den Fensterscheiben angerichtet. Ein schwerer, saurer und dabei recht kärglicher Verdienst.

Aber je knapper dem Naz die Freuden des Lebens zugeschnitten waren, um so bockbeiniger ward seine Zuversicht, daß auch ihm noch einmal bessere Tage blühen müßten. Wenn er, mit seiner zentnerschweren Kraxe beladen, in der brennenden Sonne über rauhe Wege dahinstolperte, war es ihm wohl zu verzeihen, wenn er von angenehmeren Zeiten träumte, von einem sorglosen Alter, von einem »Schäfchen im Trockenen«, und wenn er sich sonst noch mit allerlei freundlichen Luftschlössern die Länge des Weges kürzte und die Mühsal erleichterte.

Und wer weiß, ob seine bescheidenen Träume sich nicht in Wirklichkeit verwandelt hätten, wenn das Glück nicht über ihn hergefallen wäre, jäh und verwirrend, wie ein Unglück.

Es war an einem Abend im Hochsommer. Zwei Damen saßen vor dem Häuschen des Naz und schlürften die frische Geißmilch. »Wir dürfen eilen,« meinte die eine, »hinter den Bergen steigt es ganz finster herauf, wir bekommen vor Nacht noch ein schweres Gewitter!«

Gewitter! Der Klang dieses Wortes goß einen hellen Glanz über das Gesicht des Naz.

»Sieh nur,« sagte die andere Dame, »die Wolken nehmen eine so seltsam gelbliche Farbe an. Das pflegt auf Hagel zu deuten.«

»Hagel.« Dieses »Schlagwort« zauberte einen ganzen Sonnenaufgang über die Züge des Naz. Was für gewöhnliche Menschenkinder ein gezogener Terno ist, das ungefähr bedeutete ein ausgiebiger Hagelschauer für den Glaser-Naz. Er achtete kaum mehr des freundlichen Grußes, mit dem sich die beiden Damen entfernten. Breitspurig stellte er sich unter die Hausthür und blickte den dickaufsteigenden Wolken mit so freundlichen Augen entgegen, wie ein Hirte seinen fetten Schafen. Und je finsterer der Himmel wurde, desto heller stieg die Hoffnung im Herzen des Naz empor. Als die ersten schweren Tropfen fielen, trat er in sein Stübchen und schloß alle Scheiben. Er war mit diesem Geschäfte noch kaum zu Ende, da begann schon der Regen niederzuklatschen, schwer und grau, Naz wanderte von einem Fenster zum anderen und blickte erwartungsvoll zu den wirbelnden, fahl gefärbten Wolken empor. Der erste Blitzstrahl zuckte nieder gegen den See, und ein rasselnder Donnerschlag machte die Lüfte beben und alle Fensterscheiben zittern. Das Klirren des Glases schien Musik in den Ohren des Naz, denn ein vergnügtes Schmunzeln spielte über seine welken Lippen. Nun plötzlich hob er den Kopf mit einer Bewegung, als möchte er die Ohren spitzen. Es klang und klirrte so seltsam an den Fensterscheiben, und immer rascher folgten diese klirrenden Töne aufeinander – dann jählings wurde die dämmernde Abendluft ganz weiß vom dicht fallenden Hagel. Als die erste Fensterscheibe zerschmettert in die Stube fiel, rieb sich Naz vergnügt die Hände und lachte: »So is recht! So is recht! Nur einig'haut, daß alles kracht! Nur einig'haut! Einig'haut!«

Es war, als hätte der böse Geist des Unwetters diese Worte vernommen und als wollte er so recht nach der Meinung des Naz sein unheimliches Geschäft erfüllen. Denn rings um das Haus erhob sich ein Knattern und Prasseln, ein Schmettern und Dröhnen, ein Toben und Stürmen, daß ein abergläubisches Gemüt hätte fürchten können, das Ende der Welt sei gekommen.

In allen Häusern des Dorfes, in allen Gehöften weit umher, mochte wohl in dieser sturmvollen Stunde Schreck und bange Sorge die Gemüter der Menschen bedrücken. In der Seele des Naz aber herrschte heller Jubel. Und als unter der schlagenden Wucht des Hagels, der in wallnußgroßen Körnern und in ungeheuren Massen fiel, eine Fensterscheibe um die andere, bis auf die letzte, zerschmettert vor den Füßen des Naz auf die Dielen klirrte, da überkam ihn ein völliger Freudenrausch. Er sprang und tanzte wie ein Narr in der Stube umher und schrie und lachte: »Jetzt krieg' i Arbeit! Kruzitürken! Dös giebt aber z'schaffen! So is recht! Nur einig'haut! Einig'haut!«

Durch die zerschlagenen Fenster peitschte der Sturm den Hagel in die Stube, daß der graue Bretterboden weiß übersät wurde. Aber darum kümmerte sich der Naz nicht mehr. Er begann die Arbeit. Hinter dem Ofen schleppte er seinen ganzen Glasvorrat zusammen und machte einen Überschlag. Für etwa hundert zerschlagene Scheiben mochte wohl sein Vorrat reichen – und vierzig Pfennige reiner Gewinn an jeder Scheibe – das waren vierzig Mark an sicherem Profit! Für den Naz das große Los!

Das Ungestüm der Freude machte seine Hände zittern, die Erregung machte ihn hastig, und so geschah es, daß eine der großen Glasscheiben in Scherben ging. Naz erblaßte und unter wirrem Stottern las er die Stücke zusammen. Das waren ja schon vier Fensterscheiben weniger! Und wenn der Hagelsturm an jedem Hause gewütet hatte, wie am Hause des Naz, dann waren wohl mehr als hundert Scheiben zerschlagen, mehr als zwei-, drei-, vierhundert, mehr als tausend! Was gab es da zu verdienen! Aber woher das Glas nehmen, das Glas, das Glas! Und woher die Zeit! Eine halbe Stunde für jedes Fenster mit vier Scheiben gerechnet – und wenn er vom frühen Morgen bis zum späten Abend schaffte, volle fünfzehn Stunden . . . das machte etwas über hundert Scheiben jeden Tag! Aber der Weg von einem Haus zum andern kostete wieder Zeit, wertvolle Zeit! Und die Leute würden mit ihm reden, ihm vorjammern, ihn stören in der Arbeit! Nein, er durfte nicht mehr als achtzig Scheiben rechnen auf jeden Tag. Und wenn es tausend Scheiben einzuschneiden gab – vierhundert Mark Gewinn an tausend Scheiben, ein Vermögen! . . . da hätte er schwere Arbeit durch vierzehn Tage! Würden denn die Leute sich so lange gedulden? Würden sie nicht aus der nächsten Stadt einen »Glaserer« kommen lassen? Nein, nein, das thäten ihm die Leute doch wohl nicht an, sie waren ihm ja gut, er war ja ein Kind des Dorfes! Das dürfen sie nicht . . . es war ja sein Recht, es war sein Glück! Aber woher das Glas nehmen, das Glas, das Glas . . .

Es wurde dem Naz ganz wirr im Kopfe. Wo er hingriff mit seinen Händen, zerdrückte er eine Scheibe, wo er hintrat mit seinen Füßen, da gab es Scherben . . . und dann, noch ehe das Unwetter zu Ende war, in sinkender Nacht, rannte er aus dem Hause, rannte durch alle Straßen des Dorfes, und als er Haus um Haus kaum mehr eine einzige unversehrte Fensterscheibe fand, da lachte er, und lachte, lachte . . .

Die Leute, die ihn sahen und erkannten, riefen ihm jammernd zu: »Nazi, Nazi, da schau, dös Unglück, alles is hin, alles, alles! Komm' nur gleich in aller Fruh, gelt, komm' nur gleich!«

Er aber rannte davon und lachte nur und lachte, so daß ihm die Leute kopfschüttelnd nachschauten: »Was hat er denn, der Naz, was hat er denn?«

Am anderen Morgen gab es eine völlige Wallfahrt nach dem Häuschen des Naz. Jeder rief seinen Namen, jeder wollte ihn und seine Arbeit zuerst haben. Im Häuschen aber blieb alles stille. Und als die Leute schließlich in ihrer Ungeduld die Thür eindrückten, fanden sie Scherben überall umher. Und vom Geländer der Treppe, die zum Bodenraum emporführte, hing ein regungsloser Körper nieder . . . der Körper des Naz.

Er hatte sich erhenkt. Das Glück, das ihm der Sturm gebracht, war zu groß für ihn gewesen.

 


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