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In der Mittagssonne hatte der Frost ein wenig nachgelassen. Der Schnee war weich geworden und klebte. Da war's mit dem Karren ein hartes Ziehen, denn in dicken Wulsten hängte sich der Schnee an die Räder und machte ihn schwerer als die Last, die ihm aufgeladen war.
Maralen zog, daß ihr der Atem fast verging. Als aber Josef einmal fragte, ob ihr die Mühsal nicht zu hart würde, blickte sie in ihrer Erschöpfung lächelnd zu ihm auf und sagte: »Sich plagen dürfen für sein Glück, das thut man doch gern.« Aber das Lächeln verging ihr wieder, wenn sie an den Vater dachte. Und das war bei ihr auf dem ganzen Weg ein steter Wechsel zwischen scheuer Freude und banger Wehmut. Die Heimat, die sie verlassen, hielt ihr Herz noch gefesselt – und all ihr Sehnen flog doch auch dem neuen Heim entgegen, das ihrer wartete. Sie hatte das Dach noch nicht gesehen, unter dem sie wohnen sollte in ihrem Glück – und je näher sie ihm kam, desto heißer zitterte ihr die Erwartung in allen Fibern. Schier endlos wollte ihr der Weg durch das lange schmale Thal erscheinen, in dem die Ache zwischen den steilen, weiß verschneiten Waldgehängen rauschte.
Man läutete die Mittagsglocke, als Josef und Maralen mit dem Karren die ersten Häuser von Schellenberg erreichten. Hier wartete Juliander mit den Kühen. »Eine ganze Stund steh ich schon allweil da und weiß nicht, wo ich hin muß.« Das sagte er so verdrossen, daß ihn die beiden ganz verwundert ansahen – so zu reden, das war doch sonst nicht seine Art.
»Julei? Was hast denn?« fragte Josef.
»Sag mir lieber, wo ich hin muß!«
»Allweil die Straß hinunter, durch das ganze Dorf.«
Juliander trieb die Kühe in Hast dem Karren voran – und da fiel es den beiden andern auf, daß er mit erregter Unruh nach allen Häusern spähte, nach jedem Zaun, nach jedem Fußweg, der von der Dorfgasse sich abzweigte.
Die Straße war in der Mittagsstunde wenig belebt. Und wie ein Schleier hing es über allen Häusern; denn die schweren Dampfwolken, die aus der Pfannstätte qualmten, zogen in der unbewegten Winterluft nicht ab und hängten sich um alle Dächer. Auf dem großen Dorfplatz konnte man in dem grauen Dunst das Leuthaus und die Kirche kaum unterscheiden. Dann ging es noch eine lange Gasse hinunter – und als sie schon fast zu Ende war, hielt ein Spießknecht den Karren an. Josef mußte das Weggeld zahlen und ein langes Verhör bestehen, bevor er weiter ziehen durfte.
Der Spießknecht trug an seinem Wams die Farben von Salzburg – die Schellenberger Pfannstätte gehörte wohl dem Stifte zu Berchtesgaden, doch war sie seit mehr als hundert Jahren zur Deckung alter Schulden des Stiftes an das Erzbistum von Salzburg verpfändet. Und wie wenig man zu Schellenberg die Farben liebte, in die der Spießknecht gekleidet war, das verriet der zornige Blick, mit welchem Josef dem Knechte nachsah.
Am Ende der Gasse wartete Juliander wieder. »Sechzehn Heller Maut hab ich zahlen müssen,« sagte er. »Da zahlt man ja doppelt soviel als bei uns daheim.«
In Josef kochte noch der Zorn über den Spießknecht. »Die Berchtesgadener Herren scheren das Schaf, aber der Salzburger zieht ihm auch noch die Haut herunter.«
Mit flehendem Blick sah ihn Maralen an. »So red doch nicht so laut! Komm, laß uns ziehen! Sind wir denn bald daheim?«
»Gleich, Lenli!«
Eine kleine Strecke ging's noch die Straße hinaus, dann seitwärts über leicht geneigten Hang empor. Als der Weg wieder eben wurde, sah man zwischen vereinzelt stehenden Bäumen eine niedere Hecke, die ein kleines Gehöft umzog. Und zwischen den kahlen Ästen kümmerlicher Obstbäume lugte ein kleines Haus hervor. Die Mittagssonne hatte den frischen Schnee vom Dach geschmolzen – ein grau verwittertes Dach, das mit neuen Schindeln bunt durchsprenkelt war. Die niedere Mauer war weiß getüncht, die Thür und jeder Fensterrahmen grün bemalt. Man roch noch die frische Farbe – und aus der Dachluke qualmte ein dünner Rauch, der sich in der Sonne bläulich kräuselte. »Ein liebes Häusl!« sagte Maralen. »Wem gehört denn das?«
»Es ist das unser, Lenli!«
»Jesus Maria!« Sie fuhr in der ersten Freude mit den Händen nach dem Herzen, die Thränen schossen ihr in die Augen – und dann stammelte sie erschrocken: »Aber da ist ja Feuer drin!«
»Weil ich den Bramberger gebeten hab, daß er ein bissel Feuer anmacht auf dem Herd. Sonst thätst mir ja frieren in der kalten Stub.«
Maralen dankte ihm nur mit den Augen, ließ den Karren stehen und lief in das Gehöft. Josef wollte ihr folgen. Aber da fragte Juliander: »Du?« Ganz heiser klang seine Stimme. »Was ist denn das für ein hohes Dach da draußen?«
»Dem Thurner seine Burghut. Die mußt doch kennen!«
»Freilich, ja ... die kenn ich ... bin doch oft schon auf Salzburg gegangen ... bin allweil dran vorbeigekommen ... und nie hab ich aufgeschaut ...«
Das alles hörte Josef nicht mehr. Mit hastigen Schritten hatte er Maralen eingeholt, als sie gerade die Thür der Herdstube aufthat. Er legte den Arm um ihre Schultern und sagte: »Soll halt der liebe Gott deinen Eingang segnen, Bräutlein!« Als sie die Thür öffnete, strahlte ihr der warme Glanz des Herdfeuers entgegen. Maralen war in ihrer Freude wie ein Kind. Bald lachte sie und bald weinte sie wieder. Sie sah nicht, wie morsch und nieder die Balkendecke, wie brüchig und verwahrlost das Gemäuer war – nur die Arbeit sah sie, die Josef geleistet hatte, um die baufällige Hütte in wohnlichen Stand zu setzen. Mit Küssen dankte ihm Maralen dafür. »Und schau nur, Joses, wie lieb der Vater allen Hausrat gestellt hat!« Wie die Stube daheim, genau so war die Herdstube eingerichtet – Tisch und Bänke in der gleichen Ecke, die Schüsselrahm an der gleichen Stelle, und wie daheim, so hing an der Herdwand ein großer Holzschwamm – der Schwamm, den Witting aus der Buche geschnitten hatte – und kleine Heiligenfigürchen standen darauf, die das Haus wider alles Unheil wahren sollten. Jedes Stücklein nahm Maralen in die Hand; sie streichelte den Tisch und setzte sich auf jede Bank, auf jeden Sessel und auf den Herdrand. Da öffnete Josef die andere Thür, die in die Kammer führte. »Schau, Lenli!« Er lächelte.
Maralen trat auf die Schwelle. Es war ein kleiner, weißgetünchter Raum, den die heiße Herdwand erwärmte. Ein Stuhl und ein Kasten darin, und das große Bett. Dunkle Röte glitt über Maralens Wangen. »Soviel lieb ist alles ... soviel lieb und sauber!« sagte sie verlegen, und dann zog sie die Thüre wieder zu und ging zum Feuer. Schweigend legte sie ein Scheit in die Flamme.
»Lenli?« Josef kam zu ihr. »Warum bist denn so still?«
Da schlang sie die Arme um seinen Hals und lachte und weinte. »Nimm mich, Josef! Nimm mich! Mir ist so gut im Glück! ... Wie die Leut doch allweil schelten mögen aufs Leben, das soviel schön ist!«
Sie saßen auf dem Herdrand, hielten sich umschlungen, und der Glanz des Feuers spielte um sie her. Und sie hörten nicht, daß Juliander die Thür geöffnet hatte. Schweigend stand er auf der Schwelle, betrachtete das junge Paar und lächelte so seltsam traurig. Lautlos zog er die Thüre wieder zu. »Die brauchen mich nimmer ... die zwei!« Eine Weile stand er wie ratlos im Hof. Er hatte die Kühe in den Stall gethan und hatte ihnen Futter in die Krippe gelegt. Nun zog er auch noch den Karren vor die Herdstube. Dann ging er.
Draußen vor der Hecke blieb er schon wieder stehen, lange, und schaute über das weiße Thal hinaus nach dem hohen Dach der Burghut. Ein stilles Trauern war in seinen Augen, ein müdes Lächeln um seinen Mund. Seufzend wandte er sich ab und stieg den Hang hinunter. Als er die Straße erreichte, blieb er wieder stehen – und immer stand er, obwohl er nichts anderes mehr sehen konnte, als die rauschende Ache neben dem Weg, die leere Brücke und die weißen Waldgehänge halb in der Sonne und halb im Schatten. Nun machte er langsam ein paar Schritte, immer weiter zog es ihn die Straße hinaus – er ging und ging, und das that er wie im Traum.
So kam er auf einen kleinen Hügel, den die Straße überstieg. Da lag ein paar hundert Schritte vor ihm die Burghut am Hangenden Stein, in welcher Herr Lenhard von Eckenau als Thurner und Berchtesgadnischer Pfleger saß – keine rechte Burg, nur ein festes Haus mit steilem Ziegeldach und viereckigem Thurm, von einer hohen, gescharteten Mauer umzogen, die aus einem breiten Wassergraben emporstieg. Ueber den Zinnen der Mauer sah man noch ein paar niedere Dächer und die entblätterten Baumkronen eines kleinen Gartens. Ein basteiförmiger Ausläufer der Mauer sperrte das schmale Thal und übersetzte die Straße mit einer Thorhalle, die vom Wehrgang der Mauer mit einem Fallgitter geschlossen werden konnte. Neben dieser Halle, gegen Schellenberg blickend, hatte die Burgmauer noch ihr eigenes Thor. Das stand geöffnet, und die Fallbrücke war über den Graben niedergelassen.
Das alte, plumpe Gemäuer mit dem verwitterten Thurm bot keinen schönen Anblick und wirkte durchaus nicht wie ein stolzer Sitz der irdischen Macht. Doch wie es so dastand im weißen Schnee, umschimmert von der Mittagssonne, halb leuchtend und halb in blauen Schatten getaucht, die kleinen Fenster blinkend, und über den flimmernden Giebeln die hohen weißen Berge – da war es doch ein Anblick, den die sonnige Stunde lieblich machte. Und Juliander staunte und schaute, als läge nicht vor ihm, was er doch zu dutzendenmalen schon gesehen. Vor seinen blauen, in Schwermut sinnenden Augen schien es sich zu erheben wie ein winkendes Ziel aller Sehnsucht und aller Wünsche des Lebens, die sich um so schöner fühlen, je mehr sie thöricht sind.
Während er so stand und träumte, klang hinter dem Hügel in einer bewaldeten Senke des Thals eine helle und erregte Mädchenstimme: »Dort ist es! Dort! Jetzt hab ich es wieder gesehen. Dort! So schauet doch, auf dem großen Baum ... da springt es wieder ...«
Nur einmal in seinem Leben hatte Juliander diese Stimme gehört, und gleich erkannte er sie wieder. Mit heißer Welle schoß ihm das Blut ins Gesicht, und da sprang er auch schon der Höhe des Hügels zu. Nun sah er in die Senke hinunter, sah zwei Männer in bunten Wämsern zwischen den Bäumen hin und her springen, immer nach den Wipfeln spähend, sah hinter den verschneiten Büschen etwas huschen wie den Schimmer eines roten Kleides, sah eine alte Frau in braunem Gewand und mit weißem Kopftuch im Schnee stehen und hörte sie mit ärgerlicher Stimme jammern: »Fräulen, Fräulen, um Jesu Christ, das ganze Kleid ist hin, ihr tappet ja bis an die Knie in den Schnee, ihr holet euch ja den Tod ... das ist doch so ein Thierl nicht wert! O Jesus Maria!«
»Jesus Maria!« stammelte auch Juliander in Schreck, ohne zu wissen, weshalb er denn eigentlich erschrocken war. Mit langen Sprüngen eilte er den Hügel hinunter. »Was ist denn, Weiblein, was ist denn?«
»Komm, Bub! Und hilf! Bist einer, der laufen kann!«
»Was ist denn?«
»Mein Fräulen, die hat ein Eichkätzl, und das ist mir davon gesprungen, wie ich's hab füttern wollen ... und mein Fräulen, die hat das Thierl so lieb ...«
Da rannte Juliander schon, als gält' es das rollende Glück zu fangen – er rannte den Stimmen der beiden Männer nach, die er hörte, auf hundert Schritte in lichtem Gehölz vor ihm. Und als er mitten durch ein dichtes Gebüsch gesprungen war, dessen schlagende Zweige ihn ganz überstäubten mit Schnee – da stand er vor dem Fräulein. Sie beugte sich gerade nieder, um das rote Kleid zu schürzen, dessen Saum vor Nässe schwer geworden. Bei jeder Bewegung, die sie machte, zitterten ihr die geringelten Haare wie kleine schwarze Flammen um das heiß erregte Gesichtchen. »Ach, du lieber Himmel!« murmelte sie, als sie den vom Gestrüpp zerfetzten und vor Nässe klatschenden Saum des Kleides ansah. Das dünne, mohnfarbene Fähnchen, unter dessen leichten Falten sich der junge Mädchenkörper mehr enthüllte als verbarg, war nur für die warme Stube gemacht, nicht für das Waten im Schnee.
Nun blickte sie auf. Und Juliander würgte die stotternde Frage heraus: »Wo ist denn das Thierlein?«
Im ersten Augenblick schien sie ihn gar nicht zu erkennen. Doch als sie ihn länger ansah, zog sie zuerst die schwarzen Brauen ein wenig zusammen, dann ging ein Lächeln der Erinnerung über ihr heißes Gesichtchen. »Der Juliander!« Sie lachte – und dabei hing ihr noch ein feuchter Schimmer an den schwarzen Wimpern, denn sie hatte geweint aus Kummer über die Flucht ihres Lieblings und vor Zorn über die nutzlose Mühsal im Schnee. »Bist du der Ueberall? Bist du allweil da, wenn man eins fangen muß, das scheu geworden? ... So lauf halt, du! Und fang! Aber mein Hörnlein, das hat noch flinkeren Sprung als mein Brauner!« Das sagte sie lachend, doch der feuchte Schimmer an ihren Wimpern sammelte sich in ein Tröpflein und fiel.
Da stammelte Juliander: »Das Thierl muß her ... und geh's, wie's mag!« Mit großen Augen sah er noch das glitzernde Thränlein an, das ihr langsam über die Wangen niedersickerte auf den lachenden Mund – dann rannte er davon, den Stimmen der beiden Männer nach. Das waren zwei grauköpfige Waffenknechte des Thurners. Das Springen im Schnee hatte ihnen so heiß gemacht, daß sie keuchten und schwitzten. Kaum vermochten sie dem Thierchen noch zu folgen, das sich von einem Baum auf den andern schwang und immer weiter flüchtete, je mehr die Knechte lockten und riefen. Als Juliander die beiden einholte, brauchte er gar nicht zu fragen, denn er sah das Thierchen springen. Und da rannte er hinter dem Flüchtling her in toller Jagd, den Berghang hinauf, hinunter und wieder hinauf, in dichten Wald und wieder in lichtes Gehölz. Bei diesem Jagen und Hetzen glänzten ihm die lachenden Augen, als wäre ihm jählings all der erloschene Frohsinn seiner Jugend wieder lebendig geworden. Er war es wieder ganz: der helle Bub, wie Joß Fritz ihn genannt hatte.
Von den anderen war nichts zu sehen, sie waren weit zurück geblieben.
Das Thierchen flüchtete am Berghang hin, in immer lichteres Gehölz. Wo die Bäume nahe beisammen standen, sprang es von Ast zu Ast, dann fuhr es blitzschnell wieder über einen Stamm hinunter, flüchtete eine Strecke über den Schnee und schwang sich wieder auf einen Baum. Da begann Juliander das Thierchen zu treiben, gegen zwei Bäume, die vereinzelt standen: eine hohe Föhre mit glattem Stamm und daneben eine entblätterte Buche. Das Treiben gelang – nach einer letzten Flucht über den Schneegrund kletterte das Eichhorn auf die Föhre. Juliander in seiner Freude that einen klingenden Jauchzer und rief: »Fräulen! Fräulen! Da komm her! Das Thierl sitzt fest!«
Es dauerte lange, bis das Fräulein kam, ganz atemlos vom Waten im Schnee. Noch ehe sie den Baum erreichte, sagte sie lachend zu den Knechten, die hinter ihr herstapften: »Gelt, ich hab recht gehabt! Der fangt mir das Hörnlein!«
Einer der Knechte sah die Föhre an, deren Rinde mit glattem Tropfeis überzogen war. »Wenn's da droben hockt, so ist's noch lang nicht gefangen.«
Aber Juliander lachte. »Jetzt haben wir's gleich. Da droben im Girbel hockt es. Da mußt herkommen!« Er nahm den Arm des Fräuleins, um sie an eine Stelle zu führen, von der sie das Thierchen erblicken konnte. Sie zog ihren Arm zurück und sah ihn verwundert an. Doch Juliander schien nicht zu verstehen, was ihre Augen sagten. »So komm doch! Wo du stehst, da sieht man's nicht.«
Einer von den Knechten versetzte ihm einen Puff mit dem Ellbogen. »Du Bauernlümmel! Das Fräulen tappet man doch nicht so an! Und was sagst denn allweil ›du‹! Zum gnädigen Fräulen Morella mußt ›Ihr‹ sagen!«
Juliander schien diese Zurechtweisung nicht übel zu nehmen. Er lächelte und bewegte die Lippen, als spräche er im stillen den Namen nach: Morella! Dann wurde er verlegen: »Ich red halt, wie ich allweil red.«
Das Fräulein lachte. »Red nur, wie du magst! Und fang mir mein Hörnlein!«
»Wohl, Fräulein, das haben wir gleich.«
»Auf den Baum da,« sagte einer von den Knechten, »da kommst doch meiner Lebtag nicht hinauf.«
»Da komm ich freilich nicht hinauf.« Juliander lachte. »Aber ein Umweg ist auch ein Weg. Komm, Fräulen! Du mußt ... Ihr müßt da her an den Baum! Wenn ich das Hörnlein niedertreib ... es muß sich doch gutwillig fangen lassen von dir!« An dieser Thatsache schien er gar nicht zu zweifeln. »Und die Mannsleut müssen an den Buchstamm her, wenn's leicht noch springen und abfahren thät.« Als er das sagte, begann er schon an der Buche hinaufzuklettern, die auf dem Berghang ein wenig höher stand als die Föhre. Das ging von Ast zu Ast, immer flinker, als wäre der Baum eine bequeme Leiter.
»Aber, du?« Das Fräulein schien seine Absicht nicht zu verstehen. »Das Hörnlein sitzt ja doch auf dem anderen Baum!«
»Ich komm schon hinüber. Nur Zeit lassen!«
Jetzt stand er aufrecht im Geäst der Buche, und an den höheren Zweigen eine Stütze suchend, ging er über einen starken Ast hinaus. Nun merkte Morella, was er wollte. »Juliander!« rief sie erschrocken. »Nein, nein! Das will ich nicht haben ...« Aber da that er schon den Sprung – von den Lippen des Fräuleins huschte ein Schrei – doch lachend hing Juliander schon im Gezweig der Föhre.
Unter schrillen Pfiffen hatte sich das Eichhörnchen in den höchsten Gipfel der Föhre geflüchtet. Langsam rückte ihm Juliander nach. Von unten sah man ihn kaum, die Äste mit ihren dichten, schneebehangenen Nadelbüschen verdeckten ihn. Man hörte nur, wie er freundlich lockte und leise mit der Zunge schnalzte. Nun machte er plötzlich einen Ruck, daß die Krone des Baumes schwankte – man hörte einen Ruf, wie in Schmerz und dennoch lachend, dann einen Jauchzer. »Fräulen! Ich hab's!«
Die Knechte lachten. »Ist das ein Teufelskerl!«
Das Fräulein, glühend vor Freude und noch erregt von dem Schreck, den sie ausgestanden, rief in den Baum hinauf: »Ich dank dir, Juliander! Ich dank dir, schau!« Und wieder sagte sie zu den Knechten: »Gelt, ich hab recht gehabt! ... Der hat mein Hörnlein gefangen.«
Juliander fuhr über den Stamm herunter – das ging flink, denn es war eine glatte Rutschbahn – und er konnte, um sich zu halten, nur einen Arm gebrauchen. Ganz behangen mit Schnee und lachend stand er vor dem Fräulein und öffnete das Wams ein wenig, unter dem er das Thierchen an der Brust geborgen hatte. »Völlig zahm ist's wieder und rührt sich nimmer.«
Morella legte dem Eichhörnchen ein Band um den Hals, und da sprang ihr das Thierchen auf die Schulter und that so vertraut, als hätt es all seine Sehnsucht nach der Freibeit plötzlich vergessen.
Jetzt kam auch die Frau mit dem weißen Kopftuch und fing ihr Jammern wieder an. »Aber, Resi,« lachte das Fräulein, »sei doch gut, ist ja schon alles vorbei, und ich geh wieder heim.« Sie bot dem jungen Burschen die Hand: »Ich dank dir schön! Hast mir eine verlorene Freud wieder eingefangen.«
Er war verlegen. Doch er griff mit beiden Fäusten zu, um die kleinen weißen Hände zu umspannen.
»Ach Gott, Juliander,« stammelte Morella erschrocken. »Was hast du denn an deiner Hand?«
Er sah seine Hand an und merkte erst jetzt, daß ihm an der Linken das rote Blut in den Ärmel rann. Zwischen Daumen und Zeigefinger hatte ihm das Eichhorn die Hand durchbissen. »Schau nur, jetzt hat das liebe Thierl gar ein bißl zugeschnappt!« Lachend steckte er die blutende Hand in den Schnee.
Morella riß ein weißes Tüchlein herunter, das sie um den Hals gebunden trug. »Gieb her! Laß deine Hand verbinden!«
Bis über die Stirne wurde er rot. »Aber geh, das spür ich ja gar nicht ... und euer Tüchl ist soviel fein, da wär schad drum.«
Nun wurde sie energisch. »Deine Hand gieb her!« Mit scheuen Augen sah er sie an und streckte die blutende Hand. Sie band ihm das Tuch um die Wunde. »So! Das ist nur so für die erste Hilf. Jetzt mußt du mit hinauf ins Haus. Droben hab ich alles, was ich brauch, und da will ich deine Hand in rechte Kur nehmen. Flink! Und weiter!« Hastig schürzte sie das rote Kleid.
»Vergeltsgott!« stotterte Juliander. »Aber jetzt muß ich heim ... und ich kann doch Euer Tüchl nicht mitnehmen ...« Er wollte das Tuch von der Hand wickeln. »Da, nimm Euer Tüchlein ...«
»Wirst du das Tuch gleich an der Hand lassen!« fuhr sie ihn mit blitzenden Augen an. »Und ob du heim mußt oder nicht, ... non me n'importa un fico! Du thust, was ich will! Bist du gebissen um meinetwegen, so sollst du um meinetwegen auch wieder genesen!«
Da sah er sie an, mit ganz seltsamen Augen. Und ein wehmütiges Lächeln irrte um seinen Mund.
»Nur flink! Und weiter!« Sie eilte den andern voran. Mit geschürztem Röcklein und leichten Fußes sprang sie durch den Schnee – dabei gaukelte ihr das Eichhorn auf der Schulter umher und verwickelte seine Pfötchen in ihr flatterndes Schwarzhaar. Als sie unter dem offenen Thor der Burg den Vater stehen sah, rief sie ihm lachend entgegen: »Babbo, ich hab's! Ein Bub hat mir's gefangen ... der selbig, weißt, der mir den scheuen Bräunl wieder zahm gemacht!« Sie fing zu laufen an, und als sie den Vater erreichte, begann sie gleich in Hast zu erzählen.
Aber der Vater wollte nicht hören und murrte: »Räpplein, Räpplein! Sauber hast du dich wieder zugerichtet! Du roter Narrenvogel! Schau dich nur an! Frau Resi wird eine ganze Woche wieder brummen, wenn sie dein Kleid sieht ...«
»Die brummt schon lang! Paß auf, Babbo ... das muß ich dir alles erzählen! Und was für ein Bub das ist ... und wie er's gemacht hat ...« In Erregung schnurrte das Zünglein weiter.
Herr Lenhard lauschte und sah dabei mit seinen grimmig vergnügten Augen immer das glühende Gesicht seines Mädels an. Breitspurig stand er mit den schief getretenen Kuhmaulschuhen im Schnee – eine derbe Gestalt, die Kniee vom dreißigjährigen Druck des Sattels recht merklich ausgebogen. Sein Gewand war dauerhafter als kleidsam: grobe dunkelrote Strumpfhosen, ein braunes Wams von starkem Loden, gegürtet mit schwerem Dolchgehenk, und darüber eine verbrauchte Hausschaube mit abgewetztem Fuchspelz.
Er mochte schon an die sechzig Jahre zählen, und das struppige Grauhaar war ihm schütter geworden. Zwischen den gesträubten Haaren konnte man durchsehen wie durch gelichteten Wald. Aber ein stattliches Wachstum zeigte noch der graue Bart, der unter dem Kinn in seiner ganzen Breite glatt mit der Schere abgeschnitten war. Das gab dem Gesichte etwas Widerborstiges und bärbeißig Grobes. Dazu waren die Lippen noch wulstig aufgeworfen, und im dicken Schnurrbart versank die halbe Nase. Die Stirne war ganz bedeckt mit Narben und Runzeln – das einzig Freundliche an seinem Gesichte waren die finster lachenden Augen, mit denen Herr Lenhard an dem schwatzenden Mäulchen seines Mädels hing.
Eben erzählte Morella in heißer Erregung, wie ›der Bub‹ von der Buche den Sprung auf die Föhre gethan, und nestelte dabei mit ungeduldigen Fingern die Pfötchen des Eichhorns aus ihren Haaren – da kam Juliander mit den beiden Knechten und mit der brummenden Frau Resi. Verdutzten Blickes sah der Bursch Herrn Lenhard und wieder das Fräulein an, als könnte er nicht glauben, daß die beiden zusammengehörten als Vater und Tochter. Aber es sprossen doch auch die Röslein aus den Dornenhecken.
»So, jetzt komm nur!« sagte Morella. »Weißt, Babbo, das Hörnlein hat ihm die ganze Hand zerbissen. Die muß ich ihm verbinden! ... Komm, du!« Sie eilte auf die Thorbrücke zu.
Herr Lenhard musterte den Burschen mit dem Wohlgefallen eines Mannes, der die Kraft eines jungen Körpers zu schätzen weiß. »Teufel! Bub!« Er fügte einen der italienischen Flüche bei, die er von seinen Kriegsfahrten in Welschland behalten hatte. » Corpo di Bacco, hast du ein paar Arm! Und Augen voll blauer Treu! Thät ich auf meine alten Tag noch einmal ein Fähnlein Landsknecht mustern ... dich müßt ich als Fähnrich haben!«
Juliander wurde so verlegen, daß ihm die Wangen brannten. Aber die Worte des Thurners hatten ihn doch auch stolz gemacht, denn er streckte sich. Und seine Augen huschten zum Thor hinüber, unter dem das Fräulein stand. Auch sagen wollte er etwas und stotterte: »Herr! Da hast ein schönes ... eine schöne Burg.«
»Burg?« Herr Lenhard schüttelte sich, als hätte er ein haarig Ding zu schlucken bekommen. »Wenn das Kätzlein einmal ein Tiger wird, dann will ich mein Mausloch taufen als Burg.«
Vom Thor her klang Morellas ungeduldige Stimme: »So komm doch, du! Oder meinst, das Stehen im Schnee ist gut für deine Hand?«
»Geh, Bub!« sagte der Thurner. »Mein Räpplein hat ein kribbliges Köpfl und kann das Warten nicht leiden.« Er lachte. »Geh, Bub!«
Juliander trat mit den beiden Knechten in den Burghof. Frau Resi aber pflanzte sich vor dem Thurner auf und begann ein übles Lamento über des Fräuleins Leichtsinn und Unverstand.
»So, so?« sagte Herr Lenhard und schritt durch das offene Straßenthor hinaus; denn er wußte: wenn er mit Frau Resi zu gleicher Zeit den Burghof betrat, dann gab sie so bald keine Ruhe.
Als er aus der Halle auf die Straße trat, die gegen Salzburg führte, machte ihn träger Hufschlag und der Hall von Schritten aufblicken.
Vier Salzburger Waffenknechte kamen die Straße einher und führten in ihrer Mitte ein Maulthier, dem etwas Weißes aufgeladen war. Der Wächter auf der Mauer hatte den Trupp schon gesehen und that einen Hornstoß. Aber das Fallgitter wurde nicht niedergelassen und der Mautner kam nicht zum Thor herunter. Denn des Bischofs Leute zahlten weder Ungeld noch Wegzoll an der Berchtesgadener Grenze. Doch rief der Wächter über die Mauer herunter dem Thurner zu: »Herr! Die da kommen, die bringen einen seltsamen Salzbinkel.« Als der Trupp sich näherte, sah Herr Lenhard, daß auf dem Maulthier ein nackter Mensch lag, mit einem Sack um die Lenden, an Händen und Füßen mit Stricken geknebelt und auf den Saumsattel gebunden. Der schutzlose Körper des Unglücklichen spiegelte vor Frost alle Farben und schauerte an allen Gliedern. Wo die Stricke sich um die Handgelenke, um die Brust und die Fußknöchel schnürten, waren blutrünstige Wulsten im Fleische aufgelaufen. Der Kopf, dessen kurzgeschnittenes Braunhaar eine halb überwachsene Tonsur zeigte, hing über den Hals des Maulthiers nieder – ein abgezehrtes von Schmerz entstelltes Jünglingsgesicht, die Augen in Erschöpfung geschlossen.
Herr Lenhard runzelte die Brauen und blies den Schnurrbart auf, als wäre ihm dieser Anblick nicht sonderlich behaglich.
Die schwatzenden Knechte kamen heran und grüßten den Thurner, der zu ihnen sagte: »Muß ein furchtbar Ding gethan haben, der da, daß er so hart gebüßt wird! Wer ist der arme Schelm?«
»Ein meineidiger Pfaff,« erwiderte der Rottmann der Knechte. »Der ist vor einem Jahr aus dem Kloster von Admont entsprungen und ist ein Prädikant geworden. Matthäus heißt er ...«
»Matthäus? Wie euer gnädigster Herr? ... Mit einem Namensbruder sollt man ein bißl glimpflicher umgehen!«
»Der Schelm hat's grob getrieben. Den Halleiner Knappen hat er ein falsches Evangeli verkündet und hat in Salzburg auf offener Gassen Münzerisch gepredigt. Drum hat ihn der Bischof einthun lassen.«
Herr Lenhard schwieg. Doch an den Schläfen schwollen ihm die Adern, und sein Gesicht wurde dunkelrot.
»Wir müssen den Schelm nach Mittersill im Pinzgau führen. Da kommt er auf lebenslang in den Faulthurm.«
Noch immer schwieg der Thurner.
»Haben wir freien Weg, Herr?«
»Zeig mir den Ersuchbrief an meinen Propst auf freien Durchlaß!«
Der Knecht nahm ein ledernes Täschlein aus dem Wams und reichte dem Thurner ein offenes Schreiben mit einem Siegel dran.
Herr Lenhard las und nickte. »Der Weg ist frei.« Er gab dem Rottmann das Schreiben zurück. »Aber seid barmherzig, Leut, und legt dem armen Teufel einen Mantel um! Es giebt Frost auf den Abend.«
»Das wär dem Spruch meines Herrn entgegen. Der Mann soll nicht Mantel haben und Dach, nicht Speis und Trank, eh daß er in Mittersill ist.«
Der Thurner sagte nichts mehr. Und die Knechte zogen weiter. Mit den Fäusten hinter dem Rücken sah Herr Lenhard ihnen nach und brummte: »Kein Wunder, daß es siedet und gärt in allem Land! ... Herren! Herren! Blutige Zeiten müssen kommen über euch, daß ihr lernet, was ein Mensch ist!« Kräftig spuckte er hinter sich und ging die Straße auf und nieder, um seinen Aerger auszulaufen.
Schwatzend und lachend – über das Erbarmen spöttelnd, das der Thurner vor ihnen verraten hatte – schritten die Knechte neben dem Maulthier her. Als sie zur Achenbrücke kamen, tauchte die Sonne hinter die steilen Zinnen des Untersberges, und kalter Schatten fiel über das Thal.
Der Trupp erreichte die ersten Häuser von Schellenberg. Da ging an den Knechten ein junger Bursch in Knappentracht vorüber, ein schlanker und hübscher Gesell, kaum vierundzwanzigjährig, blonden Flaum auf der Lippe und heitere Augen in dem schmalen Gesicht, aus dem die Stollenluft das frische Rot der Jugend schon zu zehren begann. Als er den nackten Menschen auf dem Maulthier sah, erschrak er, daß ihm die Augen groß und starr wurden. Er stand an die Holzwand einer Scheune gedrückt und ließ die Knechte vorüberziehen. Hinter ihnen ballte er die Faust und flüsterte: »Bruder Matthäus, Gott steh dir bei in seiner Gerechtigkeit!«
Als die Knechte mit dem Maulthier im Dunst der langen Gasse verschwunden waren, schlug der junge Knappe den gleichen Weg ein, über welchen Josef und Maralen den Karren gezogen hatten. Als er das Wiesengütl erreichte, kam Josef gerade aus dem Hof, einen Mantel um die Schultern und in der Hand einen irdenen Krug. »Grüß dich, Toni!« rief er lachend in seinem Glück. »Seit Mittag sind wir schon da. Suchst uns ein bißl heim?«
»Ich möcht nur fragen, wo wir uns morgen treffen vor dem Kirchgang.«
»Bei uns im Lehen. Aber so komm doch herein in die Stub!«
»Lieber thät ich draußen bleiben. Ich kann nicht lustig sein.«
Josef lachte. »Schau mein Lenli an, und du bist's!« Er legte den Arm um die Schulter des Knappen und führte ihn zur Thür der Herdstube. »Lenli, da schau, wer kommt! Das ist der Bramberger-Toni, mein Stollengesell. Mußt ihm ein Vergeltsgott für das Feuer sagen, das er uns angeschürt hat!«
Maralen, die gerade ihr Leinenzeug in den Kasten räumte, kam lachend zur Thür und streckte die Hand. »Vergeltsgott! Wie ich gekommen bin, ist's in der Stub so warm und gut gewesen, daß ich gleich in der ersten Stund gemeint hab, ich bin schon daheim da, weiß Gott wie lang.«
Der Bramberger hielt ihre Hand umschlossen und sah sie nur immer an. Wie schön sie war in der Freude ihres Glücks! Wie ihr die Augen glänzten, von keinem Schatten einer Sorge mehr getrübt! Und wie lieblich dieses herzensfrohe, wunschlose Lächeln um ihre roten Lippen spielte! »Josef,« sagte der junge Knappe nach einer stummen Weile, »da hast ein Glück, mit der!«
»Halt ja!« Und Josef legte den Arm um seine Braut.
Das Feuer auf dem Herde knisterte leis und strahlte seine wohlige Wärme in die Stube.
Heiter schwatzten sie eine Weile, bis der Bramberger sagte: »Jetzt muß ich heim. Ich will zur Halbschicht einfahren vor Abend, daß ich frei hab morgen in der Früh. Gehst mit, Josef? Vorhin hast ja fort wollen. Wohin denn?«
»Ins Leuthaus, einen Trunk Wein und ein Bröckl zum Beißen holen. Auf den Abend kommt der Vater, und das Lenli hat seit dem Morgen nichts mehr gehabt ...«
»Als ein Bussel ums ander!« sagte der Bramberger. »Gelt!«
Maralen wurde rot. Aber sie lachte.
»Und das letzt, das ist allweil das beste gewesen,« meinte Josef mit seligem Schmunzeln. »Aber das allerletzt, das muß ich erst noch kriegen! Das giebst mir mit auf den weiten Weg! Gelt, Schatzl?«
»Geh, du!« Sie schob ihn schmollend von sich. Doch als der Bramberger unter die Thüre trat und dem jungen Paar den Rücken wandte, ließ sie es gern geschehen, daß Josef sie an seine Brust zog. Lachend reichte sie ihm den Mund, der heiß war von allen Küssen dieses Tages. »Jetzt mußt aber gehen! Der Vater wird bald da sein ... ich mein', der Bub ist lang schon daheim. Es geht ja schon auf den Abend zu.« Sie schob ihn zur Thüre.
Als die beiden Knappen das Gehöft verlassen hatten, schritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Josef sagte: »Gelt, ich hab recht gehabt! Bei meinem Lenli bist lustig worden!«
»Wahr ist's, ja! Weil ich ein festes Glück gesehen hab. Und das hat mir doppelt wohlgethan, grad heut, wo ich schon ein trauriges Elend hab anschauen müssen.«
»Elend ist überall. Gott soll's uns geben, daß unser Weg an jedem vorbeigeht!« sagte Josef ernst. »Was hast denn sehen müssen?«
Der Bramberger guckte sich um, ob niemand in der Nähe wäre, und flüsterte: »Der fromme Salzburger hat wieder ein Stücklein gethan, so ein grausigs! Wenn der die Faust hebt, geht allweil ein Menschenleben in Scherben. Jetzt hat er den Bruder Matthäus ...«
»Bruder Matthäus?« unterbrach ihn Josef. »Ist das derselbig, von dem du mir so viel erzählt hast?«
»Der, ja! Der uns zur Osterwoch im Halleiner Neustollen die Schrift gelesen hat. Wär ich selbigsmal nicht fort gekommen nach Schellenberg, der Bruder Matthäus hätt mich Martinisch gemacht. Ist ein Mensch gewesen, so fromm wie jung, und hat er dich angeschaut mit seinen guten Augen, so hast gemeint, es thät dich der liebe Herrgott grüßen. Und den, Josef, den hab ich heut sehen müssen: keinen Faden am Leib, bei solcher Zeit, und mit Strick auf einen Säumer gebunden ... lebendig oder tot, ich weiß nicht, Josef ... ein Anschauen ist's gewesen, daß mich ein Grausen gepackt hat ...«
Sie hatten die ersten Häuser erreicht, und in der Gasse kamen ihnen ein paar Leute entgegen, die heimlich mit einander tuschelten.
»Sei still, Toni! Man weiß nicht, wie einer herlust in der engen Gaß.«
Schweigend schritten sie in den Dunst hinein, der immer dichter wurde, je näher sie dem Dorfplatz kamen. Als sie das Leuthaus erreichten, hörten sie aus der Schänkstube einen johlenden Gesang und das Lärmen zechender Männer.
An der Ecke der Herberg schieden sie mit einem Händedruck von einander.
»Auf morgen also!« sagte der Bramberger.
»Morgen!« nickte Josef, und seine Augen leuchteten.
Schon wollte jeder von ihnen seiner Wege gehen. Da sahen sie in dem grauen Dunst, der den Marktplatz erfüllte, und unter dem entlaubten Gezweig einer großen Linde einen Haufen Menschen stehen, dicht zusammengedrängt, an die dreißig und mehr, Weiber und Handwerksleute und ein paar Knappen dabei. »Was muß denn da sein?« fragte der Bramberger so erregt, als hätte er eine Ahnung, was es dort zu sehen gäbe.
»Laß sein, was mag! Geh lieber zu deiner Schicht! Und gelt, thu dich morgen nicht verspäten!« sagte Josef. Dann trat er in den Flur des Leuthauses. »Eine Maß vom Leichten,« rief er der Schänkmagd zu, »einen Brodlaib und grünen Käs für drei Heller. Und einen Löffel Salz kannst mir auch dazuthun.«
Während die Magd mit dem Krug in den Keller hinunterstieg, schaute Josef in die Schänkstube. Ein paar Handwerksleute und Bauern saßen still in der Ofenecke und guckten nach einem Tisch, um den vier Reisige saßen, in den Salzburger Farben. Die hatten neben dem Tisch ihre Spieße aufrecht in den Lehmboden der Stube gebohrt, und unter lärmendem Gesang, bei dem die rauhen Kehlen übel zusammenstimmten, hockten sie vor den zinnernen Kannen und vor dem Würfelbecher.
Wie von einer Sorge befallen, ging Josef zur Hausthür zurück und spähte auf den Platz hinaus. Und da konnte er gerade noch sehen, wie der junge Knappe auf die Leute zuging, die bei der Linde standen.
Immer raschere Schritte machte der Bramberger. Als er den gedrängten Menschenknäuel erreichte, sah er, daß seine Ahnung nicht falsch geraten hatte. Das Maulthier, das den Bruder Matthäus trug, war mit dem Halfterstrick an die Linde gebunden. Und die Stimmen der Leute zischelten durcheinander: »Salzburger Knecht sind's, die ihn gebracht haben!« – »Das muß ein Schelm sein, der Arges gethan hat!« – »Schau nur, wie ihm die Brust allweil auf und nieder geht!« – »So führt man doch keinen Menschen um!« – »Der muß doch erfrieren!« – »Die Knecht, die hocken in der Stub drin und saufen!«
Bleich vor Erregung drängte sich der Bramberger durch den Ring der Leute. Er sah den Gefesselten an und dann die Gesichter um ihn her – Zorn und Erbarmen war in diesen Gesichtern zu lesen, doch scheue Neugier auch, und rohes Behagen an dem grausamen Anblick.
»Leut! Leut!« Ganz heiser klang die Stimme des jungen Knappen. »Das ist doch kein Kalb und keine Sau! Das ist doch ein Mensch! Und ein guter ist's! Und wenn's auch ein schlechter wär ... so laßt man doch einen Menschen nicht leiden und frieren! Ein jeder Metzger ist barmherziger gegen sein Kalb, als die Herren sind gegen uns!« Der Zorn, der aus ihm redete, steckte ein paar von den Leuten an. »Recht hast!« riefen sie ihm zu. Doch andere duckten scheu die Köpfe, zogen sich in die letzte Reihe zurück oder gingen davon. Und ein Bauer, dem der Bramberger den Mantel von der Schulter nehmen wollte, fing zu schimpfen an.
»Bauer! Den Mantel gieb her! Den zahlt dir unser Herrgott im Paradies!«
»Und derweil kann ich frieren auf der Welt. Meinen Mantel laß aus!« Der Bauer wehrte sich um den verwitterten Lodenfleck, als wär's ein Heiligtum seines Lebens.
Stöhnend ging die nackte Brust des Gefesselten auf und nieder. Er war aus seiner Ohnmacht aufgewacht und versuchte den Kopf zu heben. Doch kraftlos sank ihm das Haupt zurück. Aber seine Augen blieben offen – sie suchten nach Erbarmen und glühten. Und seine Lippen bewegten sich.
»Mich dürstet!«
Da drängte sich einer durch den Kreis der Leute. Mit der Linken richtete er den Kopf des Gefesselten auf, mit der Rechten hielt er ihm einen irdenen Weinkrug an die Lippen. Und während Matthäus mit den gierigen Zügen eines Verschmachtenden trank, legte der Bramberger dem Barmherzigen die Hand auf die Schulter. »Recht so, Josef! Der Tropfen Wein, den du giebst, wird deinem Glück sich heimzahlen mit einem süßen Eimer.«
Matthäus trank – und aus der Herbergstube klang der fidele Rundgesang der Zechenden:
»Bist du der Hänsel Schütze,
Was ist dein Armbrust nütze,
Wenn du nicht spannen kannst!
Brim, bram gloriam
Da fingen die Gliaglocken an.«
Das ging im Chorus weiter – brim, bram, brim, bram – als klängen vier lustige Glocken zusammen. Und eine wirkliche Glocke tönte drein: die Schichtglocke auf dem Dach der Pfannstätte. Ein Knappe, der unter den Leuten stand, lief hastig davon – und im Dunst, der den Kirchplatz überschleierte, tauchten schwarze Gestalten auf, die Knappen und Sudmänner, deren Schicht zu Ende war. Immer weiter spannte sich der Menschenring, der um das Maulthier herstand, immer lauter schwirrten die Stimmen, welche fragten, und die Stimmen, welche Antwort gaben.
Einer der reisigen Knechte kam aus der Thür des Leuthauses, sah den drängenden Haufen, stellte sich lachend an die Mauer und kehrte in die Stube zurück, aus der es mit johlenden Stimmen klang:
»Der Jockel und der Hänsel,
Der lange Willibald,
Der Liendl mit dem Pensel,
Der Kaspar kam auch bald
Mit seiner dicken Zenzel,
Die tranken
vinum schwer.
Ins Kandl schaut Lorenzel,
Er klopft, da war es leer,
Sie hatten gar nichts me–e–ehr.«
An die letzten Worte dieses Liedes schloß sich ein lautes Jammern und Wehklagen, ein Quieksen wie von Ferkeln und ein Weinen, als wären vier klagende Säuglinge in der Schankstube versammelt.
Dreimal hatte Matthäus getrunken. Als er die Lippen vom Rande des Kruges löste, sah er mit heißen Augen zu Josef auf. »Der Himmel wird dich lohnen, Bruder, für deine Barmherzigkeit!«
Schweigend stellte Josef den Krug zu Boden, zog den Mantel von den Schultern und hüllte ihn über den nackten Leib des Gefesselten. Dann nahm er seinen Krug und ging davon.
»Vergeltsgott, Josef!« rief ihm der Bramberger nach. Und zwanzig andere Stimmen riefen in Erregung ein gleiches und lobten, was der Stöckl-Josef gethan. Jetzt, da Matthäus getrunken hatte und ein warmer Mantel seine Blößen verhüllte, jetzt war in allen das Erbarmen wach. Und jener Bauer sagte: »Man hätt mir den Mantel nicht wegreißen brauchen, ich hätt ihn von selber gegeben! Und gern!«
Ein graubärtiger Knappe, dem man an der Sprache den Sachsen anhörte, trat auf den Gefesselten zu und fragte: »Mensch? Warum bist du so elend geworden? Warum hat dich der Salzburger so grausam gebüßt?«
Matthäus hob den Kopf ein wenig. »Weil ich den Armen das Gotteswort gepredigt habe ohne menschlichen Zusatz. Weil ich deinen Brüdern das Brod der Seele geboten in ihrer Not. Weil ich Licht gegossen in die Finsternis, in der sie harren auf einen Sonnentag der Freiheit.«
»Das ist heiliges Werk und kein Verbrechen!« rief der Sachse. »Und andres hast nicht gethan?«
»Andres hab ich nicht gethan, bei Gottes lebendigem Wort! Und so ich lüge, will ich die Last des Jeremias tragen und will mit dem irdischen Tod, dem sie mich zuführen, auch den ewigen Tod meiner Seele sterben.« Mit flackerndem Glanze blickten die Augen des Gefesselten aufwärts in den grauen Dunst. »Aber seht, der Himmel ist offen, in Gnaden lächelt der Herr mir zu, und seine Gerechtigkeit verheißet mir: deine Seele wird leben und bei mir im Paradiese sein.«
»Und das ist wahr!« Mit lauter Stimme hatte der Bramberger dieses Wort gerufen. »Leut, ich kenn den Bruder Matthäus! Seine Gottesred ist uns Knappen zu Hallein gewesen wie süßes Brod, seine Hand auf jedem Kopf wie ein linder Segen!«
Die Erregung der Leute wuchs, mit erhobenen Fäusten und unter Flüchen auf den Salzburger drängten sie sich näher, und aus dem Gedräng scholl eine Stimme: »Soll er sterben müssen um uns? Soll einer leiden, der es gut will mit den Armen?« Und in den wachsenden Stimmenlärm klang aus der Herbergstube das johlende Lied der Knechte:
»Da schlemmen sie die lieb lang Nacht,
Bis daß der lichte Tag erwacht,
Der helle lichte Morgen.
Sie trinken um und singen so:
Juhei, wie ist das Leben froh!
Wir sind ohn alle Sorgen!«
Matthäus, als wäre in seinem gemarterten Leib das halb schon erloschene Leben wieder erwacht, hob das Haupt auf den Hals des Maulthiers, und mit Kraft klang seine Stimme: »Gott ist mit mir! Denn er hat eine Stimme erweckt unter euch, die für mich redet. Ein mutig Herz hat er aufgeschlossen in eurer Mitte, daß es an meiner Not die Not von euch allen spüre. Denn nicht für mich will ich reden. Ich mag sterben und zerfallen! Ihr aber, die ihr der Armut gefesselte Kinder seid, ihr sollet eure Stricke zerreißen, ihr sollet leben und auferstehen zu eurer Seelen und eurer Leiber Freiheit! Die Zeit ist gekommen, ihr Brüder! Fromme Helden haben sich erhoben für euch, und Engel wetzen ihnen die Schwerter wider der Herren ungerechtes Treiben und der Römischen Pfaffen schändliches Thun, die dem Gottesreich auf Erden und dem Heil der Armen entgegen sind, die des Volkes Blut ihrem Eigennutz und ihren Lüsten opfern und keinem Armen vergönnen mögen, daß er in frommer Freude eines freien Lebens sich ergötze. Aber zu lang schon haben die Armen gehungert und gedürstet an Leib und Seele. Und das Wort des Jeremias ist erfüllt an ihnen: ›Die Kinder haben Brod begehrt, und niemand war, der es ihnen gab!‹ Siehe, da hat sich Gott des Rechtes und seiner Kraft besonnen. Eine rauschende Sündflut wird er niederschütten über die Heuchler am heiligen Wort und über alle, die da schänden die irdische Macht durch Greuel und Unrecht. Ach, ihr lieben Brüder, wie mächtig wird Gott der Herr unter die alten Töpfe schmeißen mit einer eisernen Stange! Die ganze Welt wird einen Stoß verspüren, und ein solches Spiel wird angehen, daß die großen Hansen vom Stuhl gestürzt, die niedrigen aber erhöhet werden!«
Wie mit rüttelnden Fäusten griff dieses Wort in die Seelen der Lauschenden. In ihren Blicken begann das gleiche trunkene Feuer aufzuglänzen, das in den Schwärmeraugen des Matthäus brannte. In strömenden Worten hatte er gesprochen, obwohl ihm Blutschaum von den Mundwinkeln sickerte und sein Leib unter Schmerzen zuckte.
»Freuet euch, ihr lieben Brüder, denn auf dem Acker eurer Feinde neigen sich die Ähren und werden reif zur Ernte. Mein sterbendes Wort soll euch die Sichel schärfen, auf daß ihr die Ernte schneiden helfet. Schauet mich an, ihr Brüder! Mein blutender Leib, von Frost erstarrt, ist halb schon ein totes Ding. Mein Herz aber hat noch Leben und zittert um euch. Und Gottes Feuer ist heiß in meiner Seele und will euch leuchten zu rechtem Weg, auf dem ihr die wahre Kirche findet und den Himmel auf Erden. Gott hat mich gesendet zu euch auf dieses Thieres Rücken, daß ich euch sterbend sage: Ihr Brüder, die Stunde ist nahe! Gedenket der Zeit, ihr Brüder! Denn wahrlich, ein Ruf ist ausgegangen von Gott, und ein neues Wesen durchschreitet die Lande. Ein Tag der Gerechtigkeit wird kommen, um die Welt mit Blut zu reinigen. Die Unfrommen und Gottlosen wird er austilgen, denn sie haben kein Recht zu leben. Und übrig lassen wird er nur jene, die guten und reinen Herzens sind. Gottes Reich wird beginnen auf Erden, und eine Taufe wird sein auf allen Häuptern, ein Glaube in allen Herzen! Zu fröhlichen Brüdern werden sie alle, die ihr frohes Herz zu Gottes Füßen legen. Von aller guten Zeit die beste wird ihnen auferstehen. Sehet, sehet, wie des verlorenen Paradieses Glück aus versunkenen Tiefen schon heraufsteiget an die Sonne! Gott allein wird herrschen in diesem Reich, und alles Böse wird er abthun, das auf der Menschheit Schultern gelegen als üble Last. Durch goldene Thore werdet ihr eingehen in ein Leben der Freiheit und des Friedens, der Gleichheit und der Freude, der irdischen Glückseligkeit!«
Wie ein Rausch erfaßte es den Menschenhaufen, der diesen flammenden Worten lauschte. Der Bramberger sprang auf das Maulthier zu, riß den Mantel von dem nackten Körper des Gefesselten und schrie: »Leut! Leut! Der für uns redet aus gutem Herzen ... schauet, ihr Leut: so liegt er in Stricken, so blutet sein Leib!« Wie ein Jauchzen klang die Stimme des jungen Knappen, als er das Haupt des Gefesselten in seine zitternden Hände nahm: »Und kommt die gute Zeit, die du verkündest, so sollst du sie miterleben, Bruder Matthäus!« Er riß das Messer vom Gürtel, schnitt die Stricke entzwei, hüllte den Mantel um den niedergleitenden Körper, hob ihn auf seine Arme und rief: »Ihr Leut! Wer zum Guten helfen und dem Bruder Matthäus das Leben wahren will, der heb die Schwurfinger auf!« Da sah man Hand an Hand emporfahren über die drängenden Köpfe, während aus der Stube des Leuthauses die in Trunkenheit randalierenden Stimmen klangen:
»Die dummen Hennen gacksen viel,
Derweil die Eier kommen,
Und wer die Eier haben will,
Dem muß das Gacksen frommen.
Gack, gack, gack, gack, gackenei
Das dumme Henndl legt ein Ei.«
Das wachsende Geschrei der Leute auf dem Kirchplatz tönte wirr zusammen mit dem lärmenden Klang des Liedes. Und während die Singenden im Takt mit den Fäusten auf die Tischplatte droschen, klang in den wüsten Lärm die schrillende Stimme der Schänkmagd: »Mordio, Spießknecht! Wehret euch, Leut! Die Knappen rennen mit eurem nackigen Schelm davon!«
Erschrocken, und doch im Rausch noch lachend, sprangen die Knechte von den Bänken, rissen ihre Spieße aus dem Boden und stürmten auf den Platz hinaus. Doch ehe sie noch die Eisen senkten, flog ihnen aus dem grauen Dunst ein Hagel von groben Steinen entgegen. Wie eine dunkle Mauer sahen sie in dem trüben Schleier und in der Dämmerung des Abends an die Hundert Menschen gegen sich stehen. Immer dichter wurde der Steinhagel, der auf sie niederprasselte. Einer der Knechte taumelte mit blutendem Gesicht, ein zweiter begann mit einem Schmerzensschrei zu rennen, und die anderen liefen ihm nach.
Die langen Spieße geschultert, mit den Händen die großen Hüte in den Nacken drückend, flüchteten sie, von Steinwürfen, von Geschrei und Gelächter verfolgt, die lange Gasse hinunter gegen die Burghut am Hangenden Stein.
Das Maulthier mit leerem Rücken galoppierte wiehernd hinter ihnen drein.