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Señor Aguila schritt sinnend in die Stadt hinauf, denn er konnte das wunderbare Mädchen nicht aus den Gedanken bringen. War sie mehr als eine Erzkokette, die in übermütiger Laune ihre Anbeter bald von sich stieß, bald durch ein Lächeln und einen verführerischen Blick wieder zu ihren Füßen sammelte? Die Art, wie sie den armen Schweden zu behandeln schien, deutete ganz darauf hin, und auch mit ihm – hatte sie nicht mit ihm ein ganz ähnliches Spiel begonnen? – erst sich ihn im Sturm gewonnen, dann vollkommen vernachlässigt, und jetzt wieder eine anscheinend ganz leichte, aber nichtsdestoweniger feste Schlinge nach ihm ausgeworfen? Er konnte jetzt gar nicht anders, als sie wieder in Lima aufsuchen – und was dann?
»Mit weiterem irrt sich die Señorita aber«, lächelte er still vor sich hin, als er seinen Gedanken folgte und den Ring betrachtete, den er an seinem Finger trug; »doch ein interessantes Wesen ist sie, das läßt sich nicht leugnen, und ich bin jedenfalls neugierig, wie sie sich gegen mich benehmen wird. Armer Schwede!«
Aber die Gegenwart verdrängte für den Augenblick alle Erinnerungen und alle Gedanken an die Zukunft, denn er hatte hier in Callao eine Geschäftssache abzumachen, und dabei schwindet jede Poesie. Außerdem nahm auch die kleine Hafenstadt selber seine Aufmerksamkeit in Anspruch, denn in den sechs Jahren, die er in fremden Ländern zugebracht hatte, schien sich hier unglaublich viel geändert zu haben. Viele Häuser, ja, ganze Straßenreihen waren wie aus dem Boden herausgewachsen, und er fand es selbst schwierig, nur das alte, so wohlbekannte Haus wieder zu entdecken, das er suchte.
Hier aber sollte er erfahren, daß sich nicht nur die Straßen, nein, auch die Menschen verändert hatten, denn wo er seinen Geschäftsfreund zu finden hoffte, traten ihm fremde Menschen entgegen; ein fremdes Firmenschild haftete an der Tür, und er kannte kein einziges Gesicht von allen denen, die ihn hier umgaben.
Das Geschäft war, wie er jetzt erfuhr, an einen Franzosen verkauft worden; die ganze Stadt wimmelte überhaupt von Franzosen und Italienern, und der jetzige Eigentümer war nicht einmal in Peru, sondern mit dem vorletzten Dampfer nach Valparaiso gefahren, von wo er jedoch mit dem nächsten Postboot zurückerwartet wurde. Von den jungen Leuten wußte aber niemand, wem die sonstigen Geschäftsverbindungen des alten Hauses übergeben worden waren, oder ob sie der neue Inhaber mit übernommen hätte. Es blieb ihm deshalb nichts übrig, als dessen Rückkehr zu erwarten.
Nähere Bekannte hatte er nicht in Callao; gleichgültige Menschen aufzusuchen, daran lag ihm nichts, und er ging deshalb in eine der großartig angelegten französischen oder italienischen Restaurationen – diese beiden Nationen schienen die ganze Beköstigung der Stadt übernommen zu haben –, um den nächsten Zug abzuwarten.
»Der nächste Zug!« wie wunderbar ihm das für Peru klang; auch die Eisenbahn war eine Neuerung für Peru, aber in diesem Fall eine höchst wohltätige, denn er hätte sich jetzt ohne sie ein Pferd mieten und drei Leguas in glühender Sonne und erstickendem Staub durch eine Gegend reiten müssen, deren Trostlosigkeit er schon von alten Zeiten her kannte.
Der nächste Zug ging aber schon in einer Stunde ab, und bald rollte er, in eine dicke Wolke von Dampf und Staub gehüllt, der Haupt- und Residenzstadt des Landes, dem alten Lima, entgegen.
Hier aber war Don Rafael zu Hause; hatte er doch hier seine schönste Jugendzeit verlebt, und kaum hatte er den Bahnhof verlassen, fand er sich schon zurecht in den alten, wenig veränderten Straßen der Stadt, in denen er jeden Fußbreit Boden kannte.
Jetzt war alles andere vergessen; nur einen einzigen Gedanken hatte in diesem Augenblick die Welt für ihn, und der hieß »Candelaria«. Sie war noch ein junges Ding gewesen, als er Peru verließ, und von den Eltern früh schon für ihn bestimmt. Aber die Eltern wollten nicht, daß sie, noch so jung, noch ein halbes Kind, heiratete, und deshalb war er hinaus in die Welt geschickt worden, um sich drei oder vier Jahre da draußen umzusehen – lieber Gott, es waren sechs daraus geworden, denn die Zeit fliegt da draußen, und Jahre schwinden oft zu Monden zusammen! Aber Candelaria liebte ihn; ihre Briefe waren voll glühender Leidenschaft gewesen, bis ihn sein rastloses Leben auf lange Monde zwischen die Inseln der Südsee warf. Dorthin freilich war es nicht mehr möglich, Nachricht zu bekommen, und der letzte Brief, den er noch in Sydney erhalten hatte, datierte schon fast zwei Jahre zurück – allerdings eine lange Pause im Briefwechsel zweier Liebenden.
Und was für ein schönes Mädchen war sie jetzt gewiß geworden, so schlank und zart, und so voll Feuer und Leben dabei; und wenn sie ihn jetzt wiedererkannte, wenn sie an seinen Hals flog und ihn, wie in alten Zeiten, ihren Rafael, ihren querido nannte! Was kümmerten ihn jetzt die alten Straßen von Lima, er lief mehr, als er ging, seine schattenlose Bahn entlang; jetzt hatte er die Plaza erreicht, auf der ihrer Eltern Haus stand, den alten Inquisitions-Platz, in dessen Dreieck vor alten Zeiten die armen Opfer des Fanatismus zu Tode gemartert wurden. Aber flogen jetzt seine Gedanken dahin zurück? Nicht einen Blick warf er selbst auf die dort neu aufgestellte Reiterstatue Bolivars, die sonst seine Aufmerksamkeit sicher gefesselt hätte, und wenige Minuten später lag seine Hand auf dem Drücker, der ihm ein Paradies öffnen sollte.
Nun ist es allerdings Sitte in ganz Südamerika, ja, in allen spanischen Provinzen, daß kein Fremder ein Haus betreten darf, ohne sich vorher durch Klopfen oder Anruf gemeldet und Einlaß erhalten zu haben; aber Don Rafael war ja hier kein Fremder. Wie der eigenen Heimat Tor schien ihm diese Pforte, und gerade gelegen kam es ihm, daß er keinen Dienstboten unten im Hause antraf. Jetzt konnte er sich selber anmelden und sein Lieb überraschen – oh, wie lange, wie lange hatte er sich auf den Augenblick gefreut und ihn herbeigesehnt! Jetzt war er da!
Unten, nach dem Hofe und Garten hinaus, lag das eigentliche Wohnzimmer der Eltern; denen aber wollte er jetzt nicht zuerst begegnen; sie hätten jedenfalls Lärm geschlagen und ihm die größte Freude verdorben. Leise und geräuschlos glitt er deshalb über den mit Quadern belegten Vorplatz bis zur Treppe und diese hinauf in das Gesellschaftszimmer, neben dem rechts Candelarias eigenes Gemach lag. Die Tür war nur angelehnt; er blieb auf der Schwelle stehen, denn die sanften Töne einer Gitarre drangen an sein Ohr. Sie war Meisterin auf dem Instrument, und oft, oft hatte er ihr schon zugehört, wenn sie, noch ein halbes Kind, ihm seine Lieblingslieder spielte und er ihr dann die zarten Finger küßte, die solche Melodien aus den Saiten lockten.
Jetzt sang eine halblaute Stimme, aber das war nicht Candelaria – wer konnte bei ihr sein, ihr Bruder vielleicht? Aber es war das Lied, das er sie damals gelehrt, das er selber gedichtet und der Melodie eines alten Volksliedes angepaßt hatte. – Ungestüm klopfte ihm das Herz in der Brust.
Ohne daß er selbst recht wußte, was er tat, schlich er der halboffenen Tür näher. Ihr gerade gegenüber hing ein breiter Spiegel, und in ihm sah er, ihr Profil dem Glase zugekehrt, Candelaria, seine Candelaria, in einen Lehnstuhl hingegossen, und zu ihren Füßen, aber dem Spiegelglas den Rücken zugewandt, einen jungen Mann, der die Gitarre, der sein Lied spielte – aber es war nicht ihr Bruder.
Still und regungslos stand er an der Tür und horchte den Lauten wie in einem Traum, bis das Lied endlich verstummte. Und jetzt? Jetzt nahm sie die Gitarre aus seiner Hand und antwortete dem Liede, dem dann wieder eine Entgegnung von seiner Seite folgen mußte. Wenn er nun jetzt? Rasch und unwillkürlich warf Rafael den Blick im Saal umher, seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, hier stand das Instrument. Über den Teppich mit unhörbarem Schritt war er in wenigen Sekunden, und als ihre Antwort verhallte und sein Stellvertreter eben wieder die Saiten berührte, griff er mit kräftiger Hand in die Tasten, und seine volle, männliche Stimme fiel mit wildem Humor in die Melodie ein:
Für dich, für dich – kein Name nennt
Dich Liebchen mir,
Doch wissen wir
Für wen, für wen – ach Gott, es kennt
Die Brust ja keine außer dir!
und schloß dann mit einem rauschenden Nachspiel, in das er die neckische Weise eines peruanischen Spottliedes flocht.
Wohl hörte er hinter sich einen Ausruf und näher kommende Schritte, aber er drehte den Kopf nicht danach um. Er sah neben sich den hellen Schein eines Kleides, aber er rührte und regte sich nicht, bis ihn der Ruf: »Don Rafael!« traf.
»Señorita!« rief er jetzt, sprang empor, machte ihr eine etwas förmliche Verbeugung und rief dann, ohne von ihrem Begleiter Notiz zu nehmen, lachend aus: »Hab' ich Sie überrascht? Das hatte ich mir so ausgedacht. Ist einmal eine Leidenschaft von mir, andere Menschen zu überraschen, wenn man es auch eigentlich bei Damen nie versuchen sollte!«
»Aber, Don Rafael«, rief Candelaria bestürzt, »wo, um aller Heiligen willen, kommen Sie auf einmal her – wo sind Sie so lange, so ewig lange gewesen, und haben nichts, gar nichts wieder von sich hören lassen? Wir waren alle hier so besorgt!«
»Ja, Señorita, das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen vielleicht später einmal erzähle, aber jetzt« – und er warf einen lächelnden Blick auf den jungen Mann, der noch immer etwas verdutzt zur Seite stand – »muß ich beinahe fürchten, gestört zu haben.«
»Kennen Sie mich nicht mehr, Don Rafael?« sagte jetzt, etwas vortretend, Candelarias Begleiter, indem er ihm die Hand entgegenstreckte. »Habe ich mich in den Jahren so sehr verändert?«
»Sie haben einen Bart bekommen, Don Basilio«, lachte Rafael, der ihn im ersten Moment überrascht betrachtet hatte und ihm jetzt die Hand schüttelte. »Apropos, sind Sie Singlehrer geworden? Sie hatten immer Anlage dazu.«
»Das nicht«, sagte der junge Mann und wurde dabei rot wie Blut, »ich – ich übe mich nur manchmal, und die Señorita . . .«
»Ah, die Señorita gibt Ihnen Unterricht«, rief Rafael, »das ist etwas anderes! Aber wie groß und hübsch Sie geworden sind, Candelaria«, brach er plötzlich mit ernster, fast weicher Stimme ab, und sein Blick haftete lange forschend auf dem schönen Mädchen, das aber den ihrigen vor ihm zu Boden schlug. »Wie groß und hübsch«, wiederholte er sinnend, »und wie freundlich von Ihnen, daß Sie meine alten Lieder nicht ganz vergessen haben. Ich hoffe nur, daß Sie Ihrem alten Lehrmeister Ehre machen und Ihre jüngeren Schüler recht fleißig heranbilden. Es hat mich recht gefreut, Señorita, Sie wiedergesehen zu haben – auf Wiedersehen, Freund Basilio!« und ehe beide nur eine Ahnung davon hatten, daß er sie so rasch wieder verlassen wolle, machte er ihnen eine stumme Verbeugung und war im nächsten Augenblick auch schon durch die Tür verschwunden.
Aber er verließ noch nicht das Haus, sondern stieg hinab zu dem Arbeitszimmer des Señor Rivadia, der eben eine etwas verlängerte Siesta beendet hatte und gerade im Begriff war, sich eine Zigarette zu drehen, als er Don Rafael, der ihn lächelnd, aber stumm betrachtete, auf der Schwelle stehen sah.
»Caramba!« rief er erstaunt aus; »das ist – doch nicht . . .«
»Rafael Aguila, Ihr gehorsamer Diener, Señor. Und wie haben die Jahre, in denen wir uns nicht gesehen, Ihnen mitgespielt!«
»Gott sei mir gnädig!« rief der Señor, jede Begrüßung in der Überraschung dieses Begegnens vergessend – »leben Sie noch?«
»Das ist wirklich ein recht freundlicher Empfang«, lachte Rafael. »Alle Welt scheint erstaunt, und noch dazu nicht einmal angenehm erstaunt zu sein, daß ich überhaupt noch lebe. Haben Sie einen vernünftigen Grund dafür, Señor, weshalb nicht?«
»Aber Sie sind schon seit einem vollen Jahr als tot betrauert!«
»Betrauert – wirklich? Und von wem, wenn ich fragen darf?«
»Sie sollten bei Australien von Seeräubern erschlagen worden sein.«
»Ein ordentlicher kleiner Roman«, lächelte Don Rafael, »und es ist eigentlich schade, daß ich diese Poesie durch die trockene Wirklichkeit meiner nun einmal nicht wegzuleugnenden Existenz so gründlich zerstören muß. Ich versichere Ihnen, Señor, daß ich es von Herzen bedauere!«
»Sie können noch scherzen, Don Rafael?« sagte Señor Rivadia, ihn erstaunt betrachtend; »Sie wissen doch – aber seit wann sind Sie denn zurückgekehrt?«
»Seit etwa einer Stunde in Lima . . .«
»Seit einer Stunde erst, und haben noch mit niemand gesprochen?«
»Mit niemand, außer der Señorita, die ich eben zu meinem Leidwesen bei ihrem Singunterricht störte. Ich scheine wirklich allen Leuten ungelegen zu kommen!«
»Meine Tochter?« sagte Señor Rivadia etwas betreten. »Aber Sie wissen noch nicht, was während Ihrer Abwesenheit hier vorgegangen ist?«
»Mit Ihrer Tochter?«
»Mit Ihrer Estancia, mit Ihrem ganzen Vermögen!«
»Mit meinem Vermögen?« rief der junge Mann, aufmerksam werdend. »Also war vielleicht das Gerücht meines Todes nicht ganz umsonst verbreitet? Aber was konnte ihnen das helfen, mein Onkel hatte nicht allein die Verwaltung, sondern auch unbeschränkte Vollmacht . . .«
»Und den Tod Ihres Onkels haben Sie nie erfahren?« rief Señor Rivadia rasch.
Don Rafael starrte ihn erschreckt an, während Leichenblässe seine Züge deckte.
»Tot!« wiederholte Rivadia leise; »schon seit – es müssen nun etwa vierzehn Monate sein.«
»Und in wessen Hände konnten meine Güter übergehen?« fragte Don Rafael nach einer Pause.
»Darüber scheint er schon vor seinem Tod verfügt zu haben. Die Güter sollen überhaupt schlecht bewirtschaftet, die Bewässerungen vernachlässigt worden sein. Viel Vieh starb ebenfalls, und Ihres Onkels Verwalter nahm nach dem Tod des alten Herrn mit rechtsgültigem Kaufbrief Besitz vom Gute.«
»Und was ist aus dem Geld geworden, das er dafür gelöst hat?«
»Aus dem Geld? Man hat nichts in seinem Nachlaß gefunden, als einige hundert Dollars, die für Begräbniskosten darauf gingen und noch nicht einmal ordentlich ausreichten. Man glaubte damals, daß er Ihnen die Wechsel dafür gesandt hätte; jedenfalls hat er Ihnen doch Anzeige davon gemacht?«
»Hm«, sagte Don Rafael, der sich indessen wieder gesammelt hatte, nachdenklich, »der damalige Verwalter hieß, so weit ich mich dessen entsinne, Ricardo Ombu oder Ambu.«
»Ricardo machte bald nach Ihrer Abreise eine kleine Erbschaft, heiratete und kaufte sich eine Hacienda in der Nähe von Huánaco. Nein, der spätere und letzte Verwalter war Desterres, Mateo Desterres, ein Verwandter des jetzigen Finanzministers.«
»Ein Verwandter des Finanzministers? Eine achtbare Verwandtschaft für einen Gutsverwalter.«
»Sicher«, bestätigte Señor Rivadia; »der zweite Mann im Staate und, wie die Sachen häufig stehen, nicht selten auch einmal der erste. Aber, daß Sie von dem allen kein Wort erfahren haben!«
»Keine Silbe«, erwiderte Rafael, jetzt vollkommen ruhig, denn er wußte recht gut, daß er jetzt nichts, gar nichts tun könne, bis er die näheren Umstände dieser eben angedeuteten Tatsachen genau und mit ihren kleinsten Nebenumständen erfahren hätte, und das war nur an Ort und Stelle möglich. »So hätte ich also jetzt, wie die Sachen stehen, mein ganzes Vermögen in Peru verloren; allen Anzeichen nach sind Sie wenigstens der Ansicht?«
»Ich?« sagte Señor Rivadia etwas verlegen. »Ich muß allerdings gestehen«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »daß es eine mißliche Sache ist, gerade der Verwandtschaft wegen, denn Sie werden wahrscheinlich gar keinen Anwalt finden, der diese Sache übernehmen würde, wenn Sie wirklich Schritte dagegen tun wollten.«
»Das wäre das wenigste«, lächelte Don Rafael; »ich bin selber Anwalt, und unsere Gesetze sind nicht so verwickelter Natur, um sich nicht mit einiger Arbeit hineinzufinden. Das nötigste ist nur, die gehörigen Daten zu bekommen. Sind Sie, Señor, zum Beispiel der festen Überzeugung, daß bei dem Verkauf alles ehrlich zugegangen ist, oder haben Sie vielleicht einen entfernten Verdacht vom Gegenteil?«
»Lieber junger Freund«, sagte Señor Rivadia ängstlich, »das wäre eine gefährliche Sache, nur auf einen entfernten Verdacht hin gegen solch eine Familie, mit der ich außerdem eng befreundet bin, aufzutreten. Sie werden begreifen . . .«
»Vollkommen, Señor«, erwiderte Don Rafael, sich kalt verbeugend; »entschuldigen Sie, daß ich auch nur eine Andeutung dahin gewagt habe. Ich fange schon an, einen Überblick zu gewinnen.«
Rivadia war in sichtlicher Verlegenheit. Er fühlte die Ironie, die in den Worten des jungen Mannes lag, ja, was noch schlimmer war, er fühlte, daß er ein Recht hatte, sich für schwer gekränkt zu halten, und wenn er daran dachte, wie er damals von ihnen geschieden, was für Pläne, was für Hoffnungen sie alle hatten, und wie sehr sich »die Verhältnisse« jetzt geändert, scheute er sich ordentlich, dem Blick Don Rafaels zu begegnen. Das Gefühl jedes Peruaners, irgendeine Unannehmlichkeit durch einige nichtssagende Redensarten zu versüßen, oder wenigstens für den Augenblick, solange man mit dem Beteiligten zusammen ist, abzustumpfen, gewann aber doch bei ihm die Oberhand. Die Situation wurde auch zu peinlich.
»Mein lieber junger Freund«, sagte er, indem er seine Hand auf Rafaels Schulter legte und mit der Linken an seiner Uhrkette spielte, dabei aber wie unwillkürlich aus dem Fenster sah, »Sie haben allerdings in den letzten Jahren schwere Verluste erlitten, und ein weniger elastischer Geist könnte davon niedergebeugt werden, aber der Ihrige nicht, ich kenne Sie darin zu genau. Es wird Ihnen allerdings in der ersten Zeit schwer werden, eine gewisse Entmutigung zu bekämpfen, aber – aber Sie werden – Sie werden sich wieder emporraffen. Sie sind noch jung, Sie haben das Leben noch vor sich. Sie werden einen neuen Anlauf nehmen, und was ich dabei tun kann, Sie zu unterstützen und Ihnen vorwärts zu helfen, das seien Sie versichert, daß ich es aus allen Kräften tun werde. Wenden Sie sich nur in jeder Verlegenheit an mich und betrachten Sie indessen mein Haus vollkommen als das Ihrige, ich bitte Sie dringend darum.«
Don Rafael hatte, während Rivadia sprach, seinen Blick ruhig und selbst mit einem leisen Lächeln auf ihm haften lassen, ohne jedoch dem Auge des älteren Mannes ein einziges Mal zu begegnen, und sagte jetzt, indem er die Hand, welche die seinige gefaßt hielt, kräftig drückte:
»Sehr schön gesprochen! Ich habe fast drei Jahre in Deutschland gelebt, und würde mir dort ein Mann in Ihrer Stellung und von Ihrem Einfluß das gesagt haben, was Sie eben die Güte hatten, mir zu versichern, so könnte ich mich für geborgen und gut untergebracht halten, denn ich hätte einen wahren Freund gefunden. Hier in Peru dagegen, Señor Rivadia, wissen Sie wohl, daß die Sache anders steht. Wenn man hier einem Fremden sein Haus zur Verfügung stellt, so erwartet man vor allen Dingen von einem anständigen Menschen, daß er keinen Gebrauch davon macht, uns nicht beim Wort nimmt. Und was Ihre übrigen Versprechungen betrifft, Señor Rivadia, so nehmen Sie meinen tiefsten, aufrichtigsten Dank dafür. Ich empfinde so warm, was Sie mir da geboten, wie es gemeint und geboten war, und nun erlauben Sie, daß ich mich Ihnen gehorsamst empfehle. Ich verlasse Sie mit der Empfindung, daß es wohl tut, einen wahren Freund gefunden zu haben. Gott sei mit Ihnen!«
Und mit einer tiefen Verbeugung verließ Don Rafael das Haus dessen, der ihn eben mit seinen wärmsten Freundschaftsversicherungen überschüttet hatte, und von dem er trotzdem genau wußte, daß er ihn von diesem Augenblick an als seinen bittersten Feind hassen und verfolgen würde.
»Das war also mein Empfang in der Heimat«, murmelte er leise, als er die Straße hinabschritt, die nach der großen Plaza führte – wußte er doch selber nicht recht, wohin er ging, denn er hatte noch gar kein bestimmtes Ziel – »das war der Augenblick, den ich so lange und heiß ersehnt? Es ist die alte Geschichte: man soll um Gottes willen nie einen bestimmten Tag ober Zeitpunkt herbeisehnen. Die Zeit rollt, und der Augenblick ist unser, aber nur Gott weiß, was die nächste Woche, der nächste Tag uns bringt, und haben wir einmal unser Herz an die Zukunft gehängt, so fühlen wir uns nachher nur um so unglücklicher, wenn wir uns getäuscht sehen.«
»Rafael! Bei allem, was da lebt, amigo, bist du das wirklich oder ist's dein Geist – und mit einem Gesicht so finster und wild wie ein Gewitter in der Cordillera?«
»Gaspar!« rief Rafael, als er zu dem ihn Anrufenden aufgesehen und in dem vor ihm stehenden peruanischen Offizier einen alten Schulkameraden erkannte. »Kennst du mich wirklich noch, Compañero? Ich fing schon an, zu glauben, daß das Gedächtnis der Menschen von dem Zahlensinn abhängig wäre, nicht der Zahlensinn von dem Gedächtnis, wie man es eigentlich vermuten sollte!« Und er ergriff dabei die ihm gereichte Hand und schüttelte sie herzlich.
»Seit wann bist du zurück?«
»Seit heute.«
»Aber du weißt, was vorgefallen ist?«
»Nein, nur was mich betroffen hat. Über das Vorgefallene kannst du mir vielleicht Auskunft geben. Wohin gehst du jetzt?«
»Gerade zum Mittagessen! Hast du schon gespeist?«
»Ja und nein; jedenfalls begleite ich dich, denn ich fühle das Bedürfnis nach einem Glase Wein, um ein gewisses klimatisches Unbehagen hinunterzuspülen.«
Und seinen Arm in den seines Freundes legend, schlenderte er mit ihm die Straße hinab und dem Theaterplatz zu, wo sie in einem der benachbarten Gasthäuser leicht ein abgesondertes Plätzchen finden und ungestört plaudern konnten.
Rafael erfuhr aber von ihm nicht viel Neues. Der Platz seiner früheren Besitzung lag allerdings nicht so weit entfernt, höchstens drei ober vier Leguas von der Stadt ab, aber doch außerhalb, und wer keine Verbindung mit dem inneren Land hatte, kam dort selten oder nie hinaus. Alles, was man in Lima damals über die Sache gesprochen hatte, – denn jetzt war sie lange vergessen, und niemand dachte mehr daran –, schien sich auf den etwas sehr plötzlichen Tod des alten Señor Aguila, Rafaels Onkel, zu beziehen, der eines Tages, nachdem er noch kräftig gefrühstückt hatte, vom Stuhle fiel und nicht wieder zur Besinnung kam. In dem heißen Klima konnte man aber natürlich eine Leiche nicht länger als höchstens eine Nacht über der Erde lassen; bis also die Nachricht in die Stadt kam und der Arzt gerade Zeit hatte, hinauszureiten, war es schon spät geworden und der Verblichene indessen ruhig beigesetzt. An ein Wiederausgraben dachte natürlich niemand, und am nächsten Tag stand der Todesfall in der Limaschen Zeitung als »Folgen eines Schlagflusses« angegeben. Alles übrige ging unbeachtet vorüber. Nur Señor Rivadia gab sich besondere Mühe, den ausgestellten Verkaufsbrief genau zu prüfen, und als er, dem man ein Interesse bei der Sache zutraute, ihn für richtig und rechtsgültig anerkannte, hatte natürlich niemand weiter etwas dagegen einzuwenden.
Wer jetzt das Gut verwaltete, konnte Don Gaspar nicht angeben. Er hatte sich nie darum bekümmert, nur so viel wußte er, daß sich sein jetziger Eigentümer, Mateo Desterres, fast ununterbrochen in der Stadt aufhielt, und besonders viel und häufig das Theater besuchte. Außerdem spielte er vortrefflich Billard und ritt einen Schimmel, den er um achtzehn Unzen erst ganz kürzlich von seinem Schwager, Señor Olivar, gekauft hatte.
Don Rafael saß still und düster, den Kopf in die Hand gestützt, neben ihm und lauschte dem Geplauder des jungen Offiziers. Er unterbrach ihn auch mit keiner Silbe, denn so bunt und ungeordnet alles herauskam, fand sich doch manches darunter, das er gebrauchen konnte und vielleicht nie herausbekommen hätte, wenn er darum fragte. Endlich leerte er sein Glas und schob es zurück.
»Du willst fort, Rafael?«
»Ja, es wird Zeit.«
»Wohin heute noch?«
»Ich muß ein Pferd kaufen und dann heute abend nach der Hacienda hinaus.«
»Heute noch ein Pferd kaufen und einen Ritt von etlichen Leguas machen?« lachte Gaspar. »Wahrhaftig, das ist mehr, als ich unternehmen möchte, denn unter drei Tagen brächte ich das nicht fertig. Weißt du denn schon, wo ein gutes Pferd zu bekommen ist?«
»Nein, ich bin hier vollkommen fremd geworden.«
»Dann kauf' auch nicht übereilt, oder du würdest schmählich betrogen werden. Nimm heute mein Pferd, ich brauche es doch in den nächsten Tagen nicht, und die paar Leguas Bewegung werden ihm gut tun.«
»Das nehme ich mit herzlichem Dank an; vielleicht können wir später selbst einen Handel damit machen.«
»Vielleicht; aber wer begleitet dich?«
»Begleiten? Niemand. Wer soll mich begleiten?«
»Ganz allein willst du da hinausreiten, und noch dazu gegen Abend?«
»Aber weshalb nicht? Sind Eure Straßen hier so unsicher geworden, daß man nicht mehr das Innere besuchen darf?«
»Hm«, sagte Gaspar, »das Innere, so viel du willst. Du könntest in den Bergen mit einem Sack Gold auf den Schultern sicher und getrost spazierengehen; aber in der unmittelbaren Nähe der Stadt hier ist es seit einiger Zeit, und zwar seit die Todesstrafe abgeschafft wurde, wieder nicht geheuer, und es vergeht keine Woche, wo nicht Reisende angefallen und dann jedesmal ermordet werden.«
»Ein liebenswürdiger Zustand«, lachte Rafael. »Weshalb habt Ihr das chinesische Gesindel ins Land gezogen?«
»Daran sind die Chinesen vollkommen schuldlos«, versicherte Gaspar, »auch viel zu feige, etwas Derartiges zu unternehmen, außerdem sind sie ganz erbärmliche Reiter. Sie würden jedesmal erwischt werden. Nein, den Hauptdank für diese Zustände sind wir den freigelassenen Schwarzen schuldig, die das meiste darin leisten, und erst in letzter Zeit hat sich auch ein Caballero darin ausgezeichnet.«
»Ein Caballero? Woher weiß man das?«
»Man wußte schon lange«, erzählte Gaspar, »daß die letzten Morde von einem einzelnen Reiter herrührten; aber die Opfer waren mit einem langen und breiten Messer so sicher getroffen, daß sie nie mehr selber Zeugnis ablegen konnten. Vor acht Tagen nun trabt der kleine Guterres, der in Magdalena gewesen war, der Stadt zu, und kaum eine Viertellegua von dem letzten Tambo entfernt, kommt ihm der einzelne, furchtbare Reiter entgegen. Er trug einen gestreiften, kurzen Poncho und einen schwarzen, breitrandigen Filzhut und ritt damals ein braunes Pferd. Das war aber alles, was er bemerkte, denn in wilder Flucht riß er sein eigenes Tier herum und sprengte, was dieses laufen konnte, gerade dem eben angeschwollenen Rimac zu.«
»Und der Reiter«, lächelte Don Rafael, »der ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte, lachte wahrscheinlich hinter ihm drein.«
»Bitte um Verzeihung, Compañero! Er folgte ihm in voller Karriere, und wäre der Rimac nur hundert Schritt weiter entfernt gewesen, so würde Freund Guterres Lima nie wieder gesehen haben; so aber erreichte er den Strom und warf sich mit dem Pferd hinein.«
»In den angeschwollenen Rimac?«
»Der Strom nahm ihn natürlich gleich mit sich fort; sein Pferd kam zwischen die Steinblöcke und ging verloren, er selber aber erreichte trotzdem glücklich das andere Ufer und war gerettet.«
»Hat er das Gesicht des Banditen nicht erkennen können?«
»Er wird sich wohl nicht danach umgesehen haben«, lachte Gaspar. »Nach dieser glücklichen Flucht eines der Opfer scheint der einzelne Reiter die Straße eine Woche lang etwas gemieden zu haben; vorgestern ist aber schon wieder ein Einwohner von Lima, der nach Oberagilio wollte, um dort eine Schuld zu entrichten, ermordet und beraubt worden, wie denn überhaupt der Schuft genaue Kundschaft in der Stadt selber haben muß, denn wer kein Geld bei sich trägt, ist ziemlich sicher.«
»Das klingt ja außerordentlich romantisch«, lächelte Don Rafael; »leider werde ich selber aber dann wohl darauf verzichten müssen, seine Bekanntschaft zu machen, denn mit Geld bin ich eben nicht überladen, wenn ich auch vielleicht genug bei mir trage, einen einfachen Messerstoß zu bezahlen. Nun, wir werden ja sehen; jedenfalls danke ich dir, Gaspar, für das Anbieten deines Pferdes sowohl, das ich mit Dank annehme und dir sogar verspreche, nicht in den Rimac zu hetzen, und dann auch besonders für deine interessante Schilderung des Herrn von der Landstraße.«
»Nimm die Sache nicht zu leicht, Rafael.«
»Ganz und gar nicht; ich nehme deine Erzählung, wie sie gemeint war, und werde jedenfalls vorsichtig sein, schon deines Pferdes wegen«, setzte er lächelnd hinzu. »Aber nun laß uns aufbrechen, denn ich möchte nicht zu spät abreiten, um heute abend wenigstens noch die eine oder andere Persönlichkeit zu treffen, muß auch noch vorher mein Gepäck, das ich auf dem Bahnhof gelassen habe, in ein Hotel schaffen. Also vamonos, amigo!«