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Die nächsten Tage nach den eben beschriebenen Vorfällen herrschte für alle eine schwüle Luft in Lima, die sich nicht recht rein fühlten oder gar wußten, daß sie hier oder da Castillas Regierung getadelt hatten. Es fanden auch eine Menge Verhaftungen statt, während zu gleicher Zeit die verworrensten Gerüchte über das Attentat selber Lima durchliefen.
Auch dem französischen Konsul kam dieses Attentat sehr ungelegen, denn so unmittelbar danach konnte er doch nicht gut gegen die Regierung mit einer Klage auftreten. Allerdings ließ er sich schon am nächsten Tage bei dem Präsidenten melden, um ihm im Namen der französischen Regierung seinen Glückwunsch für die abgewandte Gefahr darzubringen; aber mit solch einer Mission ließ sich keine Beschwerde vereinigen, und die Sache mußte wenigstens auf kurze Zeit hinausgeschoben werden.
Rafael hatte indessen seine Zeit nicht müßig hingebracht und mit allem Eifer nach Spuren des Gesindels geforscht, das jenen Raub während des Karnevals ausgeführt hatte. Nur die von Lydia erhaltene Adresse war bis jetzt nicht benutzt worden, und um erst einmal das Terrain kennenzulernen, beschloß er, das Negerdorf selber zu besuchen.
Eine Ausrede, den Negern gegenüber, war leicht gefunden. Er brauchte nur z. B. eine Kuh zu kaufen, was ihm ja leicht Gelegenheit gab, auf den verschiedenen Chacras das Vieh selber zu besichtigen und seine weiteren Beobachtungen dabei anzustellen. Aber er mochte das auch nicht gern allein tun, und da er Bertrand als einen praktischen Menschen kannte, der vielleicht selbst in dem Negerdorf nicht ganz fremd war und wahrscheinlich den einen oder anderen der Insassen kannte, so dachte er diesen aufzusuchen und um seine Begleitung zu bitten.
Noch vor Tag ritt er von Lima fort, um die kühlste Zeit zu benutzen, und passierte mit dem ersten Licht des jungen Morgens die letzte Posada am Weg, wo die weite Öde begann und sich bis zu den Hacienden ausdehnte.
In der vom Weg abgelegenen Posada fiel ihm das Leben auf, das dort herrschte. Sie hatten zu so früher Stunde Licht im Hause, und er hörte Stimmen und sah Leute hin und hergehen. Aber was kümmerte ihn das Volk dort drinnen, von dem er froh war, wenn es ihn nicht belästigte! Er fühlte auch fast unwillkürlich nach seinen Revolvern und ließ seinen wackeren Braunen schärfer austraben, um rasch aus dem Bereich des dort wohnenden Gesindels zu kommen.
Eine Legua hatte er so in einem ordentlichen Trab zurückgelegt und wieder die niederen Gartenmauern erreicht, zwischen denen ihm damals der einzelne Reiter, jener Señor Perteña, auf so verdächtige Weise begegnet war. Seine Gedanken flogen zurück zu jenem Morgen – wer war der Bursche eigentlich? Wovon lebte er in Lima, was trieb er? Rafael hatte danach Erkundigungen eingezogen, aber nichts anderes über den jungen Herren erfahren können, als daß er als Señor lebe, ziemlich viel Geld ausgäbe, ohne selber Vermögen zu haben, zu Zeiten auch ziemlich hoch und nicht immer mit Glück spiele und jetzt dem Präsidenten empfohlen sei, um von diesem, wie Hunderte seinesgleichen, in Peru mit einer Anstellung und einem Gehalt für Lebenszeit, d. h. so lange der Präsident lebte, gesichert zu werden.
Perteña war jedenfalls von guter Familie, denn sein ganzes Benehmen zeigte, daß er sich von Jugend auf in guter Gesellschaft bewegt hatte.
War es da eigentlich möglich, daß er einen Raubmord auf offener Landstraße versuchen sollte? Aber warum nicht?
Rafael kannte seine Landsleute! Und wie sonderbar und ängstlich sich Lydia damals bei dem Besuch des jungen Mannes betrug! Er hatte sie deshalb fragen wollen, aber nie mehr Gelegenheit zu einer nur einigermaßen ungestörten Unterhaltung bekommen. Kannte sie ihn etwa schon von früher her?
Sein Grübeln wurde auf etwas gewaltsame Weise unterbrochen, denn der Braune flog so rasch und scharf auf die Seite und sprang mit allen vier Beinen so plötzlich vom Boden ab, daß Rafael, der dem Tier vollständig die Zügel gelassen hatte, fast aus dem Sattel geglitten wäre. Mit Mühe hielt er seinen Sitz und zügelte das erschrockene Tier soweit, daß es wenigstens dem Zügel wieder folgte; aber vor dem Platze scheute es noch immer zurück und wollte nicht wieder vorbei.
Nun fühlte Rafael gar keine besondere Lust, sich gerade in dieser Gegend, die die verrufenste war, länger als nötig aufzuhalten. Allerdings hatte man in den letzten Wochen von keinem Raubüberfall wieder gehört, und es schien, als ob die Straße, auf der jetzt kleine Kavallerie-Trupps von Zeit zu Zeit patrouillieren mußten, dadurch mehr an Sicherheit gewonnen hätte.
Der Platz lag aber viel zu einsam und öde, und hinter den niederen Lehmmauern konnte sich recht gut schlechtes Gesindel verborgen halten und einem einsamen Reisenden, ohne selbst entdeckt zu werden, mit einem Gewehr auflauern. Trotzdem aber wollte er wenigstens sehen, was sein Pferd hatte, daß es so auffallend vor der einen Stelle scheute, und einen Revolver in die Rechte nehmend, zwang er das Tier endlich mit scharfem Sporn, seinem Willen zu gehorchen und die Straße wieder anzunehmen.
Er brauchte dort nicht lange zu suchen. Mitten auf dem staubigen Wege lag eine Blutlache, die er vorher, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nicht bemerkt hatte, und einzelne Blutflecke führten links ab nach der nächsten Mauer zu, auf der er oben deutlich die verräterischen Spuren erkennen konnte.
Einen Augenblick warf er den Blick unschlüssig die Straße auf und ab, denn gerade hier hätte er keiner Übermacht des Gesindels begegnen mögen. Nirgends war aber ein menschliches Wesen zu erkennen.
Rasch entschlossen stieg er ab, schob einen Revolver in seinen Gürtel, nahm den anderen in die Hand und schritt dann zu der Stelle zurück, an der der Mord jedenfalls verübt worden war. Die Mauer war nicht sehr hoch, er konnte sich mit Leichtigkeit hinaufschwingen und brauchte dort nicht lange zu suchen. Der Leichnam lag dicht dahinter und war nur dort hinübergeworfen worden, um ihn aus dem Weg zu haben und eine Entdeckung nicht zu rasch herbeizuführen.
Einer konnte den Mord aber nicht verübt haben, denn allein wäre er nicht imstande gewesen, den schweren Körper auf die Mauer zu heben. Daß er von dort nachher hinabgeworfen worden war, zeigte schon die Lage, in der ihn Rafael fand, denn er mußte mit dem Kopf zuerst hinuntergestürzt sein.
Der junge Mann besann sich nicht lange, sondern sprang ebenfalls hinüber, um den Tatbestand wenigstens etwas zu untersuchen. Der Ermordete trug einen einfachen Reiseanzug, aber die Kleider waren nichtsdestoweniger von feinem Tuch und ebenso das feinste Leinen zu seiner Wäsche. Den Leichnam selber hatten die Mörder aber auf das unbarmherzigste verstümmelt und das Gesicht besonders so zerschnitten, daß es nicht möglich war, irgendeinen Zug zu erkennen. Seine Taschen waren vollständig geleert, und es blieb dem jungen Mann nichts weiter übrig, als draußen in den Hacienden bei dem Gobernador die Anzeige zu machen, denn nach Lima deshalb zurückzureiten, dazu fehlte ihm natürlich die Lust.
Ehe er den Platz verließ, sah er sich allerdings noch einmal nach Spuren um; aber es war ganz unmöglich, in dem harten, staubigen Boden etwas anderes zu erkennen, als eine Menge verworrener Fährten von Tieren und Menschen, die sich auf der Straße gekreuzt hatten. Hier an der Mauer und auf ihrer anderen Seite ließen sich allerdings die Eindrücke von Schuhen unterscheiden, aber so schwach und undeutlich, daß ein geübteres Auge dazu gehört hätte, um zu sagen, ob sie von einer oder von verschiedenen Personen herrührten.
Don Rafael gab diese Untersuchung auch bald auf; in der Tat fühlte er sich in dieser unheimlichen Nachbarschaft nicht wohl, und über die Mauer zurückspringend, machte er, daß er wieder in den Sattel kam. Bald hatte er die Ansiedelungen erreicht und ritt augenblicklich zum Gobernador, den er mit der Neuigkeit des entdeckten Mordes nicht eben angenehm überraschte. Der Mann saß gerade beim Frühstück, wo sich bekanntlich niemand gern stören läßt, und sollte jetzt in die heiße Sonne hinausreiten, um einen fatalen Mord zu konstatieren, von dem er nachher nur Scherereien hatte.
Rafael kümmert sich indes wenig um den Zorn des langweiligen Mannes, stieg wieder in den Sattel und ritt jetzt langsam nach Bertrands Hacienda hinüber. Dabei kam er wieder am Haus der alten Pascua vorüber. Die Alte saß oder kauerte vielmehr auf der Schwelle, um hier draußen, wo sie besseres Licht hatte, eine Jacke, die wahrscheinlich dem jungen Cholo gehörte, an einem der Ärmel auszubessern.
Bald darauf hielt Rafael vor Bertrands Hacienda, wo die Hunde einen Lärm machten, als ob er ein ganz Fremder gewesen wäre. Erst als er den Hof selber betrat, erkannten sie ihn wieder und sprangen an ihm hinauf.
Rafael schritt auf das Haus zu und fand Juanita dort allein. Bertrand war unten in einer Kakao-Anpflanzung.
Das junge Mädchen kam ihm entgegen, reichte ihm die Hand und sagte herzlich:
»Sie haben sich lange nicht bei uns sehen lassen, Don Rafael! Wie oft hat der Vater nach Ihnen gefragt, er ist zuletzt ordentlich böse geworden, daß Sie gar nicht kamen! Sie waren doch nicht krank?«
»Nein, Juanita, krank nicht, aber recht beschäftigt, und eigentlich, wenn ich aufrichtig sein will, mit lauter Dingen, die mich gar nichts angehen.«
Juanita sah zu ihm auf, denn sie begriff im ersten Augenblick nicht recht, was er meinte. Wie lieb das junge Mädchen heute aussah, welch ein feines, durchsichtiges Rot ihre Wangen färbte, wie klar und treuherzig ihn die guten Augen anschauten! Fast unwillkürlich mußte er im Geist die beiden Mädchen miteinander vergleichen – Lydia und Juanita, und Rafael gestand sich, daß man Juantia hätte für schön halten müssen, wenn man Lydia eben nicht kannte. Lydia war aber unbedingt schöner; schon das feurig lebendige und kluge Auge gab dem Gesicht einen ganz anderen, sprechenderen Ausdruck, und ihr Lächeln – das war rein bezaubernd.
Juanita senkte errötend den Kopf, denn Rafael hatte sie fest und prüfend angesehen, und sie sagte schüchtern:
»Ich verstehe Sie nicht, Señor – die Sie nichts angehen?«
»Ja«, sagte Rafael zerstreut, »ich habe mich eigentlich nur mit den Angelegenheiten anderer Leute beschäftigt und vielleicht nicht einmal viel Dank damit geerntet, wenigstens sehr geringen Nutzen bis jetzt erzielt. Aber wo ist Ihr Papa, Juanita?«
»Bei den Kakaobäumen; ich habe schon einen der Leute hingeschickt, um ihm Ihre Ankunft melden zu lassen.«
»Vielen Dank – und ist es Ihnen gut gegangen in der Zeit? Ich erinnere mich, als ich zuletzt hier war, fühlten Sie sich ein wenig leidend. Ich glaube, Sie arbeiten zu viel, Juanita – schonen Sie sich ein wenig. Bedenken Sie, daß Ihr Papa weiter niemand auf der Welt hat als Sie, und daß Sie sich ihm erhalten müssen.«
Juanita lächelte; aber es lag dabei eine leise Wehmut in ihren Zügen. In diesem Augenblick kam der Vater, der schon unten in der Haustür heraufrief:
»Na, das ist gescheit, Junge! Herumtreiber, wo hast du so lange gesteckt? Ich habe so viel mit dir zu reden, und mit keiner Fingerspitze läßt er sich blicken« – und dabei stand er oben und schüttelte dem jungen Mann den Arm mit einem Eifer, als ob er nicht übel Lust habe, ihn auszurenken.
»Wir hätten doch in der Zeit nichts machen können«, sagte Rafael, »denn es ist, als ob ganz Lima durch das Attentat verwirrt und auf den Kopf gestellt wäre, so sind die vielen Verhaftungen den Leuten in die Glieder gefahren.«
»Weil sich keiner von den Lumpen sicher fühlt«, lachte Bertrand, »denn etwas haben sie fast alle auf der Kreide, und wo der und jener abgefaßt und eingesteckt wird, fürchten sie ja natürlich, daß der – und wenn er der beste Freund wäre – alles aussagen würde, was er weiß, nur um seine eigene Haut zu retten. Ja, ja, solch Stellenjäger-Gesindel! Da ist mir wahrhaftig ein ehrlicher Straßenräuber lieber, der sagt doch offen: Ich bin ein Schurke und nehme, was ich kriegen kann!«
»Der ehrliche?« lachte Rafael. »Aber da fällt mir ein«, fuhr er wieder ernster fort, »daß mit Ihren Straßenräubern hier doch auch nicht zu spaßen ist.«
»Was, bist du wieder deinem Reiter begegnet?«
»Nein, aber ich habe die blutigen Spuren irgendeines Reiters unterwegs gefunden: den Leichnam eines Ermordeten und Beraubten.«
Bertrand nickte ernst vor sich hin.
»Ja«, sagte er leise, »das sind die Folgen, daß Castilla die Todesstrafe aufgehoben hat, denn vor den Gefängnissen fürchten sie sich nicht so viel! Wenn erst einmal das neue Zellengefängnis fertig ist, das sie jetzt begonnen haben, dann kann möglicherweise wieder ein bißchen Respekt in die Bande kommen, denn sie trotzen jetzt nur darauf, daß sie, wenn auch eingesperrt, doch in der nächsten Nacht ausbrechen können. Aber der Galgen hat ihnen doch mehr imponiert. Apropos, noch nichts von dem Diebstahl im Deringcourtschen Hause entdeckt? Das war doch auch frech genug ausgeführt!«
»Noch nicht die Spur – aber doch, ja, die Spur wohl, und das ist auch die eigentliche Ursache, weshalb ich heute herauskam. Ich wollte Sie bitten, mit mir in das Negerdorf, gleich rechts am Wege nach Lima zu, hineinzureiten, und zwar nur, um vorläufig zu kundschaften!«
»Da werden wir was Rechtes zu sehen bekommen!« lachte Bertrand; »höchstens können wir Grobheiten und Spottlieder einstecken, die das schwarze Gesindel hinter uns drein singen wird. Das ist eine Staatsbande!«
»Ich will eine Kuh kaufen«, sagte Rafael, »und denke doch, daß das eine Einführung sein wird.«
»Das allerdings«, nickte Bertrand; »so wie sie etwas zu verdienen hoffen, sind sie bei der Hand und können noch dazu so höflich sein wie ein Chinese. Aber dann wollen wir gleich nach dem Frühstück wieder fort, daß wir noch vor Dunkelwerden zurück sind; denn jetzt bleibst du doch bei uns, bis wir zusammen in die Stadt reiten, um die Insulanergeschichte in Ordnung zu bringen!«
»Wenn wir nicht etwas Wesentliches entdecken, hab' ich in der Stadt allerdings in den nächsten Tagen nichts zu tun.«
»Na, die Beruhigung kann ich dir geben«, sagte der alte Franzose, »daß wir dort nichts Wesentliches entdecken werden, denn das Gesindel ist noch schlauer als die Weißen und läßt sich selten auf einem faulen Pferde ertappen. Sieh nur nach deinem Tier, daß das ordentlich zu fressen und zu saufen bekommt; nachher können wir losreiten.«