Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Die Tertulia

Der Arriero Manuel Castilla hatte sich wirklich nicht länger halten lassen, als er brauchte, um ein wenig mit seinem Bruder und dessen Frau zu plaudern, ihm von daheim zu erzählen und ein Glas Wein zu trinken. Dann verließ er den Rancho wieder, schüttelte dem Präsidenten herzlich die Hand, schritt durch den Hof, stieg auf sein Maultier, das keinen Fuß breit von der Stelle gewichen war, wo er es verlassen hatte, nickte dem jungen Offizier noch einmal freundlich, wenngleich ein wenig boshaft, zu und trabte dann die Straße hinab und an dem Stationsgebäude der Eisenbahn vorbei, dem Weg folgend, der hinab nach Lima führte.

Indessen war es dunkel geworden, und die bunten Signallaternen verkündeten endlich den nahenden Extrazug, der Castillas Gäste aus der Hauptstadt brachte.

Die ganze vornehme Gesellschaft von Lima schien eingeladen zu sein, wenigstens alles, was zu diesem Kreis gehörte, denn es war der erste Abend seit dem Attentat, wo Castilla Gäste empfing, und alles mußte ihm ja seine Huldigung, seine Glückwünsche bringen.

Zwei von den Gästen schienen einander aber, wenn auch nur verstohlen, ganz erstaunt zu betrachten, und das war Oberst Desterres und General Granero – ja, die Gesellschaft selber war überrascht, den kleinen Mulatten hier zu sehen; denn bis jetzt glaubte man überall, daß er in Ungnade gefallen sei; trotzdem hatte er eine Einladung erhalten.

Granero selber fühlte sich bedrückt in der ganzen Umgebung – er wußte nicht, wie er mit »dem Alten« stand – er wußte nicht, zu welchem Zweck er seine Karte erhalten hatte, und wäre am liebsten ganz weggeblieben, wenn er nicht gefürchtet hätte, den Präsidenten zu beleidigen. Auch daß Oberst Desterres in dem Saal umherstolzierte, gefiel ihm nicht und erweckte eher sein Mißtrauen, als daß es ihn beruhigte. Was konnte nur die Ursache dieser Einladung sein? Steckte etwa mehr dahinter, als eine bloße Freundlichkeit? Behaglicher würde er sich jedenfalls daheim in seiner Hängematte gefühlt haben.

Viel mehr an seinem Platz fühlte sich dagegen der Oberst, und von sich selber vollkommen überzeugt, die frühere Verschwörung so schlau eingefädelt und sich selber so ganz im Hintergrund gehalten zu haben, daß Castilla seine Hand dabei auch nicht einmal ahnen konnte, gab er sich jetzt ganz dem wohltuenden, erhebenden Gefühl hin, der Gast des Präsidenten zu sein – den kleinen General Granero sah er gar nicht mehr.

Die Frau Präsidentin empfing indessen die Gäste, während Castilla selber ab und zu ging und bald da, bald dort einen Bekannten grüßte. Nur jedem Glückwunsch wich er aus und beseitigte alle derartigen Versuche immer so rasch, wie es nur irgend anging. Aber unter den Damen hatte er Lydia Valière entdeckt, die er seit dem Karneval nicht wieder gesprochen hatte, und auf sie zugehend, nahm er ihre Hand und sagte freundlich:

»Mein liebes Fräulein, ich freue mich wirklich herzlich, Sie einmal wieder bei mir zu sehen, und kann Ihnen sagen, daß ich den wärmsten Anteil an dem Verlust genommen habe, der Sie betroffen hat.«

»Exzellenz sind so gnädig«, sagte das junge, schöne Mädchen tief errötend, »und haben selber mich so reich danach bedacht, daß ich wirklich nicht einmal weiß, ob ich einen Verlust erlitten habe. Überhaupt bin ich in Lima mit einer Liebenswürdigkeit aufgenommen worden, die ich der guten Stadt im Leben nicht vergessen werde!«

»Bis auf den Bubenstreich . . .«

»Schlechte Menschen gibt es überall – weshalb nicht auch in Peru?« sagte Lydia, »und die Erinnerung wird, wenn ich an das Land zurückdenke, nur das Liebe und Gute davon bewahren!«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich hoffe doch, daß Sie uns nicht schon so bald wieder verlassen wollen.«

»Leider schon mit dem nächsten Dampfer«, erwiderte Lydia, »denn Briefe, die ich von Hause erhielt, zwingen mich, meine Rückreise zu beschleunigen.«

»Ich fürchte, ich fürchte«, sagte Castilla, mit dem Finger drohend, »Sie werden manches gebrochene Herz hier zurücklassen!«

»Ich wußte nicht, daß Exzellenz auch boshaft sein können«, lächelte das junge Mädchen mit einer leisen Verneigung.

Ihr Gespräch war aber auch für den Augenblick abgebrochen, denn Señor Desterres trat dem Präsidenten gegenüber und sagte mit einer tiefen Verbeugung:

»Exzellenz haben mir heute nachmittag befehlen lassen, Ihnen ein bestimmtes Papier vorzulegen.«

»Ah, Desterres – haben Sie es mitgebracht?«

»Allerdings, Exzellenz, aber gestatten Sie mir vorher, daß ich meinen aufrichtigsten und tiefgefühltesten Glückwunsch . . .«

»Schon gut, schon gut – lassen Sie die alte Geschichte – wo haben Sie das Papier?«

»Hier, Exzellenz«, sagte der Señor, indem er das Papier dem Präsidenten überreichte, »Exzellenz hatten auch die Gnade, meinen Bruder, den Oberst, einzuladen; wollten Sie vielleicht gestatten, daß er Ihnen, noch ganz von der Angst an jenem Schreckenstag erfüllt . . .«

Der Oberst war vorgetreten und verbeugte sich so tief, daß er mit den Händen fast hätte den Boden berühren können.

»Exzellenz«, sagte er, »ich will zu Gott hoffen, daß es meiner schwachen Stimme an jenem Tage mit gelang . . .«

»Ah, Oberst Desterres«, unterbrach ihn der alte Herr, der, bis jetzt ganz in seine Gedanken vertieft, das eben erhaltene Papier mit den Blicken überflogen hatte, »ist mir lieb, daß Sie da sind – will Ihnen nachher auch noch etwas mitteilen. Sie entschuldigen mich einen Augenblick, Caballeros«, und den beiden den Rücken kehrend, ging er in das benachbarte Zimmer.

»Mein liebes Fräulein«, sagte Rafael indessen, der zu Lydia getreten war und ihre Hand an seine Lippen zog, »ich hoffe doch mit ganzer Seele, daß ich vorhin falsch hörte, daß Sie uns noch nicht so bald wieder verlassen wollen!«

»Señor Confederado«, lächelte ihn Lydia freundlich an, »Ihr vortreffliches Gehör hat Sie nicht getäuscht, denn ich bin allerdings fest entschlossen, mit dem nächsten Dampfer nach Frankreich zurückzukehren.«

»Und das sagen Sie so ruhig«, erwiderte Rafael fast vorwurfsvoll – »und doch«, brach er kurz ab, »kann ich mir denken, daß Sie sich aus unserem öden, dürren Land wieder zurück nach den Küsten Ihrer schönen Heimat sehnen – oh, wer dorthin mit Ihnen ziehen dürfte!«

»Ich bin fest überzeugt«, erwiderte Lydia, »daß auf dem Dampfer noch verschiedene Plätze frei sind!«

»Spotten Sie nicht«, sagte Rafael fast ernst – »Sie wissen nicht, zu was Sie mich noch treiben könnten!«

»Doch sicher nicht zu einer Ungerechtigkeit«, sagte die junge Dame rasch und fast wie mit einem Vorwurf im Blick zu ihm aufsehend, »aber jetzt bekomme ich eine Strafpredigt«, setzte sie lachend hinzu, als sie durch die Gruppen die lange, hagere Gestalt des Señor Benares auf sich zusteigen sah. »Unterwegs bin ich dem Herrn in einen anderen Waggon entkommen, und er wird mir jetzt jedenfalls zärtliche Vorwürfe machen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Don Rafael, es gibt für mich auf der Welt nichts Komischeres, als das Schmachten dieses Don Quixote – wenn ich ihm nur ein Barbierbecken verschaffen könnte!«

Der lange und etwas hagere Benares hatte sich indessen bis zu der jungen Dame durchgearbeitet und Lydia hatte ganz recht geraten, denn er beklagte sich wirklich bitter darüber, daß sie ihn unterwegs absichtlich gemieden und dem »glücklichen« Desterres die Freude gemacht habe, in seiner Gesellschaft hier heraus zu fahren.

Rafael war inzwischen zurückgetreten und wollte sich eben nach einem andern Teil des Saales zurückziehen, denn es tat ihm weh, das Spiel mit anzusehen, das Lydia mit ihren Anbetern trieb, als er Perteña auf sich zukommen sah und nicht mehr in Zweifel sein konnte, daß er ihn anreden wolle.

»Nun, mein lieber Widersacher von der Landstraße«, lächelte auch der junge Peruaner, »Sie werden mir doch wenigstens gestatten, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch über Ihren gelungenen Fang ausspreche – Sie haben jedenfalls mit Ihren Bemühungen besseren Erfolg gehabt, als ich . . .«

»Ich weiß wirklich nicht, welchen Sie meinen«, sagte Rafael.

»Hahahaha!« lachte Perteña laut auf, »haben Sie in der kurzen Zeit so viele gemacht?«

»Allerdings, Señor. Sie haben vielleicht nicht davon gehört, daß wir in diesen Tagen die gestohlenen Insulaner wieder eingesammelt haben.«

»Oh, übergenug«, lachte Perteña, »Desterres hat mir die Ohren schon voll geklagt, denn die Burschen schienen sich ganz vortrefflich einzurichten! Aber ich meinte in diesem Augenblick Ihren Fang bei dem Mulatten, der möglicherweise bei dem Einbruch selber beteiligt war, bis jetzt aber freilich nur ausgesagt hat, er habe die bei ihm gefundenen Sachen von einem Neger gekauft, der vor einigen Tagen mit dem englischen Kriegsschiff in See gegangen sei.«

»Möglich«, sagte, Rafael, der jetzt fest davon überzeugt war, daß ihn sein verdächtiger Freund ein wenig aushorchen wollte; »es sind aber auch Sachen bei ihm gefunden worden, die er nicht gut von einem Neger gekauft haben kann; verschiedene Brieftaschen zum Beispiel. Ich muß Ihnen übrigens gestehen, Señor, daß ich bis jetzt noch keine Zeit gefunden habe, mich weiter mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Der Mulatte konnte überdies bei jenem Karnevalsraub nur Gehilfe gewesen sein, denn die Hauptsachen sind, so viel ich weiß, nicht bei ihm vorgefunden worden. Wir haben dadurch aber jedenfalls eine Spur bekommen, und Sie wissen, derlei Gesindel verrät einander immer, wenn man ihm die Daumenschrauben ansetzt.«

»Aber wir haben hier in Peru keine Tortur, Señor!«

»Ich meine nur bildlich«, lächelte Rafael, »er soll überhaupt schon ganz wunderbare Aussagen gemacht haben.«

»In der Tat?« rief Perteña rascher, als es vielleicht seine Absicht war.

»Und einige sehr wichtige Briefe sind ebenfalls bei ihm entdeckt worden, die merkwürdigerweise meinem Onkel gehört haben«, fuhr Rafael fort und hielt seinen Blick fest auf den jungen Mann geheftet.

Perteña fühlte, wie er die Farbe wechselte, aber er sagte vollkommen ruhig:

»Was stiehlt derlei Gesindel nicht alles zusammen! Und während sie angeblich Milch und Butter in die Häuser tragen, spionieren Sie die Gelegenheit für ihre Unternehmungen aus.«

»Sie haben diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen, Señor, denn nur dadurch, daß ich gerade dabei war, als dieser Mulatte bei Fräulein Valière angeblich mit Milch und Eiern zum Verkauf kam, sind wir ihm auf die Spur geraten.«

»Wirklich?«

»Und Sie würden lachen, wenn Sie wüßten, durch welche Kleinigkeit der Verdacht sich zur Gewißheit steigerte – nur durch ein kleines Stückchen Siegellack, das vielleicht die alte Frau im Hause leichtsinnigerweise auf die Straße geworfen hatte! Aber ich langweile Sie mit derartigen Einzelheiten.«

»Bitte, bitte«, sagte Perteña, der den fest auf ihm haftenden Blick des jungen Mannes nicht ertragen konnte oder doch wenigstens mit einem unbehaglichen Gefühl bald links, bald rechts hinübersah. Es drängte ihn auch jetzt, vor allen Dingen erst einmal mit Desterres zu sprechen, um von diesem zu hören, was er schon von dem eben Angedeuteten wußte. Aber diesen konnte er jetzt nicht sprechen, denn der Präsident hatte ihn eben in das benachbarte Zimmer geführt, und er sah, wie beide sich dort über ein paar vor ihnen ausgebreitete Papiere bogen und lebhaft miteinander sprachen.

Als er sich von Rafael losmachte, blieb dieser mit unterschlagenen Armen stehen und sah ihm mit einem fast schadenfrohen Lächeln nach. Da fühlte er eine leichte Hand in seinem Arm, und Lydias Stimme hauchte in sein Ohr:

»Das war der Mensch, der mich beraubt hat!«

»Wer, Señorita?« rief Rafael fast erschrocken, aber doch mit gedämpfter Stimme.

»Der Sie eben verließ – ich konnte sein Gesicht nicht sehen!«

»Señor Perteña . . .«

»Ah, mein Verdacht!« flüsterte das junge Mädchen, und ihr Antlitz war in der Erregung des Augenblicks totenbleich geworden. »Aber meine Seligkeit zum Pfande, ich irre mich nicht!«

»Aber, Lydia, wenn Sie nicht einmal sein Gesicht sehen konnten!«

»Ich hörte sein Lachen«, rief die junge Französin, »genau so, wie er damals gelacht hat, als er, wie im Spiel, mit der Leiter mein Zimmer erstieg und mich dann gleich darauf wie ein Mörder anfaßte! Und wenn ich noch ein halbes Jahrhundert leben sollte, das Lachen vergess' ich nun und nimmermehr!«

»Es gibt nichts Unmögliches unter der Sonne mehr«, sagte Rafael achselzuckend, »und ich glaube jetzt selbst, daß Sie recht haben. So viel wissen wir überhaupt, daß ein Señor mit sehr weißen Händen und goldenen Ringen dabei war, und warum sollte es nicht gerade Señor Perteña sein? Sie sagten damals, Sie hätten seine Hand gesehen; wenn Sie nun . . .«

»Ich brauche keinen Beweis weiter«, unterbrach ihn Lydia rasch, »ich bin meiner Sache zu gewiß!«

»Hm, alles zusammengenommen«, lächelte Rafael, »so stimmt auch das mit meiner ersten Begegnung mit diesem Herrn, und es fehlte nun nichts weiter, als daß er hier noch, in des Präsidenten eigenem Hause, als Gast Seiner Exzellenz, unsere Taschen visitierte.«

»Wenn Sie bei ihm Haussuchung hielten«, flüsterte Lydia, »dort würde sich der Rest der gestohlenen Gegenstände finden.«

»Das bezweifle ich«, sagte Rafael kopfschüttelnd, »denn der ist zu schlau, als daß er eine so auf der Hand liegende Vorsichtsmaßregel vernachlässigen sollte, noch dazu, da jetzt der Verdacht auf seine Helfershelfer gelenkt wurde. Nein – aber ich will doch die Gelegenheit wahrnehmen, Seiner Exzellenz nachher Ihre Äußerung mitzuteilen, schon seiner selbst wegen, daß er vorher genaue Erkundigungen über den Patron einzieht, ehe er sich weiter mit ihm einläßt. Darf ich mich auf Sie berufen?«

»Ich bin erbötig, meine Anklage dem Menschen ins Gesicht zu wiederholen!« rief Lydia leidenschaftlich.

»Das wird kaum nötig sein«, lächelte Rafael.

»Darf man fragen, reizende Señorita, worüber Sie sich in diesem Augenblick so sehr ereifern?« fragte Benares, der, mit einer Tasse Tee in der Hand, zu den beiden trat und sich zugleich leicht gegen Rafael verneigte.

»Stehen Sie mir bei, Señor«, wandte sich Lydia rasch gegen ihren etwas hoch aufgeschossenen Anbeter, »der Señor hier wagt zu behaupten, daß seine Landsleute keinen Kunstsinn hätten und sich nur – worunter er schmeichelhafterweise mich wahrscheinlich verstanden haben will – nur dann und wann von einer glänzenden Erscheinung hinreißen ließen, der wirklichen Kunst aber nie ein Opfer bringen würden.«

»Ich bin außer mir«, versicherte Señor Benares und rührte dabei mit dem Löffel, den er in seiner rechten Hand hielt, den Tee um, »Señor Aguila, ich muß es für einen einfachen Selbstmord halten, wenn Sie sich auf so leichtsinnige Weise um die Gunst unseres schönen Gastes bringen wollen!«

Rafael kam wirklich einen Augenblick in Verlegenheit, und er wußte nicht gleich eine Antwort auf die ganz unvorbereitete Anklage zu finden. Das schlimmste dabei war noch, daß sich Lydia selber an seiner Verlegenheit weidete, und wie ein Mädchen errötend, sagte er endlich:

»Die Señorita hat mich jedenfalls falsch verstanden, denn so – denn in diesem Sinne, mein' ich – war die Behauptung gar nicht aufgefaßt.«

»Sie sind Zeuge, Señor Benares, daß er widerruft!« lachte die junge Französin. »Das freut mich, Señor Aguila – aber es wird musiziert – oh, lassen Sie uns zuhören, meine Herren!« Und ihren Arm in den von Benares legend, der in dem Augenblick nicht gleich wußte, was er mit seiner Teetasse anfangen sollte, schritt sie zu einem der Sessel und ließ sich dort, ganz dem ziemlich seelenvollen Spiel einer jungen Dame lauschend, nieder.

In einem Nebenzimmer, das eigentlich nur dazu diente, das Geschirr aufzubewahren und bei der Hand zu haben, stand Castilla neben Desterres, vor sich den Kaufbrief ausgebreitet und den Brief, den ihm Rafael gegeben hatte, noch in der Hand haltend. Desterres selber schien in peinlichster Verlegenheit zu sein, und der Präsident hielt sein kleines, lebendiges Auge fest auf ihn geheftet.

»Also an diesem Tag, Señor, ist der Kaufkontrakt wirklich unterzeichnet worden, von dem sich merkwürdigerweise gar kein Beleg für den eigentlichen Eigentümer findet?«

»Exzellenz können mich doch nicht verantwortlich machen«, sagte Desterres, der in diesem Augenblick noch viel gelber aussah als gewöhnlich, »daß der alte Herr ohne Testament gestorben ist!«

»Nein«, sagte Castilla ruhig; »aber kennen Sie vielleicht diesen Brief?«

Er reichte damit Desterres das Blatt, das Aguila ihm heute dagelassen hatte; Desterres aber rief, als er nur den Blick darauf geworfen:

»Das ist gefälscht!«

»Sie haben ja noch nicht einmal gelesen, was darauf steht«, sagte der Präsident, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen.

Desterres war leichenblaß geworden und stammelte:

»Aus Eurer Exzellenz Reden glaubte ich schon zu verstehen, daß – meine Rechtsansprüche durch das Papier da bestritten werden sollten.«

»Bitte, lesen Sie«, sagte Castilla, und Desterres nahm das Blatt und las es jetzt aufmerksam durch.

»Ist das Ihre Handschrift?« fragte der alte Herr kalt.

»Ja, Exzellenz, aber das Datum . . .«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Desterres«, unterbrach ihn der Präsident – »Sie wissen recht gut, daß ich Sie bis jetzt begünstigt habe und daß ich Ihnen wohlwill; ich glaube, ich gebe Ihnen schon dadurch einen deutlichen Beweis, indem ich Sie ersuche, sich die Sache zu überlegen. Ich habe mir die Sache überlegt und bin entschlossen, den Kontrakt hierzubehalten, um ihn von einem Chemiker untersuchen zu lassen. Wollen Sie das abwarten?«

»Exzellenz – ich – ich begreife noch nicht recht, was Sie von mir verlangen.«

»So?« sagte Castilla, leicht vor sich hin lächelnd, »das ist etwas anderes. Da werde ich also deutlicher sein müssen. Ich wollte nämlich nicht gern, daß die Geschichte stadtkundig würde, Ihretwegen natürlich, und ich glaube, daß sich der Verkauf noch leicht rückgängig machen ließe – meinen Sie nicht?«

»Der Hacienda?« Desterres sah den Präsidenten scheu an.

Dieser antwortete aber keine Silbe, nicht einmal durch ein Nicken, und schien nur einfach eine Antwort auf seine vorige Frage zu erwarten. Da aber Desterres noch schwieg, fuhr er, wie auf ein anderes Thema übergehend, fort:

»Hatten Sie nicht den Wunsch geäußert, Ihrer Gesundheit wegen die trockene Küste zu verlassen? Ich dachte, Morales hätte mir davon gesagt?«

»Ich weiß mich nicht zu erinnern, Exzellenz«, sagte Desterres, vollkommen vernichtet von der Andeutung.

»So?« nickte Castilla, »nun gut, kommen Sie morgen früh um zehn Uhr zu mir in die Stadt. Ich werde mit dem ersten Zug hineinfahren. Ich erwarte dort Ihren bestimmten Entschluß. Sie haben mich doch verstanden? Ich meine, mit dem Verkauf Ihrer Hacienda?«

»Vollkommen, Exzellenz; ich werde nicht ermangeln.«

Der Präsident faltete die beiden Papiere zusammen, den Kaufbrief und die von Rafael erhaltene Note, schob sie in die Brusttasche, nickte Desterres zu und ging wieder, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, zur Gesellschaft zurück. Dort trat ihm Granero in den Weg.

»Ah, General«, sagte der alte Herr freundlich, indem er den Expräsidenten beim Arm nahm und zurück in den Saal führte – die junge Dame musizierte noch, und die Gäste hatten sich alle in den Teil des Saales zurückgezogen, in dem das Klavier stand, »es freut mich, auch Sie noch einmal bei mir begrüßen zu können!«

»Exzellenz sind so unendlich gnädig«, stammelte der kleine Mulatte, »und ich habe schon lange gewünscht, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche über die Abwendung des Verbrechens zu bringen, das gegen Sie beabsichtigt war . . .«

»Plumpe Geschichte, General«, lachte der alte Herr, »ganz plumpe Geschichte, war nicht in den rechten Händen; vielleicht gut angelegt, aber erbärmlich ausgeführt. Bei so etwas müssen die Rädelsführer immer den Mut haben, sich selber an die Spitze zu stellen, sonst läuft die Sache jedesmal schlecht ab.«

»Glücklicherweise war das hier nicht der Fall . . .«

»Jawohl, wie Sie sagen, glücklicherweise – aber, apropos, General, kaufen Sie keine Waffen mehr für mich; ich habe jetzt genug und weiß sonst am Ende gar nicht mehr, was ich damit anfangen soll.«

»Exzellenz!« fuhr Granero erschrocken auf.

»Die bei Deschamps in Callao lagernden«, fuhr Castilla ruhig und unbefangen fort, »habe ich in mein Arsenal schaffen lassen – nicht wahr, Sie schicken mir morgen die Rechnung darüber? Aber die von dem amerikanischen Schoner sind nicht zu gebrauchen. Was uns die Yankees schicken, ist selten des Kaufens wert. Ich habe dem Kapitän auch deshalb heut' abend einen Lotsen an Bord geschickt, daß er ihn wieder in offenes Fahrwasser bringt. Sie sind doch damit einverstanden?«

»Exzellenz«, stammelte der kleine Mann in halber Verzweiflung, »ich – ich weiß wahrhaftig nicht . . .«

»Und noch eins, General«, fuhr Castilla leise fort, indem er sich zu dem Expräsidenten überbog – »ich habe Sie hier als Gast in Lima aufgenommen, vergessen Sie aber nicht, daß Sie, so lange Sie hier wohnen, mein Untertan sind, und für meine Untertanen ist von heute an für Hochverrat die Todesstrafe wieder eingeführt – Sie verstehen mich doch? Der Galgen!«

»Exzellenz, ich begreife nicht . . .«

»Das tut mir leid. – Apropos, kennen Sie einen gewissen farbigen Señor mit Namen Corona? Er war früher Kutscher bei Señor Benares – ich glaube, er hat Sie einigemal aufgesucht . . .«

»Ich erinnere mich, daß ein Mann dieses Namens ein- oder zweimal bei mir war, um mich um eine Unterstützung anzusprechen.«

»Wahrscheinlich derselbe«, sagte Castilla nickend. »Dieser Bursche ist gestern wegen gemeinen Diebstahls verhaftet worden und hatte mich heute morgen um eine Audienz bitten lassen, weil er mir wichtige Mitteilungen über eine Expedition zu machen habe, die von hier aus nach Ecuador im Werke sei.«

»Ich will doch nicht hoffen, Exzellenz«, rief Granero, dessen Antlitz eine aschgraue Färbung angenommen hatte, »daß Sie den Aussagen eines solchen Menschen Glauben schenken?«

»Hätte ich Sie dann heute zur Tertulia eingeladen?« sagte der Präsident trocken.

»Und Corona?«

»Hat mir einige sehr interessante Geschichten erzählt. Der Mensch scheint viel in seinem Leben durchgemacht zu haben und war ungemein gesprächig. Er hat Talent zum Erzählen.«

Granero erwiderte nichts. Er war völlig vernichtet und drehte die weißen Glacéhandschuhe zwischen seinen Fingern herum, daß das Leder platzte.

»Apropos, General«, brach Castilla plötzlich ab, »tanzen Sie?«

»Exzellenz!« sagte der kleine Mann ordentlich erschrocken.

»Das junge Volk«, fuhr Castilla lächelnd fort, »läßt später immer keine Ruhe – wir Alten ziehen uns dann wohl zu einem Spielchen zurück; aber tun Sie sich keinen Zwang an«, und ihm zunickend, drehte er sich von ihm ab und durchschritt den Saal.

Rafael hatte schon lange die Gelegenheit abgepaßt, den Präsidenten noch einmal allein zu sprechen, aber auch jetzt versuchte er vergebens, sich ihm zu nähern, denn Castilla bemerkte die junge Französin in ihrem Lehnstuhl und rückte sich einen Sessel neben sie, um mit ihr zu plaudern. Erst als die Musik schwieg und alles aufstand, um der jungen Künstlerin einige freundliche Worte zu sagen, ging der alte Herr wieder dem Spielzimmer zu, um zu sehen, ob dort alles in Bereitschaft sei, denn er spielte gern und beschloß nie einen solchen Abend ohne diesen »Genuß«.

Rafael trat ihm hier in den Weg und teilte ihm kurz und bündig den Verdacht der jungen Fremden mit, dem der Präsident mit großer Aufmerksamkeit lauschte. Als Rafael aber fertig war, sagte er:

»Hören Sie einmal, mein lieber Señor Aguila, Sie glauben wohl, daß ich weiter auf der Gotteswelt nichts zu tun habe, als mich von Ihnen herumhetzen zu lassen?«

»Exzellenz«, lächelte Rafael, »ich glaubte nur, daß es für Sie doch auch von Interesse sein müßte, die Persönlichkeiten näher kennenzulernen, mit denen Sie verkehren.«

»So – glauben Sie?« sagte Castilla trocken – »wenn ich Ihnen aber nun sage, daß ich es für viel besser und vorteilhafter halte, von den Personen, mit denen ich verkehre, gar nichts zu wissen? Oder verlangen Sie vielleicht, daß ich mir alle vier Wochen meine Umgebung rein ausfegen soll? – Übrigens«, setzte er nach einigem Nachdenken hinzu, »danke ich Ihnen für den kleinen Bericht, denn ich zweifle nicht, daß die Señorita, die ein sehr aufgewecktes kleines Frauenzimmer ist, recht gehört hat, und da ist es doch ratsam, solche Kumpane etwas weiter fortzuschicken; es könnte ihnen sonst auch einmal, wenn sie gerade Geld brauchen, nach meinem Silbergeschirr gelüsten. – Soll ich Ihnen nun aber auch einmal einen guten Rat geben?«

»Exzellenz?«

»Dann machen Sie kein Geschäft in Lima daraus, in Wespennestern herumzustochern«, sagte der alte Herr. »Wir beide ändern nun einmal die Menschen nicht, sondern müssen sie nehmen, wie sie kommen, wenn wir eben mit ihnen leben wollen. Übrigens«, setzte er jetzt freundlich hinzu, »hoffe ich, daß ich Ihre Sache wenigstens geregelt habe. Ich denke, Sie werden bald wieder auf Ihrer Hacienda schlafen können.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Exzellenz!« rief Rafael, wirklich erstaunt über diese rasche Erledigung einer Sache, die, wenn er den Rechtsweg hätte verfolgen sollen, vielleicht Jahrzehnte gedauert hätte.

»Sehr einfach dadurch«, erwiderte Castilla, »daß Sie auch ein klein wenig auf sich selber achten, denn ich könnte doch einmal in den Fall kommen, Ihre Dienste in Anspruch nehmen zu wollen, und dann möchte ich nicht gern die Nachricht erhalten: Señor Aguila hat neulich eins auf den Kopf bekommen, weil er seine Nase überall hinsteckt!« Und ihm freundlich zunickend, schritt er weiter.

Oberst Desterres hatte sich indes umsonst bemüht, dem Präsidenten wieder nahe zu kommen. Obgleich ihm dieser im Anfang selber gesagt hatte, daß er ihm noch etwas mitteilen wolle, war es doch, als ob er ihm ausweiche, denn wo er ihn sicher zu haben glaubte, schlug der alte Herr plötzlich einen Haken und vertiefte sich dann wieder so in ein Gespräch mit irgendeinem Minister oder Gesandten, daß es unmöglich war, ihm beizukommen. Jetzt wurde zu Tisch gerufen, und während die Frau Präsidentin sich auf das Angelegentlichste mit Lydia unterhalten hatte und sie auch jetzt bei Tafel an ihrer Seite Platz nehmen ließ, hatte sich Castilla plötzlich an ihre andere Seite und mitten zwischen die jungen Damen hineingesetzt, mit denen er lachte und plauderte.

Rafael dagegen war nicht so glücklich gewesen, jemand auszuweichen, der ihm auf Tritt und Schritt nachging und besonders bemerkt und beobachtet hatte, wie freundlich, ja selbst zutraulich der Präsident Castilla mit dem jungen Mann sprach – und das war Señor Rivadia.

»Aber lieber, bester Freund!« fing er ihn endlich ab, hing sich an seinen Arm und führte ihn, ohne daß Rafael seine Absicht gleich merkte, nach dem anderen Ende der Tafel hinüber – »daß Sie in Geschäften bis über die Ohren stecken, weiß ich, und das entschuldigt Sie einigermaßen – aber so ganz Ihre alten Freunde zu vernachlässigen, ist auch nicht recht! Und wie hat sich Candelaria nach Ihnen gesehnt! – Hier bring' ich den Ausreißer, Kind«, wandte er sich dann plötzlich an seine Tochter, die mit tiefem Erröten, aber freundlichem Lächeln Rafael die Hand entgegenstreckte.

»Hoffentlich nicht wider seinen Willen«, sagte das junge Mädchen dabei – »was haben wir Ihnen getan, Señor, daß Sie uns so lange ohne Nachricht von sich ließen?«

Rafael konnte nicht mehr zurück, ohne unhöflich zu sein, und fand sich jetzt in die angenehme gesellschaftliche Notwendigkeit versetzt, Entschuldigungen zu stammeln, wo er sich eigentlich gar nicht zu entschuldigen hatte, und sich dann über sich selber zu ärgern, daß er sich eben ärgern ließ. Aber es half ihm nichts mehr. Candelaria war ja eine Jugendfreundin von ihm, und alte Rechte geltend machend, hing sie sich in seinen Arm, so daß der junge Mann nicht wußte, ob er die Dame zu Tische führte oder ob er von ihr geführt wurde. Und der Papa setzte sich an seine andere Seite und war so herzlich und liebevoll und erzählte ihm immer und immer wieder, wie sich Candelaria nach ihm gesehnt und wie sie ihm Tag für Tag Auftrag gegeben habe, sich nach ihm zu erkundigen.

Rafael verwünschte sein Mißgeschick, und daß ihn Lydia dabei fortwährend im Auge behielt und seine Lage wahrscheinlich durchschaute, denn sie lächelte manchmal recht boshaft zu ihm hinüber, konnte nicht dazu dienen, sie angenehmer zu machen.

Endlich wurde die Tafel aufgehoben; Castilla selber gab das Zeichen, denn er war ungeduldig geworden, an seinen Spieltisch zu kommen, und das Musikkorps, das schon während des Essens die Tafelmusik geblasen hatte, fiel jetzt in einen munteren Walzer ein, das junge Volk zum Tanz rufend. Natürlich konnte er nicht umhin, seine Tischnachbarin aufzufordern, und mußte dabei auch sehen, wie sich Lydia – ihm selber dabei zulächelnd – gerade gegen Benares freundlich neigte, der sie aufgefordert hatte.

Die Spieler sammelten sich schon um den Tisch im Nebenzimmer; die Karten lagen dort bereit, und Castilla, der noch mit dem brasilianischen Gesandten gesprochen hatte, wollte sich gerade ebenfalls dorthin begeben. Von dem Augenblick an war er dann für den ganzen Abend für die Gesellschaft verloren, um die er sich nicht weiter bekümmerte. Er duldete auch nicht, daß er gestört wurde, und es war jetzt der letzte Moment für den Oberst Desterres, wenn er den Präsidenten heute noch sprechen wollte.

Von Granero, der still und allem Anschein nach sehr bedrückt in einer Ecke saß, hatte er sich ängstlich ferngehalten. Jetzt schritt Castilla an ihm vorbei, und sich ein Herz fassend, sagte er:

»Exzellenz waren vorhin so gnädig, mir anzudeuten, daß Sie mir noch etwas mitzuteilen hätten . . .«

»Ach ja«, sagte Castilla, der im Anfang ganz zerstreut zu ihm aufgesehen hatte, »gut, daß Sie mich daran erinnern, Oberst. Ich bin von Ihrem Eifer für meine Regierung überzeugt . . .«

»Exzellenz können felsenfest auf mich bauen . . .«

»Und da jetzt«, fuhr der alte Herr fort, »die Verhältnisse im Süden etwas bedenklicher Art werden, so ist es nötig, zuverlässige Leute dorthin zu schicken. Sie werden morgen mit dem Dampfer und einem Bataillon Soldaten nach Arequipa gehen. Sie haben Zeit genug, bis dahin Ihre Vorbereitungen zu treffen. Der Dampfer geht erst abends fünf Uhr ab. Adios!« Und damit ihm zunickend, schritt er in den Speisesaal hinein.

»Exzellenz!« stammelte der Oberst. Arequipa war das ödeste, sonngebrannteste Nest von Peru – aber der Präsident achtete nicht weiter auf ihn, und die Musik schmetterte dazu ihre fröhlich wirbelnde Weise.

Es gelang Rafael einigemal an dem Abend, sich Lydia zu nähern und einige Tänze mit ihr zu tanzen; im ganzen aber war sie von einer solchen Schar von Anbetern umgeben und in Anspruch genommen, daß sie fast gar nicht zu Atem kam. Aber sie schien sich wohl darin zu fühlen und zeigte allen ein gleich heiteres, glückliches Gesicht.

Nur wenn sich Perteña ihr näherte, schrak sie ordentlich vor ihm zurück. Sie fürchtete den Menschen, und wie große Mühe er sich auch gab, nur einen einzigen Tanz von ihr zu erhalten, sie wich ihm jedesmal entschieden aus.

Erst um halb eins trennte sich die Gesellschaft, um mit dem Extrazug nach Lima zurückzukehren; die Musik zog, einen lebendigen Marsch spielend, vor ihnen her, und Oberst Desterres marschierte mit, als ob er als Leidtragender hinter seinem eigenen Sarg herginge.

 


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