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Der Wilddieb.


I.

Das Wirthshaus Zur Krone in Hollendeik, einem ziemlich großen Grenzdorf in Mitteldeutschland, war heute tüchtig besucht, und die Schenkmädchen hatten kaum Hände genug, die aus der weiten Nachbarschaft zusammengeströmten ungewöhnlich zahlreichen Kunden zu bedienen. Und doch war die Krone eigentlich nicht das beste Wirthshaus im Dorf, denn der Rothe Hirsch schenkte eben so gutes Bier und hielt anerkannt eine weit bessere Küche als jene. Nirgends bekam man nämlich einen besser zubereiteten Wildbraten, als im Rothen Hirsch, und die Frachtfuhrleute, die unterwegs außerordentlich gut verpflegt sein wollen, hatten denn auch den Hirsch besonders protegirt, und der Wirth stand sich vortrefflich dabei.

Wenn aber die Frachtfuhrleute bei ihm einkehrten, mochten die Förster und Forstbeamten der Gegend desto weniger mit ihm zu thun haben. Kerdelmann, wie der Wirth hieß, stand nämlich in dem Verdacht, das viele Wild, das er verbrauchte, nicht immer aus der rechten Quelle zu beziehen, sondern – wenn er auch nicht selber wilderte, doch mit den Wilderern in der Nachbarschaft in gefährlicher Verbindung zu stehen. Es war aber außerordentlich schwer, ihn darin zu überführen, denn er kaufte auch ziemlich viel herrschaftliches Wild, und was er außerdem von über der Grenze herüber bezog, konnte ihm gar nicht nachgerechnet werden. Ob er also mit Wilderern direkt verkehrte oder nicht, ließ sich nicht beweisen, wenn man ihn nicht eben einmal auf frischer That ertappte, und dazu war Kerdelmann zu gescheidt, hatte sich wenigstens bis jetzt, trotz allen Aufpassens, noch nicht die mindeste Blöße gegeben.

Daß das die Forstleute ärgerte, läßt sich denken, und während Kerdelmann fortwährend außerordentlich freundlich und höflich gegen sie blieb, haßten sie ihn nur desto offener, und manche von ihnen gaben sich nicht einmal die Mühe, ihren Groll zu verheimlichen.

So standen die Sachen, als der erste Sonntag im November ein große Zahl von Forstbeamten in Hollendeik versammelt hatte, um örtliche Forst- und Jagdinteressen zu besprechen, wie auch zugleich einen alten Streit über die Jagdgrenze mit dem Nachbarrevier beizulegen. Das Geschäftliche ward im Laufe des Nachmittags größtentheils erledigt, und was sonst noch zu thun übrig blieb auf den nächsten Tag verschoben. So saßen denn die grünröckigen Gäste jetzt um die Dämmerungszeit plaudernd mitsammen im Wirthshaus, alte Bekanntschaften erneuernd oder neue knüpfend, und das Bier, oder auch hier und da eine Flasche Wein, machte bald die Köpfe warm.

Die Forstleute hatten sich im Wirthszimmer der Krone so nahe zusammen und dadurch auch von den Uebrigen so abgesondert wie möglich gesetzt. Jäger haben es nicht gern, daß die Bauern hören, was sie mit einander sprechen, und wenn es selbst gleichgültige Dinge wären. Es fällt doch hier und da einmal ein Wort, das ein Lauscher aufschnappen und sich zu Nutze machen könnte. Indessen konnten sich die Förster heute nicht so streng abgetrennt halten. Mehrere der Gutsbesitzer waren herübergekommen, auch der Pfarrer hatte sich eingefunden, und das Gespräch drehte sich, nachdem erst die gewöhnlichen Jagdgeschichten erschöpft waren, bald um Dies und Jenes.

Am letzten Tisch, zwischen dem Fenster und einer kleinen schmalen Thür, die in ein Schenkzimmer daneben führte, unterhielt jedoch der Förster Müller von Hollendeik mit dem Forstrath Brauer, dem Förster Wentzel vom benachbarten Herslinger Revier, so wie einigen Forstgehülfen ein vertrauliches Gespräch, das keine fremden Hörer duldete.

»Ihr müßt besser drüben aufpassen,« sagte Müller. »Hol's der Teufel, es wird mehr Wild von dort heimlich hier herüber geschafft, als wir das ganze Jahr hindurch auf unserem Revier abschießen dürfen, und wir haben alle Hände voll zu thun, um die Schufte nur von unserem eigenen Wald entfernt zu halten.«

»Das ist leicht geredet,« brummte Wentzel, aber gerade auf unserer Seite liegen die großen Dickungen, und darin soll der Geier einem Halunken von Wilderer nachspüren. Uebrigens glaub' ich gar nicht, daß bei uns so viel geschossen wird, denn in den dichten Kieferbeständen kann man nicht pirschen. Ich bin fest überzeugt, das Meiste, was gestohlen wird, holen die Kerle aus Euren offenen Hölzern.«

»Ja, warum denn nicht?« spottete der Forstgehülfe Meier, der mit am Tisch saß. »Von dem, was sie bei uns holen, sollen sie nicht fett werden, dafür sitzen wir ihnen zu fest auf den Hacken. Sie da drüben aber sind zu wenig Leute, und Ihren Kreisern trau ich gerade am allerwenigsten. Dem einen rothköpfigen Burschen sieht der Spitzbube aus den Augen heraus.«

»Wenn nur Alle so ehrlich wären wie der,« sagte der Forstgehülfe Scholz; »er war früher allerdings ein Wilderer, aber seit wir ihn angestellt haben und er mit der Flinte herumlaufen darf, können wir uns fest auf ihn verlassen.«

»Er kriecht doch fortwährend an der Grenze herum,« murrte Meier, »und ein paar Mal hab' ich schon schießen gehört, wo ich sicher wußte, daß er in der Nähe war.«

»Der wildert nicht,« vertheidigte den Verdächtigen auch der Förster Wentzel, »und daß er nicht gerade hübsch ist, dafür kann er nichts; das ist eine Gottesgabe.«

»Schöne Gottesgabe,« brummte der Forstgehülfe, »der Galgen steht ihm auf dem Gesicht geschrieben, und für solch ein Himmelsgeschenk möchte ich danken. So viel ist übrigens sicher, daß ihn hier auf unserer Seite jeder Bauer für einen Wilddieb ansieht.«

»Papperlapapp,« brummte der Förster, »auf das Geschwätz geb' ich nicht so viel, ich kenne meine Leute. Wenn die Schufte übrigens nur keine Hehler hätten, bei denen sie ihr Wild jeden Augenblick mit Leichtigkeit unterbringen könnten, so sollten sie ihr Handwerk wohl von selbst aufgeben. So aber, das ist überall bekannt, brauchen sie es ja nur nach Hollendeik zu schaffen, und die Waare ist gut und sicher aufgehoben. Den Hehlern solltet Ihr hier besser auf die Finger sehen, nachher wären die Wilderer auch leichter heraus zu bekommen, und Unsereiner brauchte sich drüben nicht immer auslachen und an der Nase herumführen zu lassen.«

»Das ist leider Gottes wahr,« sagte Müller mit einem derben, zwischen den Zähnen zerdrückten Fluch, »und ein Stück von meinem kleinen Finger wollt' ich hergeben, wenn wir dem Halunken, dem Kerdelmann hier, das Handwerk legen könnten. Die Canaille ist aber mit allen Hunden gehetzt und schlauer als der ärgste Fuchs, der je im Wald auf vier Läufen herumgekrochen. Einmal, denk' ich aber, versagt's ihm doch, und Gnade ihm Gott, denn er hat mehr auf der Kreide, als alle Wilderer zusammen.«

»Und schießt er denn nicht selber etwa?« frug der Forstrath.

»Wild gewiß nicht,« lachte Müller. »Er hat wohl eine Scheibenbüchse und ist mit auf allen unseren Scheibenschießen – aber auch immer baar Geld dabei. Er schießt erbärmlich, unter fünfmal fehlt er zweimal die Scheibe. Nein, das Wildern in Person muß er sich schon vergehen lassen, aber desto gefährlicher ist er dafür in seiner Küche.«

»Wenn man ihm nun einmal ein Stück Wild durch Jemand in's Haus schickte, auf den man sich verlassen kann,« sagte der Forstrath leise.

»Nun, dann kauft er's,« sagte Müller – »er braucht ja nicht zu wissen, wo es her ist.«

»Aber der Ueberbringer müßte ihm gestehen, daß er's gestohlen hat, und es ihm zu einem Spottpreis anbieten. Nimmt er das, so haben wir ihn, und das andere kriegen die Gerichte aus ihm heraus. Wenn man nur erst einmal einen Haken hat, an dem man ihn fassen kann.«

»Donnerwetter,« flüsterte Meier, »das ginge am Ende. Wir haben Ordre, ein paar Stück Wild abzuschießen, und als ich heute Morgen hier herunterkam, traf ich am Rothenstein-Eck ein Rudel an, aus dem ich ein feistes Thier Unter »Thier« oder »Altthier« wird stets die Hirschkuh verstanden, die im November feist und jagdbar ist. herausschoß. Da das kleine Pirschhaus nicht weit von dort war, schafft' ich's da hinein. Das Wild hätten wir also, aber wo finden wir einen Kerl, auf den man sich verlassen kann und den der Hirschenwirth nicht schon kennt.«

»Ich wüßte Einen,« sagte Scholz, der Forstgehülfe vom Herslinger Revier – eben so leise. »Der Herr Förster hat unsern Kreiser auf heut Abend herüberbestellt, weil er einen Brief erwartet, der gleich beantwortet werden soll. Wenn wir den an Kerdelmann schickten?«

»Den rothen Schöffel etwa?« fuhr Meier auf.

»Ja wohl,« sagte Scholz, »und daß Schöffel ehrlich ist, darauf wollt' ich meinen eigenen Hals zum Pfand setzen. Außerdem hat er mit dem Kerdelmann früher einmal einen Streit gehabt, und ich weiß, daß er ihm blutig gram ist. Kann er ihm einen Streich spielen helfen, so thut er's gewiß.«

»Bleibt mir mit Eurem Schöffel vom Leibe!« brummte Müller. »Und zudem kennt ihn der Hirschenwirth zu gut.«

»Eben darum,« beharrte Scholz auf seinem Vorschlag. »Da wird er sich über dessen Rückfall in's Wilderern nicht wundern. Und Schöffel ist schlau genug, seine Rolle gut durchzuführen.«

»Kerdelmann ist ebenfalls schlau,« bemerkte Müller. »Riecht er Lunte, können wir uns heillos blamiren.«

»Die Gelegenheit kommt uns aber so bald nicht so glücklich wieder,« unterstützte Wentzel den Vorschlag. »Kerdelmann hat gerade jetzt viele Gäste zu erwarten und ist knapp an Wild. Er hat wenigstens bei mir anfragen lassen, ob's etwas für ihn gäbe.«

»Schöffel muß schon zur Hand sein,« drängte Scholz zur Entscheidung – »soll ich ihn rufen? Und der Forstrath schlug sich endlich mit den Worten zu seiner Partei, daß Förster und Forstgehülfe doch ihren Mann kennen müßten, da sie ihren Kreiser so nachdrücklich in Schutz nähmen. Schließlich ergab sich auch Müller.

»Jede Person,« sagte er, »soll mir recht sein, die dem Kerdelmann die Larve der Ehrlichkeit vom Gesicht reißt, selbst der Schöffel, – und bringt er es dahin, daß der Hirschenwirth verurtheilt wird, so soll er von mir fünf Thaler haben, und ich will's ihm vor allen Leuten abbitten, daß ich ihn für einen Wilderer gehalten habe.«

»So treffen wir denn unsere Anstalten,« mahnte Wentzel. »Aber hier darf sich Schöffel nicht blicken lassen – das muß an einem Ort mit ihm abgemacht werden, wohin kein Auge und Ohr reicht, das für Kerdelmann spioniren könnte.«

»Ich will Alles besorgen,« versicherte der Forstgehülfe Meier. »Den verdammten Hund in die Patsche zu bringen, dafür lief' ich die ganze Nacht durch, wenn nur der Rothkopf – hallo – was ist da los?« unterbrach er sich plötzlich, als er Gretchen, die Wirthstochter, auftauchen sah, die hinter dem Stuhl des Försters Wentzel zu schaffen gehabt hatte.

Die Jäger sahen sich überrascht nach der vom Boden sich erhebenden Gestalt des Mädchens um. »Was giebt es, Gretchen?« rief sie Meier an.

»Was es giebt, Herr Forstassistent? Ein Geldstück war mir entfallen und hierher gerollt. Da ist es schon wieder. Kein Bier hier nöthig? Bitte, reichen Sie mir das Glas des Herrn Forstraths herüber. Ich kann so weit nicht hinüberlangen.«

Meier gab ihr, mit eifriger Bemühung um ein galantes Auftreten, die leeren Gläser. Das Mädchen mit den hellen Augen und der flinken, elastischen Bewegung entfernte sich damit.

»Wenn die Dirne nur nichts von dem davongetragen hat, was wir hier mit einander gesprochen haben,« sagte der Wentzel. »Ich habe gar nichts von ihrem Herankommen bemerkt.«

»Und wenn sie uns wirklich gehört hätte,« sagte Meier, »so hat das keine Gefahr. Der Wirth hier und der Hirschenwirth sind die ärgsten Feinde, und die Tochter würde sich überhaupt hüten, aus der Schule zu schwatzen. Das ist ein prächtig Mädchen und gar keine von den unbesonnenen Plaudertaschen.«

»Aha,« schmunzelte der Forstrath, »für das schöne Gretchen bürgt unser Meier. Nun, kein schlechter Geschmack. Aber – was wollten Sie denn jetzt besorgen?«

»Daß der Schöffel das Wild bekommt. Scholz geht wohl mit, der Instruction wegen. Ich möchte mit dem widerwärtigen Kerl weiter nichts zu thun haben und glaube auch nicht, daß er mir recht gehorcht.«

Scholz erklärte sich bereit, indem er sein Bier austrank, seine Pfeife in die Tasche steckte und den Hut vom Nagel nahm.

»Die Anderen brauchen übrigens von unserem Vorhaben nichts zu wissen,« erinnerte Meier mit einem Blick auf die übrigen mit Forstleuten besetzten Tische.

»Versteht sich,« sagte der Forstrath, »reinen Mund vor allem Andern und ich denke, wir fassen ihn diesmal.«

»Ja, wenn der Rothkopf ehrlich ist,« bestätigte Meier. »Ist das aber nicht der Fall – na, meinetwegen – den Versuch wollen wir wenigstens mit ihm wagen.«

Damit verließen die beiden Forstgehülfen das Zimmer und nun schlossen sich die von ihrer Gesellschaft Zurückbleibenden wiederum den anderen Gruppen von Gästen an.


II.

Drüben im Rothen Hirsch ging es allerdings nicht so lebhaft zu wie in der Krone, aber doch saßen auch hier ziemlich viel Gäste an den Tischen, und besonders hatten die reichen Bauern aus dem Dorf, wie die Bauern überhaupt, den Hirsch zu ihrem Hauptversammlungsort gewählt. Bauern und Jäger sind einander selten grün; das war vor dem Jahr 48 so, ist nachher eher noch schlimmer wie besser geworden, und läßt sich eigentlich beiden Theilen nicht verdenken.

Der ächte Waidmann hegt und pflegt sein Wild, schießt nur eben ab, was dringend nöthig ist, und hat seine Freude an jedem Stück, das draußen den grünen Wald durchzieht. Er würde eben so bald daran denken, seinen eigenen Hund todtzuschießen, als jagdbare Thiere – in der Zeit, in der sie geschont werden müssen – vom Hirsch herunter bis auf den Hasen oder das Rebhuhn. Der Bauer dagegen kennt keine solchen Rücksichten. Nur wo es ihm das Gesetz verbietet, hält er die Schonzeit ein, und selbst dann nicht, wenn er glaubt, daß es unbemerkt geschehen könne. Daß den Waidmann solche »Aasjägerei« verdrießt, läßt sich denken, und nun die Bauern überall mit den nichtsnutzigsten Schießprügeln umherlaufen zu sehen, ohne sie hindern zu dürfen, ärgert ihn jetzt desto mehr.

Was kümmert das aber den Bauer? Er hat durch die neuen Gesetze das Recht bekommen, auf seinen eigenen Feldern »zu jagen,« wie er's nennt, und mit seinem alten Haß gegen den armen Hasen, der ihm früher ungestraft den Kohl fraß, rottet er Alles aus, was ihm vor die Flinte kommt. Die edle Jagdpassion selber kennt er nicht, es ist ihm also auch gleichgültig, ob es im nächsten Jahr noch etwas zu schießen giebt, nur »umbringen« will er das »Viehzeug«, das draußen auf seinen Feldern herumläuft, und wenn er das vollbracht, ist sein Zweck erreicht. Das nennt er Jagd.

Die Bauern in Hollendeik wußten recht gut, weshalb die »Grünröcke« dem Hirschenwirth aufsässig waren. Daß die ihn eben nicht leiden konnten, hob ihn aber nur in ihrer Gunst, und der Hirschenwirth stand sich gerade nicht schlecht dabei. Ob er gestohlenes Wild kaufte oder nicht, ging sie nichts an, ja wenn sie es gewußt hätten – von ihnen würde ihn Keiner verrathen haben.

Trotzdem war der Rothe Hirsch heut Abend schwächer besetzt als gewöhnlich, denn Manche hatten sich doch verleiten lassen, ihr Bier heute in der Krone zu trinken, nur um das Leben dort mit anzusehen. Während indessen ein Mädchen mit ein paar jungen Burschen die Aufwartung im Hirsch besorgten, saß der Wirth mit Dreien von seinen Gästen bei seinem gewöhnlichen Abendvergnügen hinter dem Kartentisch und spielte Skat. Das Spiel schien ihn auch zu interessiren; aber seine kleinen lebendigen grauen Augen flogen doch zu gleicher Zeit nach allen Seiten des Zimmers, zu überwachen, was um ihn her vorging – und doch verlor er dadurch keinen Stich, oder machte sonst nur den geringsten Fehler.

Kerdelmann war ein noch junger kräftiger Mann von vielleicht acht- oder neunundzwanzig Jahren, ein Bauernsohn aus der Braunschweiger Gegend, der sich, wie das Gerücht ging, mit seinem Vater überworfen hatte und darum hierher gezogen war. Von seiner Mutter mußte er aber ein ganz hübsches Vermögen geerbt haben, denn er kaufte in Hollendeik den Gasthof, wobei ihm eine alte Tante die Hauswirthschaft besorgte. Die alte Tante war eine vortreffliche Köchin, und der Rothe Hirsch bekam bald einen so guten Ruf im Lande, seiner Küche, wie der Eigenthümer desselben einen schlechten, des schon vorerwähnten Wildprets wegen.

Kerdelmann kümmerte sich indeß gar wenig darum, ob ihm die Jäger freundlich gesinnt oder nicht. An Gästen fehlte es ihm nicht; die reichen Bauern im Dorfe waren ihm auch gewogen, und wenn er in seinem Hause Tanzmusik hielt, kamen die hübschesten Mädchen aus der ganzen Nachbarschaft zusammen. Daß er sich aber unter diesen noch keine Frau für seine Wirthschaft ausgesucht, war seine eigene Schuld, obgleich es die Mädchen der wirklich unschuldigen Tante in die Schuhe schoben.

Daß Kerdelmann trotz alledem schon gewählt, davon hatte keine von ihnen – eine einzige ausgenommen – auch nur die geringste Ahnung.

Eben schlug es auf der alten Schwarzwälder Uhr, die noch von dem früheren Besitzer her im Zimmer hing, Neun. Das war die gewöhnliche Zeit, zu der die Spieler, einige hartnäckige Kartenfreunde abgerechnet, ihre Marken einlösten, ihr Bier austranken und nach Hause gingen. Auch heute war Kerdelmann um diese Zeit frei geworden, strich seinen Gewinn ein, und hatte sich an einen der anderen Tische gesetzt, dem dortigen Spiel noch ein wenig zuzusehen, als die Thür aufging und ein Mann hereintrat, der die Wirthsstube des Rothen Hirsch seit Jahr und Tag nicht betreten hatte. Kerdelmann sah auch etwas erstaunt nach ihm hinüber, blieb aber ruhig auf seinem Platz, es Einem der Leute überlassend, den späten Gast zu bedienen.

Schöffel, der Kreiser vom Herslinger Revier, nahm im Anfang keine Notiz von dem Wirth, ließ sich ein Glas Bier und etwas zu essen geben und beschäftigte sich, als ihm das gebracht war, angelegentlich damit, bis der Wirth endlich aufstand, langsam an seinem Tisch vorüberging, dann plötzlich wieder umdrehte und auf dem ihm gegenüberstehenden Stuhl Platz nahm.

»Guten Abend, Schöffel,« sprach er dabei, »Wetter noch einmal, Mann, es ist eine lange Zeit, daß wir einander nicht gesehen haben – wohl bekomm's.«

»Danke schön,« sagte der Kreiser – »daß wir übrigens einander so lange nicht gesehen haben, ist Eure eigene Schuld. Ich mag mit keinem Menschen Streit, aber –«

»Na, laßt die alte Geschichte, Schöffel,« sagte der Wirth, ihm die Hand hinüberreichend, die Jener langsam nahm – »wir hatten damals vielleicht Beide Unrecht und sind jetzt mitsammen so viel älter und vernünftiger geworden. Ich kann Euch auch sagen, ich freue mich darüber, daß Ihr wieder zu mir gekommen seid, noch dazu, da mir Eure Leute eben nicht besonders grün sind.«

»Meine Leute?« sagte der Kreiser und sah von seinem Essen auf.

»Nun – die Förster, meine ich. Sie haben nun einmal –«

»Hol' sie der Teufel,« knurrte Schöffel zwischen dem Kauen durch – »mich reut's genug, daß ich mich mit ihnen eingelassen habe. – Früher war ich ein unabhängiger Kerl und verdiente reichlich. – Jetzt muß ich mich für ein paar lumpige Thaler wie ein Hund placken und noch dazu jedes – Jungen gehorsamer Diener sein.«

»Hm – Ihr seid nicht zufrieden?« sagte Kerdelmann, ihn scharf beobachtend. Schöffel sah aber nicht von seinem Essen auf und antwortete mürrisch vor sich hin:

»Zufrieden – muß wohl zufrieden sein, denn ich habe ein paar Kinder zu Haus, und wenn ich ihnen jetzt den Dienst aufsagte, so passen sie mir so auf, daß ich nur getrost tagelöhnern könnte.«

»Was hat Euch denn heut Abend nach Hollendeik gebracht?« frug der Wirth, als Jener eine Weile geschwiegen und sein Mahl beendet hatte.

»Hierher gebracht?« sagte Schöffel – »was Anderes, als einem der Laffen den Bedienten zu machen. Mußte unserm Förster sein Gewehr herüberbringen – Gott verdamm' mich, wenn die jetzt nicht so vornehm werden, daß sie die Flinte nicht einmal mehr selber tragen mögen – aber – hm –« unterbrach er sich plötzlich, leerte seinen Krug und warf einen flüchtigen, aber vorsichtigen Blick dabei in der ziemlich leer gewordenen Wirthsstube umher.

»Hier, Rosel, mehr Bier,« sagte Kerdelmann laut, das Mädchen herbeirufend, und bis das Getränk gebracht war, wechselten die Beiden weiter kein Wort. Kerdelmann merkte jedoch, daß der Andere irgend etwas auf dem Herzen habe, und hütete sich daher doppelt, sich neugierig zu zeigen. Daß Schöffel bei ihm eingekehrt war, hatte jedenfalls einen Grund. Aber es blieb immer besser, daß Kerdelmann Jenen davon anfangen ließ, als daß er ihn ausfrug.

Schöffel schien nichtsdestoweniger etwas Aehnliches zu erwarten, und nur als Kerdelmann hartnäckig schwieg und ruhig mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, begann er nach längerer Pause:

»Sagt einmal, Kerdelmann, was habt Ihr den Jägern eigentlich zu Leide gethan, daß sie auf Euch so furchtbar schimpfen und Euch alles Schlechte und Schlimme nachsagen?«

»Mir?« frug Kerdelmann erstaunt – »wer thut denn das, und was können sie über mich reden? – Vor mir hat doch ihr Wild wahrhaftig Ruh' genug.«

»Bah,« winkte ihm Schöffel mit dem einen Auge zu, während er mit etwas leiserer Stimme sagte: »von dem »Können« wollen wir eben nicht reden; aber hol's der Teufel, Andere treiben es noch viel ärger, und so wird doch nicht auf sie eingehackt, wie auf Euch!«

»Wer schimpft denn über mich?« sagte Kerdelmann ruhig, während er vergebens in Schöffel's pockennarbigem Gesicht den Grund dieser Theilnahme zu lesen suchte.

»Wer? – nun, besonders unsere Jäger,« sagte dieser, »die noch dazu die wenigste Ursache hätten. Unser Förster ist überhaupt ein nichtsnutziger Halunke. Wenn er einem Menschen etwas Schlechtes nachsagen kann, thut er's gewiß – und knapp wird man da gehalten. – Na, jetzt bei den theuern Zeiten soll einmal Einer mit dreißig Thalern und Frau und Kindern auskommen, auch wenn man das bischen Holz und die Wohnung frei hat.«

»Dreißig Thaler ist freilich wenig,« sagte der Wirth, »wenn man's auf das ganze Jahr vertheilt, und große Sprünge kann Einer dabei nicht machen.«

»Das weiß Gott!« brummte der Kreiser; »wenn man sich daher einen kleinen Nebenverdienst –«

Er schwieg wieder still und sah sich im Zimmer um. Es war halb zehn Uhr und die Gäste hatten ihre Plätze fast alle geräumt. Nur an dem einen Tisch saßen noch vier Kartenspieler, eifrig mit ihrer Unterhaltung beschäftigt, während der eine Bursche, der sie bedienen sollte, daneben auf einer Bank eingenickt war.

»Hm,« sagte Kerdelmann leise, »Ihr habt mir irgend 'was zu sagen. Von denen hört's keiner, wenn Ihr mir's anvertrauen wollt.«

»Und Ihr würdet einen armen Teufel nicht verrathen?« frug der Kreiser mit noch vorsichtig gedämpfter Stimme.

»Fällt mir nicht ein,« brummte der Wirth, »ich bin ganz zufrieden, wenn sie mich nur ungeschoren lassen.«

»Dann will ich Euch auch gestehen, was mich hergeführt hat, und – ganz aufrichtig mit Euch sprechen. Ihr wißt, daß wir vor längerer Zeit einen Streit mit einander gehabt haben, und wenn ich Euch auch keinen Groll deshalb nachgetragen, mochte ich doch immer nicht den ersten Schritt zur Versöhnung thun. Es liegt das so in Einem und man weiß eigentlich selber nicht recht, woher es kommt.«

»Nun ja,« sagte Kerdelmann ermuthigend, »es will sich Niemand gern 'was vergeben, wie man so denkt. Uebrigens war die Sache nicht so schlimm, und Ihr nahmt den Handel nur zu krumm, weil Ihr glaubtet, es wäre auf Euch abgesehen gewesen.«

»Es ist jetzt vorbei,« sagte der Kreiser, »und daß ich wieder zu Euch komme und Euch – eigentlich mehr vertraue, wie ich vielleicht thun sollte, mag Euch beweisen, wie ich jetzt über die Geschichte denke.«

»Na, aber da bin ich doch neugierig,« sagte Kerdelmann und rückte sich seinen Stuhl etwas näher zu dem Gast hinüber.

»Ihr kauft Wild, nicht wahr?« frug da dieser mit kaum hörbarer Stimme, indem er sich zu dem Wirth hinüberbog.

»Na, das konntet Ihr lauter fragen,« lachte dieser, »daraus mache ich eben kein Geheimniß, denn ich verkaufe es portionsweise wieder an Alle, die davon essen wollen.«

»Hm – ja – ich weiß,« sagte der Kreiser, wie es schien etwas verlegen, »aber wenn Ihr nun von den Förstereien keins bekommen könnt und es nothwendig braucht?«

Der Wirth erwiderte nichts hierauf, sah aber den Kreiser so forschend an, als ob er dessen innerste Gedanken durchdringen wollte.

»Ach was,« fuhr dieser aber plötzlich fort, »ich sehe auch nicht ein, weshalb ich so lange hinter dem Berge halten und nicht mit der Sprache heraus soll. Ich will ganz aufrichtig mit Euch sein und glaube, wir werden uns dann am besten verständigen.«

»Teufel noch einmal,« versetzte der Wirth, »was Ihr für eine Vorrede macht! Ihr habt doch keinen Menschen todtgeschlagen?« –

»Nein – das nicht,« sagte Schöffel, dem nichtsdestoweniger in diesem Augenblick fast so zu Muthe war – »aber Ihr gebt mir vorher Eure Hand darauf, daß Ihr mich nicht verrathen wollt.«

»Muß ich's wissen?« frug Kerdelmann vorsichtig, indem er die Hand noch zurückhielt.

»Ja,« sagte der Mann, »ich – wäre sonst nicht zu Euch gekommen.«

»Gut denn,« sprach der Wirth, in die dargebotene Hand einschlagend. »Aber nun schießt auch los, denn es ist wahrhaftig schon dreiviertel auf zehn Uhr und um Zehn gehe ich jeden Abend regelmäßig zu Bett.«

»Wohlan,« sagte der Kreiser. – »Ich bin ein armer Teufel und kann von dem nicht leben, was ich an Gehalt bekomme. Die Herren, die Einen so knapp besolden, zwingen uns ja förmlich dazu, daß man sich nach einem andern Einkommen umsieht, und da hab' ich denn heut Abend, wie ich mit der Flinte von drüben herüberkam – ein altes Thier geschossen.«

»So?« sagte Kerdelmann und sah den Burschen fest dabei an, »das ist aber eine verfluchte Geschichte und kann Euch den Dienst kosten.«

»Hm ja – wenn's 'raus käme,« brummte Schöffel. »Ich werde aber nicht so dumm sein und das den Herren unter die Nase reiben. Ich wußte nun, Kerdelmann, daß Ihr Wild kauft – ob vom Förster oder von anderen Leuten, geht mich nichts an, und da kam ich zu Euch, daß Ihr mir das Thier abnehmen möchtet – denn ich weiß nicht recht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«

»Also darum seid Ihr zu mir gekommen?« lachte Kerdelmann still vor sich hin. »Na, ich muß Euch aufrichtig gestehen, ich habe gleich von vornherein so einen Gedanken gehabt, daß Euch nicht bloße Versöhnlichkeit hierherführe. Doch das bleibt sich gleich, die Hauptsache ist, Ihr habt ein Thier geschossen –«

»Nicht so laut,« warnte ihn Schöffel – »wenn die da hinten es hörten.«

»Ach, die passen nicht auf uns auf, – aber was kann ich dabei thun?«

»Was Ihr thun könnt? – abkaufen sollt Ihr's mir, daß ich es aus dem Weg kriege, und – da ich damit in der Klemme sitze, sollt Ihr das ganze Stück auch zu einem Spottpreis bekommen. Es ist ein alt Gelt-Thier Gelt-Thier nennt man die Hirschkuh, die in dem Jahre kein Kalb gehabt., feist wie Butter und schwer genug, und wenn Ihr mir fünf Thaler gebt, schaff' ich es Euch heute Nacht noch hier in's Haus. – Wahrhaftig, es stand so verlockend vor mir, als ich den Berg herunterkam, daß ich schießen mußte, ich mochte wollen oder nicht. Ehe ich nur recht wußte, was ich that, knallte es, und da lag's und zuckte und rührte sich nicht mehr.«

»Und wo liegt es jetzt?«

»Droben, gleich über dem neuen Schlag; vielleicht hundert Schritt von dem Pirschweg, der durch die Kieferdickung führt. Soll ich's herunterschaffen? – ich verlange das Geld nicht eher, als bis Ihr das Wild im Hause habt, – gefällt Euch das Geschäft, so, denk' ich, können wir mehr derartige mit einander machen. Meiner Seel' – es läuft genug solch Zeug im Wald herum, und ich sehe nicht ein, weshalb eine Familie hungern soll, nur damit sich die Bestien den Wanst da draußen voll süßen Grases äsen – 's ist keine Vernunft drin.«

»Wenn's aber verrathen wird, kommen wir Beide in Teufels Küche,« sagte Kerdelmann nachdenkend.

»Verrathen – wer soll's verrathen?« fragte Schöffel. – »Ihr habt doch gewiß irgendwo einen Platz, wo man es unbemerkt hereinschaffen kann, und hängt es erst einmal in Eurer Fleischkammer, wer kann dann beschwören, in welchem Revier es seine Fährten eingedrückt? Das brauch' ich Euch aber Alles nicht weiter zu sagen, und heut ist insofern eine vortreffliche Zeit dazu, als die Förster und Forstgehülfen alle fest im Wirthshaus drüben sitzen. Den Schuß hat auch Keiner gehört, und ein billigeres Stück Wild bekommt Ihr im ganzen Leben nicht wieder.«

Kerdelmann blieb noch eine Weile sitzen und sah still vor sich nieder. – Da schlug die Uhr Zehn, und bei dem Schlag in die Höhe fahrend, sagte er rasch: »Gut – dann bringt es her – ich gehe jetzt mit Euch und zeige Euch, wo Ihr es hereinschaffen könnt. Das Geld mögt Ihr Euch dann morgen früh um neun Uhr holen; seid Ihr damit zufrieden?«

»Gewiß,« rief Schöffel und griff dabei in die Tasche, um das, was er verzehrt, zu bezahlen. Kerdelmann hielt ihm aber den Arm und sagte freundlich:

»Laßt's nur gut sein. Die paar Glas Bier mögt Ihr auf unsere Versöhnung getrunken haben.«

»Dann dank' ich auch schön,« versetzte der Mann, die dargebotene Hand heftig schüttelnd – »auf unsere Versöhnung und auf – gute Geschäfte. Wenn wir Beide zusammenhalten, sollen die Grünröcke wohl umsonst draußen die Augen offen halten. Ich dächte, wir Beide wüßten, wie wir sie bei der Nase herumführten.«

Damit nahm er seinen Hut, und der Wirth ging mit ihm hinaus, ihm das kleine Thor zu zeigen, durch das er sein Wild in der Nacht auf seinen Hof schaffen könnte.

Gleich darauf verließ Schöffel das Haus und ging langsam die Straße hinauf, die aus dem Dorf hinaus nach dem Wald führte. Dieser Richtung folgte er nur etwa so weit, als er glaubte, daß er vom Hirsch aus beobachtet oder gehört werden könnte. Sobald er um die nächste Ecke gebogen war, blieb er stehen, wendete sich zurück und lachte still in sich hinein.

»So ist's recht, alter Fuchs, hast Du die Witterung endlich einmal angenommen? – Nicht wahr, das schmeckte, fünf Thaler für ein feist Thier und das Versprechen fernerer Lieferung? – Holzkopf Du, daß Du denkst, der Schöffel hätte Dir schon die Prügel und die Schande vergessen, die Du ihm angethan! Aber wart', mein Bursche, jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich Dir's wett machen kann, und wenn ich Dich einmal hinter dem eisernen Gitter sehe, trink' ich mir einen Rausch vor Vergnügen. Also morgen früh um neun Uhr; daß wir Zeugen dabei haben, dafür wird gesorgt sein. In dem Augenblick, wo Du das Geld herausrückst, haben wir Dich beim Kragen.«

Er rieb sich bei dem Gedanken vergnügt die Hände und bog dann mit raschen Schritten in die nächste Straße ein, die nach der Krone hinunterführte.

Kerdelmann blieb, als Schöffel die Straße hinaufschritt, noch einige Minuten in seiner Thür stehen. Er sah aber dem Davongehenden nur flüchtig nach und öffnete hierauf wieder die Gaststubenthür.

»Franz!« rief er dort hinein – »Franz!« – Der Junge saß noch auf der Bank und schlief, bis ihn einer der Gäste anstieß und er erschrocken in die Höhe fuhr – »Franz!«

»Ja – ja wohl – hier bin ich!«

»Ich geh' zu Bett, Franz,« sagte Kerdelmann – »schlaf mir nicht wieder ein, halt die Augen offen.«

Damit ging er hinüber und schloß seine Thür hinter sich ab, nahm dann den Hut vom Nagel, öffnete leise das Fenster, das in den dunkeln Hof führte, und glitt, von seinen Leuten unbemerkt, hinaus auf die Straße, die entlang er eine der engen seitabführenden Dorfgassen hinabsprang.


III.

Die Dorfuhr hatte noch nicht lange Zehn geschlagen, als Meier, der Forstgehülfe des Hollendeiker Reviers, den schmalen Pfad herunterkam, der aus dem Wald gerade auf das Wirthshaus zu und um dessen kleinen Garten herumführte. Mit dem Terrain hier vortrefflich bekannt, verließ er am Gartenthor den Weg, sprang über den niedern Zaun und schritt durch die schon ziemlich kahlen Beete der Hinterthür des Hauses zu. Diese wollte er eben öffnen, als er dicht neben sich ein helles Tuch schimmern sah.

»Margarethe?« rief er etwas erstaunt, die Wirthstochter hier draußen zu finden, »bist Du es, Schatz? – was thust Du noch so spät hier im Garten?«

»Flaschen hab' ich herausgetragen, Herr Meier,« sagte das Mädchen schnell gefaßt, und es war gut, daß Meier in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, wie sie über und über roth geworden war. – »Die Herren da drinnen haben ja einen solchen Durst, daß man gar nicht weiß, wohin man mit den leeren Flaschen soll.«

»Wohin ist denn der Vater, Gretchen?« sagte Meier und suchte dabei ihre Hand zu fassen, die sie ihm aber entzog.

»Drin in der Stube ist er,« lautete die Antwort, »gehen Sie nur hinein, wenn Sie ihn sprechen wollen.«

»Aber ich will ihn gar nicht sprechen, Gretchen,« sagte der junge Forstmann, »sondern Dich, und daß ich Dich jetzt gerade hier finde, hätte sich nicht besser treffen können. Warum bist Du denn immer so häßlich gegen mich?«

»Ich – häßlich mit Ihnen, daß ich nicht wüßte,« sagte das Mädchen und suchte den Arm frei zu bekommen, den er erfaßt hatte; »aber lassen Sie mich nur los. Was sollten denn die Leute denken, wenn uns hier Jemand sähe. Ich gehöre hinein – Vater wird mich gleich rufen.«

»Gretchen – ich muß Dich etwas fragen, ehe ich Dich loslasse,« sagte aber der junge Forstgehülfe dringender, – »solche Gelegenheit findet sich so bald nicht wieder.«

»Aber wenn Sie mich 'was fragen wollen, so thun Sie's drinnen beim Licht,« rief das Mädchen, das sich vergebens abmühte, frei zu werden, »lassen Sie mich los, sag' ich, oder ich rufe um Hilfe!«

»Und willst Du denn gar nichts von mir wissen, Gretchen?« seufzte der Jäger, der sie jetzt nothgedrungen freigeben mußte.

»Hier draußen nichts,« lautete die kurze Antwort. »Schämen Sie sich, Herr Meier, Sie haben mich gedrückt, daß mir der Arm morgen blau und braun sein wird.«

»Aber, bestes Mädchen –«

»Ja, da hätt' ich Zeit,« sagte die Dirne, sprang in's Haus und trat dort in die Küche, deren Thür sie hinter sich zuwarf. Meier aber, mit einem halblaut gemurmelten Fluch, ging in das indessen auch ziemlich leer gewordene Wirthszimmer, dort den noch auf ihn wartenden Förstern Bericht abzustatten. Er hatte das heute geschossene Thier herunterschaffen lassen, und Schöffel sollte, wenn er vom Hirschenwirth zurückkam, noch hier vorsprechen, um seine Meldung zu machen, ob der Wildhehler in die Falle gegangen sei oder nicht.

Draußen auf dem Gange hinter der Küchenthür horchte Margarethe indessen, bis sie die Bahn frei wußte und schlüpfte dann, als sie hörte, daß der Jäger in der Stube war, rasch wieder hinaus in den Garten.

Dort trat ihr ein Mann entgegen, nahm sie ohne Weiteres beim Kopf und küßte sie herzhaft ab. So böse das Mädchen aber vorher gewesen war, so widerstandslos ließ sie sich die Liebkosung jetzt gefallen. Die Angst jedoch, daß der Jäger jeden Augenblick zurückkommen könne, gab ihr keine Ruhe. Sie drängte den ungestümen Freund leise von sich und sagte bittend:

»Du darfst heut nicht länger hier bleiben, Joseph; das ganze Haus wimmelt von Jägern, und wenn Dich hier einer von ihnen träfe, wär' ich verloren. Mein Vater schlüge mich todt. Sie sind so entsetzlich böse auf Dich, alle miteinander.«

»Aber auf Dich nicht,« entgegnete Kerdelmann – denn kein Anderer war der späte heimliche Gast – »was wollte der Laffe da erst von Dir?«

»Was weiß ich's!« schmollte das Mädchen – »ich konnte den zudringlichen Menschen kaum los werden. Warst Du schon hier?«

»Ich stand hinter den Bienenkörben und wär' es nicht Deinetwegen gewesen, ich hätt' ihn lehren wollen, mein Gretchen zu ärgern. Der Lump, der Meier war's vom hiesigen Revier.«

»Er schleicht mir auf Schritt und Tritt nach,« klagte Margarethe, »und hat schon gedroht, daß er beim Vater um mich anhalten wolle. Seine Eltern sind reich und wer weiß, zu was mich die meinigen zwingen.«

Kerdelmann biß die Zähne aufeinander.

»Ich glaube, er wär' es im Stande und nähm' eine Frau, auch wenn er sie mit Gewalt zum Altar schleppen müßte. Daß er mir nur nicht einmal verkehrt in den Weg läuft, denn in dem Fall möcht' ich ihm die Heirathsgedanken wohl vertreiben.«

»Nimm Dich vor den Jägern in Acht!« flehte das Mädchen. »Sie führen Dir Schlimmes im Schilde und heut Abend ward schon wieder 'was wider Dich ausgeheckt.«

»Heut Abend?« fragte Kerdelmann. »Was war es?«

»Ja, ich konnt' es nicht deutlich verstehen,« sagte das Mädchen, »denn wie sie mich am Tisch sahen, schwiegen sie still – aber es war von einem Rothkopf die Rede und vom Hirschenwirth und der Meier wollte es besorgen.«

»Was wird's sein,« lachte der Wirth, »die alte Geschichte. Laß Dir das keine Sorge machen – Joseph ist ihnen doch Allen zu schlau. Aber – ich dank' Dir schön für die Nachricht; seh' ich doch dran, daß Du aufpassest, wenn sie mir 'was anhaben wollen. Uebrigens geht mir die Geschichte mit dem Meier im Kopf herum –«

»Daß er's besorgen will?« frug das Mädchen erschreckt.

»Ach was, mag er besorgen was er will! Nein, daß er um Dich anhalten wird. Ich denk', ich komm' ihm zuvor und – thu's selber.«

»Der Vater sagt im Leben nicht Ja!« flüsterte das Mädchen. »Er mag Dich eben so wenig leiden, wie der Meier, und gäb' seine Einwilligung nimmer zu unserer Heirath.«

»Und gingst Du mit, wenn ich fortzöge von hier?« forschte der Wirth, indem er das Mädchen fester an sich zog.

»Die Mutter stürb', wenn ich ihr davonlief,« flüsterte Margarethe, ihre Stirn an seine Schulter lehnend.

Kerdelmann zog seine Brauen finster zusammen und sagte endlich:

»Und was wird aus uns? Haben Deine Eltern überhaupt das Recht, zwei Herzen von einander zu reißen? – Haben –«

»Bst,« flüsterte das Mädchen und drängte ihn ängstlich zurück und dem dunkeln Bienenstand wieder zu, denn ihr scharfes Ohr hatte die Hofthür knarren hören, und gleich darauf sahen sie, wie eine dunkle Gestalt sich dem Hause näherte und darin verschwand.

»Wer war das?« flüsterte Kerdelmann.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Margarethe eben so leise; »aber ich muß hinein, denn ich könnte vermißt werden. Komm auch morgen nicht her, Joseph, die Jäger werden noch hier bleiben und wir dürfen uns der Gefahr nicht aussetzen, entdeckt zu werden. – Uebermorgen sind sie wieder fort – gute Nacht.«

»Gute Nacht, Margareth'!« sagte der junge Mann und zog das Mädchen nochmals in seine Arme, denen es sich endlich langsam entwand und nach einem letzten Händedruck dem Haus wieder zueilte. Hier aber streckte sie eben den Arm aus, die Thürklinke zu erfassen, als ihr zwei Männer entgegentraten – Meier und der Kreiser Schöffel.

»Alle Wetter, Gretchen,« tief Meier, als er sie erkannte, »noch immer Flaschen in den Hof getragen? Dir muß es ja hier draußen sehr gefallen, mein Schatz, daß Du fortwährend in dem dunkeln Garten steckst!«

»Was ich thue, geht Niemand etwas an,« sagte das Mädchen, glitt an den Beiden vorbei und rasch in das Haus hinein.

»Nu, nu,« brummte Meier hinter ihr her, »daß ich der spröden Jungfer nur nicht auf die Spur komme mit ihrer schrecklichen Sittsamkeit. Möchte wirklich wissen, ob wir hier nicht ein heimliches Stelldichein gestört haben – verwünscht hochnasige Dirne – na wart', Dir werd' ich einmal aufpassen. – Also Ihr thut jetzt, was Ihr übernommen habt und morgen früh um Neun, nicht wahr?«

»Morgen früh um Neun,« sagte der Andere und ging ohne weitern Gruß um das Haus herum und wieder zur Hofthür hinaus. Meier blieb noch eine Weile auf seiner Stelle und horchte in den Garten hinein – dann musterte er den Bienenstand, als ob er dort Jemanden suche – aber er konnte nichts finden und kehrte langsam in die Wirthsstube zurück.

Schöffel hatte indessen das in die Wildkammer des Försterhauses geschaffte Wild aufgeladen und schritt damit dem Rothen Hirsch zu. Er hatte tüchtig daran zu schleppen. Ein stämmiger Mann jedoch wie er war, brachte er es die kurze Strecke schon fort und blieb nur einmal unterwegs stehen, weil es ihm war, als ob er Jemanden hinter sich höre – es mußte aber Täuschung oder auch vielleicht der Schall seiner eigenen Schritte in der leeren, dunkeln Straße gewesen sein, und ohne sich weiter daran zu kehren, setzte er seinen Weg fort.

Bald erreichte er durch die offen gelassene Hinterthür den Hof des Hirsches, und als er das Wild an der bezeichneten Stelle abgelegt, wollte er den Wirth rufen, um es ihm selbst zu überliefern. Der war aber, wie ihm das Mädchen unten in dem noch offenen Haus sagte, schon vor einer halben Stunde zu Bett gegangen, und dann durfte ihn Niemand wecken. Morgen früh sei er jedoch bei Zeiten munter, und wenn er wolle, könne er da wieder kommen.

»Nicht vor neun Uhr,« versetzte Schöffel und entfernte sich.


IV.

Am andern Morgen war der Herslinger Förster Wentzel frühzeitig drüben bei seinem Hollendeiker Collegen Müller, und die Beiden hatten viel mit einander zu sprechen. Ebenso war nach den beiden im Ort stationirten Gensd'armen geschickt worden, die von ihnen ihre Verhaltungsanweisungen bekamen. Gegen neun Uhr endlich ging Wentzel mit dem Forstgehülfen Meier die Straße langsam hinab, dem Rothen Hirsch zu, um dort in der Nähe zu sein, sobald sie gebraucht würden.

Gerade als sie sich dem Hirsch näherten, kam ein kleines Mädchen mit einem Briefe in der Hand aus dem Hause, dem Kerdelmann folgte und noch in der Thür nachrief:

»Verlier mir den Brief nicht, und meine schöne Empfehlung drüben.«

Das Mädchen nickte und trippelte dann an den beiden Jägern vorbei.

»Ei guten Morgen, meine Herren,« redete diese der Wirth an – »schon so früh auf den Füßen? Dachte, weil Sie gestern Abend ein bischen geschwärmt hätten, würden Sie heute Morgen auch etwas länger schlafen.«

»Guten Morgen, Kerdelmann,« sagte Wentzel, während Meier nur ein paar Worte in den Bart murmelte, die eben so gut ein Gruß wie eine Verwünschung sein konnten. Damit schritten sie langsam am Wirth vorüber.

»Wie ist's, Herr Förster,« rief ihm dieser nach, »kann ich noch immer nichts an Wild von Ihnen bekommen? Es geht jetzt höllisch knapp bei mir her mit Wildpret, und alle Gäste verlangen danach.«

»Nun, Kerdelmann,« versetzte der Förster, dem es eben erwünscht kam, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen – »das könnte sich vielleicht machen. Wir sollen in dieser Woche eine Jagd halten, und da denk ich doch, daß wir so zwölf oder fünfzehn Stück auf die Haut bekommen. Wie viel braucht Ihr?«

»Herr Kerdelmann!« rief in diesem Augenblick ein Junge aus dem Wirthszimmer heraus – »Sie sollen einmal einen Augenblick hereinkommen. Der Mann ist drin – Sie wüßten schon, von wegen des Geldes.«

»Richtig,« sagte der Wirth – »bitte, kommen auch Sie einen Augenblick mit herein, Herr Förster; ich sage Ihnen dann gleich, was ich brauchen könnte. – Der Mann ist in der Hinterstube, nicht wahr, Franz?«

»Ja wohl.«

»Sag' ihm: ich komme gleich.«

Die Einladung kam den beiden Jägern vollends erwünscht, und Kerdelmann ging hinter ihnen drein. Nur als sie das Gastzimmer erreicht hatten, bemerkte er entschuldigend:

»Ich habe nur ein kleines Geldgeschäft abzumachen, dann stehe ich augenblicklich wieder zu Diensten.«

»Machen Sie Ihre Sachen ab, Kerdelmann,« genehmigte der Förster, »wir haben schon so viel Zeit.«

»So, Schöffel,« sagte der Wirth, als er zu diesem in das kleine Hinterstübchen trat – »ich habe mir das Wildpret angesehen; es ist gut und feist, und hier sind Eure fünf Thaler. Nicht wahr, so viel verlangtet Ihr ja dafür?«

»Ja wohl, Kerdelmann,« sagte der Kreiser, indem ein eigenthümliches Grinsen über seine Züge zuckte. »Baar Geld lacht, und das hier ist ein hübscher Anblick – fünf blanke preußische Thaler. Aber wie ist mir denn, es war mir doch, als ob ich meinen Förster drüben reden hörte? Er hat doch nichts gemerkt?«

»Was ging' es ihn an?« beruhigte ihn der Wirth. »Das Wild ist ja nicht auf seinem Revier geschossen. Kommt getrost mit hinüber, ich will Euch ein Glas Bier einschenken lassen.«

Schöffel war an's Fenster getreten und hatte dort seinen Hut aufgesetzt. Kerdelmann, der sich gerade von ihm abgewandt, sah es nicht, daß über den Hof herüber ein paar Gensd'armen kamen und in sein Haus gingen.

»Gleich bin ich bereit,« sagte der Kreiser, »ich wollte mir das Geld nur etwas bei Seite stecken. Wenn sie bei Unsereinem eine Tasche voll harter Thaler sehen, ist der Teufel los. So – jetzt bin ich fertig – aber reinen Mund gehalten, Kerdelmann. Hahaha!«

»Ich verrathe einem Dritten so wenig davon, wie Ihr selber,« scherzte der Wirth. »Ja, wer uns Beide zusammen fangen will, muß pfiffig sein, heh?«

»Gewiß – hahaha,« entgegnete der Kreiser – »verfluchte Schlauköpfe, die wir Beide sind.«

»Ah – noch mehr Besuch!« staunte der Wirth, als er sein Gastzimmer in diesem Augenblick öffnete und die beiden Gensd'armen dort neben den Jägern erblickte. »Ist Ihnen ein Frühstück gefällig? Hier, Franz schaff' einmal Bier her für die Herren. Nun, was steht der Bengel da und sperrt das Maul auf! Soll ich Dir Beine machen?«

»Kerdelmann,« sagte da Meier, indem er auf den Wirth zutrat und ihm starr in's Auge sah – »wir haben schon lange gewußt, daß Ihr es heimlich mit dem Gesindel haltet und den Wilderern, wo Ihr es nur bekommen könnt, das gestohlene Wild abkauft.«

»Es ist mir lieb, Herr Forstassistent,« unterbrach ihn Kerdelmann, indem er mit einem leichten höhnischen Zug um den Mund dem auf ihm haftenden Blick des Jägers begegnete, »daß Sie mir das eben im Beisein von Zeugen gesagt haben; die Herren hier, namentlich die beiden Gensd'armen, werden mir das vor Gericht bezeugen.«

»So ist's recht,« spottete Meier, »der Musjö hat auch noch das große Maul. Aber – es soll ihm bald gelegt werden. Gensd'armen, verhaften Sie den Wirth – er hat diesen Morgen dem Kreiser Schöffel da, der sich für einen Wilderer ausgegeben, ein Stück Wild heimlich für fünf Thaler abgekauft und in seinem Schuppen versteckt. Schöffel wird Euch zeigen, wo es liegt – er hat soeben sein Geld von dem Diebshehler eingestrichen.«

Der Förster Wentzel hatte den Wirth während der Anklage scharf beobachtet. Zu seinem Erstaunen blieb Kerdelmann aber vollkommen gefaßt, ja ein leiser boshafter Triumph zuckte um seine Mundwinkel, als er sagte:

»Was sie Euch da nacherzählen, ehrlicher Schöffel?! Wenn Ihr mir das nur gleich gesagt hättet, daß Ihr mit den Herren Förstern einverstanden wäret. Aber es schad't nichts. Ja, wenn die Sache so steht, mein verehrter Herr Forstassistent Meier, so werde ich Sie wegen Ihrer Injurien gegen mich nicht verklagen. Sie haben es nicht besser gewußt, und was der Mensch in seiner Dummheit thut, soll man ihm nicht so hoch anrechnen.«

Meier wechselte vor Zorn die Gesichtsfarbe, Förster Wentzel aber rief:

»Sie wollen doch nicht etwa leugnen, daß Sie dem Schöffel das Stück Wild abgekauft haben?«

»Leugnen?« sagte Kerdelmann verwundert. »Mein Gott, wo wollt' ich leugnen, was einmal die Wahrheit ist! Aber sehen Sie nur, was der Bursche, der Schöffel, jetzt für eine erbärmliche Rolle spielt. Betrachten Sie, wie der Kerl dasteht. Er kann die Augen nicht aufschlagen – er schämt sich wie ein Pudel, der beim Stehlen erwischt ist. Ich habe diesen Menschen immer für einen Lumpen gehalten, daß er aber solch' eine gemeine Canaille wäre, die einen ehrlichen Mann hinterrücks absichtlich in's Unglück zu bringen sucht, das wäre mir doch nicht im Traum eingefallen.«

»Euer Schimpfen wird Euch vergehen, wenn Ihr erst im Thurm sitzt,« zischte der Kreiser zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch, ohne jedoch den Wirth dabei anzusehen.

»Es ist nur die Frage, mein Bursche, wer eher in den Thurm kommt, Du oder ich,« erwiderte der Wirth. In dem Augenblick ging die Thür auf, und das kleine Mädchen, dem er vorhin den Brief gegeben, kam herein. »Ah, Käthchen,« wandte sich Kerdelmann zu diesem, »hast Du den Brief bestellt?«

»Ja, Herr Kerdelmann – der Förster wird gleich herunterkommen. Er zog sich nur den Rock an – derweil bin ich vorausgesprungen.«

»Das ist also bestellt,« sagte der Wirth, »und nun, meine Herren, thut es mir leid, daß wir uns gegenseitig umsonst angestrengt haben, die Gesetze aufrecht zu halten. Kommt her, Schöffel – reicht mir die Hand – es thut mir leid, daß ich Euch für einen Wilderer gehalten habe. Wie hieß es vorhin, mein wackerer Freund: verfluchte Schlauköpfe, die wir Beide sind, heh?«

Er bot dabei dem Kreiser die Hand, der sich aber nicht rührte, auch nur einen Finger anzunehmen, sondern nach seinem Kopf griff und seine Stirn rieb, als wollte er sich aus einem bösem Traum aufrütteln.

»Eure Finten helfen Euch nichts, Kerdelmann,« rief da der Forstgehülfe. »Wozu die Faxen? Ihr seid auf frischer That ertappt. Vorwärts also, Gensd'armen, lassen Sie sich das Corpus delicti nicht entgehen.«

»Sparen Sie Ihr Latein, mein guter Herr Meier,« entgegnete wohlgemuth der Wirth – »der Vorrath wird überhaupt nicht gar zu groß davon sein, und da draußen kommt soeben Ihr Herr Förster, der wird die Sache aufklären. Thut mir nur leid, daß Sie sich vergebens auf meinen Schaden gefreut haben, 's war ganz hübsch ausgedacht, die Geschichte, und wär' ich solch ein Esel gewesen, als wofür Sie mich hielten, so säß' ich jetzt tief genug im Pech – oh, ich kann mir recht gut denken, wie Sie jetzt mit mir umspringen würden! Der einzige Fehler an der Rechnung ist nur der, daß ich den ehrlichen Schöffel für einen wirklichen Wilderer hielt und ihn daher, bevor ich ihm einen Pfennig ausbezahlt, pflichtschuldig beim Herrn Förster dieses unseres Reviers angezeigt habe. Das war freilich in der Ordnung. Indessen ist's Einem doch schmerzlich, wenn man einen Ehrenmann in seiner Verblendung für einen schlechten Kerl gehalten hat – nicht wahr?«

»Ihr hättet den Schöffel angezeigt?« schrie Meier erstaunt auf. In dem Augenblick öffnete sich aber schon die Thür und Förster Müller trat sehr erhitzt, etwas außer Athem und mit den Geberden einer peinlichen Verlegenheit in's Zimmer.

»Willkommen, Herr Förster,« rief ihm Kerdelmann freundlich entgegen – »aber ich habe auch Sie umsonst bemüht, denn wie es scheint, läuft die ganze Sache auf einen Spaß hinaus.«

»Guten Morgen, Herr Kerdelmann,« dankte der Förster, und man merkte es ihm an, daß er sich dem Wirth gegenüber nicht behaglich fühlte. »Lieber Wentzel, unser Verdacht war unbegründet. Ich hoffe, daß in der Sache noch keine weiteren Schritte gethan sind. Den Brief hier hat mir Herr Kerdelmann zugeschickt. Es ist Alles in guter Ordnung, Sie können Ihrem sonstigen Dienste nachgehen,« richtete er sich an die Gensd'armen, um sie zu entfernen, und gab dem Förster Wentzel Kerdelmann's Brief.

»Aber doch nicht, ehe Sie ein Glas Bier getrunken haben,« hielt der Wirth die Gensd'armen zurück. »Franz, setz' es nur daher. Die Herren werden jedenfalls durstig sein.«

Wentzel entfaltete indessen den Brief und las ihn, während ihm Meier dabei über die Schulter schielte. Er war ganz kurz und lautete:

 

»Lieber Herr Förster,

der Kreiser Schöffel hat gestern Abend auf Ihrem Revier ein Altthier gewildert und mir zum Verkauf hergebracht. Ich habe es ihm abgenommen und die Bezahlung dafür soll soeben bei mir stattfinden; bitte Sie also augenblicks herunter zu kommen und Ihre Maßregeln beliebig zu ergreifen.

Hochachtungsvoll

Joseph Kerdelmann.«

 

»Bedauere, Herr Meier,« sagte der Wirth, »daß Sie sich wegen meiner nutzlos angestrengt haben. Nun, ein andermal gelingt's besser.«

»Herr Kerdelmann,« sprach der Förster Müller, dem die Sache äußerst fatal war, »die Leute haben nur ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie zu erfahren suchten, ob der Verdacht, den wir einmal gegen Sie hatten, begründet sei oder nicht. Es muß Ihnen selber lieb sein, daß Sie sich auf diese Weise gerechtfertigt haben.«

»Lieb, Herr Förster?« lachte der Wirth. »Hundert Thaler in Silber nähm' ich nicht für diesen Augenblick. Das Altthier aber werd' ich nun wohl zu dem Preise behalten, zu welchem mir es im Auftrage der Herren verhandelt ward? Wie? – Es wäre doch nicht angenehm, wenn die Geschichte unter die Leute käme. – Wir, die wir hier beisammen sind, werden schon darüber schweigen. Schöffel hat die Bezahlung – ist's damit abgemacht?«

»Sei es so, Kerdelmann,« willigte der Förster ein, dem selber am meisten daran lag, daß die Sache so kurz und gut wie möglich beseitigt werde. »Das Thier ist Euer – aber Ihr entschuldigt meine Eile – ich habe zu Hause einige nothwendige Geschäfte zu besorgen.«

»Wollen Sie nicht Platz zu einem Gläschen Wein nehmen, Herr Förster?«

»Ich danke schön – ich muß wirklich eilen, daß ich wieder nach Hause komme. Der Forstrath will mich um halb zehn Uhr besuchen und es ist fast so weit in der Zeit, wie ich eben sehe. Begleiten Sie mich, Wentzel?«

»Ja – ich denke so; guten Morgen, Herr Kerdelmann.«

»Schönsten guten Morgen, meine Herren,« sagte der Wirth – »und wenn Sie wieder einmal solch ein prächtiges Thier für den gleichen Preis haben, so setzen Sie mich doch ja in Kundschaft.«

Die Jäger drehten sich um und verließen rasch das Zimmer. Schöffel wollte sich ihnen unmittelbar anschließen, als Kerdelmann dazwischentrat und zu ihm sagte:

»Na, ich danke auch, Kreiser – und steh' Euch wieder einmal zu Diensten.«

»Geht zum Teufel!« fluchte Schöffel in sich hinein, indem er den Wirth umging und seinen Vorgesetzten nachstürzte.

»Und hab' ich's nicht gleich gesagt,« rief jetzt Meier in vollem Ingrimm, als die Forstleute wieder draußen auf der Straße waren und er jetzt Jemanden suchte, an dem er seinen Aerger auslassen konnte, »der Schöffel hat uns zu Narren gehabt, darum zieh'n wir jetzt ab wie die begossenen Hunde!«

»Der Schöffel uns zu Narren gehabt?« brach der Kreiser los, der dicht hinter Meier die Worte des Forstgehülfen gehört hatte. »Jetzt soll ich am Ende die Schuld davon haben, daß uns der Kerdelmann durch's Garn gegangen! Ich? Da muß doch das Wetter – Wissen Sie, wer schuld ist? Sie, Herr Meier, mit Ihren klughänsigen Plänen. Das will Alles gescheidt sein, Alles besser verstehen, und wenn's nachher verkehrt geht, hat der Schöffel die Schuld – natürlich.«

»Klughänsigen Plänen?« rief Meier, indem er sich hochfahrend gegen den Kreiser drehte. »Haltet Ihr Euer Maul, wenn Ihr so gut sein wollt.«

»Vor Ihnen nicht, Herr Meier, vor Ihnen noch lange nicht,« polterte Schöffel, durchaus nicht in der besten Laune nach der schmählichen Demüthigung durch den Wirth, den er hatte zu Schaden bringen wollen. »Maul halten –? Sie haben mir gar nichts zu gebieten. Ich gehöre nicht in Ihr Revier, und so gescheidt, wie Sie sind, bin ich schon lange gewesen.«

»Seid ruhig, Schöffel,« bedeutete ihn jedoch auch sein Förster – »das Streiten hilft uns nichts, und Meier meint es nicht so bös.«

»Es ist mir verdammt gleichgültig, wie es Herr Meier meint,« grollte der Kreiser, »ich brauche mir aber von ihm nicht vorwerfen zu lassen, daß ich an der Schlappe schuld wäre. Da kann jeder Naseweis kommen, wenn einmal eine Geschichte verfahren ist, und das Klugmaul spielen.«

»Ihr verdammter Halunke,« rief Meier, bei dem der Zorn längst die Oberhand gewonnen, »wenn Ihr nicht sogleich Euer Schandreden laßt, zerschlag' ich meinen Flintenkolben auf Eurem Schädel. Euch kennt man, und meinen Hals wollt' ich verwetten, daß Ihr mit dem Schuft, dem Wirth, unter einer Decke steckt. Ihr glaubt wohl, ich hätte nicht gesehen, wie er euch verstohlen zublinzelte.«

»Herr Meier,« stöhnte der Kreiser, dem in diesem Augenblick alles Blut aus dem Gesicht trat, indem er auf den Forstgehülfen zuging. Man sah es ihm an, daß er nur mühsam an sich hielt, den lodernden Hader zu Thätlichkeiten zu treiben. Beide Förster warfen sich jedoch dazwischen, denn schon traten Leute herbei, zu sehen, was der Zank bedeute, und Müller rief:

»Meier, ich verbiete Ihnen, dergleichen Reden zu führen. Sie sprechen damit mehr, als Sie verantworten können, und ich will, daß Sie Ruhe geben. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden. Und Ihr, Schöffel, seid vernünftig, nehmt ein unbedachtes Wort nicht so schwer. Niemand wälzt die Schuld auf Euch und Keiner von uns hat Euch in einem üblen Verdacht.«

»Ich danke Ihnen, Herr Förster,« sagte der Kreiser, »ich weiß aber auch, daß ich Ihre gute Meinung verdiene, denn ich bin ein ehrlicher Mann. Was den Herrn Meier betrifft, so sprechen wir uns noch, denn Vorwürfe, wie die seinigen, könnte nur ein Schuft auf sich sitzen lassen,« und mit den Worten steckte er beide Hände in die Taschen und bog seitab von dem Wege und von der Gesellschaft der Jäger.

»Sie haben sehr unrecht gethan, Meier, den Mann so zu reizen,« sagte Müller, als sie der Kreiser verlassen hatte. »Ich bin fest überzeugt, daß er unschuldig ist.«

»Und ich bin fest überzeugt,« erwiderte Meier mit einem derben Fluch, »daß der Schuft uns jetzt Alle miteinander auslacht. Wären Sie meinem Rath gefolgt, hätten Sie ihn nie dazu genommen.«

»Dem mag nun sein wie ihm will,« sagte aber auch Wentzel – »Sie thaten jedenfalls unrecht, daß Sie gleich schimpften. Sie sind überhaupt mit dem Mund ein wenig voraus, lieber Meier – Sie nehmen mir das nicht übel – und Kerdelmann wie Schöffel dürften Sie Beide wegen Injurien verklagen. Wenn wir zu Zeugen angerufen würden, müßten wir bestätigen, was wir gehört haben.«

»Da bin ich sicher,« lachte Meier, » die klagen alle Beide nicht und sind seelenfroh, wenn sie mit dem Gerichte nichts zu thun bekommen.«

»Desto besser für Sie,« sagte Müller; »wo man aber Streit vermeiden kann, soll man ihn nicht unnöthiger Weise mit Gewalt herbeiziehen. Doch –« brach er kurz ab – »es ist jetzt über die fatale Sache genug gesprochen – lassen Sie es abgemacht sein und vor allen Dingen den Schöffel zufrieden. Hätte er wirklich mit dem Wirth gemeinsam Spiel gemacht, könnten wir ihm doch nichts beweisen, und Sie setzten sich nur höchst nutzloser Weise Unannehmlichkeiten aus.«

Meier brummte noch etwas in den Bart, das mehr zu seiner eigenen Genugthuung als für die beiden Förster bestimmt schien, und der Förster Wentzel schickte seinen Kreiser noch an dem nämlichen Morgen auf das eigene Revier zurück, damit die Beiden auseinander gehalten wurden.


V.

Acht Tage waren seit den beschriebenen Vorfällen verflossen. Aus dem Plan, den die Jäger mit dem Wirth gehabt, hatte dieser durchaus kein Geheimniß gemacht, und Meier besonders war von seinen Kameraden wegen der Rolle, die er dabei gespielt, empfindlich geneckt worden. Daß der Forstgehülfe dadurch nur immer noch mehr gegen den Kreiser aufgebracht wurde, den er für die alleinige Ursache des Mißlingens hielt, läßt sich denken, und als er mit ihm im Laufe der Woche wieder einmal im Dorf zusammenkam, kamen die Beiden so heiß aneinander, daß sie ein zufällig in der Nähe befindlicher Gensd'arm trennen mußte.

Kerdelmann hatte indessen, obgleich die Jagd im Nachbarrevier noch nicht abgehalten war, fortwährend wieder Wildbraten im Ueberfluß gehabt. Das eine Altthier hätte dreimal so groß sein müssen, dazu auszureichen, und dennoch war es nicht möglich, die Quelle zu erfahren, aus der er sein Wild bekam. Außerdem hatten die Förster in letzter Woche zwei Schüsse Nachts im Walde gehört, und zwar gegen Anbruch des Morgens hin, weiter bis jetzt aber noch keine Spur finden können. Meier äußerte immer wieder ganz offen seinen Verdacht gegen den Kreiser Schöffel, und der Haß verdoppelte seine Wachsamkeit. Wenn er ihn einmal auf der That ertappte, so durfte der Bursche auf keine Gnade rechnen.

Unermüdlich war Meier deshalb die ganze Nacht im Walde, und wenn er auch über Tag nach Hollendeik zurückkehrte, fand ihn der Abend doch immer wieder draußen. Dort kroch er dann, sobald der Mond aufging, in all' den Dickungen umher, in deren Nähe gewöhnlich das meiste Wild stand, oder doch seinen Wechsel dort vorüber hatte.

Die Nacht vom Montag auf den Dienstag lag er solcher Art auch wieder oben. Am Abend vorher war ein leichter Schnee gefallen, der aber nicht lange liegen blieb, und gegen Morgen erst erhob sich ein frischer Nordwind, der die Wolken vertrieb und die Luft bedeutend abkühlte. Der Himmel wurde dadurch aber rein, und der Mond stand hell und klar über dem schon ziemlich lichten Wald – nur im Westen thürmte sich wieder eine dichte Wolkenschicht auf, der Regen oder Schnee für den nächsten Tag versprach

Meier hatte den Kamm von einem der niedern Hügel erreicht und pirschte langsam am Rand einer starken Kieferndickung hin, die, mit einem vielleicht fünfzehnjährigen Bestand eine fast undurchdringliche Masse von ineinander gedrängten Zweigen bildete und dadurch zu einem trefflichen Schutzplatz des Wildes geworden war. Dicht daneben lag ein freier Buchenschlag, auf dem selbst jetzt noch reichliche Aesung stand, und wenn sich das Wild niederthun wollte, war es sicher, in den dichten jungen Kiefern nicht gestört zu werden. Die Kieferndickung bildete zugleich die Grenze zwischen dem Hollendeiker und Herslinger Revier.

Es dauerte auch gar nicht lange, so sah er ein Rudel von sieben Stück, zwei Hirsche mit einigen Alt- und Schmalthieren, die ganz vertraut auf ihrem Wechsel aus der Niederung langsam heraufzogen und keine Gefahr zu ahnen schienen. Der scharfe Nordwind wehte vom Schlag herüber der Dickung zu, und Witterung konnten sie solcher Art nicht von ihm bekommen. Dem Jäger lag aber daran, das Wild nicht scheu zu machen. Das laute Schrecken desselben hört man im stillen Wald außerordentlich weit, und wäre wirklich ein Wilddieb in der Nähe gewesen, würde er danach gleich gewußt haben, daß irgend ein anderer Mensch sich noch außer ihm im Walde befand. Das zu vermeiden, drängte sich der Jäger jetzt in die Dickung hinein, in der, dicht an ihrem Rand hin, ein schmaler Pirschweg ausgehauen war. Auf ihm konnte man vollständig gedeckt am Schlag hinuntergehen und in gewissen kurzen Zwischenräumen diesen nicht allein übersehen, sondern mit Hülfe desselben auch überall leicht ein Wild anpirschen, das eben in Schußweite von der Dickung äste.

Hier, von den Kiefernbüschen gedeckt, wollte er das Rudel ungestört vorüberziehen lassen und seinen Weg nachher den Hang hinunter und nach der Grenze hin fortsetzen, denn er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Kreiser Schöffel endlich doch beim Wildern zu ertappen. Eine Zeit lang verhielt er sich ganz ruhig und horchte nur nach außen, ob er nicht in dem raschelnden Herbstlaub das vorüberziehende Rudel hören könne. Das Laub war aber nach dem letzten leichten Schneefall noch feucht, und da ihm die Zeit endlich lang wurde, während er zugleich fürchtete, hier zu lange aufgehalten zu werden, kroch er, vorsichtig auch das geringste Geräusch vermeidend, wieder nach dem Rand der Dickung vor, um von dort aus den Schlag übersehen zu können.

Er hatte auch kaum den Kopf frei von den dichten Büschen, unter denen er nichtsdestoweniger vollkommen versteckt lag, als er gar nicht weit von sich entfernt das Wild entdeckte. Ein Altthier mit einem Schmalthier und einem Spießer ging voraus, hinter ihm kam ein einzelnes Thier, dann folgte ein ziemlich braver Hirsch mit einem Gabler und hinter diesem das andere ziemlich starke, wahrscheinlich gelte Thier.

Die ersten Stücke waren ihm fast gegenüber und etwa fünfzig oder sechzig Schritt entfernt, als plötzlich ein Schuß aus derselben Dickung fiel, in der er selber lag, das letzte Thier mit einem jähen Satz herumflog und dann stehen blieb, während das übrige Wild in flüchtigen Sprüngen den Hang hinauffloh und bald oben, ohne ein einziges Mal anzuhalten, über den Kamm des Hügels verschwunden war.

Meier, ohne den Blick von dem getroffenen Stück zu wenden, faßte in krampfhafter Hast sein Gewehr. Der Schütze aber, wer es auch immer gewesen, ließ sich nicht sehen und Meierns scharfes Ohr entdeckte bald, daß er die abgeschossene Büchse wieder lud. Er hörte das Einklopfen der Kugel und wie der Ladestock bald darauf zweimal aufsaß – dann war Alles wieder ruhig.

Das kranke Stück Wild machte indessen keinen Versuch zur Flucht. Es drehte sich ein paar Mal auf derselben Stelle herum, auf der es stand und hustete mehrmals. Einmal war es, als ob es auf das Dickicht zuhalten wollte, aber es konnte nicht mehr fort – fing an zu schwanken und that sich langsam nieder. Zwei Minuten wohl hielt es hier noch den Kopf aufrecht, dann ließ es ihn auf die Seite sinken und fiel um. Meier hörte, wie es im Todeskamps mit den Läufen gegen einen jungen Busch anschlug – endlich lag es still und regte sich nicht mehr – es war verendet.

– Und noch ließ sich keine Schütze sehen. Dem Schall des Schusses und dem Geräusch des späteren Ladens nach konnte er aber kaum fünfzig Schritt von dem Lauscher entfernt gestanden haben und wartete jedenfalls nur, ob nicht vielleicht ein Jäger in der Nähe gewesen wäre, der auf den Schuß herbeieilte. Meier jedoch war viel zu schlau, sich den bisher so zufällig gewonnenen Vortheil durch Ungeduld selber zu vernichten. Rührte er sich nur, daß der Wilderer den gefährlichen Feind in der Nähe ahnte, so brauchte der sich blos im Dickicht zu halten und eine Verfolgung wäre dort ganz unmöglich gewesen. Das Beste blieb also, still abzuwarten, was der Bursche unternehmen würde. Hatte er dann das Dickicht verlassen, so war es ein Leichtes, ihm den Weg dorthin abzuschneiden – und er nachher verloren.

Eine gute halbe Stunde lag der Jäger solcher Art noch auf der Lauer, ohne daß sich auch nur das Geringste gerührt hätte. Nur der kalte Morgenwind rauschte durch die Kieferndickung und trieb raschelnde Blätter aus den schon ziemlich leeren und einzeln auf dem Schlag stehenden Buchen nieder. Da entdeckte Meier endlich eine dunkle Gestalt, die geräuschlos aus dem Dickicht heraus- und der Stelle zuschlich, wo das verendete Thier lag, und das Herz klopfte ihm dermaßen in der Brust, daß er kaum Athem holen konnte.

Jetzt war aber auch nicht mehr viel Zeit zu verlieren. So wie der Wilderer seine Beute aufgebrochen hatte, verließ er natürlich augenblicklich den für ihn gefährlichen Platz, und die Grenze war kaum zweihundert Schritt entfernt. Der Forstgehilfe glitt deshalb so rasch, aber auch so geräuschlos als irgend möglich zu dem Pirschweg zurück, bis er sich seiner Meinung nach in einer Höhe mit dem Wilddieb befand. Dann schlich er wieder dem Rand des Schlages zu und hätte vor Freude fast laut aufgeschrieen, als er dort zufällig an die von dem Wilddieb zurückgelassene Büchse stieß. Im Nu entfernte er das schon wieder aufgesetzte Zündhütchen davon – hatte er den Frevler doch jetzt sicher – und richtete sich eben auf, ihn anzuspringen. Da fand er, daß auch das nicht nöthig war.

Der Wilddieb, der keine Ahnung haben konnte, daß er so nahe von seinem gefährlichsten Feind belauscht worden, mochte sich doch auf dem offenen Schlag, selbst für die kurze Zeit, die er zum Aufbrechen des Wildes brauchte, nicht sicher fühlen. Er hatte deshalb seine vorher wieder geladene Büchse auf den Rand gestellt, von dem aus er geschossen, und war eben nur hinausgegangen, das erlegte Wild in die Kiefernbüsche zurückzutragen.

Das erlegte Thier hob er sich auch, trotz des nicht unbedeutenden Gewichts, unaufgebrochen auf die Schultern und kam jetzt gebückt unter der Last gerade auf die Stelle zu, auf der Meier, die gespannte Doppelflinte im Anschlag, seiner harrend stand.

Das Gesicht des Wilderers konnte der Jäger noch nicht sehen, denn der Mond stand gerade hinter ihm, während er durch das Wild hinter ihm ganz in den Schatten kam. Ueberdies fing sich der Himmel schon an mehr und mehr zu umziehen. Mit jedem Schritt kam aber der Wilderer auch näher, bis er endlich dicht vor dem Jäger und kaum noch fünf Schritt von der Dickung entfernt stand.

Weiter durfte er ihn nicht lassen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, daß ihm der Bursche, so wie er sich entdeckt sah, doch noch entsprang.

»Halt!« donnerte ihm das Schreckenswort entgegen – »bei dem ersten Schritt, den Du weiter thust, schieß' ich Dich über den Haufen!«

Der Wilddieb zuckte zusammen, und fast unwillkürlich ließ er das erlegte Stück von den Schultern zur Erde niedergleiten. Aber er rührte sich nicht von der Stelle; als er jedoch den Kopf ein wenig gegen den Jäger erhob, rief dieser in vollem Erstaunen laut aus:

»Kerdelmann – zum Teufel auch – das ist allerdings eine Ueberraschung! Das war vortrefflich abgefaßt.«

»Guten Morgen, Herr Meier,« sagte der Wirth, ohne im Mindesten seine Fassung zu verlieren – verdeckte doch der Hut sein Antlitz wenigstens so weit, daß der Jäger die Todtenblässe nicht sehen konnte, die sich über seine Züge stahl – »schon so früh im Wald?«

»Etwas zu früh für Euch, wie mir scheint,« lachte der Forstgehülfe im vollkommenen Triumph der gelungenen List. »Ihr wißt aber, daß Ihr mein Gefangener seid. Bleibt da stehen, wo Ihr steht, denn der erste Schritt, den Ihr zu machen versucht, und ich schieße Euch eine Ladung Nr. 3 in die Beine.«

»Haben Sie keine Angst, Herr Meier,« versetzte der Wirth ruhig. »Ich habe gefehlt und muß nun die Folgen tragen. Würde mir auch verwünscht wenig helfen, wenn ich davonlief, denn mein Wirthshaus könnt' ich doch nicht mit mir auf dem Rücken fortnehmen, und erkannt haben Sie mich nun einmal.«

»Macht daher keine weiteren Umstände,« sagte der Jäger, ohne jedoch seine Stellung, das Gewehr im Anschlag, zu verändern; »brecht das Stück auf und schultert es dann wieder, und kommt mit mir in's Forsthaus hinunter, daß ich die Anzeige machen kann. Euer Gewehr werde ich schon selber mitnehmen.«

»Hm – ja,« sagte der Wirth, indem er sein Taschentuch herausnahm und sich die Stirn abwischte – es war ihm warm dabei geworden, als er das schwere Stück hier herüber getragen hatte – »das habe ich mir so gedacht, daß es in ähnlicher Weise kommen würde, wenn der Böse einmal sein Spiel hätte, aber – vielleicht giebt's noch einen andern Ausweg –«

»Für Euch keinen, Kerdelmann,« wehrte finster der junge Forstmann ab. »Ihr habt die Sache zu arg getrieben, sammt Eurem Helfershelfer, dem rothen Schöffel. Nein, ich will nicht die ganze Woche hier umsonst in Nacht und Nebel herumgezogen worden sein.«

»Das sollen Sie auch nicht, Herr Meier,« sagte der Wirth, »aber Sie sind ein vernünftiger Mann, und ich denke, man kann ein vernünftiges Wort mit Ihnen reden.«

»Euer Reden wird Euch wenig helfen,« brach der Jäger ab, »werft das Stück aus und macht, daß wir in's Dorf hinunter kommen, denn ich denke mir, es wird Euch doch wohl selber lieb sein, wenn wir Hollendeik noch vor Tag erreichen.«

»Darin haben Sie allerdings Recht, Herr Meier,« sagte der Wirth, »ich werde Sie aber nicht lange aufhalten, und ich denke, was ich Ihnen zu sagen habe, ist des Anhörens werth.«

»So macht es kurz – was ist es? Glaubt aber nicht etwa, daß Ihr mich nur sicher machen wollt, um in das Dickicht zu entspringen.«

»Ich denke gar nicht daran, Herr Meier,« entgegnete der Wirth, indem er sich auf das neben ihm liegende Stück Wild setzte und seinen Rock zuknöpfte, denn es fing ihn an zu frösteln – »will's auch so kurz als irgend möglich machen. So hören Sie denn. In früherer Zeit hatte mein Vater dort, wo wir wohnten, eine große Jagd gepachtet und ich wurde, von Jugend auf zum Schießen angehalten, auch bald ein sicherer Schütze –«

»Aber Ihr habt auf unseren Scheibenschießen nie etwas getroffen,« unterbrach ihn Meier.

»Man braucht den Leuten eine solche Fertigkeit nicht auf die Nase zu binden,« meinte der Wirth trocken. »Ich wurde also ein leidenschaftlicher Jäger und als ich hierher übergesiedelt war, versuchte ich umsonst von den Förstern die Erlaubniß zu bekommen, mit auf die Jagd zu gehen – ich ward abgewiesen und abgewiesen.«

»Ich denke, wir haben gute Ursach' dazu gehabt.«

»Vielleicht doch nicht,« sagte Kerdelmann. »Hätt' ich manchmal draußen mitschießen dürfen, so würde ich kaum je an ein Wilddieben gedacht haben. So aber, da ich mich von meiner Passion ausgeschlossen sah, ließ mich der Jagdteufel nicht ruhen noch rasten und ich –«

»Aber das gehört Alles nicht hierher,« unterbrach ihn der Jäger ungeduldig.

»Ich erzähle es Ihnen nur, um Ihnen zu beweisen, daß ich nicht des elenden Gewinnes wegen, sondern nur aus unüberwindlicher Leidenschaft die gefährliche Liebhaberei getrieben habe. Ein Jäger weiß das zu schätzen und ich glaube, es giebt wenig Jäger in der Welt, die nicht wildern würden, wenn man ihnen auf einmal verbieten würde, eine Flinte zu tragen.«

»Und wenn Ihr auch Recht hättet,« sagte Meier, »so hilft Euch doch Alles nichts in diesem Fall. Ob das Gesetz darin einen Unterschied macht, weiß ich nicht, aber Eurer Strafe werdet Ihr nicht entgehen.«

»Das will ich auch nicht, Herr Meier,« sagte der Wirth gelassen, »es ist mir nur nicht einerlei, wem ich sie bezahle, und ich glaube, wir Beiden könnten das allein mit einander abmachen.«

»Wir Beiden?« sagte der Jäger erstaunt, »wie meint Ihr das?«

»Das will ich Ihnen schon sagen,« erwiderte Kerdelmann. »Daß mich die Geschichte, wenn sie vor die Gerichte kommt, in's Teufels Küche bringt, wissen Sie so gut wie ich, daß sie aber nicht vor die Gerichte kommt, das liegt noch in Ihrer Hand.«

»In meiner Hand? – da irrt Ihr Euch, guter Freund. Sobald ich die Anzeige gemacht habe, thun die Gerichte, was ihnen gefällt und ich bin dann weiter nichts als ein Zeuge. Aber das Geschwätz fruchtet nichts – macht, daß wir fortkommen; Ihr habt Euch selber zuzuschreiben, was Euch heut betroffen hat.«

»Noch einen Augenblick, Herr Meier,« bat Kerdelmann, der nur mit Gewalt die furchtbare Aufregung bezwang, in der er sich befand, und äußerlich auch wirklich ganz ruhig schien – »sind wir erst einmal unten, so läßt sich allerdings nichts weiter in der Sache thun, von Keinem von uns Beiden, und ich – möchte daher nichts übereilen.«

»Aber was wollt Ihr sonst noch?«

»Entweder,« sagte der Wirth, »werde ich um Geld gestraft und dann macht mich der Proceß zu einem armen Mann, während Sie nichts davon haben, als etwa eine Belobung von oben – und vielleicht die nicht einmal – oder – sie stecken mich in's Gefängniß und dann – ist die Sache noch schlimmer.«

»Das Letztere geschieht jedenfalls; darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

»Ich glaube es auch, Herr Meier, und das – fürchte ich gerade. Ich mache Ihnen deshalb einen Vorschlag. Ihr Gehalt ist nicht zu brillant und was haben Sie davon, einen armen Teufel in's Unglück zu reiten, da es noch ganz in Ihrer Hand liegt, es zu verhindern. Zeigen Sie mich also diesmal noch nicht an, Herr Meier – Sie haben das Thier selber hier an der Grenze geschossen, oder wie Sie es sonst einrichten wollen, und ich zahle Ihnen, wenn Sie mit mir hinüber in mein Haus kommen, fünfhundert preußische Thaler auf einem Brett aus.«

»Ihr seid verdammt splendid heute Morgen, Kerdelmann,« entgegnete der Jäger, »und es ist möglich, daß Ihr den Schöffel um weniger gekauft habt. Laßt Euch aber derartige Gedanken vergehen. Eurer Angst vor der Strafe will ich es zu Gute halten, daß Ihr mir hier den nichtswürdigen Antrag macht, mich zu bestechen. Damit ist die Sache nun aber auch vorbei. Jetzt brecht das Thier auf und macht, daß wir damit hinunterkommen, denn es fängt wahrhaftig an zu schneien und ich habe Euch zu Lieb' schon genug Nächte hier oben geopfert.«

»Wenn ich nun mehr –«

»Spart Euer Geld, auch wenn Ihr viel reicher daran wäret, als ich an Latein,« schnitt ihm der Jäger das Wort ab – »und wenn Ihr mir tausend, ja fünftausend Thaler bötet, es hilft Euch nichts. Ich nähme sie nicht für diesen Augenblick, da ich Euch endlich einmal erwischt und das Handwerk gelegt habe. Das ist mein letztes Wort in der Sache. Der Himmel wirft den Schnee schon dicker und wir müssen machen, daß wir in's Dorf hinunter kommen.«

»Wenn Sie nicht anders wollen,« sagte jetzt Kerdelmann mit einem aus tiefer Brust geholten Seufzer, indem er langsam aufstand – »so bin ich freilich verloren, ohne daß ich mich darüber beklagen darf. Ich habe eben gefrevelt und muß dafür büßen.«

»Wenn Ihr das einseht, um so besser für Euch. Die Gerichte lassen Euch vielleicht gelinder durch, als Ihr denkt, und Ihr kommt mit ein paar Jahren davon. Aber jetzt sputet Euch, daß Ihr zu Stande kommt.«

»Das soll bald geschehen sein, Herr Meier,« versicherte der Wirth, der jetzt, da ihm die letzte Hoffnung abgeschnitten war, ganz in sich zusammengebrochen schien. Dem Befehl des Jägers gehorchend, zog er seinen Genickfänger aus der Tasche, brach das Stück Wild waidgerecht auf und bog sich dann nieder, es auf seine Schultern zu heben.

Das ging nicht.

»Der Schrecken ist mir so in die Glieder geschlagen,« sagte er leise, »daß ich meine Kraft verloren habe – sonst hätt' ich zwei solcher Dinger auf einmal aufgenommen.«

Meier stand noch immer, das gespannte Gewehr in der Hand, neben ihm und ein hämisches Lächeln zuckte dabei um seine Lippen. Hatte er doch jetzt den verhaßten Feind, auf frischer That ertappt, in seiner Gewalt und konnte ihn seiner Strafe entgegenführen. Und wie war der sonst so hochmüthige Bursche auf einmal so zahm und höflich geworden – fünfhundert Thaler wollte er geben, wenn er ihn laufen ließ? – Meier lachte still in sich hinein und hätte in diesem Augenblick wirklich kein Geld der Welt genommen, sich den Triumph entgehen zu lassen, daß er seinem Förster den ertappten Wilddieb brachte.

Dieser hatte sich indessen zweimal vergebens bemüht, das Thier auf die Schultern zu bringen. Wenn er es beinahe oben hatte, glitt es ihm jedesmal wieder herunter und er sagte endlich:

»Es geht nicht, Herr Meier. – Ich weiß nicht, woher es kommt, aber die Kniee zittern mir so merkwürdig. Entweder wir müssen es zusammen an einem Stocke tragen, oder ich schleife es in's Dorf, wenn auch die Decke ein bischen gescheuert wird, oder lassen Sie es lieber hier liegen und später von Jemand abholen.«

An das Letzte hatte Meier auch schon gedacht, den Wirth aber so frei mitzunehmen, dazu traute er ihm nicht genug. Sie mußten unterwegs eine kurze Strecke durch ein zweites Dickicht gehen, durch das der Weg hinlief, und wenn ihm der Wirth da entsprang, hätte er ihm die ganze Sache nachher rundweg abgeleugnet. Unverschämt genug wär' er dazu gewesen. – Mit dem Schleppen des Wildes ging es aber auch nicht gut. So wie sie den Berg hier herunter waren, mußten sie drüben wieder an einer ziemlich steilen Höhe hinauf, und mittragen wollte Meier nicht – konnte er doch in dem Falle nicht schußfertig bleiben.

»Es wird schon gehen, Kerdelmann,« sagte er deshalb, »versucht es nur noch einmal.«

Der Wirth gehorchte und hob sich das Thier ziemlich auf die Schulter, aber ganz hinauf brachte er es noch immer nicht. So stand er einen Augenblick, herüber und hinüberschwankend.

»Wartet – bleibt stehen wie Ihr steht,« sagte der Jäger, die gespannte Doppelflinte in die rechte Hand nehmend, während er auf den ihm jetzt den Rücken zukehrenden Wirth zutrat, »ich werde von unten nachdrücken.«

Der Wirth stand nach vorn gebückt, das Stück Wild hing ihm etwa auf halbem Rücken. Der Jäger half ihm mit der linken Hand die Last vollends in die Höhe heben, hatte ihn jedoch noch immer in Verdacht, daß er blos auf einen günstigen Moment warte, in das Dickicht hinein zu entschlüpfen. Der Wilddieb aber dachte an etwas ganz Anderes.

»Jetzt kommt es, Herr Meier,« sagte er und die Stimme zitterte ihm dabei, vielleicht von der Anstrengung, mit der er heben half, »nur noch ein klein wenig mehr auf der rechten Seite, daß ich die Läufe über die Schulter herüberziehen kann – nachher heb' ich es schon allein hinauf – so.«

Meier bückte sich etwas, um das schwere Stück besser drücken zu können und der Wirth bückte sich noch ein klein wenig mehr – aber nicht um das Stück Wild mehr aufzuziehen. Mit Blitzesschnelle glitt er darunter weg, daß es mit schwerem Fall zu Boden stürzte, und hatte in demselben Augenblick auch den Forstgehülfen, ehe dieser zurückspringen konnte, um den Leib gefaßt.

»Bestie!« schrie dieser und suchte den Lauf des Gewehres gegen ihn zu drehen – aber es war zu spät. Die linke Hand des Wirthes klammerte sich um seinen Hals und während er einen stechenden Schmerz in der Seite fühlte, wurde er hinten über und zu Boden geworfen.

»Hülfe!« wollte der Unglückliche rufen, aber keinen Laut brachte er mehr aus der wie mit eiserner Klammer zugeschnürten Kehle, und wieder und wieder begrub der Wilderer sein Messer in der zuckenden Brust des Opfers, bis dieses still, regungslos und verblutend vor ihm lag. Meier war todt.

»Wenn ich denn doch in's Zuchthaus soll, bringst Du mich wenigstens nicht hinein, mein Bursche,« raunte Kerdelmann der Leiche zu. »Gern hab' ich's nicht gethan, aber – Du hast es nicht besser haben wollen und bist jetzt unschädlich gemacht. Aber was weiter? – Eine verteufelte Geschichte bleibt's immer und ein wahres Glück nur, daß ich nicht im Verdacht des persönlichen Wilderns stehe. Wenn ich unbemerkt nach Hause komme, kann noch Alles gut gehen – allein die Leiche hier?«

Er blieb, beständig das blutige Messer in der Hand, mehrere Minuten lang in tiefem, düsterm Brüten neben dem todten Körper stehen, dann aber, wie plötzlich zu einem Entschluß gekommen, schleuderte er erst den Stahl in das Dickicht und hob dann die Leiche vom Boden auf, sie ebenfalls dort hinein zu tragen. Das war bald geschehen, auch das geschossene Wild brachte er in den Schutz der dichten Zweige, und ließ sogar den Aufbruch Die ausgeworfenen Eingeweide eines Wildes. nicht, zurück.

Es schneite fort und der Wind trieb, nach Nordwest umgesprungen, eine Masse neuer Wolken am Himmel empor, die sich in immer dickeren Flocken entluden. So günstig ihm aber auch der Schneefall für später sein konnte, so großer Gefahr setzte sich Kerdelmann aus, wenn er jetzt länger zögerte. Der Morgen mußte sehr nahe sein und wenn er seine eigene Wohnung nicht noch unter dem Schutz der Dunkelheit erreichte, – wenn ihn auch nur eine einzige Seele im Ort sah, so mußte sich der Verdacht unmittelbar gegen sein Haupt wenden.

Sein eigenes Gewehr hatte er dem Todten schon wieder abgenommen, aber auch dessen Doppelflinte griff er nun auf, legte sie zu der Leiche in's Gebüsch und eilte dann, so rasch er konnte, den Schreckensplatz zu verlassen.


VI.

So lange der Mörder voller Hast beschäftigt gewesen war, die Spuren seiner That soviel als möglich zu verbergen, so lange hatte ihn die gewaltige Aufregung, in der er sich befand, auch nicht zu einem recht klaren Besinnen kommen lassen. Er that eben, was er für nöthig hielt, sein Verbrechen zu verdecken und suchte vor allen Dingen jetzt noch so viel Zeit zu gewinnen, um an sich selber jede Spur zu vertilgen. Wie er nun aber den Hang hinunter floh, seine Wohnung so rasch als möglich zu erreichen, überkam ihn zum ersten Mal das volle Gefühl dessen, was er gethan – was er verschuldet, und der kalte Angstschweiß trat ihm vor die Stirn. Scheu warf er den Kopf nach rechts und links hinüber, wenn ein hinter ihm drein kollernder, von seinem Fuß gelöster Stein ihn schon die Verfolger auf seinen Fersen ahnen ließ, und fast stieß er einen lauten Schrei aus, als dicht neben ihm ein aufgescheuchter Auerhahn von einer niedern Kiefer mit lautem Flügelschlag abstrich und das Weite suchte.

Gewaltsam mußte er sich endlich zusammennehmen, die Todesfurcht, die ihn beschlich, zu bezwingen. Er setzte sich auf einen am Wege liegenden Stein, um sich nur ein wenig zu sammeln und das Nächste zu überdenken.

Hier schraubte er zuvörderst seine schon zu solchem Dienst eingerichtete Büchse auseinander und verbarg sie mit Hülfe eines breiten Riemens, den er unter der weiten grauen, das Gewehr vollständig verdeckenden Joppe trug. Dann stieg er hinunter zum nächsten Bach und wusch sich die blutigen Hände – aber von den Kleidern konnte er die Blutflecken in der Dunkelheit nicht entfernen; damit mußte er warten, bis er zu Hause angekommen war.

Es schneite stärker und stärker und die großen Flocken, die ihm entgegenschlugen, schmolzen im Nu auf seiner fieberhaften Stirn. Im Wege blieb der Schnee schon liegen, daher sprang der Wirth aus demselben zur Seite und eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, aus dem Wald hinaus, dem nicht mehr fernen Dorfe zu. – Der Schnee konnte ihn aber auch retten. Schneite es nur noch eine Stunde so fort, so waren alle Spuren vertilgt und er brauchte in den nächsten Tagen eine Entdeckung kaum zu fürchten.

Jetzt hatte er den äußern Rand von Hollendeik und damit den ihm so wohlbekannten Garten der Krone erreicht. Der Platz lag wärmer und geschützter als der höhere Wald und der Schnee blieb hier noch nicht ordentlich liegen. Bis es ordentlich Tag wurde, verging überdies noch eine volle Stunde und er eilte durch den Garten, um so die Straße abzuschneiden und nicht etwa dem Wächter zu begegnen.

Dicht unter Margarethens Schlafzimmer mußte er hier vorbei und er warf den schweren Blick dort hinauf, drückte sich aber im nächsten Augenblick fest an die Wand, denn es war ihm fast, als ob er oben am Fenster eine helle Gestalt gesehen hätte. In dem dunkeln Hofe der Krone konnte ihn Niemand erkennen – der Kettenhund war auf der andern Seite des Hauses angebunden, und wenige Minuten später glitt er über die leere, dunkle Straße hinweg seinem eigenen Gehöfte zu.

Einmal dort, war er vor Entdeckung sicher. Selbst von seinen Leuten wußte Niemand, daß er Nachts sein Schlafzimmer manchmal verließ. Das niedere Fenster führte auf den Hof hinaus und war von außen durch eine kleine, heimlich angebrachte Schnur zu öffnen. Jetzt war er in dem Gemach, riß die Schnur ab, schloß das Fenster fest von innen und sank dann erschöpft, zerbrochen auf einen Stuhl.

Aber auch hier durfte er nicht länger säumen, wenn er vor Tag noch alle Spuren vertilgen wollte. Rasch zog er deshalb seine Kleider aus und schnürte sie in ein festes Bündel zusammen, reinigte sich vollkommen und erwartete dann mit entsetzlicher Ungeduld den Tag, damit er sich nicht zu früh sehen ließ und dadurch Verdacht erregte.

Jeden Morgen war sein erstes Geschäft, in den Keller hinunter zu gehen und dort frisches Bier herauszugeben. Den Keller betrat nur er; den Schlüssel hatte er stets bei sich und dort konnte er deshalb auch seine Kleider am sichersten verbergen.

Es schneite endlich, was nur vom Himmel herunter wollte, und Kerdelmann begrüßte mit Jubel jede neue Schneelage, half sie doch seine hinterlassene Spur verdecken. Als es hell wurde, war die Gegend rings in ein weißes Kleid gehüllt, und immer mehr noch kam von oben nieder. Wer hätte ihn jetzt aufspüren sollen? Er war gerettet.

Nichtsdestoweniger ging er mit aller Vorsicht daran, jeden nur irgend möglichen Verdacht abzuwehren. Als er, genau zur gewöhnlichen Zeit, in den Keller hinunterstieg, gelang es ihm, das Packet Kleider und sein Gewehr unbemerkt mit hinab zu nehmen. In dem feuchten Boden des Kellers hatte er dann bald ein ziemlich tiefes Loch eingegraben, in das er die fest zusammengerollten blutigen Kleider steckte, die Erde darauf wieder fest trat und die vorher zurückgeschobenen Balken, auf denen das Bier lag, wieder darüber zog. Das Gewehr verbarg er an einer andern Stelle – in den Wald hinaus durfte er doch nicht wieder – und das Alles in Sicherheit gebracht, fühlte er sich jetzt etwas ruhiger. Ja, als er hinaufstieg und das starke Schneegestöber wiedersah, ward es ihm ordentlich leicht um's Herz. Er pfiff so vergnügt durch das Haus und bei seiner Arbeit, als ob er die Nacht sanft und süß im warmen Bett geschlafen hätte. Wer ihn so sah, konnte wahrlich nicht ahnen, daß der Mann vor wenigen Stunden einen Mord verübt habe und mit vor Angst gesträubten Haaren aus dem Wald geflohen sei.

Im Forsthaus hatte die Frau Försterin den Herrn Meier indessen vergebens zum Kaffee erwartet, zu dem er fast jedesmal in's Dorf herunterkam. Aber er blieb auch manchmal länger aus und es fiel deshalb nicht besonders auf.

Mit Sonnenaufgang kam indeß der Kreiser Schöffel vom Nachbarrevier und brachte eine Einladung für den Förster Müller und seinen Gehülfen zur morgenden Jagd.

»Dank, Schöffel,« sagte Müller – »eine Empfehlung an den Herrn Förster und wir würden kommen. Meier ist zwar jetzt nicht zu Haus, aber ich denke, er wird ebenfalls abkommen können. – Was habt Ihr denn aber an der Stirn gemacht, Schöffel? Ihr blutet ja!«

»Oh, es ist nichts,« Herr Förster,« antwortete der Mann und wurde etwas verlegen. »Ich bin selber dran schuld. Der Herr Förster Wentzel hat mir nämlich den Brief schon gestern gegeben, daß ich ihn hierher tragen und dann gleich mit nach Weißenborn gehen sollte. Es kam mir aber 'was dazwischen und ich habe den Auftrag schmählich vergessen, bis es gestern Abend zu spät war. Da bin ich denn heute Morgen schon um vier Uhr von zu Haus aufgebrochen und als es zu schneien anfing auf einem von den verwünscht glatten Steinen den Hang hinunter ausgerutscht. Die Haut ist nur ein bischen an der Stirn und hier an der Hand geritzt.«

»Welchen Weg seid Ihr denn gekommen?« fragte der Förster.

»Dicht an der Grenze herunter,« antwortete der Kreiser.

»Nun gut – Ihr geht also jetzt nach Weißenborn hinüber, wie?«

»Ja wohl, Herr Förster – wenn Sie etwas zu besorgen haben.«

»Nein, ich danke – nur Eins wollt' ich Euch noch sagen, Schöffel – und es ist mir lieb, daß wir gerade allein sind. – Haltet mir mit dem Meier Frieden, daß nicht wieder etwas Derartiges vorfällt wie neulich –«

»Aber, Herr Förster –«

»Ich weiß schon. Der Meier hat Euch unbillig zugesetzt; ich habe ihn deshalb auch in's Gebet genommen. Ich verlange aber, daß Ihr, wenn Ihr zu uns hier herüberkommt, Alles vermeidet, was Unfrieden stiften oder den alten Streit wieder auffrischen könnte.«

Schöffel biß sich auf die Lippen und hätte gern eine trotzige Antwort gegeben. Aber er besann sich wieder. Hier half es ihm doch nichts. Nach Weißenborn hinüber hatte er aber keine Zeit mehr zu verlieren, denn zu spät durfte er die Jagdeinladung nicht bestellen. Er schwieg also auf die Ermahnung, grüßte den Förster und verließ rasch das Haus.

So kam der Mittag heran und Meier war noch immer nicht zurück. Es hatte indessen fortgewettert; im Wald droben lag schon über sechs Zoll Schnee und ein tüchtiger Anhang in den Dickichten. Zum Mittagessen kamen die beiden Kreiser zurück, die draußen im Revier gewesen waren, und der Förster befragte sie nach dem Forstgehülfen. Keiner von diesen wollte ihn aber gesehen haben.

»Ein Mann muß ganz früh heute Morgen vom Buchenschlag oder irgend da woher heruntergekommen sein,« meinte Becker, der eine Kreiser. »Die Spur konnt' ich aber nicht ordentlich mehr erkennen, denn es lag schon Schnee drinn – auch kam mir der Fuß größer vor, als dem Forstgehülfen seiner.«

»Das war Schöffel,« sagte der Förster. »Der ist von der Grenze herabgekommen. Er war heute Morgen bei mir.«

Meier's Essen wurde ihm warm gestellt, aber er kam nicht. Der Abend rückte heran und brach ein und keine Spur zeigte sich von ihm.

Als der Forstgehülfe auch am nächsten Morgen fehlte, schickte Müller frühzeitig beide Kreiser und alle seine Holzmacher aus um zu sehen, ob sie etwas von ihm finden könnten. Er selber aber ritt zur Jagd in's Nachbarrevier hinüber, dort ebenfalls Erkundigungen einzuziehen. Die Leute kehrten am Abend unverrichteter Sache zurück. Auch drüben hatte ihn Niemand gesehen oder von ihm gehört.

Der eine Forstgehülfe sagte allerdings aus, es sei ihm gewesen, als ob er am vorigen Morgen lange vor Tag einen Schuß höre. Gewiß wolle er aber nicht behaupten, daß es ein Schuß gewesen sei, wie er eben so wenig die Richtung genau bestimmen könne.

Die Jagd fiel nicht besonders aus. In den Dickichten lag zu viel Anhang auf den Zweigen, und bei solchen Gelegenheiten gehen die Treiber außerordentlich schlecht. Sie weichen dem Schnee aus, so viel sie können, und drücken sich gewöhnlich einer hinter dem andern die Schneußen oder offenen Blößen entlang, während das Wild außerordentlich fest sitzt und den Lärm oft ganz dicht vorüberläßt, ohne aufzustehen. Es waren denn auch nur fünf Stück Wild und ein Spießer, vier Füchse, ein Baummarder und drei Hasen geschossen worden.

Außerdem hatte im letzten Treiben der Assessor von Solfig, einer der Schützen aus Grafenhoff, der nächsten Stadt, einen Gabler angeschossen. Er schweißte allerdings, war aber noch flüchtig fort- und nach der Grenze zu gegangen. Förster Müller gab deshalb gern seine Erlaubniß, drüben bei ihm am nächsten Morgen – denn für heute war es zu spät geworden – nachzusehen, bat aber den Förster, nicht etwa Schöffel, sondern seinen Forstgehülfen hinüber zu schicken, damit Jener nicht mit Meier zusammenträfe.

Den Abend waren die Schützen noch lange und fröhlich beisammen und es wurde so viel erzählt, geplaudert und getrunken, bis an den Heimweg nicht mehr gedacht werden konnte. Förster Müller blieb also im Forsthause über Nacht, ließ sich aber am nächsten Morgen nicht abhalten, mit Tagesanbruch den Heimweg anzutreten. Daß er noch immer keine Nachricht von Meier hatte, beunruhigte ihn ernsthaft.

In früherer Zeit war sein Forstgehülfe wohl manchmal zu Bier gegangen und hatte dann nicht selten einen guten Rausch mit nach Haus gebracht; zwei- oder dreimal war er auch über Nacht ausgeblieben. Auf die Vorstellungen des Försters hin hatte er das aber in der letzten Zeit unterlassen und sich ordentlich und mäßig gehalten. Die einzige Möglichkeit blieb jetzt, daß er doch einen Rückfall bekommen und über die Stränge geschlagen. War das der Fall, so wollte ihm der Förster seine Meinung sagen.

Geschneit hatte es den vorigen Tag nicht mehr und der Förster verließ, als er vom Herslinger Forsthaus wegritt, sehr bald den breiten Weg, um quer über sein Revier hinweg zu traben. So kam er denn bald über denselben Hügelkamm herüber, über den an jenem Abend das Wildpret geflohen war, und ritt den Buchenschlag hinab. Nahe zu dem Dickicht saß eine starke Anzahl von Krähen auf einem einzelnen Baum, aber er achtete nicht weiter darauf und ritt vorüber.

Gleich unten vor Hollendeik begegnete ihm einer seiner Kreiser und seine erste Frage war nach dem vermißten Forstgehülfen. Niemand wußte etwas von ihm, aber der Kreiser meinte, es müsse ihm ein Unglück begegnet sein und er habe sich entweder selber geschossen oder sei mit einem Wilderer zusammengerathen.

Der Kreiser hatte übrigens aus eigenem Antrieb die sämmtlichen Holzmacher heute noch einmal nach einem andern Theil des Reviers abgeschickt und war eben nur so lange im Dorf geblieben, um den Förster und dessen weitere Befehle zu erwarten.

»Das habt Ihr gescheidt gemacht, Schneider,« sagte der Förster, »wir dürfen nichts versäumen, denn die Sache sieht bedenklich genug aus. Da Ihr übrigens doch dort hinauf geht, so haltet Euch jetzt einmal der Grenze zu. Gestern Abend ist drüben am Wolfsstein ein Gabler angeschossen worden. Dem wird der Forstgehülfe Scholz heute Morgen mit Einem seiner Leute nachgehen. Bis an unsere Grenze sind sie ihm gestern gefolgt und wenn er wirklich krank geschossen ist, so denk ich, hat er sich in der Dickung über dem Buchenschlag gesetzt. Es ist aber einer von den Stadtherren, der auf ihn geschossen hat, und da ist es möglich, daß er ihm nicht besonders viel gethan; ich habe den Schweiß freilich nicht selber gesehen. Wenn Ihr die Beiden trefft oder im Schnee spürt, so helft ihnen den Hirsch suchen.«

Damit wandte er sein Pferd und ritt zum Forsthaus zurück. Als er vor seiner Thür hielt, kam Kerdelmann aus dem Dorf herauf.

»Guten Morgen, Herr Förster,« redete der Wirth den Jäger an. »Es ist mir lieb, daß ich Sie treffe; ich wollte mich eben bei Ihnen erkundigen, ob gestern im Herslinger Forst etwas geschossen ist und ob ich wohl nach Wild hinaufschicken könnte. Ich bin vollständig abgebrannt und muß wieder etwas haben.«

»Guten Morgen, Kerdelmann,« sagte der Förster. »Ja, ich denke, Ihr könnt hinschicken; wir haben sechs oder sieben Stück bekommen. Sie suchen jetzt eben auch noch nach einem Gabler, der auf unser Revier herübergegangen ist.«

»Weit nach uns zu?« frug der Wirth.

»Das weiß ich nicht,« lautete die Antwort; »ich bin nicht mit auf der Nachsuche gewesen. Bis Mittag aber, denk' ich, werdet Ihr wohl hören, was aus dem angeschossenen Stück geworden ist. – Apropos – habt Ihr nichts von Meier gesehen?«

»Von dem Forstgehülfen? – nein,« sagte der Wirth gelassen – »war er denn nicht mit auf der gestrigen Jagd?«

»Nein – er ist seit vorgestern verschwunden und kein Mensch weiß, wo er steckt.«

»Seit vorgestern!« rief Kerdelmann erstaunt – »da wird ihm doch kein Unglück zugestoßen sein?«

»Gott weiß es!« seufzte der Förster, indem er abstieg und sein Pferd am Zügel nahm. »Meine Holzmacher sind alle nach ihm aus im Walde draußen, haben aber bis jetzt nichts von ihm finden können. Bei dem neugefallenen Schnee ist auch schlecht suchen, wenn nicht –« hier unterbrach er sich plötzlich und blieb wie nachdenkend stehen.

»Was, Herr Förster?« – frug der Wirth.

»Ah, nichts,« – sagte jener – »es fiel mir nur etwas ein.« Er dachte in dem Augenblick an die Krähen, die er am Rand jener Dickung beisammen gesehen hatte und ein eigenes unheimliches Gefühl beschlich ihn.

Dem Wirth wäre es allerdings lieb gewesen, wenn sich der Förster ausgesprochen hätte; dieser aber brach das Gespräch kurz ab, nickte ihm zu und führte das Pferd gegen das Haus, von woher ihm sein ältester Knabe behülflich entgegensprang.

»Sattle es aber nicht ab, Hans,« sagte der Vater, »ich reite gleich wieder fort. Ich – ich will noch einmal in den Wald hinauf. Hänge es nur dort an den Zaun, bis ich ein wenig gefrühstückt habe.« Damit trat der Förster in das Haus, während der Wirth langsam nach seiner Wohnung zurückschritt.


VII.

Der Förster verzehrte sein Frühstück schweigend. Die Frau fragte nach Meier und der gehabten Jagd, aber er gab nur einsilbige Antworten. Die Krähen, die er dort oben beisammen gesehen und die er im Vorbeireiten nicht sogleich beachtet hatte, gingen ihm im Kopf herum. Möglich, daß sie sich zufällig dort zusammengefunden, wie das im Winter ja manchmal geschieht – möglich aber auch – er schauderte, wenn er sich einen solchen Fall dachte – daß sie der Leichengeruch eines Unglücklichen angelockt. Jedenfalls wollte er sich Gewißheit verschaffen, und bald bestieg er sein Pferd wieder und ritt, so rasch es ihm das Terrain erlaubte, nach dem Schlag zurück.

Ein Theil des Weges sollte ihm aber erspart werden. Schon von Weitem hörte er die Stimmen herabkommender Menschen und bald erkannte er auf dem Schnee die dunkeln Gestalten einiger Männer, die etwas Schweres trugen.

Es war der Forstgehülfe Scholz von Herslingen mit einem seiner eigenen Kreiser und mit Schneider – demselben Mann, den Müller erst vorhin hinaufgeschickt hatte, um den Anderen bei der Nachsuche zu helfen, – diese Drei trugen den blutigen Leichnam des Forstgehülfen Meier, über dessen klägliches Ende nun kein Zweifel blieb.

Der angeschossene Gabler, dem sie vor der Hand natürlich gar nicht weiter nachgesucht, war nämlich wirklich in jenes Dickicht geflohen, in das sie aber des Schnees wegen anfangs nicht eher einbrechen wollten, bis sie auch gewiß wußten, daß ihr Hirsch noch darin stecke. Das zu erfahren, umschritten sie die Dickung. Führte keine Spur aus dem Gehölz, so sollte sich Scholz auf dem wahrscheinlichen Wechsel anstellen, während die beiden Kreiser der deutlichen Spur des Schweißes nachgegangen wären.

So kamen sie zu der Stelle, über welcher sich die Krähen noch immer hielten, und sie vermutheten aus diesem Zeichen nichts Anderes, als daß der Hirsch dort verendet sei und die Krähen, durch die Witterung des frischen Schweißes angelockt, sich hier gesammelt hätten. Sie waren nicht auf das Furchtbare vorbereitet, das sie dort erwartete: Meier's entseelter, mit klaffenden Wunden bedeckter Körper.

Es war klar, daß der Unglückliche, auf dessen Leiche sie stießen, durch einen Wilderer ermordet worden sei, – wer aber war der Thäter? Dem Förster, als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, war es daher nicht recht, daß die Leiche sogleich aufgehoben worden war, ohne vorher die Gerichte herbeizurufen. Das ließ sich jedoch jetzt nicht mehr ändern; der Körper mußte weiter getragen und nach Hollendeik gebracht werden. Müller ritt rasch voraus, um seine Frau auf die Trauerbotschaft vorzubereiten.

Augenblicklich machte er auch die Meldung. Ein Arzt wurde von dem nächsten Ort herbeigeholt und der Thatbestand aufgenommen. Zweifel über die Todesart konnten nicht obwalten. Der Gemordete hatte sieben Messerstiche erhalten, von denen jeder einzelne tödtlich gewesen wäre, und am Nachmittag ging ein Gerichtsactuar mit dem Schulzen und den beiden Gensd'armen an den Fundort hinauf, um den Schauplatz der That genau zu untersuchen.

Hier aber fiel ihnen für jetzt, da der Schnee noch Alles bedeckte, nur die Flinte des Getödteten in die Hände. Weitere Ermittelungen mußten auf das nächste Thauwetter verschoben werden, das ein seit heute eingetretener Südwest-Wind bald hoffen ließ.

Wer aber war der Thäter? – Der Actuar Bellert hielt mit dem Förster Müller und seinem Schreiber eine Conferenz bei verschlossenen Thüren und noch an dem nämlichen Abend spät wurden die beiden Gensd'armen nach Herslingen hinübergeschickt, um den Kreiser Schöffel zu verhaften.

Wie eilt Lauffeuer ging indessen das Gerücht durch das Dorf, der Forstgehülfe Meier sei vom Kreiser Schöffel im Walde ermordet worden. Woher es die Leute wußten? Niemand konnte es sagen; aber noch in der Nacht kamen die Gensd'armen mit dem Gefangenen zurück, der eingesperrt und von den Dienern der Gerechtigkeit sicher bewacht wurde.

In der Nacht regnete es und so auch noch am nächsten Tage. Der Schnee schmolz unter dem warmen Winde, der Platz des Verbrechens ward der näheren Erforschung zugänglich. Man fand aber nichts weiter als das Messer, mit dem der Mord augenscheinlich verübt worden; denn die Klinge paßte, wie sich später ergab, in die Wunden; ob aber das Messer früher dem Schöffel gehört, wußte Niemand. Es war ein gewöhnlicher, abgenutzter Genickfänger mit altem Bockhorngriff, wie fast alle Jäger und Kreiser dergleichen führen.

Daß der Kampf nicht in der Dickung selber stattgefunden, stellte sich übrigens auch heraus; die Zweige der Büsche wären sonst dort herum mehr eingebrochen und geknickt gewesen. Der muthmaßliche Platz war nahe beim Dickicht, wo der Boden zertreten schien. Der starke Regen hatte aber auch diese Spuren schon wieder ziemlich verwischt und das Nähere mußte jetzt das Verhör ergeben.

Das fand am nächsten Morgen statt; Schöffel leugnete jedoch hartnäckig und schwur bei Allem im Himmel und auf der Erde, daß er unschuldig sei. Er habe den Forstgehilfen allerdings nicht leiden können und hätte auch alle Ursache zum Haß gegen ihn gehabt, da er ihn immer noch des Wilderns beschuldigte, während er den höchsten Eid ablegen könne, daß er kein Wild mehr geschossen, seit er in herrschaftlichen Diensten stehe. Nie aber sei ihm auch nur ein Gedanke an so Entsetzliches gekommen. Er habe Frau und Kinder und würde nimmer etwas gethan haben, was diese in's Elend stürzen müßte.

Auf die Frage, woher er an jenem Morgen so früh gekommen, gab er dieselbe Antwort, die er damals dem Förster gegeben. Auch das Blut an seiner Stirn sei von dem Fall hergekommen. Der leichte Ritz war jetzt schon wieder ziemlich zugeheilt.

Das Stück Wild war mit einer Kugel geschossen worden, und das Gewehr, das der Kreiser führte und das die Gensd'armen ebenfalls mitgebracht, im linken Lauf mit einer ähnlich großen Kugel geladen. Schöffel behauptete aber, gerade gestern nur eine Kugel hinuntergeschoben zu haben, um vielleicht ein krankgeschossenes Stück damit völlig zu tödten – sonst führe er im Winter immer nur groben Schrot in der Flinte und zwar für Raubzeug und Krähen.

Die Kugel des Wilderers war durch das Stück Wild geschlagen und nicht mehr zu finden.

Zum nächsten Zeugen wurde der Kreiser Schneider aufgerufen, der allerdings bestätigte, daß Schöffel bittere Reden über den Ermordeten geführt und gedroht habe, es schon einmal wieder bei ihm wett zu machen – »wenn er ihn einmal allein träfe« – er glaube aber nicht, daß er das Schlimmste damit gemeint, sondern sich vielleicht nur eine Tracht Schläge darunter gedacht habe. Was das Messer anlangte, so hatte Schöffel allerdings ein ähnliches geführt wie Andere auch. Das Bedenkliche war nur, daß Schöffel, gefragt, wo er sein Messer gegenwärtig habe, erklären mußte, daß er es schon vor vierzehn Tagen verloren und sich noch kein anderes gekauft habe, weil ihm das Geld gefehlt. Seine Frau könne ihm das bezeugen.

Auch der Wirth Kerdelmann wurde als Zeuge vorgeladen. Aus seinem Wirthshause rührte der Streit zwischen dem Kreiser und Forstgehülfen eigentlich her. Gern hätte man auch von ihm erfahren, ob ihm Schöffel schon früher heimlich Wild verkauft habe, und sicherte ihm daher, im Fall er das eingestände, völlige Straflosigkeit für seine Person zu.

Kerdelmann erschien vollkommen ruhig. Er hatte Zeit genug gehabt, sich zu sammeln, und wußte auch jetzt, daß er gar nichts zu fürchten hatte, wenn er sich nur nicht selbst verrieth. Der Verdacht war von ihm abgelenkt und er brauchte sich nur ruhig zu verhalten.

Auf ein Zeugniß gegen den Kreiser ließ er sich jedoch nicht ein, weshalb eben seine Aussagen bei dem Actuar den Verdacht verstärkten, daß der Wirth irgend eine frühere Verbindung mit dem Angeklagten verschwiege, als fürchte er bei einem Geständniß sich selber zu compromittiren. Das ihm vorgelegte Messer kannte er natürlich nicht. Schöffel, erzählte er, sei nur selten in seinem Hause gewesen und wenn er dort gegessen, so habe er sich des Messers bedient, das ihm hingelegt worden, also auch keine Ursache gehabt, das eigene aus der Tasche zu ziehen. Obgleich sich Schöffel übrigens gegen ihn gerade nicht freundlich benommen, fügte der Wirth seinen Aussagen hinzu, so traue er ihm doch keinen Mord zu. Vielmehr meine er, daß irgend ein anderer Wilderer vom Nachbarrevier der Thäter gewesen sei.

Auf die Frage, ob er irgend einen Wilderer drüben anzugeben wisse oder nur wider einen dringenden Verdacht habe, gab Kerdelmann ausweichende Antworten. Es war nichts Bestimmtes aus ihm heraus zu bekommen und so wurde er entlassen.

Gleich vom Verhör weg ging er zum Förster hinüber und bezahlte dort das Altthier, das bei Meier's Leiche gefunden worden und das ihm der Förster in's Haus geschickt hatte. Da es die Zeit über aufgebrochen im Walde gelegen hatte, war das Wildpret natürlich vollkommen frisch und gut geblieben. Der Förster wollte aber mit dem Stück weiter nichts zu thun haben und war froh, daß es der Wirth behielt. – Und doch hätte Kerdelmann mit Freuden wer weiß wie viel gezahlt, wenn er gerade dieses Stück Wild nicht hätte zu kaufen brauchen. Aber – er fürchtete Verdacht zu erregen, wenn er sich weigerte. Wie er jedoch zusammenschauderte, als es ihm in den Hof gebracht wurde! Es war ihm, als ob er das Blut seines Opfers noch daran erkennen solle. Er hätte von dem Stück keinen Bissen essen können.

Die Untersuchung ging indessen ihren Gang. Verschiedene Leute, auf die man Verdacht hatte, wurden eingezogen, mußten aber wieder entlassen werden, da sie ihre Anwesenheit an anderen Orten zu der Zeit der That beweisen konnten. Nur Schöffel war das nicht im Stande. Er hatte sein Haus Morgens etwa um vier Uhr verlassen, um die am vorigen Tage vergessene Botschaft auszurichten, und daß er behauptete, einen Schuß nach der Richtung hin, wo der Mord geschehen, gehört zu haben, als er schon unterwegs gewesen, konnte ihn nicht von dem Verdacht reinigen.

Mehrere Tage waren vergangen und Kerdelmann hatte nicht das Herz gehabt, Margarethen wieder aufzusuchen. Der Mord lastete noch zu neu auf seiner Seele und keine Zeit wurde ihm gelassen, die furchtbare That zu vergessen. Im ganzen Ort sprach nämlich Niemand von etwas Anderem, als von dem getödteten Forstgehülfen, und wenn auch die Leute alle darüber einig schienen, daß wirklich Schöffel und niemand Anderes die That verübt, wurden doch die Einzelheiten des Verbrechens so oft bis in die kleinsten Details hinein erzählt, daß Kerdelmann jenen furchtbaren Morgen immer wieder aufs Neue durchleben mußte.

Nach dem Begräbniß erst, wobei der Mörder der Leiche folgte, schien es, als ob die Leute das Geschehene etwas vergessen wollten. Zwei Abende nachher gab der Wirth Margarethen das gewöhnliche Zeichen – einen über Tag in den Garten geworfenen Zweig eines Kiefernbusches – daß er sich zur gewöhnlichen Zeit einfinden würde, und heute war Margarethe zuerst am Platze. Sie schien ihn mit Ungeduld erwartet zu haben.

Als er den kleinen Garten betrat, stand sie seiner harrend am Geländer, entzog sich aber seiner Liebkosung, ergriff seine Hand und sagte leise: »Komm – hier unten könnte uns Jemand belauschen. Ich habe mit Dir zu sprechen.«

»Aber wohin, mein Herz?« flüsterte der Mann erstaunt.

»In mein Zimmer,« sagte das Mädchen, »sie sind Alle zu Bett und – ich fürchte mich hier im Dunkeln.«

»Fürchtest Dich?« flüsterte Kerdelmann, den eine eigene Unruhe beschlich, denn es war das erste Mal, daß sie ihm gestattete, ihr Zimmer zu betreten – »fürchtest Du Dich, wenn ich bei Dir bin? – Aber was hast Du? – Du bist aufgeregt und Deine Hand zittert.«

»Komm!« war das einzige Wort, was ihm das Mädchen darauf erwiderte und rasch zog sie ihn in das Haus und die kleine Treppe hinauf, die in ihr Stübchen führte.

Das Fenster des kleinen reinlichen Gemachs war dicht verhängt und Kerdelmann schlug das Herz fast hörbar in der Brust, als Margarethe, so wie er das Zimmer betreten hatte, auch den Riegel der Thür von innen vorschob. Seine Hand ließ sie dabei nicht los, sondern führte ihn zu dem Tisch, auf dem eine kleine Lampe brannte, schraubte diese etwas in die Höhe, daß sie ein helleres Licht verbreite, und sagte dann mit leiser, vor innerer Aufregung fast erstickter Stimme:

»Joseph – ich habe eine schwere Frage an Dich zu thun.«

»Was ist Dir, Margareth'?« bat dieser, dem es anfing unheimlich dabei zu werden. »So habe ich Dich ja noch nie gesehen. – Was hast Du nur um Gottes willen?«

»Nichts,« sagte das Mädchen und es war augenscheinlich, daß sie nach Fassung rang, ehe sie weiter sprach – »nichts – gar nichts – nur – nur eine Frage sollst Du mir beantworten, die mich die letzten Tage so gequält, die mir den Schlaf geraubt, ja mir das Leben vergällt hat.«

»Und die ist?« sagte Kerdelmann, jetzt vollkommen gefaßt, denn wie ein unbestimmter Verdacht hatte bis dahin die Gestalt vor seiner Seele gestanden, die er an jenem furchtbaren Morgen an Margarethens Fenster glaubte gesehen zu haben. Er wußte jetzt, daß er sich nicht geirrt hatte, und war auf Alles vorbereitet.

»Willst Du mir ehrlich beantworten, um was ich Dich frage?« flüsterte das Mädchen so leise, daß er die Worte kaum verstehen konnte.

»Gewiß, mein Herz! – warum denn nicht?«

»Gut – dann sieh mir in's Auge und sage mir – wo warst Du an jenem Morgen, an dem – der Forstgehülfe Meier um's Leben kam?«

Kerbelmann hatte gewußt, daß sie diese Frage an ihn thun würde, aber auf die Erwähnung der That selber hatte er nicht gerechnet und vor Schrecken verließ das Blut für einen Moment seine Wangen, wenn auch seine Züge vollkommen ruhig blieben. Im nächsten Augenblick hatte er seine ganze Besonnenheit wieder und sagte lächelnd:

»Wo sollte ich gewesen sein, Schatz? – in meinem Bette.«

Margarethe schwieg – es war, als ob ihr das Herz zu Eis erkalten wollte. Sie hatte das plötzliche Erbleichen des Mannes bemerkt und doch war die Gelassenheit seiner Antwort zu täuschend erheuchelt. Sie konnte sich nicht denken, daß ein Mensch mit einem Mord auf dem Gewissen ihr so ruhig in's Auge zu sehen vermöchte. Er hätte ja, mit dem Bewußtsein der That, bei der Aeußerung ihres Verdachts zerknirscht, vernichtet zu Boden brechen müssen.

»Aber wie kommst Du zu der Frage, Margareth'?« sprach der Wirth, als sie schwieg und ihm nun starr in das jetzt freundlich auf ihr haftende Auge sah.

»Wer war dann der Mann,« sagte das Mädchen nach einer Pause – »der an jenem Morgen noch vor Tag durch unsern Garten, unter meinem Fenster vorüberschlich?«

»Welcher Mann, mein Herz? – und was that er? – wohin wendete er sich?«

»Ich weiß es nicht,« stöhnte Margarethe, immer unsicherer in ihrer Ueberzeugung. Sie hätte doch ihre Seligkeit verpfänden wollen, daß sie eben ihn, ihren Joseph, an jenem Morgen scheu und flüchtig unter ihrem Fenster vorüberschleichen sah. Eine unnennbare, seltsame Angst hatte sie damals geweckt. Es war ihr, als sie sich ermunterte, gewesen, als ob ihr irgend ein furchtbares Unglück drohe, als ob sie an's Fenster springen und um Hülfe schreien müsse. In dieser Bedrängniß stand sie auf, kleidete sich an und wollte Licht machen. Aber sie schalt sich selber wegen ihrer kindischen Furcht und legte sich wieder zur Ruhe, bis es sie zum zweiten Mal aus dem Bett und an's Fenster trieb, nur um zu sehen, ob der Morgen noch nicht dämmere. Da gewahrte sie unten im Garten die Gestalt, in der sie den Geliebten zu erkennen glaubte. Freilich war es zu dunkel, um das mit Bestimmtheit zu behaupten. Daß er aber denselben Weg nahm, den Kerdelmann so gut kannte, bestärkte sie in ihrem Glauben. Auch sah er nach ihrem Fenster empor. Wenn nun aber wirklich – was konnte er in der Nacht draußen getrieben haben?

Den ganzen Tag wartete Gretchen, daß er ihr das bestimmte Zeichen geben würde. Sie sehnte sich danach, ihn zu sprechen, sich von ihrer bangen Erinnerung zu befreien. Aber er kam nicht und als die furchtbare Kunde zu ihr drang, daß Meier, den Joseph als seinen Nebenbuhler kannte, im Wald ermordet gefunden sei, legte sich ein unbesiegbares Bangen, eine drückende Ahnung des Entsetzlichen auf ihre Seele.

Daß sich der Mann, welchem sie bisher mit ganzer Seele zugethan war, mit keinem Blick vor ihr sehen ließ, daß er ihr vielmehr auszuweichen schien, bestärkte sie nur noch mehr in ihrem quälenden Verdacht. Ja ihr Argwohn nahm durch die Länge der Versäumniß eine so feste Gestalt an, daß sie, als er ihr endlich auf die bekannte Weise meldete, daß er den Abend kommen würde, nicht wußte, ob sie sich darüber freuen, oder ob sie sich fürchten solle, ihm wieder zu begegnen.

Und war er nicht erbleicht, als sie die Frage an ihn richtete, die ihr das Herz fast abgedrückt in der ewig langen Zeit? Hatte sie nicht gesehen, wie das Blut seine Wangen verließ? Und doch stand er jetzt wieder so ruhig, so unbefangen vor ihr, daß er ja gar nicht schuldig sein konnte. Lieber Gott, sie wußte nicht, welche Gewalt der menschliche Geist über den Körper ausüben und ihn sich unterordnen, ihn zum Gehorchen zwingen kann.

»Joseph,« sagte sie endlich, »eine unsagbare Angst hat mir seit jenem Morgen, ich weiß selber nicht weshalb, das Herz fast abgedrückt. Ich habe meine Arbeit wie in einem schweren Traum gethan, unbewußt, ohne Lust, ohne Trieb. Ich bin im Haus herumgegangen, als ob ich selber ein schweres Verbrechen verübt hätte – als ob ich es noch verübe,« setzte sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu – »und nicht wieder froh werden könne, bis ich Dich gesprochen hätte. Wo bist Du so lange gewesen, daß Du nicht einen Abend eine Viertelstunde Zeit gewinnen konntest, die Last von meiner Seele zu nehmen?«

»Ich konnte nicht unbemerkt vom Haus abkommen, liebes Kind,« sagte Kerdelmann freundlich. »Alles schien gerade in diesen Tagen zusammen zu kommen, mich zu verhindern.«

»Und Du bist wirklich an jenem Morgen nicht hier im Garten gewesen? – nicht, von da drüben her – aus dem Wald gekommen?«

»Aber, Margarethe,« sprach der Mann, »was sollte ich so früh in Eurem Garten thun? Hätt' ich da hoffen dürfen, Dich zu finden? Und Du weißt doch, daß ich Euren Hof nur dann besuche, wenn das der Fall ist.«

»Aber im Wald?« drängte das Mädchen.

»Um Gottes willen, Margarethe, was für tolle Ideen hast Du da gefaßt!« versetzte der Wirth in einem Tone des Vorwurfs. – »Wie kommst Du darauf, mich mit jener furchtbaren That zusammen zu bringen? Nur ein Wort davon gegen irgend einen andern Menschen und Du könntest mich den größten Unannehmlichkeiten aussetzen. Denke nur, welchen Nachtheil es allein für mich haben müßte, wenn mein Name damit zusammen genannt würde. Daß ich nicht wildern kann, weil ich ein ärmlicher Schütze bin, wissen die Leute wohl, und ich habe noch nicht einmal einen Hasen, viel weniger ein Stück Wild erlegt; aber die Menschen sind nur zu gern bereit, gleich das Schlimmste von einem andern zu denken, und wie erwünscht den Jägern ein solcher Verdacht sein würde, weißt Du besser, als ich es Dir sagen kann.«

»Also Du warst es nicht?« wiederholte das Mädchen, ohne bis jetzt den forschenden Blick von dem vor ihr Stehenden abzulenken. »Gieb mir keine ausweichende Antwort, Joseph,« fügte sie hinzu, als sie sah, daß er eine abwehrende, wie ungeduldige Bewegung machte – »antworte mir einfach mit Ja oder Nein und bedenke, daß ich über eine Woche lang eine Qual ausgestanden habe, wie sie der wirkliche Mörder des Unglücklichen kaum gefühlt haben kann. – Du warst es nicht?«

»Nein, mein Herz,« sagte der Wirth, also gedrängt, und wieder strafte ihn das verrätherische Blut für einen Augenblick Lügen – »ich war an dem Morgen nicht in Eurem Garten oder irgend wo anders als in meinem Bett und bin zur gewöhnlichen Zeit aufgestanden, wie Dir meine Leute bezeugen könnten.«

»Es ist gut,« hauchte Margarethe, »ich – muß Dir glauben.«

»Nun laß aber auch den unglückseligen Gedanken fahren,« bat der junge Mann, froh, den bösen Fragen endlich enthoben zu sein, »und nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß Du mich heute in Dein freundliches Zimmer eingeführt. Wie hübsch es hier oben ist; da plaudert es sich viel besser, als da drunten im kalten Garten.«

»Wir sind schon zu lange hier gewesen,« sagte das Mädchen mit mühsam erzwungener Freundlichkeit, »drum gehe jetzt. Mich schmerzt mein Kopf so furchtbar, daß ich kaum denken kann – ich fürchte, ich werde krank.«

»Das darfst Du nicht, mein Herz,« mahnte der junge Mann und zog sie leise an sich; »Du mußt Dich tapfer halten, und jetzt haben wir auch die Hoffnung, daß Dein Vater doch vielleicht seine Einwilligung zu unserer Verbindung giebt. Mir thut der Tod des armen jungen Burschen gewiß von Herzen leid und – ich hoffe, daß der Thäter seiner Strafe nicht entrinnen wird – aber für uns ist dadurch ein Hinderniß weggefallen, und wenn ich ein ernstes Wort mit Deinem Vater spräche – am Ende sagte er doch Ja!«

Margarethe duldete, daß er seinen Arm um sie legte, aber sie war leichenbleich dabei geworden und vermochte nicht, ihm gleich zu antworten. »Geh jetzt, Joseph,« flüsterte sie endlich – »geh – mich befällt ein Schwindel und ich muß mich niederlegen.«

»Und darf ich morgen wiederkommen?

»Nein – wir bekommen Besuch. – Meiner Mutter Schwester wird auf einige Zeit zu uns ziehen und mit mir in meinem Zimmer wohnen.«

»Und soll ich mit Deinem Vater sprechen, Gretchen?«

»Laß mir Zeit zur Ueberlegung, Joseph,« bat das Mädchen und drängte ihn sanft der Thür zu.

»Dann gute Nacht für heute, mein Kind,« flüsterte der junge Mann, dem es selber merkwürdig unheimlich in dem Zimmer wurde – »gute Nacht; aber laß mich nicht zu lange warten, bis ich Dich wiedersehen darf.«

Nur ihre Stirn konnte er küssen, weil sie den Kopf gegen ihn senkte, dann glitt er leise aus dem Zimmer und die dicht vor der Thür niederführende Treppe hinab. Unten im Flur brauchte er einige Zeit, bis er den Ausweg fand; aber Alles schlief und er entfernte sich ungestört.

Jetzt war er im Freien und schlich, wie an jenem Morgen, über den kleinen offenen Raum der Hofthür zu. Unwillkürlich warf er den Blick nach Margarethens Fenster hinauf – das Licht dort war ausgelöscht, aber die helle Gestalt des Mädchens stand da oben und blickte auf ihn herab – wie an jenem Morgen. Es gab ihm einen Stich dabei durchs Herz und fast wollte er sich wie damals an die Mauer drücken, um ihrem Auge auszuweichen; doch faßte er sich, biß die Zähne aufeinander und ging mit langsamen, scheuen Schritten dahin. Margarethe aber am Fenster oben brach in die Kniee, barg das Antlitz in den Händen und weinte – weinte, als ob sich ihre Seele in Thränen auflösen solle.


VIII.

Die Zeit verstrich. Schöffel war in das Stadtgefängniß abgeführt worden und die gegen ihn eingeleitete Untersuchung nahm den gewöhnlichen, tödtlich langsamen Gang. Was nur irgend als gegen ihn zeugend aufgefunden werden konnte, wurde mit ängstlicher Sorgfalt gesammelt, und sein früheres wildes und oft gesetzloses Leben bot der Anschuldigung leider nur zu vielen Stoff.

Vormals schon, als Schöffel noch vom Wilddiebstahl lebte, wie er eingestanden, war ein Jäger in jener Gegend erschossen und der Thäter nicht ausgefunden worden. Auch dieses Mordes suchte man ihn jetzt zu überführen und aus allen Theilen des Landes wurden deshalb Zeugen vorgefordert. Vergebens ermahnte man ihn aber wieder und wieder, daß er durch ein reumüthiges Bekenntniß sein Gewissen entlasten solle, vergebens suchte man ihn durch Kreuzverhöre zu verwirren. Er blieb bei seiner Aussage, daß er unschuldig an diesem wie an dem früheren Morde sei, und lange Monate schmachtete er fort in enger, qualvoller Hast, während die Seinen daheim mit dem Mangel zu kämpfen hatten.

In Hollendeik war die ganze Sache unter der Zeit schon fast vergessen und kam wirklich das Gespräch einmal darauf, so hörte man höchstens die Frage, »ob der Schöffel schon gestanden hätte«. Ein anderer Forstgehülfe war an Meier's Stelle getreten und das Leben dort ging seinen gewöhnlichen Gang.

Der Wirth Kerdelmann hatte allerdings ebenfalls zum Verhör in die Stadt nach Grafenhoff müssen, aber der Verdacht, der ihn traf, war kein anderer, als daß er gediebtes Wild von Schöffel gekauft hätte. Das leugnete er und fügte hinzu, obgleich er Ursache habe, gegen Schöffel bös zu denken, weil dieser ihn einmal habe in's Unglück bringen wollen, so hege er doch keinen Groll mehr gegen ihn. Ja, er hoffe, der Kreiser werde sich von der schweren Anklage zu rechtfertigen wissen und auf seinen Posten und zu seiner Familie zurückkehren.

Im Rothen Hirsch fehlte es aber jetzt sehr häufig an Wildpret, denn der Wirth verbrauchte thatsächlich nur, was er von den benachbarten Förstereien kaufte. Er selber sprach natürlich nie über die Veränderung und wich den deshalb an ihn gestellten Fragen aus; aber die Jäger vom hollendeik'schen Revier zweifelten keinen Augenblick, daß Schöffel's Gefangennahme die einzige Ursache derselben sei, und freuten sich, diese Geißel des Wildstandes los zu sein.

Etwas Neues gab übrigens den Leuten zu Hollendeik bald andern, nicht gerade unerwünschten Stoff zur Unterhaltung, und das war die verunglückte Werbung des Wirthes vom Rothen Hirsch um die Tochter des Kronenwirths. Kerdelmann war in der That vor einiger Zeit zum Kronenwirth gegangen und hatte den gebeten, seinen Groll gegen ihn fahren zu lassen, da er gern in ein freundnachbarliches Verhältniß mit ihm zu treten wünsche. Dagegen hatte sich der Kronenwirth für's Erste etwas gesträubt, denn er wie alle Anderen im Dorf theilten den Glauben, daß Kerdelmann mit Schöffel unter einer Decke gesteckt und der unglückliche Meier in Folge dessen seinen Tod gefunden habe. Beweisen konnte man dem Mann aber doch nichts; nachsagen ließ sich ihm sonst kein Unrecht, er betrug sich still und höflich gegen Jeden, und da er den ersten Schritt zu einem guten Vernehmen gethan, so mochte der Kronenwirth zuletzt nicht »nein« sagen.

Vergebens suchte aber Kerdelmann, so vorher wie nachher, eine Zusammenkunft mit Margarethen, umsonst gab er ihr das verabredete Zeichen viele Abende hintereinander; sie kam nicht, und so oft er nach der Aussöhnung mit dem Vater dessen Gastzimmer betrat, wich sie ihm aus, so rasch sie irgend konnte.

Kerdelmann ward dadurch mit peinlicher Angst erfüllt: er ahnte den wahren Grund. Margarethe hatte den Verdacht gegen ihn nicht fahren lassen und ihre Liebe war dem Grausen vor seiner That gewichen. Aber was hätte es ihr geholfen, wenn sie selber als Anklägerin gegen ihn aufgetreten wäre? Der einzige Beweis, der wirklich gegen ihn zeugen konnte – das, was er an jenem Morgen in seinem Keller vergraben, um es nur augenblicklich aus dem Wege zu räumen – war vernichtet und der Mund des Todten selber stumm. So wie er sich etwas sicher wußte, hatte Kerdelmann die blutigen Kleider ausgegraben und in seinem Ofen verbrannt. Auch den Kolben der Büchse verbrannte er, den Lauf endlich hatte er mit Schloß und Beschlägen in ein tiefes Loch des Flusses geworfen; dort mochte es rosten. Trotzdem wurde ihm der Aufenthalt an dem Orte seines Verbrechens mit jedem Tage drückender; er wußte nur noch nicht recht, wie er ihn, ohne Aufsehen zu erregen, verlassen könne.

Daß ihn Margarethe nicht mehr liebe, davon mußte er sich nach ihrem Betragen für überzeugt halten. Hatte er doch keine Ahnung davon, mit welcher Treue das arme Herz noch immer an ihm hing und wie es sich in Zweifeln, Kummer und Schrecknissen abmarterte, unfähig, den furchtbaren Argwohn zu bewältigen, der ihr den Geliebten für immer zu entreißen drohte. Aber um sein Verhältniß mit dem Mädchen zu einer Entscheidung zu treiben, ging er, ohne vorher mit Margarethen Rücksprache genommen zu haben, eines Morgens zum Kronenwirth und warb um sie. – Er wußte es vorher, daß er sie ihm abschlagen würde.

Acht Tage später wußte ganz Hollendeik – obgleich der Kronenwirth mit keinem Menschen darüber gesprochen – von dem Korbe, dem Kerdelmann von der »Kronen-Margareth« davongetragen. Darauf wollte er nun, so hieß es weiter, seinen Hirsch verkaufen und nach Amerika ziehen. Noch acht Tage später stand sein Wirthshaus zum Verkauf angezeigt, und bald hatte sich auch ein Liebhaber dazu gefunden.

Natürlich bildete das in Hollendeik für eine ganze Weile das Tagesgespräch. Kerdelmann aber besorgte ruhig und ohne irgend etwas zu übereilen, seine Geschäfte, verkaufte sein Haus und Inventarium um einen billigen Preis gegen baar Geld und behielt nur ein kleines, dazu gehörendes Stück Land von etwa anderthalb Acker mit einem kleinen Häuschen darauf zurück, für das er, wie er meinte, eine andere Verwendung habe. Welche? sagte er Niemandem.

Der Tag der Abreise rückte heran und gern hätte er Margarethen Lebewohl gesagt, wenn er sich auch vor einer Zusammenkunft mit ihr fürchtete. Er durfte sich aber nicht fortschleichen; das hätte ihren Verdacht nur noch mehr bestärkt. Das Zeichen warf er ihr deshalb auch in den Garten und harrte am Abend wohl eine Stunde lang, daß sie kommen solle – aber sie kam nicht. Die Thür blieb verschlossen, auch in ihrem Zimmer war kein Licht. Nur als er, eigentlich froh darüber, nach längerem nutzlosen Harren den Platz wieder verließ, sah er die Gestalt des Mädchens wie damals still und regungslos am Fenster stehen. Er floh, als er den Hofraum verlassen hatte, in sein Haus hinüber, als ob er die Häscher auf seinen Fersen wüßte.

Am nächsten Morgen war er aus Hollendeik verschwunden. Eine Stunde vor Tag schon hielt der leichte Wagen, der ihn nach der Stadt bringen sollte, vor dem Rothen Hirsch. Sein Gepäck hatte er schon vorausgeschickt. Von der Stadt weiter ging er dann mit der Eisenbahn nach Bremen oder Hamburg oder England. Niemand wußte genauer wohin – Niemand kümmerte sich aber auch viel darum, denn Kerdelmann hatte sich in Hollendeik, obgleich er gegen Alle freundlich war, doch auch nicht einen einzigen wirklichen Freund erworben. Sein zurückhaltendes, verschlossenes Wesen stieß Jeden ab, der sich ihm herzlich hätte nähern wollen, und eigentlich gönnte man es ihm, daß er von der »Kronen-Margareth« den Korb bekommen hatte und ihm damit der fernere Aufenthalt im Orte verleidet worden war.

Der Wagen aber, der den bisherigen Hirschenwirth in die Stadt führen sollte, hatte nicht den nächsten Weg dorthin eingeschlagen. Er bog draußen im Felde rechts ab und zwar nach Herslingen hinaus. Durch Herslingen fuhr er durch und erst eine Viertelstunde davon, dort wo das kleine vereinzelte Häuschen stand, ließ Kerdelmann halten und stieg aus. – Es war das Häuschen des früheren Kreisers Schöffel.

Es mochte acht Uhr Morgens sein und die arme Frau saß eben mit ihren beiden Kindern bei der dürftigen Morgensuppe. Als der Wagen vor dem Hause hielt, erschrak sie, daß ihr der Löffel aus der Hand fiel. Erwartete sie doch nichts Anderes, als wieder einen Herrn vom Gericht, mit bitteren Worten und neuen Vorladungen oder gar – die Glieder flogen ihr ordentlich am Leib – mit der Anzeige von der Verurtheilung ihres Mannes.

Den Wirth kannte sie nur dem Namen nach; sie hatte ihn nie vorher gesehen. Kerdelmann nannte sich ihr auch nicht. An ihren bleichen, angsterfüllten Zügen mochte er aber wohl merken, was sie fürchtete, denn er sagte rasch:

»Habt keine Sorge, liebe Frau; ich bringe Euch keine schlechte Nachricht und möchte Euch vielmehr eine Freundlichkeit erweisen – Euch wenigstens einen Vorschlag machen, den Ihr vielleicht annehmbar findet.«

»Ach Du mein lieber Gott,« sagte die Frau mit einem aus tiefster Brust herausgeholten Seufzer – »es ist eine lange, lange Zeit her, bester Herr, daß etwas Gutes über diese Schwelle gekommen wäre. Noth und Herzeleid aber sind wir gewohnt – das sind tägliche Gäste.«

»Ich weiß Alles, liebe Frau,« sagte Kerdelmann, dem daran lag, jedes Gespräch über das Vorgefallene abzuschneiden – »deshalb komme ich eben her, Euch eine Hülfe anzubieten.«

»Uns? eine Hülfe?« stöhnte die Frau, langsam den Kopf schüttelnd – »was kann uns helfen? Der Vater sitzt im Gefängniß, der arme Mann – unschuldig, so wahr da oben ein Gott im Himmel lebt, und ich kann nur mit den armen Würmern da in's Wasser springen – sie zu ernähren bin ich doch nicht im Stande.«

»Habt Ihr hier Feld bei Eurem Haus?« fragte der Wirth nach einer kleinen, aber für ihn entsetzlich beklemmenden Pause.

»Feld? – nein,« erwiderte die Frau, sich mit der Schürze die Thränen abtrocknend – »und wenn wir's auch hätten, das Grundstück gehört nicht uns, und übermorgen müssen wir ausziehen – Gott allein weiß wohin.«

»Das hatt' ich eben gehört,« sagte Kerdelmann, »und deshalb komme ich her. Ich selber habe bis jetzt in Hollendeik gewohnt, verreise aber auf längere Zeit und besitze dort unten noch anderthalb Acker Land und ein kleines, aber für Euch doch wohl genügendes Häuschen. Das möcht' ich Euch gern für einen mäßigen Pacht überlassen.«

»Du lieber Gott,« sagte die Frau, »ich habe keinen Kreuzer mehr im Haus, uns für diesen gesegneten Tag Brod zu kaufen; wie sollte ich im Stande sein, irgend einen Pacht zu zahlen, und wenn er noch so billig wäre.«

»Das läßt sich doch wohl ordnen,« bemerkte der Fremde. »Wahrscheinlich bleibe ich längere Zeit weg und mir liegt mehr daran, das Grundstück im Stand zu halten, als andern Nutzen daraus zu ziehen. Schafft nur getrost Eure Habe hinunter. Für dieses Jahr sind die Steuern darauf bezahlt und erlasse ich Euch den Pacht ganz. Später verlange ich – nun das wird sich finden, wenn ich von meiner Reise zurückkomme. Seid Ihr's zufrieden?«

Die Frau horchte hoch auf, sie konnte sich nicht denken, daß ihr so Gutes geboten würde. »Und was wäre sonst noch zu thun?« fragte sie schüchtern.

»Nichts, als was ich Euch eben gesagt habe,« erwiderte Kerdelmann. »Nichts, als drüben einzuziehen, das Grundstück in Besitz zu nehmen – hier sind die nöthigen Papiere, die man Euch etwa abfordern kann. Mit der Pachtzahlung wartet Ihr, bis ich selber danach komme, was vor drei Jahren keinenfalls geschieht.«

»Aber wie kommen Sie dazu, wir und den armen Kindern da so viel Gutes zu erweisen?« stotterte die Frau, die sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholen konnte. »Wie heißen Sie und wer sind Sie?«

»Das findet sich Alles in den Papieren,« beschwichtigte der Mann, indem er sich der Thür zuwendete. Es wurde ihm so schwül in dem kleinen, niedrigen Zimmer, daß er glaubte, die Decke erdrücke ihn noch.

»Aber ich begreife nicht,« versetzte die Frau und begann die Documente zu entfalten. »Es ist mir, als träumte ich nur.«

»Lebt wohl!« sagte der Fremde und verließ rasch das Haus. Vor der Thür hielt sein Wagen und er sprang hinein.

Die Frau hatte indessen mit zitternden Händen in den Papieren geblättert, es schwamm ihr Alles vor den Augen und sie konnte die große deutliche Schrift kaum lesen. Da fiel ihr Blick auf den Namen.

»Jesus, Maria und Joseph!« schrie sie auf, »Ihr seid es, der Hirschenwirth!«

Der Mann hatte sich in die Ecke des Wagens geworfen, und der Kutscher hieb in die Pferde hinein, die jach mit ihm den Hang hinunter trabten.


IX.

Weit drüben über der See, im amerikanischen Lande, in der reichen Niederlassung des Mississippi, die der »American Bottom« heißt, lag eine freundliche, von einem Deutschen bewirthschaftete Farm.

Sonst ging es hier gar geschäftig zu, denn der Eigentümer besaß ein treffliches Grundstück mit vielen Kühen und Pferden, und als er vor sieben Jahren einzog und ein Jahr später die reizende Tochter eines eingeborenen Nachbarn heimführte, waren Feste auf Feste in dem geräumigen, wohnlich eingerichteten Backsteinhaus gefeiert worden.

Heute hatten sich hier wieder viele Leute versammelt, aber, wie es schien, zu keinem Fest. Die Männer standen schweigend in kleinen Gruppen vor der Thür, in der manchmal Frauen mit verweinten Augen erschienen, und eine halbe Stunde später trug man einen Sarg heraus, dem sich die Versammelten anschlossen und ihn auf den kleinen, nicht sehr fernen Gottesacker begleiteten.

Dicht hinter dem Sarg ging ein Mann, ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen an der Hand; aber in seinen todtenbleichen, gramgefurchten Zügen lag mehr als Schmerz. Still und schweigend, die Lippen fest aneinander geschlossen, stierte er vor sich nieder auf den Boden, umschloß er mit seiner Rechten das Händchen des Kindes, das neben ihm herging und neugierig bald zu dem Vater, bald zu dem Sarge hinauf, bald zurück nach den hinterdrein Kommenden schaute.

Der Zug hatte den Gottesacker erreicht und nachdem der Sarg am Rande des Grabes niedergesetzt war, hielt der Geistliche eine lange Rede. Die Männer umringten ihn mit abgenommenen Hüten und dicht vorüber rauschte zu deren Füßen der mächtige Strom seine dunkeln gelben Wellen dem Meere zu, flüsterte neben ihnen das Laub an den Zweigen und zwitscherten die munteren Vögel in den Aesten. Das Alles glitt lautlos an dem Ohr des Einen vorüber. Sein Blick haftete wohl an dem schwarzen Sarg, der die Leiche seines lieben Weibes aufgenommen hatte, aber sein Geist schweifte weit, weitab über das Meer hinüber in ein fernes Land.

– Nacht war es dort – nur der Mond stand am Himmel und warf seinen bleichen Strahl durch die blätterleeren Zweige des Herbstwaldes. – Todtenstille herrschte umher, nur dort drüben auf dem offenen Schlag äste ein Rudel Wild und kam näher und näher heran zu dem Platze, wo der versteckte Schütze, das gespannte Gewehr fest in der Faust, des Wildes harrend, lag. – Jetzt dröhnte der Schuß durch den stillen Wald, und hei! wie das Rudel dort hinaufprasselte, durch trockenes Laub und Reisig hin und nur das eine Stück, zum Tod getroffen von der Kugel, zurückblieb, taumelte und in den eigenen Fährten zusammenbrach. – Und jetzt? – Niemand sah den Wilderer, der lauernd seine Zeit im Dickicht abwartete, dann leise vorschlich und mit grimmer Freude das schwere Stück mit einem Ruck sich auf den Nacken lud. Jetzt hat er die schützende Dickung damit erreicht – noch wenige Schritte, und die düstern Schatten der Kiefernbüsche decken ihren Schirm um ihn, da –

»Halt!« donnerte die Stimme des Priesters in sein Ohr, und mit dem Worte »Jesus!« sank der Mann zerbrochen, zitternd in die Kniee und barg das bleiche Antlitz in den krampfhaft sich darüber krallenden Fingern.

»Halt ein! halt ein auf dem Weg zur Sünde!« fuhr der begeisterte Redner in seiner Mahnung fort, – »halt, da es noch Zeit ist, da die Posaune des letzten Gerichts noch nicht in Dein Ohr dröhnt! Thut Buße, Ihr Alle, daß der Tod nicht unerwartet an Eure Thür klopfe und die Pforten des Himmels Euch verschlossen bleiben für ewige – ewige Zeiten!«

Weiter schmetterte die Rede – aber der Mann am Boden hörte und verstand nichts mehr. Vor seinem Ohr klang und dröhnte es und trieb ihm das Blut in wilden Schlägen durch die heißen, pochenden Adern, bis einer der Nachbarn seine Schulter berührte und ihn langsam und vorsichtig vom Boden aufhob.

Die Grabrede war vorüber – der Sarg in die Gruft gesenkt und die Männer sprachen ein leises Gebet der Geschiedenen nach. Jetzt rollte die schwere Erde nieder – Schaufel nach Schaufel folgte und während die Todtengräber ihr trauriges Amt vollendeten, wandte sich der Zug langsam nach dem Hause zurück.

Zuerst bereiteten freilich noch die Frauen ein einfaches Mahl für die Gäste, an dem der Hausherr aber keinen Antheil nahm. Dann holten die Trauergäste ihre Pferde und ritten davon – die Männer und die Frauen – Einer nach dem Andern, und immer stiller, öder wurde es im Hause. Nur eine alte Wirthschafterin blieb zurück, die wieder etwas Ordnung stiftete und heimlich in der Küche von dem übriggebliebenen Wein trank, und unten im Zimmer saß der Mann, hatte das kleine Mädchen auf dem Knie und starrte still und schweigend vor sich nieder.

So saß er viele Stunden – das Kind war müde geworden, es entschlief in seinem Arm – er wußte es nicht. Eintönig pickte die Uhr an der Wand ihre monotonen Schläge – er hörte sie nicht. Die Alte kam herein – einmal, zweimal, dreimal, und immer saß der Wittwer noch, wie er vorher gesessen, das Kind im Arme. Sie wagte nicht, ihn zu stören.

Drüben, über dem niedern langen Waldstreifen, der das andere Ufer des Mississippi begrenzte, sank die Sonne. Es wurde Nacht draußen; der Whip-poor-will schlug im Busch sein monotones Lied und lange Züge von Wildenten strichen schwirrend über die düstere Wasserfläche dahin. Es schlug Neun und Zehn auf der alten Uhr und noch immer hielt der Unglückliche das schlafende Kind in den Armen und blickte stier in die ihn umlagernde Dunkelheit, bis die alte Haushälterin endlich so müde wurde, daß sie selber die Augen nicht mehr offen halten konnte.

Da trat sie leise hinein in das Zimmer, sie hatte die Schuhe ausgezogen, um kein Geräusch zu machen, denn sie glaubte, der Herr schliefe ebenfalls, und nahm das müde Kind aus seinen Armen. Er schaute sie dabei an, aber rührte sich nicht, bis sie sich eben so geräuschlos mit der Kleinen entfernen wollte, sie zu Bett bringen.

»Wie viel Uhr ist's, Dorothea?«

»Herr, Du meine Güte, wie Sie mich erschreckt haben!« rief die Alte zusammenfahrend und setzte dann ruhiger hinzu: »Zehn Uhr ist's vorbei, Master – es geht stark auf Elf. Die Leute sind schon seit ein paar Stunden im Bett. Das arme Kind hat hier nur zu lange in seinem dünnen Kleidchen gelegen und beide Eckfenster offen dabei. Das Köpfchen brennt ihm wie eine glühende Kohle – wenn's ihm nur um Gotteswillen nichts geschadet hat.«

»Bringt das Mädchen zu Bett, Dorothea,« erwiderte der Mann und winkte ihr mit der Hand, daß sie hinausgehen solle. Er selber stand auf, schloß die Fenster und sank dann wieder in seinen Stuhl zurück.

Der nächste Morgen fand ihn mit Tagesanbruch auf und im Wald draußen; als er aber zurückkehrte, kam ihm Dorothea mit ängstlichem Gesicht entgegen und meldete ihm, daß die Kleine erkrankt sei. Sie liege im Fieber.

In derselben Stunde noch sprengte einer der Knechte mit verhängtem Zügel der nächsten Stadt zu, um einen Arzt herbeizuholen. Der Arzt traf ein, aber des Kindes Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, und acht Wochen später kamen die Nachbarn wieder zusammen, wie damals, nur daß sie diesmal einem Kindersarg zum Kirchhof folgten. Der Vater selbst fehlte im Zug. Er lag krank zu Bett. Als er sich nach Wochen daraus erhob, war er nicht wieder zu erkennen, so elend und ineinandergebrochen sah er aus.

Die Nachbarn hatten anfangs gerechtes Mitleiden mit dem Mann, der in Einem Jahr seine Kinder und seine Frau verloren. Sie suchten ihn aufzuheitern, aber er wich ihnen aus, und an dem zähen Widerstand, den er ihren freundlichen Bemühungen leistete, scheiterte zuletzt ihr Langmuth. Sie ließen ihn seinen eigenen Weg gehen, da er es denn einmal nicht anders haben wollte. Hätten sie gewußt, wie einsam er sich fühlte und wie es in seinem Herzen arbeitete und nagte! – aber keiner Seele hatte sich der Unglückselige je vertraut, selbst nicht seiner Frau, die mit treuer Liebe an ihm gehangen. Allein war er seine dunkle Bahn durch's Leben gegangen, allein hatte er bisher ertragen, was endlich unerträglich wurde: die nie rastenden Folterqualen eines blutbefleckten Gewissens. Es war eine Riesenlast. Am Grabe der Frau hatte sie ihn zum ersten Mal zu Boden gedrückt und nachdem er seitdem auch noch sein Kind – das letzte – verloren, war die Spannkraft seines Wesens unwiederbringlich dahin und der Schuldbeladene müde, todmüde geworden.

Sein Leben war gleichsam nur noch ein mechanisches, ein Leben aus Gewohnheit. – So kam der Winter heran, aber mit ihm keine Ruhe für den Gequälten. Ja, je kürzer und trüber die Tage wurden, desto ängstlicher wurde er noch, desto schweigsamer und starrer saß er zu Haus; den Schlaf schien er zu fliehen, der Nahrung kaum noch zu bedürfen. – Die alte Haushälterin begriff nicht, wie nur sein Körper solchen Mißhandlungen auf die Länge der Zeit widerstehen könne. Hätte sie geahnt, was seinen Geist zermartete, sie würde es noch viel weniger begriffen haben.

Als aber der Frühling wieder in's Land kam, konnte er die Qual nicht länger aushalten, die an seinem Herzen fraß. Dennoch schien plötzlich eine segensreiche Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Der Mann wirthschaftete wieder wie vorher auf seinem Gut herum, erkundigte sich nach dem und jenem, um das er sich schon seit langer Zeit nicht mehr bekümmert hatte, und unterhielt sich sogar mit der alten Dorothea.

»Gott sei ewig gedankt, mein lieber Herr,« rief diese mit gefalteten Händen, indem sie vor ihm stehen blieb und ihn mit ihren freundlichen, klaren Augen betrachtete, »daß Sie sich endlich einmal zusammengerafft haben und wieder Sie selbst geworden sind. Sie hat lange gedauert, diese verzweiflungsvolle Trauerzeit. Jetzt aber wird hoffentlich Alles wieder gut werden.«

»Ja, Dorothea,« sagte der Mann mit leiser, tonloser Stimme – »das hoffe ich auch – es muß jedenfalls anders werden.«

»Es muß anders werden!« wiederholte er, als er bald darauf allein, wie er pflegte, im Walde wandelte. »Leben? – was liegt mir am Leben! Ich will nicht länger leben, aber ich darf noch nicht sterben. Erst muß ich sühnen, was ich gethan – erst muß ich büßen. Dann erst kann der gerechte Gott sein Erbarmen mit mir haben, dann erst werden die Stimmen, die furchtbaren, in meinem Busen wider mich schreienden Stimmen verstummen. Ich will sterben, aber erst muß ich mein Gewissen zum Schweigen gebracht haben, daß ich nicht mit dem Ankläger auch noch vor die Schranken des Ewigen trete.«

Zum ersten Mal seit vielen, langen Monden bestieg er am nächsten Morgen wieder ein Pferd und ritt in die Stadt, um sein Gut zum Verkauf anzubieten. Acht Tage später war auch schon der Handel darüber abgeschlossen und die Farm gehörte einem andern Herrn. Nachdem der bisherige Eigenthümer das Loos der alten Dorothea auch nach dieser Veräußerung sichergestellt hatte, ging er an Bord eines der zahlreichen Dampfboote, von denen der Mississippi durchfurcht wird.

Das Schiff schenkte, vom Ufer sich drehend, in die Strömung des mächtigen Flusses hinein. Der Farmer aber stand vorn am Bug des Fahrzeugs, das Gesicht bleich, den Mund geschlossen, das Auge stier und mit trotziger Entschlossenheit an der Ferne haftend. Leise, wie eine Beschwörungsformel für das ängstlich pochende Herz, murmelten die Lippen dazu:

»Nach Haus! – nach Haus!«


X.

Nach Haus! Giebt es ein süßeres, lieberes Wort für den armen müden Wanderer, der sich Jahre lang draußen herumgetrieben in der fremden kalten Welt und nun der Heimath Bild auf einmal wieder liebend, lockend sich entgegenwinken sieht? – Nach Haus! Durch alle Fibern und Nerven bebt es ihm und füllt sein Herz mit seligem, jauchzendem Entzücken – nach Haus!

Vor ihm liegen wieder, von dem gedächtnißtreuen Geist mit Zauberschnelle heraufbeschworen, die fröhlichen Bilder seiner Jugendzeit – liegt das stille Vaterhaus, der kleine Garten, die alte schattige Linde vor der Thür; der Brunnen mit dem moosbedeckten Eimer, der im Sommer den kühlen Labetrunk so oft herausgeholt; die kleine Kirche mit dem spitzen Thurm und mit dem stillen Friedhof dicht daran; das weite Land mit all' den lieben, so oft besuchten Hügeln und Thälern, und treue Freunde breiten sehnend dabei die Arme aus, den Heimgekehrten jubelnd zu umfangen.

Aber füllten solche Bilder die Brust des Mannes, der dort, zusammengebrochen, tobt gegen Alles, was ihn umgab, am Bord des gutes Schiffes saß, wenn es ihn auch mit noch so straff geblähten Segeln, lustig durch die Wogen schäumend, der Heimath entgegentrug?

Die Hände um das heraufgezogene Knie fest gefaltet, den Kopf aus die Brust gesenkt, saß der Wanderer auf dem Verdeck, Tage, oft halbe Nächte lang. Er sprach fast mit keinem Menschen, gab selten Antwort, wenn er angeredet wurde, und ging nur still und stumm zur Seite, wenn er fühlte, daß er irgendwo im Wege sei. Die Matrosen hatten den finstern, schweigsamen Mann verspotten und zum Besten haben wollen. Das aber gewöhnte er ihnen bald ab und nachdem er ihnen erst einen Beweis seiner Kraft gegeben, lernten sie das unheimlich düstere Auge des seltsamen Passagiers ordentlich fürchten und demselben ausweichen.

So passirte das Schiff nach einer glücklichen und verhältnißmäßig raschen Reise den Kanal. In der Nordsee drehte sich jedoch der Wind nach Nordost um, setzte mit Regen ein und wehte noch in der nämlichen Nacht einen fliegenden Sturm. Wohl kreuzten sie mit dichtgereeften Segeln soviel als möglich auf, um nicht gegen die flache französische Küste geworfen zu werden. Aber sie konnten ihre Höhe nicht halten. Das Schiff trieb mehr und mehr nach Lee zu und am nächsten Abend, während der Sturm indessen nur immer mehr an Heftigkeit zunahm, stieß das Fahrzeug auf, warf seine Masten über Bord und strandete.

Eine Scene der furchtbarsten Verwirrung folgte. Alles drängte in verzweiflungsvoller Hast nach den beiden Booten, um in diesen die Möglichkeit einer Rettung zu finden. Wie unmöglich es für sie sei, in solcher See und Brandung die Küste zu erreichen, bedachten sie ja nicht. Nur fort, nur hinaus drängten die Unglücklichen, das Schiff zu verlassen, das sie dem Verderben geweiht wußten – und draußen lauerte der Tod auf sie.

Nur Einer von Allen – den Capitain ausgenommen, der ruhig seine Befehle gab, aber bei den Angstverwirrten keinen Gehorsam mehr fand – hielt sich im Brausen der Elemente so still, so ruhig, so schweigsam, aber auch so fest, wie er sich bei Windstille auf Deck herumbewegt hatte. Er griff mit an, wo anzugreifen war; als sich aber Alle vom Deck ab in die in's Wasser gelassenen Boote drängten, stand er still zurück, die Arme um eine der Juffern geschlagen – er, der Capitain und der erste Steuermann, die einzigen menschlichen Wesen noch auf dem Wrack.

»Die Boote können in der See nicht leben,« schrie der Capitain den Leuten zu – »Ihr seid verloren, wenn Ihr abstoßt!«

Sie waren es schon. Eine rückschlagende Welle schmetterte die schwankenden Boote gegen die Seitenwand des Wracks – einige Minuten lang wimmelte es in dem weißen Schaum von mit dem Tod ringenden Menschen – dann war Alles vorbei. – Nur einen einzigen Matrosen hatte die Spitze der Welle emporgehoben und wieder zurück an Deck geworfen, wo er sich anklammerte. Er war wie durch ein Wunder gerettet worden.

Eine böse Nacht folgte – das Wrack setzte immer fester auf den Sand hinaus und die See brach darüber hin; aber die Planken hielten noch zusammen und gegen Morgen legte sich der Sturm. Aber erst gegen Abend – als sich die See genug beruhigt hatte – konnten sie vom Land aus gerettet werden.

Mit eiserner Ruhe hatte der »Passagier« das Alles ertragen. Kein Laut kam über seine Lippen, keine Klage – kein Jubelruf, als das rettende Boot endlich vom Land aus sichtbar wurde. Als das kleine Fahrzeug, das die Schiffbrüchigen aufgenommen hatte, den Strand berührte, als die Seeleute hinaussprangen und ihren wackeren Rettern mit Thränen in den Augen die Hände drückten, als die Frauen herbeieilten und weinten und lachten über die dem Tod Entrissenen: da schritt der Mann mit dem bleichen Antlitz und den erstarrten Zügen still hindurch zwischen ihnen, daß sie ihm scheu Raum gaben – immer vorwärts, den Hang hinauf und über den Hügel hin, bis er ihren Blicken entschwunden war.

Und so fort schritt er durch das Land, weiter und weiter bis zu der Stadt, wo er die Eisenbahn zuerst berührte. Sein Paß war in Ordnung, sein Geld trug er in einem ledernen Gürtel um den Leib geschnallt, und wenige Minuten später riß ihn die keuchende Locomotive in wilder Schnelle der Heimath – seinem Schicksal entgegen.

Wie da seine Bahn dahinsauste, so rasend schnell – kein Halten mehr – nur dürftige Minuten, und weiter, immer weiter fort, den Tag hindurch, die Nacht entlang. – Einzelne der Reisenden klagten über Zögerung der Fahrt, über Säumniß auf den Stationen – ihm flog der Zug mit Sturmes Flügeln durch die dunkle Nacht, und zu Minuten, zu Sekunden drängten sich die Stunden zusammen. Zug schloß an Zug, und jetzt war das letzte Ziel erreicht – drüben in jenen dunkeln Kiefernwaldungen, die den Horizont umgrenzten, Hollendeik, und in der Kiefernwaldung? – – Als der Heimkehrende sein Auge zum ersten Mal wieder auf die bekannte Stätte richtete, da wurde ihm das Blut zu Eis in den Adern und die Glieder zitterten ihm so, daß er sich in die Ecke lehnen und sein Antlitz mit dem Tuch bedecken mußte.

»Sind Sie krank?« frug ihn sein Nachbar, der bis dahin umsonst gesucht hatte, ein Gespräch mit dem finstern, verschlossenen Mann anzuknüpfen – aber er erhielt auch jetzt keine Antwort. Der Unglückliche hatte mit der Welt außerhalb abgeschlossen; er war todt für alles Andere, und nur der Wurm in seinem Herzen lebte in ihm und bohrte und wühlte mit täglich neuer Kraft. Er selber hatte auch keinen eigenen Willen mehr; es war als ob er aufgehört habe selbstständig zu handeln und der Körper von nun ab einer andern Macht als seiner Seele gehorchen müsse. Er wußte, was ihm bevorstand, wie aber der ruderlose Kahn, von reißender Strömung getragen, mit dieser in wilder Schnelle dem Abgrund entgegenschiebt, der ihn an den Felsen unten zerschellen muß, so trieb es ihn, den Gezeichneten, in wilder, verzweifelter Hast, mit der er sich selber entfliehen wollte, seinem endlichen Schicksal entgegen.

Der Zug hielt. Der düstere Passagier ermannte sich, als der Name der Station ausgerufen ward, nahm sein Gepäck, das aus einem Bündel unterwegs gekaufter Wäsche bestand, stieg aus und suchte, so spät am Abend es auch war, sofort ein Geschirr zu bekommen, das ihn von der Eisenbahn nach Grafenhoff hinüberführe.

Es war eine stürmische Oktobernacht, kein Mond am Himmel, und Regen und Schnee peitschten, von dem kalten Nordwest gejagt, die gelben Blätter von den Bäumen nieder. Endlich fand sich ein Kutscher, der ihn um doppelten Preis hinüberzubringen versprach, und das kleine Fuhrwerk arbeitete bald darauf, dem Unwetter entgegen, durch die Nacht.

Und still und allein im Wagen saß der Unglückliche – allein mit seinen düsteren, unheimlichen Gedanken, mit dem Bewußtsein dessen, was die nächste Sonne für ihn bringen mußte. Was kümmerte ihn das Wetter, was der Sturm, der draußen die Bäume faßte und zerzauste. Er hörte nicht einmal, wie die Windsbraut draußen über die Höhen strich – er fühlte die einzelnen Tropfen nicht, die, kalt und stechend, bis hinein zu ihm gepeitscht wurden. Ja, als der Wagen endlich, von den scheuenden Pferden zur Seite gerissen, umschlug und in Stücke brach, wand er sich ingrimmig lachend aus den Trümmern heraus und schritt allein hinein in den ächzenden Wald.

»Holla – Sie da – lieber Herr!« schrie ihm der arme Teufel von Kutscher nach, »Sie wollen mich doch hier nicht bei Nacht und Nebel und dem Wetter allein mit dem zerbrochenen Wagen sitzen lassen? – Sie finden ja auch den Weg nicht in der Finsterniß!«

Keine Antwort – die düstere Gestalt schritt schweigend hinein in die Nacht, und der Kutscher murmelte, sich ängstlich bekreuzend:

»Wenn das nicht der böse Feind war, der mich in dem Wetter hierher geführt, will ich nicht selig werden – Herrgott – er lachte auch noch – oh alle guten Geister!«

Er hatte Recht. Schauerlich mit dem heulenden Sturm gellte das rauhe Lachen des dunkeln Wanderers, der dem Wetter entgegenarbeitete, zu ihm herüber.

»Hahahaha – Alles muß untergehen, was meiner Fährte folgt. Verflucht – ein Ausgestoßener der Erde, soll ich allein die dunkle Schreckensbahn verfolgen. Alles, was ich mein nannte aus der Welt, an dem mein Herz noch hing, in dem es noch Vergessen seines Elends finden konnte – es ist todt – todt – todt – das Schiff, das mich führte, zerschmettert; der Wagen selbst, der den Verdammten getragen, in Stücken auf der Straße. – Und wie der Sturm mir entgegenpeitscht, als ob er alle Kraft anwenden wollte, mich von dort zurückzutreiben, wo ich Ruhe finden will und muß! – Ruhe – Ruhe – endlich Frieden für dies arme unglückselige Haupt! – Ja tobe nur! und wenn Du mir den ganzen Wald in meinen Weg schleudertest, und wenn ich über jeden einzelnen Stamm hin die mühselige Bahn suchen müßte, mich treibst Du nicht mehr zurück. – Hei! wie das pfeift, wie das rast – blas, alter Bursche, blas und nimm die Backen voll – hier ist ein Fahrzeug, das Dir in die Zähne fährt – ein lebendes Gespensterschiff, das gegen Wind und Wetter nur dem einen festen Ziel entgegenstrebt – dem Tod!«

Es war fast, als ob die frevelnden Worte den Sturm zu zwiefacher Wuth angestachelt hätten. Die schwere Gestalt des Mannes konnte sich kaum gegen die Wucht stemmen, die sich ihm entgegenwarf, und alte, wetterfeste Stämme, die einem Jahrhundert trotzig die Stirn geboten, riß er aus und schmetterte sie in den Pfad des nächtlichen Wanderers. Rechts und links vor ihm und zurück brach und prasselte es und stürzte krachend splitternd auf den Boden, aber er achtete es nicht. Die Zähne fest zusammengebissen, mit jedem Fußbreit Boden hier bekannt, drängte er weiter, weiter an gegen den Sturm, sich seinen Weg oft Schritt vor Schritt erkämpfend, bis endlich mit der Morgendämmerung unten im Thal, von grauen jagenden Wolken überhangen, der kleine Ort vor seinen Blicken lag.


XI.

Eben schlug es auf dem alten Kirchthurm von Grafenhoff neun Uhr, als der Assessor Bellert, mit aufgespanntem Regenschirm gegen das Wetter ankämpfend, in der gewölbten Thür des alten Polizeigebäudes erschien, sich umdrehend den triefenden Schirm schloß und durch ein heftiges Aufstampfen mit den Füßen das feuchte Element soviel als möglich von seinem Körper abzuschütteln suchte.

»Das ist ein Heidenwetter,« sagte er dabei. »Nicht einen Hund möchte man 'naus jagen in solchen Sturm. Na, was giebt's, Ortel?«

Der Polizeidiener trat mit der Mütze in der Hand an seinen Vorgesetzten heran:

»Bitt' um Entschuldigung, da drinnen in der Wachtstube sitzt seit anderthalb Stunden ein Herr, der Sie zu sprechen verlangt.«

»Mich? – wer ist es denn?«

»Kenn' ihn nicht, Herr Assessor, trägt einen großen Bart und sieht so blaß aus wie der Tod und ist dabei so naß, daß das Wasser nur so an ihm herunterläuft. Er muß die ganze Nacht durch marschirt sein, wer er aber ist und wo er herkommt, will er nur Ihnen selber sagen.«

»Hm; na, lassen Sie ihn noch einen Augenblick warten, bis ich oben bin – ich werde dann klingeln. Doch kein verdächtig Individuum, Ortel?«

»Glaube nicht, Herr Assessor. Wenn ihn das Wetter nicht so zugerichtet hätte, müßte er ganz anständig aussehen. Wir haben seine Sachen drin ein wenig an den Ofen gehangen, aber er spricht kein Wort und stiert nur immer vor sich nieder. Glaube beinahe, daß es hier nicht recht richtig mit ihm bestellt ist,« – und Ortel deutete auf seine Stirn.

»Dann bleibe Einer von Euch an der Thür, wenn er bei mir ist.«

Der Herr Assessor ging in sein Bureau hinauf; aber es dauerte wohl eine halbe Stunde, ehe er wieder an den Fremden dachte, der vorgelassen werden wollte. – Vor allen Dingen mußte er es sich da oben bequem machen. Er zog seinen Oberrock aus und den alten Arbeitsrock an, hing den ersten an den dazu bestimmten Nagel, streifte die Schreibärmel über und packte Taschentuch, Frühstück, Brillenfutteral, Tabaksdose und Zeitung aus, was sämmtlich in und auf dem Stehpult geordnet wurde. Dann holte er sein Federmesser aus der Westentasche und unterhielt sich dabei mit einem der schon früher gekommenen Collegen über das schreckliche Wetter und das gestrige Bier; er hatte den Mann, der da unten auf ihn wartete, schon fast vergessen.

Auf einmal fiel ihm Ortel's Meldung wieder ein und mit einem mißvergnügten: »Nichts als Schererei!« zog er an der vor ihm hängenden Klingelschnur.

Wenige Minuten später betrat Ortel mit dem Fremden das Zimmer. Dieser sah aber wirklich so todtenbleich aus und zitterte so, daß er sich kaum auf den Füßen erhalten konnte. Der Assessor bot ihm einen Stuhl an, auf den er sich niederließ und dann eine Weile still vor sich hinstarrte.

»Sie haben mich zu sprechen verlangt,« sagte Herr Bellert endlich, der nicht wußte, was er aus dem Mann machen sollte.

»Ja,« hauchte dieser. – »Ich – habe Ihnen eine Mittheilung zu machen; vorher aber wünschte ich noch einen Zeugen dabei zu haben.«

»Herr Actuar Nielitz hier nebenan wird Ihnen wohl genügen?«

»Nein – einen andern,« sagte der Fremde, ohne bis jetzt die Augen aufzuschlagen.

»Eine bestimmte Person? Und welche denn?«

»Wie ich von Ihren Leuten gehört habe –«

»Ich muß Sie bitten, etwas lauter zu sprechen. Ich bin wirklich nicht im Stande zu verstehen, was Sie sagen.«

»Wie ich von Ihren Leuten unten gehört habe,« wiederholte der Fremde, der Aufforderung mühsam Folge leistend, »so befindet sich hier in Ihrer Strafanstalt ein Gefangener Namens – Schöffel, – wegen der Tödtung eines Forstbeamten verurtheilt. Ist dem so? –«

»Schöffel? – Schöffel?« –« sagte der Assessor, sich besinnend. »Ja, ich glaube. Das ist nämlich eine alte Geschichte, mein Herr!«

»Es sind jetzt etwa neun Jahre her.«

»Ich kenne den Burschen,« rief der Actuar vom Nachbartisch herüber, der nur durch eine kleine Gallerie von dem seines Collegen getrennt war. »Christoph Schöffel, Nummer 34. – Seine Frau hat neulich wieder ein Gnadengesuch eingereicht, das abschlägig beschieden worden ist.«

»Es ist derselbe,« sagte der Fremde, sein dunkles Auge gegen den Sprecher erhebend. »Ihn eben wünsche ich als Zeugen.«

»Den Gefangenen?« rief Bellert erstaunt. »Das geht nicht; den kann ich Ihnen nicht herschaffen lassen.«

»Ich habe Ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen,« lautete aber des Fremden ruhige Antwort, »die nur in seiner Gegenwart möglich ist.«

»Hm – das ist ja eine wunderliche Geschichte,« brummte der Assessor, indem er langsam die Dose öffnete und eine Prise nahm, – »eine sehr – sehr wunderliche Geschichte. Vor Allem, welches ist Ihr Name?«

»Ich möchte vorher keine Frage beantworten, bis Schöffel gegenwärtig ist,« sagte der Fremde.

»Hm,« brummte Herr Bellert, stand dann auf und flüsterte eine Weile mit seinem Collegen. Dieser zuckte ein paar Mal die Achseln; endlich setzte sich der Assessor Bellert wieder auf seinen Stuhl, zog die Klingel und bedeutete den darauf eintretenden Ortel:

»Nummer 34 von drüben soll hier herübergeführt werden. Nehmen Sie aber auch gehörige Wache mit.«

»Nummer 34?« frug der Gerichtsdiener zurück, um ja kein Versehen zu machen. Sein Vorgesetzter nickte und Ortel verschwand.

Der Fremde war indessen auf seinen Stuhl zurückgesunken und holte tief Athem. Endlich stützte er beide Ellbogen auf die Kniee, barg sein Gesicht in den Händen und saß laut- und regungslos da. Ein paar Mal ging die Thür auf, und er zuckte dann wohl jedesmal zusammen, rührte sich aber nicht, bis draußen auf dem Gang endlich die Schritte mehrerer Männer laut wurden, gleich daraus die Thür geöffnet wurde und Ortel mit lauter Stimme meldete: »Nummer 34!«

Da richtete sich der Fremde langsam auf und wenn es möglich war, so erschien sein Gesicht jetzt noch fahler, sein Blick hohler denn vorher.

Der Gefangene trat langsam vor. Schöffel war in der langen Zeit seiner Haft alt geworden; die Kerkerluft hatte seinen Zügen eine ungesunde Farbe gegeben, während das Auge allen Glanz verloren. Die rothen Haare hatte man ihm dabei kurz abgeschnitten und er ging in die graue, unheimliche Tracht der Sträflinge gekleidet.

Auch sein Blick war scheu und unstät geworden. Er flog von Einem zum Andern und hastete zuletzt auf dem Fremden. Die Uebrigen kannte er gut genug; wie manche peinlich lange Stunden hatten sie ihn hier gequält.

Damals berief er sich wohl noch auf seine Unschuld bei dem ihm zur Last gelegten Verbrechen; aber jetzt war das längst vorbei und die Sache abgemacht. Fünfzehn Jahre Zuchthaus ist eine lange Zeit und wenn er auch sieben schon davon abgesessen – zwei Jahre dauerte die Untersuchung, die man ihm nicht zu Gute rechnete – so blieb es doch zweifelhaft, ob er das Leben noch acht Jahre ertragen konnte. Jetzt wußte er in der That selber kaum mehr, ob er den Mord wirklich verübt habe, oder nicht. Es blieb sich auch nun gleich und er fürchtete sich fast vor der Zeit, wo er – ein alter Mann mit einem zerstörten Körper und gebrandmarkten Namen – wieder in das Leben hinausgestoßen werden sollte.

Sein Blick und der des Fremden begegneten sich. Aber der Gefangene kehrte sich gleichgültig wieder ab. War er doch nur neugierig, was man von ihm wolle. Jedenfalls freute es ihn, daß man ihn gerufen, gleichviel wozu. Es blieb doch immer eine Unterbrechung seiner monotonen Haft – ein Augenblick, in dem er mit freien Menschen verkehren durfte – und war's auch nur mit Polizeileuten.

»Hier, mein Herr,« sagte der Assessor Bellert, indem er auf den Gefangenen zeigte, »hier also ist der Mann, den Sie zu sehen wünschen. Du bist doch Schöffel von Herslingen, nicht wahr?«

Der Gefangene drehte langsam den Kopf nach ihm hinüber.

»Wer? – ich, Herr Actuarius? Ja, ich glaube wohl,« setzte er mit einem unheimlichen Lächeln hinzu, »aber gewiß weiß ich's freilich nicht mehr. Es ist so lange her, daß ich meinen eigenen Namen nicht gehört; ich glaube, ich könnte nicht einmal mehr darauf schwören. Hier heiß' ich Nummer 34, wenn ich auch früher nur gedacht, daß so eine Nummer blos eine Klafter Holz oder einen Haufen Reisig bedeuten könne. Wenn Sie in den Acten hinter der Nummer nachsehen, werden Sie den richtigen Namen wohl finden.«

»Schon gut, schon gut; wir wollen nichts weiter von Dir wissen,« sagte der Assessor ungeduldig und winkte ihm mit der Hand, »Du hast nur auf an Dich gerichtete Frage zu antworten.«

»Nummer 34 gehorcht!« sagte der Mann ruhig und sah still vor sich nieder.

Der Fremde hatte indessen keinen Blick von den rauhen Zügen des Unglücklichen verwandt. Jetzt aber, als der Assessor schwieg, richtete er sich empor und sagte dann mit gewaltsam gesammelter, aber ruhiger und fester Stimme:

»Herr Assessor Bellert, haben Sie Zeit, eine Geschichte anzuhören?«

»Wenn sie nicht zu lange dauert,« erwiderte dieser, nach der Uhr sehend. »Es ist fast dreiviertel auf zehn Uhr und um Zehn sind Leute herbeschieden.«

»Ich werde mich kurz fassen,« hauchte der Fremde, fuhr sich mit der Hand über die bleiche, mit großen hellen Tropfen bedeckte Stirn und begann:

»Sie wissen, daß vor neun Jahren im Hollendeiker Revier, am Rande einer Kieferndickung, der Forstgehülfe Meier ermordet gefunden wurde?«

Schöffel, der bei Seite stand und bis jetzt geglaubt hatte, daß vorher, ehe er vorgenommen wurde, erst noch eine andere, ihm gleichgültige Sache verhandelt werden sollte, zuckte, so wie er den Namen hörte, jäh empor.

»Allerdings,« sagte der Assessor, »und dort steht sein Mörder. – Er hat zwar bis auf den heutigen Augenblick noch frech geleugnet, die Beweise waren aber so überzeugend gegen ihn, und sein ganzes früheres Leben bezeugte die That dermaßen, daß ihn die Gerichte zu der Strafe verurtheilten, die er jetzt verbüßt.«

»Einen Zeugen in der Sache haben Sie aber noch nicht vernommen,« sagte der Fremde, »oder wenn er früher vernommen wurde, hat er nicht Alles ausgesagt, was er wußte. Ich bin beauftragt, dessen Worte zu überbringen – bitte, nehmen Sie das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, zu Protokoll.«

»Aber Ihr Name –«

»Sie werden ihn nachher ausfüllen können; ich – mag der Erzählung nicht vorgreifen. – Darf ich beginnen?«

Der Assessor nickte ihm zu und griff dann kopfschüttelnd nach seiner Feder. Nach einigen flüchtig auf das Papier geworfenen Worten sah er zu dem Fremden wieder auf und dieser sagte:

»In jener Zeit lebte in Hollendeik ein Mann, der ein Wirthshaus hielt und in dem Ruf stand, mit Wilderern geheime Verbindung zu haben und ihnen gestohlenes Wildpret abzukaufen.«

»Ja, ich weiß,« unterbrach ihn Herr Bellert – »er hieß Joseph Kerdelmann. Ich habe ihn selber damals verhört. Es konnte ihm nichts bewiesen werden und er ging später nach Amerika, glaub' ich. Es ist übrigens ziemlich sicher, daß er das wirklich gethan, was man ihm zur Last gelegt, und besonders mit dem Burschen da in genauerer Verbindung gestanden hat, als Beide eingestehen mochten. Er hat auch dessen Frau durch ein Geschenk entschädigt. Später bekamen wir noch gewissere Beweise, aber leider war er da schon fort.«

»Er hat nie von anderen Wilderern gekauft,« sagte der Fremde ruhig, »denn was er brauchte, schoß er selber

»Da sind Sie im Irrthum,« sagte der Assessor, ungeduldig werdend – »Kerdelmann war allbekannt ein schlechter Schütze und ging nie auf die Jagd. – Bitte, lassen Sie die alten Geschichten und kommen Sie zu dem, was Sie uns sagen wollten, denn damit vertrödeln wir nur die Zeit.«

»Ich habe Sie ersucht, Herr Assessor, das zu Protokoll zu nehmen, was ich Ihnen hier mittheile,« entgegnete ruhig der Fremde – »ich spreche wie unter einem Eid und erzähle Ihnen nur Thatsachen.«

»Und ich habe es immer geglaubt,« murmelte der Gefangene vor sich hin und wußte in dem Augenblick kaum noch, daß er gefangen war. Auge und Ohr hing an dem Fremden und wie eine Ahnung ging es in ihm auf, daß ein Wendepunkt seines Schicksals eingetreten sei – zum Guten oder Schlechten? – bah, was da kam, mußte ja zum Guten kommen; zum Schlechten war es nicht mehr möglich!

»Und womit wollen Sie beweisen, was Sie hier sagen?« frug der Assessor, noch immer zweifelnd.

»Mit dem, was weiter folgt,« erwiderte der Fremde, »und bitte, unterbrechen Sie mich nicht mehr. Noch hab' ich die Kraft zu reden; aber mein Körper ist in der letzten Zeit aufgerieben und überspannt worden und – ich möchte meine Sinne beisammen halten. Ich wiederhole deshalb: jener Mann, der das Wirthshaus zum Rothen Hirsch hielt, hat nie Wild von Wilderern gekauft, stand deshalb auch nie mit jenem Schöffel« – »Nummer 34« murmelte der Unglückliche – »in Verbindung.

»Ob Schöffel damals selber noch gewilddiebt hat, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn mit schlimmer List suchte er jenen Joseph Kerdelmann zu verleiten, ihm angeblich gestohlenes Wild abzukaufen. Kerdelmann wurde gewarnt – von wem, kann ich nicht sagen, aber nicht von Schöffel selber. Doch auch ohne die Warnung hätte er es ihm nicht abgekauft, denn er mißtraute ihm gleich von Anfang an, haßte den Menschen aber deshalb noch mehr als vorher, weil er die Hand dazu geboten, ihn vor Gericht zu bringen.

»In jener Zeit war der Wirth fast jede Nacht draußen im Walde. Mit allen Schleichwegen bekannt, gelang es ihm leicht, die Wachsamkeit der im Anfang etwas schläfrigen Jäger zu täuschen. Nur Einer, jener Meier, war fleißiger als die Übrigen, und weil er Schöffel für einen Wilderer hielt, suchte er diesen zu erwischen. Auf Kerdelmann hatte Niemand Verdacht, eben weil sich dieser absichtlich für einen schlechten Schützen ausgab und nie öffentlich mit auf die Jagd ging.«

»Aber woher wissen Sie das Alles?« fragte der Assessor, zu den erregten Zügen des Redenden erstaunt aufsehend.

»Kerdelmann,« fuhr der Fremde ruhig fort, ohne die Frage zu beantworten, »war denn eines Nachts heimlich hinausgegangen, ein Stück Wild zu schießen. Er wußte, daß der Forstgehülfe Meier im Wald umherspionirte, aber durch seine bisherigen glücklichen Erfolge tollkühn gemacht, lachte er der Gefahr, der er schon zu begegnen hoffte. Da er die Wechsel des Wildes genau kannte, brauchte er dabei nicht viel Zeit mit Pirschen zu verlieren, auch verringerte er die Gefahr, entdeckt zu werden, indem er sich ruhig an den Rand eines Dickichts auf den Anstand setzte.

»Es war schon ziemlich kalt, aber geduldig saß er, bis der Mond hell aus den Wolken trat und nun auch nicht lange nachher ein Rudel Wild über einen offenen Schlag vertraut herüberkam. Nur etwas höher als gewöhnlich hielten sie sich in dieser Nacht, und der Wildschütz, als er merkte, daß sie nicht in Schußnähe von ihm kommen wollten, schlich etwas weiter im Dickicht hinauf, nahm, als das Rudel langsam dort vorüberzog, eine gelte alte Gais aufs Korn und schoß sie aufs Blatt, daß sie in ihrer Fährte verendete. – Er fehlte fast nie.«

»Kerdelmann?« flüsterte der Gefangene, und sein ganzer Körper zitterte vor innerer Bewegung, die Augen traten fast aus den Höhlen, die Hände hatte er bebend vorgestreckt, und jedes Wort verschlang das gierig lauschende Ohr.

»Aber woher um Gottes willen wissen Sie das Alles?« rief der Assessor noch einmal. »Ich begreife gar nicht –«

Der Fremde winkte ihm leise mit der Hand, zu schweigen, und so stier, so geisterhaft war dabei sein Blick, daß der erschreckte Assessor die Frage nicht wiederholte, denn auf's Neue drängte sich ihm der Verdacht auf, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu thun habe.

»Das alte feiste Thier war zusammengebrochen und lag langgestreckt am Boden,« fuhr der Fremde mit ruhiger, monotoner Stimme fort, »aber der Schuß hatte ein so donnerndes Echo in den Bergen gefunden, daß der Wildschütz sich nicht gleich auf die offene Blöße hinausgetraute. Das andere Rudel war schon lange zum Kamm des Berges hinaufgeflohen. Todtenstille herrschte wieder im Wald, und noch immer lag er vorsichtig lauernd auf der Wacht, ob der Knall nicht seinen Feind, jenen Meier, herbeiführen würde. Aber Alles blieb ruhig – kein Schritt im Laub, kein knickender Ast verrieth, daß noch ein lebendes Wesen außer ihm dort draußen sei.

»Da endlich, als er sich wieder vollkommen sicher fühlte, glitt er hinaus auf den Schlag, um das Stück Wild in die Kieferndickung hinein zu holen.«

Der Fremde schwieg einen Augenblick und starrte vor sich nieder. – Schöffel war unwillkürlich einen Schritt vorgetreten, sein von ihm abgewandtes Gesicht besser sehen zu können, und selbst der Assessor starrte ihn jetzt in wachsender Spannung an. Der fremde Mann war jedenfalls in einer ganz unnatürlichen Aufregung, und er selber neugierig geworden, wo er hinaus wolle. Daß er sich übrigens mit jenem Kerdelmann irre, davon fühlte sich der Assessor überzeugt, denn er selber als damaliger Actuar Bellert hatte den Prozeß geführt und mußte natürlich am besten wissen, wie die Sachen standen.

»Als Kerdelmann,« fuhr endlich der Fremde fort, »das Dickicht schon fast erreichte – er war kaum vier oder fünf Schritt davon entfernt – donnerte ihm plötzlich ein lautes »Halt!« entgegen – halt! – er hat den Anruf nie vergessen können, sein ganzes übriges Leben lang – und ein Jäger, das Gewehr im Anschlag, stand vor ihm – er war verloren. – Seine eigene Büchse lehnte drin im Busch, gerade an derselben Stelle, wo jener stand, und er befand sich also rettunglos in der Gewalt des Feindes. – Es war jener unglückliche Meier, den sein böser Stern zu jener Zeit hierhergeführt, und Kerdelmann kannte und – haßte ihn. – Wie er ihn nachher überlistete, bleibt sich gleich, aber als er ihm vergebens Geld und gute Worte geboten, ihn ungestraft ziehen zu lassen, machte er ihn so weit sicher, daß er ihm half, das im ersten Schreck abgeworfene Wild wieder auf die Schulter zu heben, um es in's Dorf hinabzutragen.

»Kerdelmann wußte, er war verloren, sobald der Jäger am Leben blieb, und den ersten möglichen Augenblick benutzend – – stieß er dem Forstgehülfen sein Messer in den Leib.«

»Kerdelmann?« schrie der Gefangene auf – »Kerdelmann? Und ich – habe die langen Jahre schuldlos sitzen müssen? Meine Familie ist zu Grunde gegangen – ich selber bin ein elender, erbärmlicher Zuchthäusler geworden – Gerechtigkeit! – ist das Gerechtigkeit? Oh Du heiliger, barmherziger Gott!«

»Haltet Euer Maul!« fuhr ihn der Assessor finster an. Er mochte sich nicht, nur auf die Aussage eines Fremden hin, gleich so leicht davon überzeugen lassen, daß durch seine eigene Schuld ein armer Teufel so lange Jahre unschuldig im Gefängniß gesessen. – »Das ist eine gar wunderbare Geschichte, die Sie uns da erzählen,« wandte er sich dann gegen diesen, »und ich möchte wissen, wie Sie es beweisen wollen.«

»Hören Sie mich weiter,« sagte der Fremde, der, zwar mit vollkommen blutlosen Wangen, aber jetzt mit fester Stimme und unbewegten Zügen fort erzählte. – »Der Mörder floh nach der That ins Dorf zurück. Unentdeckt erreichte er sein Haus, vergrub dort die blutigen Kleider, die er später vernichtete, sowie sein Gewehr, und ließ die Sache ihren Lauf gehen. Durch eine Jagd kam der Mord allerdings früher an den Tag, als er erwartet hatte, da ihm ein frischer Schnee außerordentlich günstig gefallen war. Aber der Verdacht des Mordes lenkte sich auf einen Mann, den er von Herzen haßte, und der ihn selber erst vor kurzer Zeit hatte durch List überführen und den Gerichten übergeben wollen. Mit Schadenfreude sah er deshalb, wie er zwei Fliegen mit einem Schlag getroffen, und dachte nicht daran, den unschuldig Angeklagten durch ein entschlossenes Geständniß frei zu machen. – Er wußte nicht, daß er den schlimmsten Ankläger im eigenen verstockten Herzen trug. Aber doch litt es ihn nicht länger hier in Deutschland, Anderes, das nicht hierher gehört, kam dazu, daß er sich unbehaglich – nicht recht sicher fühlte, und er – wanderte aus.«

»Und wo ist er jetzt?« frug der Assessor, der, aufmerksam werdend, die Züge des Erzählenden schärfer und forschender betrachtet hatte.

»Hören Sie mich weiter,« sagte der Mann, langsam die Hand gegen ihn aufhebend. »In Amerika ging es ihm im Anfang gut. Mit dem Geld, das er hinübergebracht, kaufte er unter günstigen Verhältnissen eine Farm – heirathete und hatte liebe Kinder – aber der Wurm fraß an seinem Herzen. Sah er im Anfang, den Mord nicht achtend, selbst gleichgültig auf das Loos des Unglücklichen zurück, der unschuldig seinethalben im Gefängniß schmachtete, hoffte er von der Zeit, daß sie das Ganze in Vergessenheit begraben würde: so ward die Zeit gerade sein schlimmster Feind. Mit jedem Tag wuchs die Angst, daß da oben doch ein Rächer wohnen könne, mit jedem Tag trat der blutige Leichnam, traten die bleichen Züge des Eingekerkerten mahnender, lebendiger vor seine Seele. Er mied den Umgang mit anderen Menschen – verließ auf halbe Jahre lang die Seinen, um in der Wildniß, von dem Gewissen gejagt, umherzuirren – umsonst – das Schreckbild folgte – folterte ihn, wohin er sich auch wandte. Nicht in der Kirche, nicht im stillen Wald, nicht in der wildesten Gesellschaft mied es ihn. An seine Sohlen geheftet, jagte es ihn das weite Land auf und ab, bis er endlich, an Kraft gebrochen, zu den Seinen wiederkehrte. – Aber auch dort verließ es ihn nicht, und bald trat auch der Fluch, der ihn bis dahin nur in seiner eigenen Brust gequält, tatsächlich ihm in's Leben. Seine Kinder erkrankten, eins von ihnen starb. Brand, Mißwuchs und Seuchen erschütterten sein Vermögen. – Endlich legte sich auch die Frau, die mit eines Engels Geduld seinen finstern Trübsinn ertragen, und vier Wochen später war sie eine Leiche.

»Was der Mann damals geduldet und gelitten – eine Menschenzunge wäre nicht im Stande es zu beschreiben – und doch war sein Leidenskelch noch nicht zur Hälfte geleert. – Sein letztes Kind – sein Liebling – lebte noch, und auch das mußte er endlich langsam hinsiechen, mußte es sterben sehen.«

Der Mann schwieg und in der Erinnerung an all' das Entsetzliche, das er überstanden – in dem Gefühl der Verzweiflung, die seine Seele erfaßt, zermalmt hatte, versagte ihm fast die Sprache, jagte sein Blut in Fieberhast durch seine Adern, zitterte sein ganzer Körper.

»Wie ist mir denn,« sagte da der Assessor – »Ihr Gesicht kommt mir eigentlich so bekannt vor – die ganze Gestalt – ich weiß nicht – sind denn Sie selbst am Ende –«

»Hahahaha!« lachte der Unglückliche laut und grell auf, daß es dem Assessor fröstelnd über die Haut lief und der Gerichtsdiener draußen den Kopf erschreckt zur Thür hereinsteckte – »hahahaha, kommt Ihr endlich auf die richtige Spur, Ihr Schergen der Gerechtigkeit? – Ja,« rief er, und seine Stimme klang hohl und wild, sein Auge glühte von einem unheimlichen Feuer, seine ganze Gestalt hob sich und er schien wie außer sich – »ja, von dem Augenblick an litt es den Vernichteten, den Ausgestoßenen, den Verdammten nicht mehr unter den Menschen – Gottes Finger deutete auf ihn, er war den finsteren Mächten verfallen und nur der Drang, sein Herz hier noch durch Buße zu erleichtern – einen Theil des Unrechts wieder gut zu machen – wenn auch das nicht schon zu spät war, hielt ihn noch am Leben. Sobald ich aber zu dem Entschluß gekommen war, sobald ich erst einmal das klare Bewußtsein gewonnen, daß nur durch einen solchen Schritt jene zürnende Gottheit wieder versöhnt werden könne, machte ich Alles, was ich besaß, zu Geld und floh zu Schiff – nach Deutschland –«

»Sie?« rief der Assessor, von seinem Stuhl aufspringend, während Schöffel, keines Lautes mächtig, mit gefalteten Händen daneben stand.

»Ich – ich – ich!« schrie der Unglückliche, in furchtbarster Aufregung um sich blickend – »ich bin jener Elende, Verworfene; der Mörder, der den Jäger erstochen, der Räuber, der diesem Unglücklichen da sein ganzes Leben heimtückisch gestohlen. – Schöffel!« stöhnte er plötzlich und warf sich in wilder Heftigkeit vor dem Gefangenen auf die Kniee – »Schöffel, armer mißhandelter, geknechteter, zertretener Mensch, vergieb einem Elenden, der aus Rache und Bosheit, der in feiger, nichtswürdiger Angst sich heimlich durch die Flucht der verdienten Strafe entzog. – Ich bin der Hirschenwirth – ich bin Kerdelmann – ich –« Er vermochte nicht mehr; sein Körper, der das Unglaubliche ertragen, brach unter der Last zusammen und ohnmächtig lag er zu den Füßen Schöffel's.

Die Gerichtsdiener, die bei den letzten dröhnenden Worten des Mannes in das Zimmer getreten waren, sprangen jetzt zu, ihn aufzuheben. Der Assessor wechselte dabei einige Worte mit Ortel und Einer der Leute wurde rasch nach einem Arzt geschickt. Ehe der kommen konnte, hatte sich indessen Kerdelmann schon wieder erholt.

Von jetzt an schien aber eine vollkommene Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Er war plötzlich verwandelt; die Farbe kehrte in seine Wangen zurück und mit dem Bewußtsein, das Ziel erreicht zu haben, dem er mit einer wahren Todesangst die letzte Zeit entgegengestrebt, handelte er von dem Augenblick an besonnen und vollständig leidenschaftslos.

Schöffel war noch im Zimmer. – Der Assessor wußte in der That nicht, was er mit dem Mann jetzt anfangen sollte – und Kerdelmann's erster Blick suchte und fand ihn. – Schöffel selber stand wie in einem Traum; das volle Glück dieses Augenblicks war er noch nicht im Stande zu fassen. – Kerdelmann handelte für ihn.

Er stand auf, strich sich die Haare zurück und ersuchte dann mit vollkommen ruhiger Stimme den Assessor noch um einige Minuten Gehör. Dieser wollte jetzt die Gerichtsdiener entfernen, aber er bat, sie im Zimmer zu lassen, da er der Zeugen bedürfe. Dabei legte er dem Beamten seine Papiere vor, die er in einer kleinen Brieftafel in der Tasche trug – es waren sein alter und sein neuer Paß, und während der Assessor diese durchsah, schnallte er sich den Geldgürtel ab, den er noch immer um den Leib trug.

»Dies,« sagte er dabei, »ist der Rest meines Vermögens, den ich mir von Amerika gerettet – Kinder habe ich nicht mehr, meine Frau ist todt, und dies Geld gehört von Gott und Rechts wegen dem Unglücklichen, der meinethalben die vielen Jahre schwerer Haft unschuldig ertragen mußte. Hier, Schöffel – nehmt es – Ihr habt es Euch schwer und sauer verdienen müssen, und wenn es Euch auch die Schmach und das Herzeleid, das Ihr ertragen habt, nicht in seinem tausendsten Theil vergüten kann, so bedenkt, daß es Alles ist, was ich, mit meinem Leben, Euch im Stande bin zu bieten. – Ihr werdet es wahrscheinlich hier bei Gericht deponiren müssen, bis Ihr freigelassen seid, aber das kann jetzt nicht mehr lange dauern – und Alle hier sind Zeugen, daß es Euch gehört. Und nun bitte ich, laßt mich mit dem Herr Assessor noch eine kurze Zeit allein, daß ich die ihm nöthig dünkenden Fragen beantworten und ihm noch den letzten Zweifel benehmen kann. – Ihr habt nichts zu fürchten,« sagte er wehmüthig lächelnd, als er sah, daß die Leute zögerten, ihm zu gehorchen. »Ich bin den weiten Weg über's Meer zurückgekommen, mich den Händen des Gerichts zu überliefern, und werde Euch jetzt wahrlich nicht entfliehen.«


XII.

Wie ein Lauffeuer breitete sich indessen das Gerücht in der Stadt aus, »der Kerdelmann«, den sie Alle recht gut gekannt, »der Kerdelmann ist wieder da – ist steinreich von Amerika zurückgekommen, und hat sich selber den Gerichten als Mörder des Forstgehülfen Meier gestellt.«

Noch an demselben Abend wußte es jedes Kind in Grafenhoff sowohl wie in Hollendeik, und wenn es auch im Anfang bezweifelt wurde, bestätigten es doch bald spätere Nachrichten. Ueberdies begann am nächsten Tag ein neues Zeugenverhör in der schon fast vergessenen Sache und rief eine fast unglaubliche Aufregung in dem kleinen Ort hervor.

Wenn Kerdelmann übrigens geglaubt, daß es nur seines einfachen Bekenntnisses bedürfe, Schöffel, den unschuldig Eingekerkerten, befreit und sich selber der nur zu wohl verdienten Strafe überliefert zu sehen, so hatte er sich darin geirrt. Er kannte unsern deutschen vorsichtigen Gerichtsgang nicht.

Eine neue Untersuchung begann; Zeugen wurden aus allen Ecken und Enden herbeigeholt, die alten Actenstücke bis auf den Grund durchwühlt und neue aufgehäuft – und warum? – Kerdelmann konnte wahnsinnig sein – und die einfache Thatsache, daß er sich selber auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, bewies beinahe das Mögliche in den Augen des Gerichts. Aengstliche, genaue Untersuchung stellte aber nichts dem Aehnliches heraus. Der Unglückliche hatte seine Sinne fest beisammen; ja wie der erste für ihn furchtbare Moment der Anklage selber vorüber war, schien ihn sogar eine gewisse freudige Ruhe zu erfüllen.

Er beantwortete alle an ihn gestellten Fragen einfach, kurz und deutlich, widersprach sich nie, denn er sprach Wahrheit – und das Geschehene stand ja mit Flammenzügen in seinem Herzen eingegraben – und trieb und drängte nur dem einen Ziel jetzt entgegen, daß Schöffel seine Freiheit wiederbekam. – Das kostete Mühe, aber – es geschah doch endlich. Nachdem man alles Mögliche angewandt, um thatsächliche Beweise für das Gestandene aufzufinden, nachdem sogar der kleine Fluß abgelassen worden, um an der bezeichneten Stelle das dort hinein geworfene Büchsenrohr wieder aufzufinden, und dieses, nach achttägiger Arbeit, glücklich zu Tage gefördert worden war, entließ man den bis jetzt unschuldig Eingekerkerten seiner langen Haft und übergab ihm sogar, in Rücksicht auf dieselbe, das ihm von Kerdelmann geschenkte Geld, ohne die Gerichtskosten des Processes davon abzuziehen.

Der Vorschlag dazu wurde allerdings gemacht, aber doch für unpassend gefunden und zurückgewiesen.

Kerdelmann hatte indessen mit Niemand mehr in Verbindung gestanden, obgleich er sich während der Untersuchungshaft bei seinem Wächter nach Allem in der Nachbarschaft auf das Angelegentlichste erkundigte. Der Mann war aus Hollendeik gebürtig und kannte dort jedes Kind. Er wußte auch ganz genau, an welchem Tag der Kronenwirth gestorben und begraben sei und daß die Margarethe Freier die Hülle und die Fülle gehabt, aber keinen genommen habe. Trotzdem sei sie noch ein schmuckes Mädel, wenn auch schon ein bischen in den Jahren.

Kerdelmann hatte sich das Alles wieder und wieder erzählen lassen und war endlich bei dem Assessor um die Erlaubniß eingekommen, daß ihn Jemand aus Hollendeik besuchen dürfe.

Da die Untersuchung gegen ihn geschlossen war, hatte man nichts dagegen. Er bekam sogar auf seinen Wunsch Schreibmaterialien in seine Zelle und der Schließer erhielt darauf von Kerdelmann einen Brief zur Beförderung, der die Adresse trug:

 

»An Margarethe Asfeldt
zu Hollendeik in der Krone.«

Da der Brief unversiegelt war, so gehorchte der Schließer dem Drange seiner Neugier, die Zeilen sofort zu lesen. Sie lauteten einfach:

»Wollen Sie, Margarethe, einen Unglücklichen noch einmal sehen, ehe ihn die Strafe seines Verbrechens erreicht hat, so bitte ich Sie dringend, sich morgen nach Grafenhoff und zu mir zu bemühen. Ich habe die Erlaubniß erhalten, einen Besuch zu empfangen – aber ich habe nur Zeit bis morgen. Sind Sie um vier Uhr nicht bei mir, so nehme ich an, daß Sie den Elenden nicht wieder sehen wollen, der unsägliches Leid auf so viele unschuldige Häupter gehäuft hat, wenn sein eigenes Herz auch jetzt von Reue zerknirscht und gebrochen ist. Ich selber betrachte Ihren Besuch als die einzige Gunst, die ich noch vom Leben erstehe.

Joseph Kerdelmann.«

 

Der Schließer musterte die Zeilen kopfschüttelnd ein paar Mal durch. Da fiel ihm ein, daß der Gefangene von eben diesem Mädchen in früheren Jahren einen Korb bekommen und daß dieser Korb für die alleinige Ursache seiner Auswanderung nach Amerika gegolten hatte. Es war natürlich, wenn er Margarethe geliebt, daß er sie noch einmal sehen wollte, bevor ihn die Mauern des Strafhauses für immer von der Welt schieden.

Der Brief mußte, der Ordnung nach, erst dem Assessor vorgelegt werden. Herr Bellert hatte aber nicht gleich Zeit oder Lust, ihn durchzusehen. Er ließ ihn bis zum nächsten Morgen liegen. Dann wurde er befördert und Margarethe erhielt ihn des Nachmittags.

Kerdelmann verhielt sich indessen vollkommen ruhig in seiner Zelle, und sprach so heiter mit seinem Wächter, wie dieser ihn noch gar nicht gesehen. Am nächsten Morgen räumte er seine Zelle auf, legte reine Kleider an und bereitete sich auf seinen Besuch vor.

Aber Stunde auf Stunde verging und Niemand kam. Eine eigenthümliche Angst schien sich des Gefangenen unter der Zögerung zu bemächtigen. Der Mittag rückte heran, und Kerdelmann berührte die ihm gebrachte Kost nicht, aber unzählige Mal fragte er den Schließer, ob denn auch sein Brief ordentlich bestellt sei. Von diesem, der um die Verzögerung nicht wußte, erhielt er nur bejahende Antworten, – die Zeit jedoch verstrich.

Es schlug vier Uhr draußen – der letzte Termin, den er Margarethen gesetzt – und sie war nicht gekommen.

Wohl eine Stunde noch saß er still und schweigend, den Kopf in die Hände gestützt, auf der Pritsche, die ihm zum Lager diente, dann richtete er sich langsam auf und ging zu seinem Tisch, auf dem das Schreibzeug von gestern noch stand.

Es fing schon an zu dämmern, aber es waren auch nur einige Zeilen, die er auf ein Blatt schrieb, das er offen auf dem Tisch liegen ließ.

Als bald darauf der Schließer die kleine Klappe von außen öffnete, von der aus er seine Zelle übersehen konnte, lag der Gefangene auf seinen Knieen neben dem Bett und betete. Erstaunt sah ihm der Schließer eine Weile zu. – Es war das erste Mal, daß er ihn in solcher Lage traf und er wollte ihn nicht stören. Er schloß leise die Klappe wieder und ging langsam den Gang entlang in seine Stube oben.

Eine halbe Stunde mochte verflossen sein, als ein Wagen vorfuhr, aus dem ein Bauernmädchen stieg, und gleich darauf wurde der Schließer hinabgerufen. Die eben Gekommene verlangte einen der Gefangenen zu sprechen.

»Hallo, Gretchen,« sagte der Mann, der sie von Hollendeik aus gut genug kannte, »der arme Teufel da oben hat mit Schmerzen schon den ganzen Tag auf Dich gewartet – er muß Dir doch wohl 'was recht Nothwendiges zu sagen haben.«

»Kann ich ihn sehen, Thomas?« sagte Margarethe mit leiser, zitternder Stimme – »ich habe ja den Brief erst heute Nachmittag bekommen.«

»So spät? – ja, sehen kannst Du ihn gewiß; der Herr Assessor hat's erlaubt. Die Untersuchung ist vorbei und ich denke, morgen früh wird ihm sein Urtheil publicirt werden. Es ist heute Abend eingetroffen.«

»Ist er oben?«

»Ja, Schatz, wo soll er denn sonst sein? Unsere Gesellschaft findest Du immer zu Haus.«

»Bitte, Thomas, führe mich zu ihm hinauf.«

»Nun, warte nur einen Augenblick, mein Schatz,« sagte der Mann. »Auf der Treppe wird's schon finster sein, und sie sind erst dabei, die Lampen anzustecken. Ich will ein Licht mit hinaufnehmen.«

Der Mann ging unten in die Wachtstube hinein, holte von dort ein angezündetes Licht heraus und mit den Worten: »Na, nu komm und nimm Dich ein bischen in Acht, daß Du mir nirgends gegenrennst,« stieg er, von dem Mädchen gefolgt, langsam die breite steinerne Treppe hinauf, die zu der Zelle des Gefangenen führte.

In den Gängen war es indessen vollständig dunkel geworden und Einer der Leute eben draußen beschäftigt, die dort aufgehangenen Lampen anzuzünden – der Docht wollte nur noch nicht recht brennen.

Thomas, der Schließer, schritt langsam den Gang entlang und Margarethe, die sich dicht hinter ihm hielt, faßte es mit unheimlich wildem Schauer, als sie an den mit Schlössern behangenen niederen Thüren vorüberging. Wie viel Elend, wie viel Jammer lag dahinter verborgen, wie viel Verbrechen lauerten hinter jenen Riegeln – und wenn sich jetzt die kleinen Klappen geöffnet hätten – wenn irgend ein Schreckbild seinen Arm nach ihr herausgestreckt hätte! Eiskalt überlief es das Mädchen bei dem Gedanken und scheu warf es den Blick nach links und rechts hinüber und auf den eigenen Schatten zurück, der von dem unsicher getragenen Licht bald da-, bald dorthin unstät schwankte.

»Nummer 17,« sagte da Thomas, das Licht etwas emporhebend, daß er die kleine rauchgeschwärzte Nummertafel über dem Eingang erkennen konnte – sahen sich doch die Thüren einander gleich – »da drinnen ist er. Heda, Kerdelmann!« rief er dann, die kleine Klappe öffnend, ehe er die Thür aufriegelte und aufschloß, »seid Ihr bereit? – es kommt Besuch.«

Es war vollkommen finster in dem dunkeln Raum, aber Niemand antwortete.

»Er ist wahrhaftig ausgegangen,« lachte Thomas in sich hinein und deckte seine Augen mit der Hand gegen das Licht, um besser sehen zu können – »he, Kerdelmann! – schlaft Ihr?«

Keine Antwort.

»Hm,« sagte der Mann, den Kopf schüttelnd, während er ohne Weiteres die Klappe wieder schloß und die beiden schweren Riegel zurückschob, »der muß schlafen wie ein Dachs.«

Das schwere Schlüsselbund klirrte, das Schloß kreischte und gleich darauf öffnete sich die dicke, eisenbeschlagene Thür in ihren Angeln.

Margarethe faßte ein eigenes, herzzerschneidendes Weh – das Blut stand ihr still und sie mußte sich an die Wand lehnen, um nicht umzusinken.

Der Mann trat mit dem Licht hinein; das Mädchen wagte nicht ihm zu folgen – und doch blieb er so lange und auf dem Gang war es so düster und wie leises, unheimliches Flüstern tönte es von allen Seiten an ihr Ohr. – Auch in der Zelle wurde kein Wort gesprochen. – Endlich kam der Schließer zurück, aber anstatt sie hineinzuführen, schloß er die Thür wieder hinter sich und schob die beiden Riegel vor.

»Ist er nicht drinnen?« frug jetzt Margarethe zögernd.

»Ja,« brummte der Gefängnißwärter, – »aber – er nimmt keinen Besuch mehr an.«

»Habt Ihr ihm gesagt, daß ich da sei?« forschte das Mädchen mit schüchterner Stimme.

»Hm – kommt, Gretchen,« sagte der Schließer und putzte das Licht, das er in der Hand trug, »es ist – es ist besser, wir gehen hinunter.«

»Was ist geschehen – um Gottes willen – Ihr seid – Ihr seid so sonderbar – darf ich denn nicht hinein?«

»Nein, mein Herz,« sagte der Mann ruhig – »lieber nicht. Es sieht häßlich da drinnen aus. – Ich glaube nicht, daß sie der Nummer 17 ihr Urtheil morgen früh verlesen werden.«

Margarethe blieb stehen – ihr Herzblut stockte und das Gewölbe fing an sich mit ihr herumzudrehen; aber stark, wie sie immer war, sammelte sie sich rasch wieder, faßte den Arm des Schließers und sagte:

»Thomas – führt mich hinein zu dem – Todten.«

Der Schließer sah sie verwundert an und schien keine Lust zu haben, ihren Wunsch zu erfüllen; aber das Mädchen fuhr fort:

»Ich habe die Erlaubniß erhalten ihn zu sehen – lebend oder todt, was liegt daran! Er war ja doch schon todt für die Welt – ob er auch noch athmete.«

»Es sieht häßlich aus, Gretchen,« versetzte der Schließer abmahnend.

»Bitte, guter Thomas.«

»Na – meinetwegen – mir kann's recht sein,« sagte kopfschüttelnd der Mann und schloß die Thür wieder auf – »aber lange dürfen wir nicht bleiben, denn ich muß gleich die Meldung machen.«

»Nur einen einzigen kurzen Augenblick.«

Die Riegel klirrten wieder zurück, das Schloß knackte in seiner Feder und die dunkle Zelle lag offen vor ihr da. Der Schließer aber trat voran hinein und das Licht hoch haltend, deutete er schweigend auf den Körper, der ausgestreckt auf dem Lager ruhte. Ueber die Art seines Todes brauchten sie auch nicht lange in Zweifel zu sein: ein abgebrochenes Stück des irdenen glasirten Schreibzeuges hatte ihm dazu gedient, sich mit dem scharfen Bruch die Adern an Händen und Füßen zu öffnen und das Leben war längst entflohen.

Sein Tod aber mußte leicht und schmerzlos gewesen sein, denn stiller Frieden lag über dem Angesicht des Unglücklichen, der sein Verbrechen schwer und lange gebüßt.

»Hm – der arme Sünder,« brummte der Schließer leise – »ist nur von Amerika wieder herübergekommen, um den Schöffel frei zu machen.«

Margarethe sagte kein Wort. Sie war neben dem Todten auf die Kniee gesunken und betete still.

Als sie einige Minuten so verbracht, richtete sie sich langsam auf und wollte die Zelle wieder verlassen. Da fiel ihr Blick auf den Tisch, auf dem ein beschriebenes Blatt lag. Sie trat hinzu, und es zum Lichte haltend, las sie die wenigen Zeilen. Sie lauteten:

 

»Auch das Letzte ist mir versagt worden. Sie will mich nicht mehr sehen und ich kann nicht länger warten. Heute ist der Jahrestag, an dem ich jenen Unglücklichen erschlug – heute noch muß ich vor meinen Richter treten, der meiner verzweifelnden Reue gnädig sein möge. Was ich auf der Erde noch zu thun hatte, hab' ich erfüllt – was mir dort bevorsteht, weiß nur Er – Seinen Händen übergeb' ich mich – Lebt wohl!

Nummer 17.«

 

Langsam legte Margarethe das Blatt auf den Tisch zurück; große, helle Thränen tropften aus ihren Augen. Thomas hatte das Blatt ebenfalls aufgenommen und durchgelesen und schritt jetzt eben so schweigend mit ihr die Treppe hinab.

Der Wagen hielt noch unten vor der Thür.

»Gute Nacht, Thomas,« sagte sie, als sie ihr bleiches Antlitz noch einmal gegen ihn drehte, und wenige Minuten später rollte das Fuhrwerk rasch die Straße nach Hollendeik zurück.


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