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Im Zusammenhang mit dem Zerfall und dem Untergang des römischen Reiches haben die Regierungsform und die Religion Persiens unsere Aufmerksamkeit abgefordert. Wir werden bei schicklicher Gelegenheit der skythischen (oder samartischen) Stämme zu gedenken haben, welche bewaffnet und zu Pferde, mit ihren Herden, ihren Weibern und Kindern über die unermesslichen Ebenen zogen, welche sich vom Kaspischen Meer bis zur Weichsel und von den persischen Grenzen bis zu denen Germaniens ausdehnten. Aber das kriegsgewohnte Germanien, welches dem Weströmischen Reich zunächst trotzte, es dann bestürmte und endlich niederrang, wird in dieser Geschichte einen weitaus wichtigeren Platz einnehmen und ein stärkeres sowie ein, wenn der Ausdruck erlaubt ist, verwandtschaftliches Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme reklamieren. Die kultiviertesten Nationen des modernen Europa haben ihre Wurzeln in den Urwäldern Germaniens, und in den archaischen Einrichtungen jener Barbaren können wir noch heute die Ursprünge unserer neuzeitlichen Gesetze und Gesittungen erkennen. In ihrem ursprünglichen, freiheitlichen Zustand hat sie das unfehlbare Auge des Cornelius Tacitus zum ersten Male gemustert und mit seiner meisterhaften Feder zum ersten Male geschildert, jener Historiker, welcher als erster Philosophie mit der Schilderung von Fakten vereinte. Die geradezu expressionistische Dichte seiner Darstellung hat die Anstrengung ungezählter Altertumsforscher und den Scharfsinn und Verstand der philosophisch orientierten Geschichtsschreiber unserer Tage herausgefordert. Der Gegenstand, wie vielschichtig und wichtig er auch sein mag, ist mittlerweile so oft, so kompetent und so fruchtbar diskutiert worden, dass er dem Leser inzwischen vertraut und dem Verfasser deshalb problematisch geworden ist. So werden wir uns darauf beschränken, einige der wichtigsten Umstände des Klimas, der Bräuche und der Einrichtungen festzuhalten, oder genauer gesagt: zu wiederholen, welche die unkultivierten Barbaren Germaniens zu solch fürchterlichen Gegnern von Roms Macht werden ließen.
GERMANIEN, AUSDEHNUNG UND KLIMA
Das antike Germanien – frei mit Ausnahme der Landstriche westlich des Rheins, welche sich dem römischen Joch gebeugt hatten – umfasste beinahe ein Drittel Europas. Nahezu das ganze heutige Deutschland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Livland, Preußen und große Teile Polens wurden von den verschiedenen Stämmen dieser großen Nation bewohnt, die in ihrem äußeren Erscheinungsbild, in ihren Bräuchen und ihrer Sprache frappierende Ähnlichkeit aufwiesen und so einen gemeinsamen Ursprung erkenn ließen. Im Westen trennte der Rhein das antike Germanien von den gallischen und im Süden die Donau von den illyrischen Reichsprovinzen. Eine Gebirgskette, die Karpaten, welche sich über der Donau erhob, schützte Germanien an der dakischen oder ungarischen Seite. Die Ostgrenze zwischen Germanen und Skythen hatte infolge beiderseitiger Abneigung einen nur unbestimmten Verlauf, welcher durch die teils verfeindeten, teils auch wieder verbündeten Stämme der beiden Völker noch zusätzlich verschoben wurde. In der weltenfernen Dunkelheit des Nordens erahnten die Alten einen gefrorenen Ozean, der jenseits der Ostsee und jenseits der skandinavischen Halbinsel oder der Inseln Schwedens moderne Naturphilosophen stimmen darin überein, dass die Ostsee langsam, aber stetig absinkt und getrauten sich, das geschätzte Ausmaß mit einem halben Zoll pro Jahr anzugeben. So müssen zweihundert Jahre zuvor die flachen Küstenländer Skandinaviens vom Meer bedeckt gewesen sein, während die höher gelegenen Gebiete sich oberhalb des Meeresspiegels befanden und Inseln von unterschiedlichster Größe und Form bildeten. Zumindest vermitteln uns Plinius, Tacitus und Mela dieses Bild von den riesigen Ländern rings um die Ostsee. Siehe in der Bibliothèque raisonée, Bde. 40 und 45, einen langen Auszug aus Olof von Dalins in Schwedisch verfassten Geschichte des schwedischen Reiches. lag.
Einige geistvolle Autoren Insbesondere Mr. Hume, der Abbé Dubos und M. Pelloutier, Histoire des Celtes, Bd. 1. haben die Vermutung geäußert, dass in früheren Zeiten Europa bedeutend kälter war als gegenwärtig; und die meisten Schilderungen der Alten scheinen diese Theorie ohne weiteres zu festigen. Das ständige Gejammer über strenge Fröste und ewigen Winter sollten wir allerdings nur gering achten, fehlen uns doch die Möglichkeiten, das Missvergnügen und die Seufzer eines Mannes, der unter Griechenlands oder Asiens mildem Himmel geboren ward, mit exakten Graden auf der Thermometerskala zu quantifizieren. Aber zwei bemerkenswerte und weniger subjektiv gefärbte Tatsachen möchte ich dennoch aufzeigen. 1: Die großen Flüsse in den römischen Provinzen, Rhein und Donau, waren oftmals zugefroren und konnten dabei gewaltige Lasten tragen. Die Barbaren, die für ihre Überfälle die strenge Jahreszeit bevorzugten, transportierten ohne Besorgnis oder Gefahr ihre umfänglichen Arsenale, ihre Reiterei und schweren Gepäckkarren über diese riesige, massive Eisbrücke. Diodoros, 5,25; Herodian 6,7; Jordanes, Getica 55. Im Gebiet entlang der Donau war der Wein, wenn er serviert wurde, häufig zu Klumpen, den frusta vini, gefroren. Ovid, Epistulae ex Ponto 4,7,8; Vergil, Georgica 3,364. Diese Tatsache wird durch einen Soldaten und einen Forscher bekräftigt, welche die bittere Kälte Thrakiens durchlitten hatten. Xenophon, Anabasis 7,4. 2: Das Ren, jenes nutzbringende Geschöpf, von dem der Wilde des Nordens noch das Beste für sein freudloses Dasein bezieht, ist von seiner Konstitution her auf Kälte nachgerade angewiesen. Es kommt sogar auf Spitzbergen vor, unfern des Pols; selbst mit den Schneemassen Sibiriens und Lapplands scheint es keine Probleme zu haben. Aber gegenwärtig kann es in den Ländern südlich der Ostsee kaum überleben, Buffon, Histoire naturelle, Bd. 12, p. 79 und 116. geschweige denn sich vermehren. Zu Caesars Zeiten hingegen waren das Ren, ebenso wie der Elch und das Ur im Hercyanischen Waldgebirge heimisch, der damals noch große Teile Polens und Germaniens bedeckte. Caesar, Bell. Gall. 6,23ff. Auch die kühnsten Forscherseelen unter den Deutschen kannten seine äußersten Grenzen nicht, obwohl einige von ihnen mehr als sechzigtägige Reisen durch sie unternommen hatten. Die moderne Technik liefert einen hinreichenden Grund für die Abnahme der Kälte: Die ungeheuren Wälder, die vordem die Sonnenstrahlung von der Erde abgehalten hatten, wurden nach und nach gerodet. Cluver, Germanica antiqua 3, c.47 spürt den wenigen und kleinen Resten des Herzynischen Waldes nach. Sümpfe wurden trockengelegt, und in dem Maße, wie der Boden unter den Pflug kam, wurde die Luft milder. Das heutige Kanada ist hierin ein getreues Abbild des alten Germaniens. Obwohl es auf den gleichen Breitengraden liegt wie Frankreichs und Englands mildeste Landstriche, leidet das Land unter strengsten Frostperioden. Das Ren ist häufig, der Boden von dauerndem Tiefschnee bedeckt und der große St. Lorenz-Strom regelmäßig zugefroren, während Themse und Seine üblicherweise eisfrei sind. De Charlevoix, Histoire de Canada.
EINFLUSS DES KLIMAS
Der Einfluss des Klimas des antiken Germaniens auf Körper und Seele seiner Einwohner lässt sich nur schwer abschätzen, aber leicht übertreiben. Viele Autoren haben vermutet und die meisten auch ohne entsprechende Beweise für sicher angenommen, dass die strenge Kälte des Nordens ein langes Leben und die Zeugungskraft begünstige, dass die Weiber fruchtbarer seien und die menschliche Rasse sich hier überhaupt vermehrungsfreudiger erzeige als in wärmeren oder milderen Landstrichen. Olaus Rudbeck versichert, dass die schwedischen Frauen oft zehn oder zwölf Kinder gebären, und – durchaus nicht ungewöhnlich! – sogar zwanzig oder dreißig; indessen muss Rudbecks Zuverlässigkeit denn doch bezweifelt werden. Wir können hingegen mit größter Zuversicht behaupten, dass die klare Luft Germaniens die starken und männlichen Gliedmaßen der Eingeborenen ausgeformt hat, welche im Allgemeinen von höherem Wuchs waren als die Südländer; ›In hos artus, in haec corpora, quae miramur, excrescunt‹ [Sie wachsen sich aus zu diesen Gliedmaßen und Körpern, die wir bestaunen]. Tacitus, Germania 20; Cluver, Germania, Buch 1, c. 14. dass sie ihnen Körperkräfte verlieh, die eher für kurze, gewaltsame Anstrengungen als für ausdauerndes Mühen eingerichtet schienen, und dass sie ihnen endlich eine körperlich bedingte Tapferkeit verlieh, welche ja das Ergebnis von Nerventätigkeit und Geist ist. Diese abgehärteten Kinder des Nordens Die Kimbern rutschten oftmals zum Vergnügen auf ihren breiten Schilden hügelab. nahmen die Leiden von Winterfeldzügen, welche den Mut der römischen Truppen abzukühlen geeignet waren, kaum wahr, während sie ihrerseits die Sommerhitze nicht ertragen konnten und unter den Strahlen von Italiens Sonne in Mattigkeit und Kränkeln sich verzehrten. Die Römer führten unter jedem Klima ihre Kriege und waren aufgrund ihres hervorragenden Ausbildungsstandes bei ausgezeichneter Gesundheit und körperlicher Verfassung. Es sei hier angemerkt, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, welches sich in jedem Lande zwischen Pol und Äquator aufhalten und fortpflanzen kann. An diesem Vorrecht scheint außer unserer Art nur noch das Schwein teilzuhaben.
FABELN VON DER HERKUNFT DER GERMANEN
Es gibt auf diesem Globus kein Land von Größe oder Bedeutung, welches wir bei seiner Entdeckung völlig menschenleer vorgefunden hätten oder dessen erste Besiedlung mit historisch hinreichender Genauigkeit hätte festgemacht werden können. Da aber philosophisch veranlagte Gemüter sich selten des Nachsinnens über die Kindheit großer Nationen entschlagen können, verzehrt sich unser Forschungseifer an solchen mühseligen und überdies fruchtlosen Unternehmungen. Als sich Tacitus über die Reinheit des germanischen Blutes und den düsteren Aspekt ihres Landes verbreitete, kennzeichnete er jene Barbaren als indigenae oder Eingeborene. Wir können als sicher, vielleicht sogar als wahr annehmen, dass das alte Germanien ursprünglich nicht von ausländischen, in irgendeiner Form politisch geeinten Kolonisten besiedelt war. Tacitus, Germ. 3. Die Auswanderungswellen der Gallier folgten dem Verlauf der Donau und verteilten sich danach auf Griechenland und Asien. Tacitus konnte nur einen unscheinbaren Stamm ausfindig machen, welcher noch Merkmale seiner gallischen Herkunft aufwies. sondern die Nation ihren Namen und ihre Existenz der schrittweisen Vereinigung nomadisierender Barbaren aus den Hercynianischen Wäldern zu danken habe. Diese Wilden nun aber als das autochthone Erzeugnis des von ihnen besiedelten Bodens anzusehen, hieße denn doch ein überhastetes Urteil zu fällen, welches überdies von den Grundannahmen der Religion verurteilt wird und für das die Vernunft wohl auch keine Bürgschaft übernehmen dürfte.
Ein solcher von der Vernunft geäußerter Zweifel verträgt sich allerdings nur wenig mit dem Geiste volkstümlicher Eitelkeiten. Unter den Völkern, die sich die mosaische Geschichtsauffassung zu eigen gemacht haben, hat Noahs Arche dieselbe Bedeutung wie ehedem die Belagerung Troias für die Griechen und Römer. Auf einem schmalen Fundament allgemein anerkannter Wahrheiten wurde ein gigantischer Überbau müßiger Märchen aufgeführt; und der kulturlose Ire Folgt man Dr. Keating, so ist der Gigant Portolanus am 14. Mai des Jahres 1978 seit Erschaffung der Welt an der Küste von Munster gelandet. Er war der Sohn Searas, des Sohnes von Esra, des Sohnes von Framant, des Sohnes von Fathaklan, des Sohnes von Magog, des Sohnes von Japhet, des Sohnes von Noah. Obwohl ihm dieses große Unternehmen mit Erfolg gekrönt war, entwickelten sich seine häuslichen Belange infolge der gelockerten Aufführungen seines Weibes zum Übel, woran er sich dermaßen ärgerte, dass er – ihren Lieblings-Windhund totschlug. Dies war, wie der gelehrte Historiker sehr zutreffend anmerkt, das erste Beispiel weiblicher Ränke und Untreue in Irland. konnte ebenso wie der unzivilisierte Tartar Abulghazi Bahadur Chan, A genealogical History of the Tartars. mit Genauigkeit jenen Sohn Japhets benennen, aus dessen Lenden ihre Vorfahren je und je in direkter Linie hervorgegangen sein sollen. Das letzte Jahrhundert kennt eine Fülle von ebenso hochgelehrten wie arglosen Altertumsforschern, welche im Schummerlicht von Fabeln und Überlieferungen, von Konjekturen und Etymologie die Urgroßenkel Noahs vom Turm zu Babel in die entlegensten Winkel der Erde entsandten. Unter diesen verständigen Geistern ragt insonders der ergötzliche Olaf Rudbeck, Professor zu Upsala, hervor. Sein Werk mit dem Titel Atlantica ist ausgesprochen schwer erhältlich. Bayle hat zwei äußerst lesenswerte Auszüge daraus in der République des Lettres, Januar und Februar 1685, veröffentlicht. Was immer auch einen Namen hatte in Geschichte oder Sage, dieser eifernde Patriot wusste es seinem Lande zuzurechnen:
Aus Schweden (das ja selbst ein beträchtlicher Teil Germaniens war) empfingen die Griechen selbst ihr Alphabet, ihre Astronomie und ihre Religion. Das Atlantis von Plato, das Land der Hyperboräer, die Gärten der Hesperiden, die Insel der Glückseligen, und selbst noch die elysäischen Gefilde waren sämtlich nur blasse und dürftige Kopien dieses gesegneten Landes, als das es jedem Einheimischen erschien. Ein Landstrich, von der Natur so sichtlich bevorzugt, durfte nach Noahs Großer Flut unmöglich lange unbesiedelt bleiben. Der gelahrte Rudbeck gestattet der Familie Noah einige Jahre, sich von acht Personen auf zwanzigtausend zu mehren. Daraufhin unterteilt er sie in kleinere Kolonisten-Kollektive, auf dass sie die Erde neuerlich besiedeln und das Menschengeschlecht vermehren mögen. Die germanisch-schwedische Abteilung (welche, wenn ich recht verstanden habe, unter der Führung von Askenaz, des Sohnes von Gomer, des Sohnes von Noah, zogen) zeichneten sich im Verfolg ihres Endzweckes überdurchschnittlich aus. Dieser Bienenstock des Nordens verbreitete seine Schwärme über die größten Teile Europas, Afrikas und Asiens; und es floss, um eine Metapher des Autors zu übernehmen, das Blut aus den Gliedmaßen zum Herzen zurück.
GERMANEN WAREN SCHRIFTLOS...
Aber dieses wohlersonnene Lehrgebäude germanischer Altertümer wird zu Staub durch eine einzige Tatsache, die zu gut erwiesen ist, als dass man sie anzweifeln könnte, und die zu abgesichert ist, als dass sie für Diskussionen noch Raum ließe: zur Zeit von Tacitus verstanden die Germanen sich nicht auf die Verwendung der Schrift; Tacitus, Germania 19: literarum secreta viri pariter feminae ignorant [Männern wie Frauen kennen keinen heimlichen Briefwechsel]. Wir könnten uns mit der Aussage dieser unbestrittenen Autorität zufrieden geben, ohne in eine fragwürdige Diskussion über das Alter der Runenzeichen einzutreten. Der Schwede Celsius, eine Gelehrter und Philosoph, meinte, sie seien nichts anderes als römische Lettern, bei denen lediglich die Kurven zu geraden Linien ausgezogen seien, damit so das Einritzen erleichtert werde. Siehe Pelloutier, Histoire des Celtes, 2,11; Dictionaire raisonné de la diplomatique, Bd. 1, p.223. Wir können noch hinzufügen, dass die ältesten Runeninschriften vermutlich dem dritten Jahrhundert entstammen und dass die älteste Erwähnung der Runen sich bei Venantius Fortunatus findet, welcher gegen Ende des sechsten Jahrhunderts lebte. (Carmina 7, 18) Barbara fraxineis pingatur RUNA tabellis‹ [Barbarische Runen, auf Tafeln von Esche gemalt]. und der Gebrauch der Schrift ist nun einmal der wichtigste Umstand, der eine Kulturnation vor einem Haufen Wilder auszeichnet, die außerstande sind, sich Kenntnisse anzueignen oder Ideen zu entwickeln. Ohne dieses geniale Hilfsmittel verliert oder verdirbt das Gedächtnis der Menschheit alsbald die ihm anvertrauten Einsichten; und die edleren Geistestätigkeiten, mit solchen materiellen oder ideellen Hilfestellungen forthin unversorgt, vernachlässigen allgemach ihre Kräfte; das Urteil wird unsicher und schwerfällig, die Vorstellungskraft träge oder unzuverlässig. Lasst uns versuchen, um diese wichtige Wahrheit zur Gänze zu erfassen, den Unterschied zwischen einem gelehrten Manne und einem schreib- und leseunkundigen Bauern in einer zivilisierten Gesellschaft zu ermessen. Der Erstere vervielfacht seine persönlichen Erfahrungen durch Lektüre und eigenes Nachdenken und ist in der Vergangenheit und fernen Ländern zu Hause; während der Letztere, verwurzelt an seinem Fleckchen Erde und mit einer abschätzbaren Lebenserwartung, seinen Gefährten in der Fron, den Ochsen, an geistiger Praxis nur wenig übertrifft. Denselben und möglicherweise einen noch größeren Unterschied kann man zwischen verschiedenen Nationen bemerken; und mit Bestimmtheit können wir sagen, dass ohne einige Kenntnisse einer Schrift kein Volk glaubwürdige Aufzeichnung seiner Geschichte gesammelt, jemals einen erwähnenswerten Fortschritt in den abstrakten Wissenschaften getan oder sich, in welchem Umfang auch immer, lebenspraktische Kulturtechniken angeeignet hat.
...OHNE KÜNSTE ODER ACKERBAU...
Entschieden mangelte es den Germanen an diesen Künsten. Sie lebten in einem derartigen Zustand von Unkenntnis und Armut dahin, dass einige Laienprediger sich bewegt fanden, dies mit dem Epitheton der tugendreichen Einfalt zu versehen. Das heutige Deutschland soll zweitausenddreihundert befestigte Städte besitzen. Recherches philosophiques sur les Américains, Bd.3, p.228. Der Autor dieses sehr aufschlussreichen Werkes ist, wenn ich richtig informiert bin, gebürtiger Deutscher. In einem weitaus größeren Gebiet konnte der Geograph Ptolemäus nicht mehr als neunzig Orte entdecken, die er mit dem Namen einer Stadt versehen konnte; Dieser alexandrinische Geograph wird von dem sehr exakten Cluvier häufig kritisiert. allerdings hätten sie nach unseren Maßstäben diesen Namen nur wenig verdient. Wir können bestenfalls ungefüge Befestigungen dahinter vermuten, dazu bestimmt, Weibern, Kindern und Vieh Schutz zu gewähren, während die Stammeskrieger ausgerückt waren, etwa eine plötzliche Invasion zurückzuschlagen. Siehe hierzu Caesar, Bellum Gallicum und den gelehrten Herrn Whitacker in seiner History of Manchester, Bd. 1. Aber Tacitus hebt als wohlbekannte Tatsache hervor, dass die Germanen zu seiner Zeit keine Städte kannten; Tacitus, Germania 16. und dass sie die römischen Befestigungen als Orte verachteten, die sich eher zum Einsperren als zur Sicherheit eigneten. Als die Germanen den Ubiern von Köln anempfahlen, das Römerjoch abzuschütteln und mit ihrer neuerworbenen Freiheit wieder zu den alten Gebräuchen zurückzukehren, bestanden sie auf dem sofortigen Abriss der Stadtmauern. ›Postulamus a vobis, muros coloniae, munimenta servitii, detrahitis; etiam fera animalia, si clausa teneas, virtutis obliviscuntur‹ [Wir verlangen von euch, die Stadtmauern, dieses Symbol eurer Knechtschaft, zu schleifen; auch wilde Tiere entarten, wenn man sie einsperrt]. Tacitus, Historiae 4,64. Ihre Gebäude grenzten noch nicht einmal aneinander noch waren sie als regelmäßige Dörfer angelegt; In Schlesien sind Straßendörfer einige Meilen lang, Cluvier, 1, c.13. jeder Barbar schlug seinen unabhängigen Wohnsitz an dem Platz auf, der sich ihm durch seine Ebenerdigkeit, einen Wald oder einen Fluss mit Trinkwasser empfahl. In diesen Leichtbehausungen gab es weder Steine, Ziegel oder Schindeln. 140 Jahre nach Tacitus wurden an Rhein und Donau etwas regelgerechtere Konstruktionen aufgeführt. Herodian 7. Es waren in der Tat nur niedrige Rundhütten, aus unbehauenen Stämmen gebaut, mit Stroh gedeckt und einem Loch in der Mitte des Daches, auf dass der Rauch frei abziehen möge. Noch in den härtesten Wintern gab sich der Germane in seiner Robustheit mit einer spärlichen Tierhaut zufrieden. Die nördlicheren Nationen hüllten sich in Pelze, und die Frauen stellten zu eigenem Gebrauch eine Art grobes Leinen her. Tacitus, Germania 17. Großwild, an denen in den germanischen Wäldern kein Mangel war, versorgte seine Bewohner mit Fleisch und Jagdpraxis. Tacitus, Germania 5. Ihr eigentlicher Reichtum waren ihre großen Rinderherden, welche allerdings nicht so sehr ihrer Schönheit als ihrer Nützlichkeit wegen bemerkenswert waren. Caesar, bellum Gallicum 6,21. Geringe Mengen Korn waren das einzige Erzeugnis, das man dem Boden abgewann. Obstgärten oder kultiviertes Weideland waren den Germanen unbekannt; auch können wir nennenswerte Fortschritte in der Landwirtschaft von solchen Menschen nicht erwarten, deren Ackerland in jedem Jahr einen Wechsel der Eigentümer erfuhr und welche den Streitigkeiten im Zusammenhang mit dieser sonderbaren Maßnahme dadurch zuvorkamen, dass sie einen großen Teil ihres Landes wüst und unbeackert ließen. Tacitus, Germania 26; Caesar, Bellum Gallicum 6,22.
...UND OHNE DEN GEBRAUCH VON GOLD, SILBER, EISEN
Gold, Silber und Eisen waren in Germanien äußerst selten. Ihren barbarischen Bewohnern gingen die Fähigkeit und die Geduld ab, jene reichen Silberminen ausfindig zu machen, welche die Anstrengungen der Fürsten von Braunschweig und Sachsen so reichhaltig belohnt hatten. Schweden, welches heute Europa mit Erz versorgt, war sich seiner eigenen Reichtümer ebenfalls nicht bewusst; und das Erscheinungsbild der germanischen Waffen liefert einen hinreichenden Beweis, wie wenig Eisen sie für den nach ihrer Ansicht doch wohl edelsten Verwendungszweck dieses Metalls aufbringen konnten. Einige (vornehmlich silberne) Münzen der Römer waren durch friedlichen Austausch oder kriegerische Wechselfälle entlang der Rhein- und Donaugrenze in Umlauf gekommen; aber den entlegeneren Völkern war der Geldverkehr völlig unbekannt, und so fuhren sie fort, innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten Handel durch Warenaustausch zu treiben und rühmten dabei ihr klobiges irdenes Geschirr als gleichwertig mit den Silbergefäßen, die Rom ihren Herrschern oder Gesandten zum Geschenk gemacht hatte. Tacitus, Germania 5.
Für ein nachdenkendes Gemüt bieten solche Tatsachen mehr Aufklärung als ein unübersehbarer Wust zweitrangiger Nebenumstände. Der Wert des Geldes besteht nach allgemeiner Übereinkunft darin, unsere Bedürfnisse und unser Eigentum zu quantifizieren, so wie die Buchstaben erfunden wurden, um unsere Ideen auszudrücken; und beide Erfindungen haben der schöpferischen Energie und dem Enthusiasmus des Menschen Auftrieb gegeben und so dazu beigetragen, die Gegenstände zu vervielfältigen, für die sie ursprünglich stehen sollten. Der Wert von Gold und Silber beruht zum größten Teil auf Einbildung; aber es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, alle die wichtigen und vielfältigen Dienste zu benennen, die die Landwirtschaft und die Technik vom Eisen empfangen haben, als es erst einmal durch das Feuer und des Menschen geschickte Hand bearbeitet werden konnte. Mit einem Wort: Geld ist der gebräuchlichste Anreiz und Eisen das stärkste Hilfsmittel menschlichen Fleißes; und kaum lässt sich ausmalen, wie denn ein Volk, durch das eine Mittel nicht angespornt und durch das andere nicht unterstützt, sich aus dem Zustand rohester Barbarei hätte emporarbeiten können. Man sagt, dass die Peruaner und Mexikaner auch ohne den Gebrauch von Geld oder Eisen beträchtliche Kunstfertigkeiten erlangt hätten. Diese Kunsterzeugnisse und die von ihnen hervorgebrachten Monumente sind allerdings merkwürdig aufgebauscht worden. Siehe Pauw, Recherches sur les Américains, Bd. 2, p.153ff.
NEIGUNG ZUM TRUNK TRÄGHEIT UND ANDERE BRAUCHTÜMER
Betrachten wir irgendeine unzivilisierte Nation auf dieser Erde näher, so werden wir Unbeschwertheit und Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft als ihre Hauptmerkmale antreffen. In zivilisierten Staaten hingegen wird jedwedes Talent des Menschen gefordert und ausgeübt; und in einem großen Netz gegenseitiger Abhängigkeiten stehen die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft miteinander in Verbindung. Ihr überwiegender Teil ist beständig mit nutzbringender Arbeit befasst. Wenige Auserlesene, die ein gütiges Schicksal dieser Notwendigkeiten überhoben hat, dürfen ihre Zeit mit dem Verfolgen ihrer Interessen oder dem Streben nach Ruhm, mit den Pflichten, den Freuden und sogar den Torheiten des Gemeinschaftslebens ausfüllen und ihre Besitztümer oder ihre Einsichten mehren. Den Germanen fehlte es an diesen verschiedenen Möglichkeiten. Die Sorge um Haus und Familie, die Bewirtschaftung des Landes und des Viehbestandes waren den Alten und Gebrechlichen anvertraut, den Frauen und den Sklaven. In Ermangelung irgendeiner Beschäftigung, die ihm seine Mußestunden hätte veredeln können, verbrachte der untätige Krieger seine Tage und Nächte mit dem animalischen Vergnügen des Essens und Schlafens.
Und dennoch: infolge der wunderbaren Vielfalt der Natur (dies die Anmerkung eines Schreibers, der ihre tiefsten Nischen ausgeforscht hatte) sind dieselben Barbaren die trägsten und zugleich die rastlosesten unter den Menschen. Faulheit ist ihnen lieb, Ruhe widrig. Tacitus, Germania 15. Die müde Seele, von ihrem eigenen Schwere niedergedrückt, verlangte dringlich nach neuer und kräftiger Nahrung; Krieg und Gefahr sind jetzt die einzigen Unterhaltungen, die ihrer rüden Verfassung angemessen sind. Der Kriegsruf, der die Germanen zu den Waffen rief, war ihren Ohren lieblich. Er riss sie aus ihrem anstrengenden Müßiggang empor, spornte sie in rechter Weise und schenkte ihnen infolge der körperlichen Anstrengungen und der seelischen Anspannungen die aktive Seite seiner Existenz zurück. In den öden Friedensperioden überließen sich diese Barbaren ausgiebigen Spiel- und Trinkgelagen; welche beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise – das eine durch Anstacheln ihrer Leidenschaften, das andere durch Betäuben ihres Verstandes – sie der Mühsal des Denkens überhoben. Sie hielten sich einiges darauf zugute, ganze Tage und Nächte an der Tafel zuzubringen; und oft genug befleckte das Blut von Verwandten oder Freunden ihre ebenso zahlreichen wie betrunkenen Zusammenkünfte. Tacitus, Germania, 22 und 23. Ehrenschulden (denn unter diesem Epitheton sind uns ihre Spielschulden überliefert) beglichen sie mit geradezu romanhafter Redlichkeit. Der Hazardspieler, der sich selbst und seine Freiheit auf einen letzten Wurf setzte, ergab sich resignierend dem Beschluss des Schicksals und ertrug es, von seinem möglicherweise schwächeren, aber eben glücklicheren Gegner gebunden, gestraft und anschließend als Sklave in ferne Länder verkauft zu werden. Die Kunst des Spielens mögen die Germanen den Römern ja abgeschaut haben; aber auf unbegreifliche Weise ist die Spielleidenschaft der ganzen menschlichen Art mitgegeben.
VORLIEBE FÜR STARKE GETRÄNKE
Starkes Bier, mit wenig Kunstfertigkeit aus Weizen oder Gerste gewonnen, verderbt (Tacitus benutzt diesen drastischen Ausdruck) zu etwas, das Wein sein sollte: dies genügte den anspruchslosen Zwecken der germanischen Gelage. Diejenigen allerdings, die die köstlichen Weine Italiens oder Galliens gekostet hatten, sehnten sich nach jenen edleren Räuschen zurück. Sie versuchten jedoch nicht (wie dies später mit Erfolg geschehen ist) den Wein an den Ufern von Rhein und Donau heimisch zu machen; auch nahmen sie Abstand davon, etwa durch Fleiß die Grundlagen für einen gedeihlichen Handel zu schaffen. Sich durch Mühsal etwas anzueignen, was man ebenso durch Waffen hätte erlangen können, schien dem Germanengemüt würdelos. Tacitus, Germania 14. Jener Toskaner, welcher sein Land an die Kelten verriet, lockte sie nach Italien mit der Aussicht auf üppige Feldfrucht und köstliche Weine, den Erzeugnissen gesegneter Landstriche. Plutarch, Camillus; Livius, 5,33. Und auf ähnliche Weise wurden die deutschen Hilfstruppen, die während der Bürgerkriege des XVI. Jahrhunderts nach Frankreich gelangten, mit dem Versprechen auf reichhaltiges Quartier in der Champagne und in Burgund geködert. Dubos, Histoire de la monarchie françoise, Bd. 1, p. 193. Trunksucht, die niedrigste, wenn auch nicht die gefährlichste unserer Untugenden, konnte in den weniger zivilisierten Epochen der Menschheit durchaus Anlass für Gemetzel, Kriege oder Revolutionen geben.
ARMUT BEVÖLKERUNG UND VOLKSVERSAMMLUNGEN
Dank der Anstrengungen des letzten zehn Jahrhunderte seit Karl dem Großen ist das Klima des antiken Germanien milder und der Boden fruchtbarer geworden. Dasselbe Land, das gegenwärtig über eine Millionen Bauern und Handwerker leicht und reichlich versorgt, konnte einstmals noch nicht einhunderttausend müßige Krieger mit dem Notwendigsten versehen. Helvetien, die Vorläuferin der heutigen Schweiz, hatte 368 000 Einwohner jeden Alters und Geschlechtes, Caesar, Bellum Gallicum 1,29. Gegenwärtig beläuft sich allein die Zahl der Einheimischen im Pay de Vaud (einem kleinen Distrikt am Genfer See, ausgezeichnet eher durch verfeinerte Sitten als durch Bürgerfleiß) auf 112 591. Siehe die tadellose Studie von Muret in den Mémoires de la Société de Berne. Die Germanen benutzten ihre ungeheuren Wälder lediglich zu Jagdzwecken, das offene Land fast ausschließlich für Weidewirtschaft, betrieben auf den geringen Resten einen sehr primitiven und nachlässigen Ackerbau und ärgerten sich im übrigen an der Kargheit und Unfruchtbarkeit ihres Landes, das sich seine Bewohner zu ernähren weigerte. Wenn Hungersnöte ihnen die Bedeutung der Agrikultur wiederholt handgreiflich machte, so schaffte sich das Elend des Landes dadurch Erleichterung, dass ein Drittel oder auch nur ein Viertel der Jugend auswanderte. Paulus Diaconus, Historia Langobardum 1,2 und 3. Machiavelli, Davila und seine übrigen Nachfolger stellen diese Auswanderung zu sehr als geplantes und abgestimmtes Unternehmen dar.
Der Besitz und der Genuss von Eigentum sind die Bande, welche die zivilisierte Bevölkerung an ein entwickeltes Land fesseln. Die Germanen indessen, die alles bei sich hatten, was ihnen wertvoll war: ihre Waffen, ihr Vieh, ihre Weiber, gaben das große Schweigen ihrer Wälder freudig dahin für die ungewisse Aussicht auf Raub und Eroberung. Die ungemessenen Horden, die dieses Vorratshaus der Nationen freisetzte oder freizusetzen schien, wurden durch die Angst der besiegten und die Leichtgläubigkeit der nachfolgenden Generationen noch vervielfältigt. Und aus solchermaßen übertriebenen Tatsachen bildete sich allmählich die Meinung heraus und wurde zusätzlich von renommierten Autoren bekräftigt, dass in den Zeiten eines Julius Cäsar oder Cornelius Tacitus die Einwohnerschaft des Nordens bedeutend zahlreicher gewesen sein müsse als in unseren Tagen. Sir William Temple und Montesquieu haben sich in diesem Punkte ihrer anerkannt lebhaften Phantasie verschrieben. Eine ernsthaftere Untersuchung der Bevölkerungsfrage hat moderne Forscher indessen vermocht, die Falschheit, ja sogar die Unmöglichkeit dieser Vermutung anzunehmen. Die Namen eines Mariana oder Machiavelli Macchiavelli, Historia di Firenze, Bd.1; de Mariana, Historia Hispaniae, 5,1. können wir gleichberechtigt denen eines Robertson oder Hume Robertson, Charles V; Hume, Essays, moral and political. gegenüberstellen.
FREIHEIT DER GERMANEN
Eine kriegerische Nation wie die Germanen, ohne Städte, Schrift, Ackerbau oder Geld, fand für ihren halbwilden Zustand Ausgleich im Genuss ihrer Freiheit. Ihre Armut garantierte ihnen ihre Unabhängigkeit, denn unsere materiellen Wünsche und unser Besitz sind die stärksten Ketten im Dienste des Despotismus. ›Bei den Suionen (sagt Tacitus) steht auch der Reichtum in Ansehen. Und deshalb sind sie einem absoluten Herrscher untertänig, welcher hier auch nicht, wie sonst im freien Germanien üblich, einem jeden seine Waffe zur freien Verfügung überlässt, sondern sie vielmehr der Obhut eines Wächters anvertraut, nicht etwa eines Bürgers oder eines Freigelassenen, sondern eines Sklaven. Die Nachbarn der Suionen, die Sitonen, sind sogar noch unter ein versklavtes Volk gesunken: sie gehorchen einem Weibe !‹ Tacitus, Germania, 44 und 45. Freinshemius (der seine Ergänzungen zu Livius der Königin Christina von Schweden gewidmet hat), ärgert sich wohl zu Recht über den Römer, welcher nordische Königinnen so gering achtet. Gerade durch die Erwähnung dieser Ausnahmen erkennt der große Historiker hinlänglich eine allgemeine Herrschaftstheorie an. Wir allerdings können noch nicht einmal raten, auf welche Weise denn nun Reichtum und Despotismus in eine solch entlegene Ecke im hohen Norden gelangt sind und die Flamme erstickt haben, welche noch an den Grenzen zu Roms Provinzen so hell leuchtete, oder wie die Vorfahren jener Dänen und Norweger, die sich später so sehr durch ihre Unbeugsamkeit auszeichneten, geradezu lammfromm die Freiheit der Germanen dahingeben konnten. Sollen wir da nicht argwöhnen, dass der Aberglauben der Ziehvater des Despotismus gewesen sei? Die Abkömmlinge Odins (die bis in das Jahr 1060 noch nicht ausgestorben waren) haben angeblich über eintausend Jahre in Schweden regiert. Der Tempel zu Upsala war seit alters der Sitz der religiösen und politischen Herrschaft. Für das Jahr 1153 finde ich ein einmaliges Gesetz, welches Besitz und Benutzung von Waffen außer zum Schutze des Königs verbietet. Ist es denn nicht hochwahrscheinlich, dass man es mit der Ausflucht, einen alten Brauch wiederzubeleben, bemäntelt hat? Einige Stämme an der Ostsee indessen anerkannten die Autorität eines Königs, ohne deshalb ihre Rechte aufzugeben; Tacitus, Germania 43. im weitaus größeren Teil Germaniens hingegen war die Herrschaftsform eine Demokratie, welche allerdings beschränkt und reguliert wurde, und zwar nicht so sehr durch ein allgemeines oder positives Recht als vielmehr durch das zufällige Ansehen, welches Geburt, Stärke, Beredsamkeit oder Aberglauben so mit sich brachten. Tacitus, Germania 11-13.
VOLKSVERSAMMLUNGEN UND HERRSCHER
In ihren Anfängen sind zivile Regierungsformen ein freiwilliger Zusammenschluss zum gegenseitigen Schutz. Zu diesem Zwecke ist es unabdingbar, dass jeder Einzelne ungezwungen sein persönliches Denken und Handeln dem Urteil der Versammlungsmehrheit unterwirft. Diese etwas ungehobelte, aber von der Freiheit vorgegebene Gesellschaftsform war bei den Germanenstämmen in Übung. Sobald nur ein Jugendlicher, von freien Eltern geboren, das Mannesalter erreicht hatte, wurde er in die Versammlung seiner Stammesgenossen berufen, feierlich mit Schild und Speer ausgestattet und als gleichberechtigtes Mitglied in die Schar der Wehrfähigen aufgenommen. Die Versammlung der Stammeskrieger wurde zu festgesetzten Zeiten oder bei plötzlichen Notfällen einberufen. Die gerichtliche Verfolgung von Verbrechen, die Wahl von Magistraten und die großen Entscheidungen über Frieden und Krieg geschahen durch ein unabhängiges Votum. Zuweilen jedoch wurden diese wichtigen Fragen in einer besonderen Versammlung von Stammeshäuptlingen beraten und vorbereitet. Die Magistrate mochten Rats pflegen und sich bereden, beschließen und ausführen konnte das Volk allein; und die Beschlüsse der Germanen waren zumeist bündig und ungestüm. Barbaren, die ihren Augenblickslaunen nachzugeben für Freiheit halten und das Ignorieren der Folgen für Tapferkeit, wandten sich unwillig von den Bedenklichkeiten der Justiz oder der Politik ab, und es war gern geübter Brauch, durch dumpfes Murren sein Missvergnügen an solch' bänglichen Einwendungen anzuzeigen. Wann immer jedoch ein volkstümlicher Redner vorschlug, auch noch den letzten Bürger für erlittenes Unrecht zu rächen, habe es sich nun auswärts oder daheim ereignet und seine Landsleute aufrief, sich der nationalen Ehre anzunehmen oder ein ebenso gefahren– wie ruhmträchtiges Unternehmen zu wagen: ein lautes Speer- und Schildgerassel drückte den stürmischen Beifall der Versammlung aus. Denn die Germanen versammelten sich allezeit in Waffen, und es stand fortwährend zu befürchten, dass eine aufgebrachte Menge, von Parteienhass und Starkbier erhitzt, diese ihre Waffen auch benutzen würde, um ihre Beschlüsse zu bekräftigen und durchzusetzen. Grotius verbessert bei Tacitus, Germania 11 das pertractantur [etwas durchdenken] in praetractantur [etwas vorher in Erwägung ziehen], eine ebenso berechtigte wie sinnvolle Korrektur. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie oft im polnischen Reichstag Blut floss und die größere Fraktion der gewalttätigeren weichen musste. Sogar in unserem alten Parlament entschieden die Barone eine Frage nicht nach der Zahl der Stimmen als vielmehr ihrer bewaffneten Anhänger.
FÜRSTENMACHT UND OBRIGKRITEN
Ein Oberbefehlshaber des Stammes wurde in Gefahrensituationen gewählt; und wenn die Gefahr übermächtig wurde, einigten sich auch mehrere Stämme auf einen gemeinsamen Anführer. Der tapferste Krieger wurde benannt, seinen Landsleuten im Felde voranzugehen, nicht so sehr um Befehle als vielmehr ein Beispiel zu geben. Aber so begrenzt seine Macht auch sein mochte, so war sie ihnen immer noch unerfreulich. Zusammen mit dem Kriege endete sie, und in Friedenszeiten anerkannten die germanischen Stämme überhaupt kein weiteres Oberhaupt. Caesar, Bellum Gallicum 6,23. Jedoch wurden auf allgemeinen Versammlungen Häuptlinge eingesetzt, um in ihren jeweiligen Gauen Recht zu sprechen, oder genauer: Streitereien beizulegen. ›Minuunt controversias‹ [sie verkleinerten Streitigkeiten] ist eine sehr glückliche Formulierung Caesars. Bei der Wahl dieser Magistrate legte man auf Herkunft ebenso viel Wert wie auf Verdienst ›Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt‹ [Die Könige wählen sie sich auf Grund ihrer edlen Abstammung, die Heerführer wegen ihrer Tapferkeit]. Tacitus, Germania 7. Jedem von ihnen wurde durch die Öffentlichkeit eine Art Leibwache beigegeben und ein Beraterkreis von hundert Mann, und die frühesten dieser Herrscher scheinen an Rang und Würden so hervorragend gewesen zu sein, dass die Römer ihnen den Königstitel beizulegen sich gelegentlich versucht fanden Cluver, Germania antiqua, Bd.1,38.
BEDEUTUNG DES INDIVIDUUMS
Eine an zwei Beispielen vorgenommene Darlegung der Machtbefugnisse der Magistrate ist für sich bereits ausreichend, um die germanischen Verhältnisse insgesamt zu verstehen. Die Regelung der Eigentumsverhältnisse des Ackerlandes ihres Gaus lag unwidersprochen in ihren Händen, und sie vergaben es in jedem Jahre wieder entsprechend einer neu vorgenommenen Aufteilung. Caesar, Bellum Gallicum 6,22; Tacitus, Germania 26. Zugleich waren sie aber nicht befugt, einen Privatmann zum Tode zu verurteilen, ihn einzusperren oder auch nur zu züchtigen. Tacitus, Germania 7. Ein Volk, das derart eifersüchtig auf seine Individualität und derart gleichgültig gegenüber dem Besitztum ist, dürfte für Gewerbe und Künste absolut keinen, für Ehre und Unabhängigkeit hingegen einen sehr starken Sinn besessen haben.
An Pflichten erkannten die Germanen nur diejenigen an, die sie sich selbst auferlegt hatten. Noch der unbedeutendste Soldat widersetzte sich mit Abneigung der Obrigkeit. ›Noch die nobelste Jugend sieht es als Ehre an, zur treuen Gefolgschaft eines berühmten Gefolgsherrn zu zählen, dem sie dann ihre Waffendienste antragen. Ein edler Wetteifer besteht unter den Gefolgsleuten um den ersten Platz in der Wertschätzung ihres Gefolgsherrn, so wie unter den Gefolgsherrn um die größte Zahl der entschlossensten Gefolgsleute. Beständig von einer großen Zahl erlesener Jünglinge umgeben zu sein machte den Ruhm und die Bedeutung eines Häuptlings aus, es war im Frieden seine Ehre und im Krieg sein Schutz. Der Ruhm solcher ausgezeichneten Helden drang über die engen Stammesgrenzen. Mit Geschenken und Gesandtschaften buhlte man um seine Freundschaft, und der Ruf ihrer Waffen sicherte oft der Partei ihrer Wahl den Sieg zu. In der Stunde der Gefahr war es für den Häuptling eine Schande, sich von seinen Mannen an Tapferkeit übertreffen zu lassen, wie es für diese schmählich war, es dem Häuptling hierin nicht gleich zu tun. Seinen Tod in der Schlacht zu überleben galt als untilgbare Schmach. Seine Person zu schützen und zu seinem Ruhm die eigenen Heldentaten hinzuzurechnen zählte zu ihren heiligsten Pflichten. Die Häuptlinge kämpften für den Sieg, die Gefolgsleute für ihren Häuptling. Die edelsten Krieger blieben, wann immer ihr Land in die dumpfe Friedenszeit zurückgesunken war, auf irgendwelchen fernen Kriegsschauplätzen, um ihren ruhelosen Geist weiterhin zu beschäftigen und durch freiwillige Gefahren ihren Ruhm zu mehren. Von der Freigebigkeit ihres Gefolgsherrn erwarteten sie angemessene Geschenke, ein Schlachtross und die blutige und stets siegreiche Lanze. Eine ebenso einfache wie gastliche Tafel war der einzige Sold, der er bezahlen konnte oder den sie annehmen würden. Durch Raub, Krieg und freiwillige Geschenke seiner Freunde verschaffte sich der Gefolgsherr die Mittel zu solchem Lohn.‹ Tacitus, Germania 13 und 14. Wenn diese Einrichtung auch einzelne Stämme gelegentlich schwächen mochte, so festigten sie dennoch den allgemeinen Charakter der Germanen und brachte sogar jene Tugenden zur Reife, für die Barbaren empfänglich sind – Treue und Mut, Gastfreundschaft und die Höflichkeit, welche erst so viel später im Zeitalter des Rittertums hervortreten sollte. Die Ehrengeschenke, die der Gefolgsherr seinen tapferen Mannen zukommen ließ, sollen, so ein sinniger Verfasser, die ersten Ansätze zu einem Lehnswesen enthalten haben: nach der Eroberung der römischen Provinzen hätten die Kriegsherren der Barbaren Land an ihre Vasallen mit der gleichzeitigen Auflage zu Gehorsam und militärischen Gefolgschaft verteilt. L'esprit des lois 30,3. Montesquieus sprudelnde Phantasie wird indessen durch den nüchtern-kalten Verstand des Abbé de Mably richtiggestellt. Observations sur l'histoire de France, Bd. 1, p.356. Diese Bedingungen stehen nun allerdings in einem entschiedenen Gegensatz zu den Maximen der alten Germanen, welche an gegenseitigem Beschenken ihre Freude hatten, ohne dabei sich oder den anderen mit irgendwelchen Verpflichtungen zu beschweren ›Gaudent muneribus, sed nec data imputant, nec acceptis obligantur.‹ (Über Geschenke freuen sie sich, legt mit ihnen aber keine Verpflichtung auf und fühlen sich durch empfangene ebenso wenig verpflichtet.) Tacitus, Germania 21..
DIE KEUSCHHEIT DER GERMANEN UND IHRE URSACHEN
›In den Tagen des Rittertums oder besser der Ritterromane waren alle Männer tapfer und alle Frauen keusch.‹ Ungeachtet, dass letztgenannte Tugend deutlich schwieriger zu erwerben und heikler zu bewahren ist als die ersterwähnte, wird sie den Frauen der Germanen fast einhellig zugeschrieben. Polygamie ward – mit Ausnahme von einigen Herrschern – nicht geübt, und auch diese taten es nur, um die Möglichkeiten zu Allianzen zu mehren. Ehescheidungen waren untersagt, nicht so sehr von Gesetzes wegen als vielmehr aus Gewohnheit. Ehebruch wurde wie ein besonders schweres und unsühnbares Verbrechen geahndet, und auch Verführung konnte sich nicht auf Vorbilder oder Moden herausreden. Die Ehebrecherin wurde durch das Dorf gepeitscht. Weder ihr Reichtum noch ihre Schönheit konnten Mitleiden hervorrufen oder ihr zu einen zweiten Ehemann verhelfen. Tacitus, Germania 18 und 19. Leicht können wir nachweisen, dass Tacitus an dem Gegensatz zwischen den Tugenden der Barbaren und den wüsten Aufführungen römischer Damen ein rechtes Vergnügen hatte: tatsächlich gibt es aber auch einige handfeste Begleitumstände, die die eheliche Treue und Keuschheit der Germaninnen als wahr oder doch wenigsten wahrscheinlich erscheinen lassen.
Obgleich der Fortschritt der Zivilisation unwidersprochen dazu beigetragen hat, die wilderen Leidenschaften der menschlichen Natur zu kanalisieren, so scheint die Tugend der Keuschheit hiervon weniger profitiert zu haben, ist doch eine gewisse Gemütsmilde ihr gefährlichster Feind. Die Verfeinerung der Lebensart verdirbt und veredelt zugleich den Umgang der Geschlechter. Der nackte Geschlechtstrieb wird zur Gefahr, wenn er durch sentimentale Schwärmerei veredelt, oder genauer: verhüllt wird. Die Anmut der Kleidung, der Bewegung, des Auftretens verleihen der eigentlichen Schönheit Attraktivität und stacheln die Sinne noch zusätzlich. Aufwendiges Amüsement, mitternächtliche Tanzvergnügen und frivole Schauspiele stellen für die anfällige Weiblichkeit eine Versuchung und zugleich eine günstige Gelegenheit dar. Ovid hält das Theater für den geeignetsten Platz, die Schönen Roms zu versammeln und sie dahinschmelzen zu lassen in Zärtlichkeit und Sinnenfreude. Vor solcherart Anfechtung waren nun die vierschrötigen Frauen der Barbaren durch Armut, Vereinsamung und die dauernde Sorge um das häusliche Wohl geschützt. Die Hütten der Germanen, die nach allen Seiten für neugierige oder neidvolle Blicke offen standen, behüteten die eheliche Treue zuverlässiger als die hohen Mauern, Riegel und Eunuchen eines persischen Harems. Hinzu kommt ein weiterer Grund von etwas ehrenhafterer Natur. Die Germanen behandelten ihre Frauen mit Hochachtung und Vertrauen, befragten sie zu allen wichtigen Anlässen und waren tief davon überzeugt, in ihrer Brust wohne Heiligkeit und Weisheit außerhalb allen Menschenwitzes. Einige dieser Schicksalsdeuterinnen, wie zum Beispiel Velleda im Bataveraufstand, beherrschte namens der Gottheit eine der gefährlichsten Nationen Germaniens. Tacitus, Historiae, 4, 61 und 65. Alle anderen Geschlechtsgenossinnen wurde als freie und gleichgestellte Begleiter der Krieger angesehen, ohne deshalb gleich als Gottheiten angebetet zu werden; durch die Hochzeitszeremonie wurden sie einem Leben in Mühsal, Gefahr und Ruhm anverlobt. Die Mitgift bestand aus einem Joch Ochsen, Pferden und Waffen. Tacitus, Germania 18. Tacitus beschreibt den Gegenstand ein wenig zu blumig. Bei ihren großen Heerzügen waren die Lager der Barbaren voll mit Frauen, die unerschüttert und unverzagt blieben inmitten des Waffenlärms, in aller Zerstörung und beim Anblick der ehrenvollen Wunden ihrer Männer und Söhne. Die Änderung von ›exigere‹ (austreiben) in ›exugere‹ (aussaugen) ist eine treffliche Korrektur. Zurückweichende Heere der Germanen wurden mehr als einmal gegen den Feind zurückgehetzt durch die überreichliche Verzweiflung ihrer Frauen, die die Sklaverei mehr fürchteten als den Tod. War der Tag unverkennbar verloren, dann wussten sie genau, wie sie sich und ihre Kinder mit eigener Hand dem Hohn der Sieger zu entziehen hatten. Bevor die Frauen der Teutonen sich selbst und ihre Kinder umbrachten, waren sie bereit gewesen, sich unter der Bedingung zu ergeben, dass sie als Sklavinnen der Vestalischen Jungfrauen übernommen würden. Tacitus, Germania 7; Plutarch, Marius. Heldinnen von solchem Format mögen unsere Bewunderung verdienen; aber mit Sicherheit sind sie weder besonders liebreizend noch für Liebe sonderlich empfänglich. In ihrem Bemühen, den rauen Mannestugenden nachzueifern, müssen sie sich der anziehenden Milde entschlagen, die nun einmal den Charme des Weibes ausmacht. Stolz, der sich seiner selbst bewusst war, lehrte die Frauen der Germanen alle zärtlichen Gefühlsregungen zu unterdrücken, die ihrer Ehre zuwiderliefen, und die höchste Ehre ihres Geschlechtes war von jeher die Keuschheit gewesen. Die Befindlichkeiten und das Auftreten dieser lebhaften Matronen kann man zugleich als die Ursache und als das Ergebnis des allgemeinen Volkscharakters ansehen. Weibliche Tapferkeit kann immer nur, selbst wenn sie Fanatismus erhöht oder Gewohnheit festigt, ein schwacher und unvollständiger Abglanz der männlichen Tapferkeit sein, welche sich nur durch das Alter oder das Herkunftsland ihres Trägers unterscheidet.
RELIGION
Das religiöse System der Germanen (wenn man denn die unsortierten Gefühle von Wilden so benennen möchte) war ein Erzeugnis ihrer Bedürfnisse, ihrer Ängste und ihrer Unwissenheit. Tacitus hat auf diesen dubiosen Gegenstand einige Zeilen, Cluverius einhundertundvierundzwanzig Seiten verwandt. Der erstgenannte entdeckt in Germanien römische und griechische Götter, der letztere ist sich sicher, dass unter den Symbolen von Sonne, Mond und Feuer seine frommen Vorfahren die Dreifaltigkeit anbeteten. Sie verehrten die großen, sichtbaren Naturobjekte, Mond und Sonne, Feuer und Erde; ferner jene imaginierten Gottheiten, denen man die Lenkung der wichtigsten Geschäfte im Leben der Menschen zuschrieb. Sie hielten sich überzeugt, dass sie – infolge irgendwelcher albernen divinatorischen Kniffe – den Willen der höheren Wesen erkennen konnten und dass Menschenopfer die wertvollsten und willkommensten Geschenke an ihren Altären seien. Man hat etwas voreilig den erhabenen Gottesvorstellungen dieses Volkes Beifall gezollt, welches ihre Götter niemals in Tempelmauern eingesperrt oder durch menschenähnliche Plastiken abgebildet hat; wenn wir uns aber daran erinnern, dass die Germanen von der Architektur wenig und von der Bildhauerkunst überhaupt nichts verstanden, so werden wir die wahren Ursachen dieser Skrupel alsgleich benennen können, welche nicht so sehr aus höherer Vernunft als vielmehr aus handwerklichem Unvermögen erwuchsen. Die einzigen Tempel bei den Germanen waren düstere, alte Haine, die infolge der Verehrung nachfolgender Generationen geheiligt waren. Ihr geheimnisvolles Dämmerlicht, der angebliche Sitz einer unsichtbaren Macht, das Fehlen jedweden erkennbaren Objektes der Furcht oder Anbetung mochte dem Gemüt wohl einen noch tiefer empfundenen Schauder einflößen; Der Heilige Wald, den Lucan mit soviel frommen Frösteln ausmalt, stand in der Nähe von Marseille. Aber von dieser Sorte gab es in Germanien übergenug. und die Priester, wie ungehobelt und ungebildet sie auch sein mochten, hatten gleichwohl in langer Praxis alle Kunstgriffe gelernt, welche derartige ihren Zwecken dienliche Seelenzustände hervorrufen und festigen konnten.
WIRKUNG IM FRIEDEN...
Dieselbe Unwissenheit, welche Barbaren außerstande setzt, die segensreichen Einschränkungen der Gesetze zu verstehen oder wenigsten zu akzeptieren, macht sie auch hilf- und wehrlos gegenüber dem blanken Schrecken des Aberglaubens. Die germanischen Priester kannten diese Schwäche ihrer Landsleute wohl und hatten deshalb auch in weltlichen Angelegenheiten die Rechtsprechung an sich gerissen, welche auszuüben die Magistrate sich nicht unterstehen konnten; und in der Tat unterwarf sich der stolze Krieger bereitwillig der Zuchtrute, wenn sie nicht durch Menschengebot, sondern durch Anweisung des Kriegsgottes selbst verhängt worden war. Tacitus, Germania 7. Den Mängeln der bürgerlichen Ordnung wurde so zuweilen durch Vermittlung religiöser Autoritäten abgeholfen. Dieses äußerte sich dadurch, dass sie in den Volksversammlungen Schweigen und Zurückhaltung durchsetzten; auch betätigten sie sich bisweilen in Vorgängen von erhöhter nationaler Bedeutung.
So wurden in den Gebieten des heutigen Mecklenburg und Pommern festliche Prozessionen durchgeführt. Das unerkannte Symbol der Erde, verhüllt unter einem dichten Schleier, wurde auf einem Ochsenwagen aufgestellt und umhergezogen. Auf diesem Gefährt besuchte die Göttin, beheimatet ansonsten auf der Insel Rügen, die Nachbarstämme, in denen sie ebenfalls angebetet wurde. Während ihrer Reise war Kriegslärm nicht zu vernehmen, Streitigkeiten waren beigelegt, die Waffen ruhten und die sonst so unruhigen Germanen hatten Gelegenheit, der Segnungen des Friedens und der Eintracht zu genießen. Tacitus, Germania 40. Der Gottesfrieden, den die Kirche im XI. Jahrhundert so oft und so vergeblich ausgerufen hatte, war sichtlich eine Kopie dieses antiken Brauches. Dr. Robertsons History of Charles V, Bd.1, Anm. 10.
...UND IM KRIEG
Indessen: der Einfluss der Religion vermochte die Leidenschaften der German erheblich leichter aufzuregen als sie zu dämpfen. Parteiinteressen und Fanatismus veranlassten die Religionsdiener oftmals, die riskantesten und niederträchtigsten Unternehmungen durch des Himmels Beistand und Erfolgsbürgschaft zu heiligen. Geweihte Feldzeichen, die lange in den Hainen des Aberglaubens verehrt worden waren, trug man in der Schlacht voran, Tacitus, Germania 7. Diese Feldzeichen waren lediglich die Schädel wilder Tiere. und die feindliche Armee wurde mittels grässlicher Verwünschungen den Göttern des Krieges und des Donners überantwortet. Ein Beispiel für diesen Brauch findet sich bei Tacitus, Annalen 13, 57. In den Glaubensvorstellungen von Kriegern (und das waren die Germanen) war Feigheit das unverzeihlichste Vergehen. Ein tapferer Krieger hingegen war der Liebling seiner kriegsliebenden Gottheiten; der Elende, der in der Schlacht seinen Schild verloren hatte, war aus den religiösen wie bürgerlichen Zusammenkünften seiner Landleute ausgeschlossen. Einige nördliche Stämme scheinen die Vorstellung einer Seelenwanderung übernommen zu haben, Caesar, Diodor und Lucan scheinen diese Doktrin den Galliern zuzuschreiben, aber Herr Pelloutier (Histoire des Celtes 3,18) ist bemüht, ihren Redensarten einen mehr rechtgläubigen Sinn zu verleihen. andere stellten sich das Paradies wie ein ewiges Zechgelage vor. Näheres zu dieser grobgekörnten, aber dennoch anziehenden Glaubensvorstellung der Edda findet man in der XX. der Kurzepen in der lesenswerten Übertragung dieses Buches, welche Herr Mallet in seiner Introduction à l'istoire de Dannemark herausgegeben hat. Dem aber stimmten alle zu, dass ein Leben unter Waffen und ein ruhmreicher Schlachtentod die beste Vorbereitung für eine glückhafte Zukunft sei, sei es nun in dieser Welt oder der jenseitigen.
DIE BARDEN URSACHEN FÜR DIE EINDÄMMUNG DER GERMANEN
Die Unsterblichkeit, dieses wohlfeile Versprechen der Priesterschaft, wurde sozusagen aushilfsweise von den Barden verliehen. Dieses sonderbare Männerbündnis hat noch jeden fasziniert, der die Kultur der Kelten, der Skandinavier oder der Germanen studiert hat. Ihre Begabung und ihr Charakter, die Hochachtung ferner, mit der man ihrem bedeutenden Tun begegnete: dies alles ist hinreichend dargestellt worden. Wir hingegen können uns nicht so ohne weiteres diese Begeisterung für Waffentaten oder -ruhm ausmalen geschweige denn die Verzückung begreifen, die sie in den Seelen ihrer Zuhörer entfachten. Unter den Gebildeten hat die Freude an der Dichtung eher etwas mit dem Beflügeln von Phantasie zu tun als mit dem Erregen von Leidenschaften. Und dennoch: wenn wir in stiller Zurückgezogenheit die Schlachtenbeschreibungen eines Homer oder Tasso durchlesen, so werden wir unmerklich durch die Darstellung verführt und fühlen vorübergehend Kampfeslust in uns. Aber wie matt und marmorkalt ist diese Empfindung, die ein ansonsten friedfertiges Gemüt aus solchen einsamen Studien ziehen mag! Es war am Tage der Schlacht oder bei Siegesfeiern, dass die Barden den Ruhm der Helden vergangener Tage erneuerten, der Vorfahren jener Häuptlinge, die nun mit Entzücken ihren kunstlosen, aber seelenvollen Klängen lauschten. Der Anblick von Waffen und Gefahr vermehrte die Wirkung der kriegerischen Gesänge; und die Leidenschaften, die sie aufzuregen sich bemühten, der Hunger nach Ruhm, die Geringschätzung des Todes: dies waren der Germanen ureigene Gemütszustände. Tacitus, Germania 3; Diodoros, 5, 29; Strabon 4, p.197. Der klassisch gebildete Leser möge sich an die Stellung des Sängers Demodocus am Hofe der Phäaken erinnern, oder an die Kampfeswut, die Tyrtaios den resignierenden Spartiaten einflößte. Gleichwohl ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass die Griechen und Germanen das gleiche Volk waren. Viel gelehrter Unfug bliebe uns erspart, wenn unsere Altertumsforscher einzusehen beliebten, dass Ähnlichkeit im Verhalten sich zwanglos durch Ähnlichkeit der Bedingungen erklärt.
URSACHE FÜR FEHLENDEN FORTSCHRITT
Dies also waren die äußeren Lebensumstände sowie die Gebräuche der alten Germanen. Ihr Klima, ihr Mangel an Bildung, Technik und Gesetzen, ihr Bewusstsein für Freiheit, ihr Überdruss am Frieden, ihr Unternehmungsgeist: dies alles trug dazu bei, aus ihnen ein kriegerisches Heldenvolk zu formen. Und dennoch finden wir, dass in den zweihundertfünfzig Jahren von der Niederlage des Varus bis zur Herrschaft des Decius diese fürchterlichen Barbaren nur wenige überhaupt erwähnenswerte Vorstöße gegen die luxusschwangeren, knechtischen Provinzen des Römischen Reiches unternommen und dabei keinen einzigen handgreiflichen Erfolg errungen hatten. Ihre Ausbreitung wurde behindert durch ihren Mangel an Waffen und Disziplin, ihre eigentliche Kampfeswut aber richteten sie überwiegend gegen sich selbst.
MANGEL AN WAFFEN...
I. Man hat mit viel Scharfsinn und nicht ohne Wahrheit festgestellt, dass eine Nation, die über Eisen gebietet, alsbald auch über Gold verfügt. Die Stämme Germaniens, die beider Metalle in gleicher Weise ermangelten, konnten sich ohne Hilfe nur allmählich in den Besitz des einen wie des anderen bringen. Der Anblick einer germanischen Armee legt ihren Mangel an Eisen offen. Schwerter und längere Lanzen gab es kaum zu ihrem Gebrauch. Ihre frameae, wie sie es in ihrer eigenen Sprache nannten, waren lange Speere, die mit einer scharfen, aber nur kleinen Eisenspitze versehen waren und die sie je nach Gefechtslage aus der Distanz schleuderten oder für den Stoß im Nahkampf einsetzten. Mit diesem Schild und Speer kämpfte auch die Kavallerie. Ungezählte Pfeile, mit unglaublicher Gewalt verschleudert Missilia spargunt [Sie verstreuen Geschosse]. Tacitus, Germania 6. Entweder gebraucht der Historiker hier einen unbestimmten Ausdruck, oder er meint, sie wurden mehr oder weniger aufs Geratewohl geworfen., waren ein weiteres Kampfmittel der Infanterie. Ihre Kriegstracht, wenn sie denn eine besaßen, war nichts weiter als ein offener Mantel. Verschiedene bunte Farben auf ihren Schilden aus Holz oder Weidegeflecht waren die einzige Zier. Einige Häuptlinge trugen Harnische, kaum jemand von ihnen Helme.
...UND AN DISZIPLIN
Obwohl die Pferde der Germanen weder schön oder wendig waren noch die geschickten Manöver der römischen Kavallerie ausführen konnten, waren einige Stämme wegen ihrer Reiterei besonders gerühmt; gleichwohl, die eigentliche Stärke der Germanen war ihr Fußvolk, Dies war der wesentliche Unterschied zu den Samartianern, die stets zu Pferde fochten. welche in mehreren Heersäulen nach Stammes- und Familienzugehörigkeit aufgestellt wurde. Ihrer Ermüdung nicht achtend, unduldsam gegenüber Verzug, stürmten diese halbbewaffneten Barbaren unter misstönigem Schlachtenlärm und in kunstloser Ordnung in den Kampf; und zuweilen obsiegten sie unter Aufbietung ihrer angeborenen Kräfte über den andressierten Mut der römischen Söldlinge. Da die Barbaren aber in den ersten Angriff ihre ganze Seele legten, wussten sie weder, wie man sich sammelt oder sich zurückzieht. Ein Zurückweichen war deshalb die sichere Niederlage, und eine Niederlage endete gewöhnlich in der vollständigen Vernichtung. Vergegenwärtigen wir uns die Bewaffnung der römischen Legionäre, ihre Disziplin, ihre Ausbildung, Evolutionen und befestigten Lager, so ist es nachgerade überraschend, wie diese halbnackten und ganz auf sich gestellten Barbaren es überhaupt wagen konnten, sich auf offenem Felde der Schlagkraft der Legionen und der sie unterstützenden diversen Hilfstruppen zu stellen. Die Kräfte waren viel zu ungleich, bis endlich Luxus die Stärke der römischen Legionen aufweichte und der Geist des Ungehorsams und der Renitenz ihre Disziplin unterhöhlte. Die Aufnahme barbarischer Hilfskontingente war eine höchst zweischneidige Maßnahme, da durch sie die Germanen allmählich in die höheren Künste der Politik und des Krieges eingeführt wurden. Obwohl sie nur in geringer Zahl und mit aller Umsicht aufgenommen wurden, überzeugte das Beispiel des Civilis die Römer nachdrücklich davon, dass die Gefahr nicht eingebildet war und ihre Vorsicht nicht immer ausreichend. Der Bericht über diese Unternehmung nimmt einen beträchtlichen Teil des IV und V Buches von Tacitus' Historien ein, welche eher durch die Beredsamkeit als durch die Klarheit ihrer Darstellung bemerkenswert sind. Sir Henry Saville hat diverse Ungenauigkeiten festgestellt. Während der Bürgerkriege nach dem Tode Neros hatte dieser erfindungsreiche und furchtlose Bataver, den seine Feinde mit Hannibal und Sertorius Tacitus, Historiae 4,13. Wie diese, so hatte auch er ein Auge eingebüßt. zu vergleichen nicht anstanden, einen großen Plan entworfen, in welchem sich Freiheitssinn und Ehrgeiz mischten. Acht Bataver-Kohorten, die sich in den Kriegen um Britannien und Italien ausgezeichnet hatten, eilten unter seine Fahnen. Er rückte mit einer Armee aus Germanien nach Gallien ein, zog die mächtigen Städte Trier und Langres durch Überredung auf seine Seite, besiegte die Legionen, zerstörte ihre befestigten Lager und bediente sich gegen die Römer aller militärischen Kenntnisse, die er ihnen während seines Dienstes abgesehen hatte. Als er sich nach langem und hartnäckigem Kampfe der Übermacht des Reiches ergeben musste, sicherte Civilis sich selbst und sein Land durch einen ehrenvollen Friedensschluss ab. Die Bataver hielten auch weiterhin die Rheininseln Sie lagen zwischen den zwei alten Rheinarmen, bevor das Land durch künstliche und natürliche Eingriffe verändert wurde. Sie Cluvier, Germania, Bd. 3, p. 30 und 37. besetzt, als Verbündete Roms, nicht als ihre Sklaven.
INNERER ZWIST DER GERMANEN
II. Die Stärke des antiken Germaniens wird fürchterlich, wenn wir uns die Wirkung ausmalen, die von ihren vereinten Anstrengungen hätte ausgehen können. In der Weite des Landes hat es sicherlich eine Millionen Krieger gegeben, da alle, die Waffen führen konnten, hierzu auch willig waren. Indessen war diese gewaltige Masse völlig außerstande, einen Plan von nationaler Größe zu fassen geschweige denn durchzuführen, vielmehr wurden sie durch verschiedene und oftmals entgegengesetzte Vorhaben in Atem gehalten. Germanien zerfiel in mehr als vierzig verschiedene unabhängige Staaten; und in den Einzelstaaten war der Zusammenhalt der verschiedenen Stämme nur als sehr lose und vorübergehend zu bezeichnen. Leicht waren die Barbaren beleidigt; Unrecht zu vergeben lag außerhalb ihrer Möglichkeiten, viel weniger Beleidigungen; ihr Hass war blutig und unerbittlich. Die beiläufigen Streitigkeiten, die auf ihren zahlreichen Jagden oder Trinkgelagen sich ereigneten, waren geeignet, eine ganze Nation zu erregen. Die Anhänger und Verbündeten eines angesehenen Stammeshäuptlings machten sich seine Privatfehde zu der ihren. Einen Frechling zu züchtigen oder einen Wehrlosen zu berauben waren ebenfalls Kriegsgründe. Die mächtigsten Gaue Germaniens waren bestrebt, ihr Land mit einem weiten, unbewohnten Niemandsland zu umgeben. Ein großer räumlicher Abstand zu ihren Nachbarn unterstrich nämlich die Stärke ihrer eigenen Waffen und schützte sie wohl auch gegen Überraschungsangriffe. Caesar, Bellum Gallicum 6,23.
›Die Bructerer‹ (so schreibt Tacitus) ›wurden durch Nachbarstämme Im IV und V Jh. werden sie dennoch von Nazarius, Ammianus Marcellinus, Claudianus und anderen erwähnt, jedoch als Stämme der Franken. Siehe Cluver, Germania, Bd. 3,13. restlos vernichtet, die sie durch ihren Hochmut erbittert oder durch die Aussicht auf Beute angelockt hatten; vielleicht hatten sie auch die Götter ermuntert. Über sechzigtausend Barbaren wurden getötet, nicht etwa durch römische Waffen, sondern vor unseren Augen und zu unserer Freude. Dass doch diese Nationen, Feinde Roms, für immer diesen gegenseitigen Hass pflegen wollten! Wir sind nun auf dem Höhepunkt unserer Macht angekommen, ›urgentibus‹ [drängenden] ist die übliche Lesart, aber Sinn und Verstand, Justus Lipsius und einige Handschriften sprechen für ›vergentibus‹ [sich neigenden]. und uns bleibt nichts mehr vom Schicksal zu wünschen als die Zwietracht der Barbaren.‹ Tacitus, Germania 33. Der fromme Abbé de la Bléterie ist hochgradig verärgert über Tacitus, spricht vom Teufel, der Mörder war von Anfang an &c. &c. Diese Sätze, die weniger für Tacitus' Menschlichkeit sprechen als für seinen Patriotismus, fassen die Grundsätze der römischen Politik präzise zusammen. Die Barbaren gegeneinander aufzuhetzen dünkte sie weit zweckdienlicher als sie selber zu bekriegen, hätten sie doch aus ihrer Unterwerfung weder Ehre noch Gewinn gezogen. Roms Geld und seine Versprechungen hatten sich in das Herz Germaniens eingenistet, und jeder diplomatische Kunstgriff wurde sorgfältig in Szene gesetzt, besonders jene Nationen ruhig zu stellen, deren Nähe zu Rhein und Donau aus ihnen die schlimmsten Feinde wie die nützlichsten Freunde machen konnte. Häuptlingen von Ansehen und Einfluss schmeichelte man mit erlesenen Geschenken, welche sie entweder als Nachweis für ihre eigene Bedeutung oder als Luxusgegenstand ansahen. Bei inneren Zwisten suchte die schwächere Partei ihre Interessen zu stärken, indem sie in geheime Verbindung mit den Statthaltern der Grenzprovinzen trat. Jedweden Hader unter den Germanen schürte Rom mit seinen Ränken; und jeden Plan, der der Einheit und dem öffentlichen Wohl gedient hätte, ging zuschanden an persönlichen Interessen oder Eifersüchteleien. Für diese Politik finden sich bei Tacitus und Cassius Dio zahlreiche Belege; und sehr viele mehr lassen sich aus der Natur des Menschen schöpfen.
LIGA DER GERMANEN GEGEN MARCUS AURELIUS
Die allgemeine Verschwörung, die Rom unter Marc Aurel entsetzte, umfasste beinahe alle germanischen Nationen (und selbst der Sarmaten) von der Rhein- bis hin zur Donaumündung. Historia Augusta, Marcus Antoninus 22; Ammianus Marcellinus 31,5; Aurelius Victor, Caesares 16. Der Kaiser Mark Aurel war genötigt, die üppigen Palasteinrichtungen zu versilbern sowie Sklaven und Räuber in die Armee aufzunehmen. Wir können unmöglich entscheiden, ob diese Konföderation durch Not, Vernunfterwägungen oder Ehrgeiz geschmiedet wurde; aber wir können sicher sein, dass die Barbaren weder durch kaiserliche Trägheit verlockt noch durch seinen Ehrgeiz provoziert wurden. Diese lebensgefährliche Invasion forderte ihm alle Standhaftigkeit und Wachsamkeit ab. Es versetzte bewährte Generäle an die verschiedenen bedrohten Grenzabschnitte und übernahm in eigener Person die Führung der äußerst wichtigen Provinz an der oberen Donau. Nach langen und wechselvollen Kämpfen wurde der Mut der Barbaren bezwungen. Die Markomannen Die Markomannen hatten einst, von den Rheinufern aus, Böhmen und Mähren besetzt und unter ihrem König Maroboduus (Marbod) eine große und durchaus erschreckliche Monarchie errichtet. Siehe Strabo, 7,290; Velleius Paterculus 2,108; Tacitus, Annales 2,63. und Quaden, die die wichtigste Rolle in diesem Kriege gespielt hatten, wurden am härtesten bestraft. Sie wurden verurteilt, sich fünf Meilen Herr Wotton (The History of Rom) erhöht die Sperrzone auf zehn Meilen. Seine Überlegung besticht vordergründig, ist aber nicht schlüssig; fünf Meilen genügten für eine befestigte Grenzanlage. von ihren Donauufern entfernt zurückzuziehen, und die Blüte ihrer Jugend auszuliefern, welche sofort nach Britannien weitergeschickt wurde, wo sie als Geiseln sicher und als Soldaten nützlich sein mochten. Cassius Dio 71,11ff; und 72,2. Der infolge der zahlreichen Aufstände verbitterte Kaiser beschloss bezüglich der Markomannen und Quaden, ihr Land in eine Provinz umzuwandeln; der Ausführung dieses Planes kam sein Tod zuvor. Die fürchterliche Vereinigung der Germanenstämme aber, der einzigen innerhalb von zweihundert Jahren Kaisergeschichte, löste sich vollständig auf, ohne irgendwelche Spuren in Germanien zu hinterlassen.
STÄMME DER GERMANEN
Im Verlaufe dieses einleitenden Kapitels habe ich mich mit einer allgemeinen Darstellung der Verhältnisse Germaniens begnügt, ohne dabei die verschiedenen Stämme zu beschreiben oder zu unterscheiden, welche zur Zeit Cäsars, Tacitus' oder Ptolemäus' dieses große Land bewohnten. Sobald die alten oder neuen Stämme im Laufe dieser Darstellung die Bühne betreten, wollen wir ihre Herkunft, ihre Verhältnisse und ihre jeweiligen Besonderheiten gewissenhaft beschreiben. Nationen der Jetztzeit sind etablierte und dauerhafte Gemeinschaften, durch Gesetz und Regierung geeint und an die Scholle durch Technik und Landwirtschaft gebunden. Die Stämme der Germanen waren freiwillige und unbeständige Bündnisse von Kriegern, fast schon von Wilden. Infolge von Eroberung und Vertreibung konnte ein und derselbe Landstrich seine Einwohnerschaft oftmals wechseln. Dieselben Stämme, die sich in Verteidigungs- oder Eroberungsabsichten vereinigten, konnten sich einer neuen Konföderation unter einem neuen Namen anschließen. Die Aufkündigung eines alten Bündnisses gab den unabhängigen Stämmen ihre eigene, wenngleich längst vergessene Benennung zurück. Ein siegreicher Stamm überträgt ja oftmals seinen eigenen Namen auf die Besiegten. Bisweilen versammeln sich auch Freiwillige aus allen Landen in Massen. Irgendein ein Umstand in ihrem Unternehmen verleiht dieser buntscheckigen Masse dann den gemeinsamen Namen. Die Unterscheidungsmerkmale der Angreifer werden von ihnen selbst beständig geändert und von den erschrockenen Untertanen des Römischen Imperiums durcheinander gebracht. Siehe die hervorragende Erörterung über den Ursprung und die Wanderung der Völker in den Mémoires de l'Académie des Inscriptions des Belles-Lettres, Bd. 18, p. 48-71. Nur selten geschieht es, dasssich der Altertumsforscher und der Philosoph so glückhaft miteinander verbinden.
Kriege und öffentliche Angelegenheiten sind die wichtigsten Gegenstände der Geschichtsschreibung; aber die Zahl derer, die an diesen Geschäften teilhaben, ist höchst unterschiedlich und hängt von der allgemeinen Lage der Menschheit ab. In großen Monarchien obliegen Millionen von braven Untertanen ihren nützlichen Verrichtungen, still und unerkannt. Die Aufmerksamkeit des Lesers wie des Autors wird einzig eingefangen durch einen Königshof, eine Hauptstadt, eine Armee und diejenigen Landstriche, welche zufällig der Schauplatz einer militärischen Operation geworden sind. Indessen machen ein freiheitlich-barbarischer Staat, Zeiten bürgerlicher Unruhen oder eine unbedeutende Soll man annehmen, dass Athen nur 21.000 und Sparta nicht mehr als 39.000 Bürger gehabt haben? Siehe hierzu Wallace und Hume über Bevölkerungszahlen in alter und neuer Zeit. Republik aus jedem Einzelnen einen Handelnden, der folglich von der Geschichte wahrgenommen wird. Die unberechenbaren Zersplitterungen und rastlosen Züge der Germanen verwirren uns und scheinen dadurch ihre Zahl zu vergrößern. Anlässlich der endlosen Aufzählung von Königen und Kriegern, von Armeen und Völkern übersehen wir leicht, dass es immer dieselben Gegenstände sind, die nur unter ständig wechselnden Bezeichnungen wiederholt werden und dass die glänzendsten Benennungen häufig an die unwürdigsten Gegenstände verschwendet werden.