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Sir John Lubbock, der berühmte Prähistoriker und Erforscher der Insektenseele, hat ein Buch über die Freuden des Lebens, the Pleasures of Life, geschrieben. Geschrieben ist vielleicht nicht das richtige Wort; jedenfalls ist das Buch nicht als Buch aus der Feder geflossen. Als berühmter Gelehrter, Baronet und Parlamentsmitglied hat Sir John häufig Veranlassung, bei Schulfeierlichkeiten und Eröffnungen wissenschaftlicher Institute die Festrede zu halten, und diese Gelegenheit hat er benutzt, um seinen, meistens jugendlichen, Zuhörern zu zeigen, ein wie großes Privilegium und Glück ihnen durch den Eintritt in das menschliche Leben zu teil werde. Diese Ansprachen, etwa zwei Dutzend an der Zahl, hat er etwas retuschiert und mit Kapitelüberschriften versehen, z. B. »Das Glück, Freunde zu haben«, »Der Wert der Zeit«, »Die Freuden des Reifens«, »Die Freuden der Häuslichkeit«, »Die Schönheiten der Natur«, »Kunst«, »Poesie«, »Gesundheit« u. s. w., und die Firma Macmillan & Co. hat dann ein Buch daraus gemacht, zwei mäßige Oktavbändchen, splendide gedruckt, elegant gebunden, Preis sieben Schilling. Binnen drei Jahren sind ungefähr sechzigtausend Exemplare abgesetzt und ist außerdem eine wohlfeilere Volksausgabe in vielen Auflagen erschienen.
Dieser buchhändlerische Erfolg ist für uns Deutsche vielleicht das Merkwürdigste an dem Buche. Bei uns könnte ein spannender Roman, ein Beitrag zur brennendsten Kontroverse des Tages, eine Sammlung pikanter Indiskretionen kaum annähernd auf solchen Absatz rechnen, wenigstens nicht bei einem Ladenpreise von sieben Mark. Das Buch Lubbocks, ein bloßes Nebenprodukt seiner Betriebsamkeit, wendet sich weder an die Leidenschaften noch an die Skandalsucht, noch an das Unterhaltungbedürfnis. Es bietet gelegentliche Betrachtungen über Themata der Lebensweisheit und der Pädagogik, die des Reizes der Neuheit entbehren. Ich will gleich hinzufügen, daß die Betrachtungen selbst durchaus nicht besonders geistreich, blendend und überraschend sind. Wie erklärt sich nun die Ziffer Sechzigtausend?
Ich höre die bekannte Antwort: in England gibt es weit mehr reiche Leute als in Deutschland. Allein das erklärt nur den Grad des Unterschiedes, nicht den Unterschied selbst, der zwischen den Schicksalen englischer und deutscher Bücher besteht. Wenn die deutschen Absatzziffern etwa die Hälfte der britischen betrügen, würde ich es ganz natürlich finden und kein Wort darüber verlieren. Aber der eigentliche Grund steckt nicht im Geldbeutel, sondern in der geistigen Kultur. Gott soll mich davor bewahren, daß ich behaupten sollte, unser Volk stehe in der Bildung tiefer als irgend ein anderes. Wohl aber fürchte ich, daß in dieser Beziehung unsere reichen und wohlhabenden Klassen anders, und zwar tiefer stehen, durchschnittlich genommen, als die reichen und wohlhabenden Klassen in England. Die letzteren haben als Klassen, ganz abgesehen von individuellen Vorlieben, ein festes, traditionelles Pietäts- und Respektsverhältnis zu den geistigen Koryphäen der Nation. Wenn ein Engländer es einmal dahin gebracht hat, zu diesen Koryphäen gezählt zu werden, mag er Darwin, Gladstone, Tennyson oder Lubbock heißen, dann mag er schreiben, worüber er will, er kann ziemlich sicher sein, daß das Publikum seinen Verleger nicht im Stiche läßt. Für die Wohlhabenden, die doch meist zu den Gebildeten und zur guten Gesellschaft gerechnet sein wollen, ist es eine Anstandspflicht, von dem neuen Buche Notiz zu nehmen, wäre es auch nur, indem sie es auf den Tisch ihres Parlour legten. Gewiß ist dabei viel äußerer Schein, wenn man will, pure Heuchelei. Aber man heuchelt doch immer nur solche Interessen, die in Ansehen stehen. In Deutschland würde ein Majoratsherr, ein Börsenfürst, ein General, ein Minister nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß es für ihn unanständig sein würde, um die neueste Schrift von Helmholtz, von Mommsen, von Ihering oder von Virchow sich gar nicht zu kümmern, vielleicht nicht einmal den Titel zu kennen. Einer und der andere dieser Bevorzugten kauft wohl auch derartige Schriften, aber ich glaube, daß seine Standesgenossen, wenn sie es erführen, den Kopf schütteln würden. Das deutsche Kulturleben ruht auf den breiteren Mittelschichten, die nur leider nicht sehr kaufkräftig sind. Daß ihm dies breite Fundament erhalten bleibe, ist natürlich zu wünschen, aber es wäre nicht übel, wenn die oberen Stockwerke ein wenig nach englischem Muster eingerichtet würden. Wenn die Edelsten der Nation auch an Bildung keinem nachstehen, so ist das ein Gewinn für sie selbst und für die Nation.
Ich will nicht gesagt haben, daß allein der Name des Verfassers den Erfolg des Verlegers erkläre. Das Thema hat sicherlich viel dazu beigetragen. »Wir sind im ganzen, wenn ich nicht irre, eine etwas melancholische Rasse,« bemerkt Lubbock; aber die Engländer besitzen neben ihrem Spleen auch einen sehr robusten Willen zur Bejahung des Lebens. Gerade ein solches Volk mit doppeltem Hange zu energischer Kraftentfaltung und zu grüblerischer Meditation muß sich beunruhigt und bedrückt fühlen, wenn der Weltschmerz, der im Gewande der Dichtung immer noch einen gewissen Genuß gewährte, im Mantel des Philosophen auftritt, als systematischer Pessimismus und mit einer Beredsamkeit, die erschütternder wirkt als die der Poeten, seine furchtbare Beweisführung antritt, daß alles eitel sei und das Leben nicht des Lebens wert. Und es ist ganz unverkennbar, daß die pessimistische Philosophie, von Deutschland ausgehend, in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren unter den gebildeten Engländern, ich will nicht sagen viele Anhänger, wohl aber viele aufmerksame Hörer gefunden hat. Und wie auf dem Kontinent, so hat auch jenseit des Kanals sich die Erfahrung bewährt, daß die düstere Lehre auch da, wo sie heftigem Widerspruch, leidenschaftlicher Ablehnung begegnet, schwere Schatten über die Gemüter ausbreitet. Wissenschaftlich diese Verzweiflung am Dasein überwunden zu sehen, wird ein brennendes Bedürfnis gerade derjenigen, deren Lebenselement es ist, mit einer Art enthusiastischer Zähigkeit, der spezifisch angelsächsischen Tugend, gegen die Mängel und Leiden der Welt zu kämpfen, während sie andererseits nicht leichtfertig und oberflächlich genug sind, um sich die unfrohe Botschaft, die sich auf eine Menge unleugbarer Erfahrungen beruft, einfach aus dem Sinn zu schlagen. In solcher Stimmung betrachtet der Mensch den, der den unwillkommenen Apostel bündig des Irrtums überführt, als einen Erlöser.
Das geistige Leben der Engländer tritt uns zwar bei weitem nicht ausschließlich, aber besonders deutlich in den beiden Formen des Romans und des Essay entgegen. In den Romanen höherer Gattung und in den zahlreichen Reviews des Inselreichs trifft man auf Schritt und Tritt die Spuren jener Unruhe und Beklemmung, die der Pessimismus zurückgelassen hat: eine allgemeinere Bereitwilligkeit, die Schwere und das Dunkel des Menschenloses anzuerkennen und zu betrachten, eine tiefere Ergriffenheit beim Anblick des massenhaften Elends, und bei den Optimisten selbst eine gedämpftere Stimmung, ein diskreteres Auftreten, ein Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, eine Neigung, zu polemisieren, lauter Symptome, daß die Naivität und Sicherheit verloren gegangen oder ins Schwanken geraten sind. Im innersten Kern, das ist mir nicht zweifelhaft, lehnt die angelsächsische Natur die Weltverzweiflung und die Weltverneinung ab; ernsthaft aber und gewissenhaft wie sie ist, verlangt sie bündige Argumente für das Verdikt, das sie zu fällen entschlossen ist; es soll alles gerecht und »fair« zugehen wie vor der Jury; beide Parteien sollen ungehindert zu Worte kommen; hoffentlich wird denn doch die Beweisführung zu einem Siege führen, der dem Herzenswünsche entspricht. Als Sir John Lubbock nun durch den Titel seines Buches anzukündigen schien, daß er gegen den Pessimismus zu plädieren beabsichtige, da, denk' ich mir, ging durch die englische Lesewelt ein Gefühl des Behagens, wie es durch das Publikum des Gerichtssaals geht, wenn ein berühmter Anwalt sich erhebt, um einen unpopulären Angeklagten der Verurteilung zu überliefern. Ein solcher Anwalt, wenn er nur zu sprechen versteht, hat eine leichte Aufgabe: was ihm etwa an Argumenten abgeht, ersetzt ihm die Sympathie der Zuhörer. Dies erklärt die fünfzig Auflagen.
Der Inhalt reicht nicht aus, die Popularität des Buches zu erklären. Von einer wirklichen Erfassung des düsteren Problems ist nicht die Rede, geschweige von einer siegreichen Lösung, die freilich meines Erachtens auf dem Wege der Argumentation überhaupt nicht möglich ist. Lubbock beweist uns etwas, was eigentlich niemand bestreitet, daß nämlich unter günstigen Umständen sich auf Erden sehr wohl ein zufriedenes Dasein führen läßt. Die Behauptung des Pessimisten geht auf die Summe der bewußten Existenzen, in welcher ihm zufolge Not und Schmerz die Freuden weit überwiegt, notwendig überwiegt und immer überwiegen wird, trotz aller Fortschritte in der Zivilisation, ja zum Teil wegen dieser Fortschritte, die immer neue Begierden erwecken und die Empfänglichkeit für das Leiden erhöhen. Die Beschaffenheit der Welt, vor allem die Natur des Willens, der nach der Befriedigung sofort die Leere fühlt und nach erneuter Befriedigung hungern muß, das sind die beiden unheilbaren Übel, die keine Erlösung zulassen als in der Vernichtung. Dem gegenüber die guten Dinge, die der Mensch sich verschaffen kann, aufzuzählen, das ist ungefähr so, als wenn man den Parisern sagen wollte, sie hätten im Winter 1870/71 ein behagliches Leben geführt, weil, wer es verstand und das erforderliche Geld besaß, auch während der Belagerung jeden Tag einen guten Braten auf dem Tische haben konnte.
In dem berühmten Kapitel Schopenhauers »Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens« tönt es wie dumpfer Posaunenschall, gegen den das gemütliche Flötenspiel des englischen Philosophen nicht aufkommt. Man höre z. B. folgendes:
»Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut und dem Nichtsein entschieden vorzuziehen wäre, so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetzlichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken ist, besetzt zu sein. Aber wer würde im Leben, wie es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich wäre? Und wer könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre? So aber hat jener immer noch das Gute, das Ende des Lebens zu sein, und wir trösten uns über die Leiden des Lebens mit dem Tode und über den Tod mit den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, daß beide unzertrennlich zusammengehören, indem sie ein Irrsal ausmachen, von welchem zurückzukommen, so schwer wie wünschenswert ist.... Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen umso höheren, je intelligenter er ist, – dieser Welt hat man das System des Optimismus und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.«
Damit vergleiche man, was Lubbock sagt:
»Wenn wir unser Bestes tun, wenn wir nicht kleine Verdrießlichkeiten vergrößern, wenn wir die Dinge, ich will nicht sagen, von ihrer hellen Seite, aber so, wie sie sind, entschlossen ins Auge fassen, wenn wir die vielfachen uns umgebenden Segnungen ausnutzen, so können wir uns des Gefühls nicht erwehren, daß das Leben wirklich ein herrliches Erbteil ist.«
Viermal wenn! Ob es richtig ist, daß, wer diese vier Bedingungen erfüllt, das Leben herrlich finden muß, mag dahingestellt bleiben; der Psalmist ist offenbar anderer Meinung gewesen, als er das köstlichste Menschenlos für eitel Mühe und Arbeit erklärte. Angenommen aber selbst, es verhielte sich so, wie Lubbock sagt, so bliebe sein Trost doch immer ein recht schwacher Trost, denn die allermeisten Menschen können die Bedingungen des Glücks nicht erfüllen, und gerade darin, daß sie es nicht können, wurzelt das Leiden der Welt. »Unser Bestes« zu tun, das Beste, dessen die menschliche Natur fähig ist, das vermögen nur wenige Auserlesene. Kleine Verdrießlichkeiten sind für den, der sie als große Plagen empfindet, ganz dasselbe wie große Plagen, und ob er sie so empfindet, das hängt nicht von seinem Belieben ab, sondern von seinem angeborenen Temperament und von der ihm verliehenen Urteilskraft. Nicht davon zu reden, daß es auch in den gewöhnlichsten Lebensläufen neben den kleinen auch eine stattliche Reihe großer Plagen zu geben pflegt, die nicht weichen, wenn man sie mit Objektivität ins Auge faßt. Und was endlich »die vielfachen uns umgebenden Segnungen« betrifft, die wir nur gehörig ausnutzen sollen, – ja, du lieber Himmel, mit diesen Segnungen hat es eine ähnliche Bewandtnis wie mit dem berühmten Reis- und Pflaumengerichte der Tagelöhner Fritz Reuters: »Wir kriegen sie man nicht.«
Wenn man den Lebensteppich, den Lubbock vor uns ausbreitet, etwas näher betrachtet, so taucht unwillkürlich – mir wenigstens – der Gedanke auf: Wie viel mag das wohl im Jahr kosten? Freuden der Häuslichkeit und der Freundschaft, genußreiche Stunden im wohlausgestatteten Büchersaal, Ritte am Meeresstrand und über die purpurne Heide, Besuche von Zeit zu Zeit am Golf von Neapel, in den Ruinen Thebens oder wo sonst abgestattet, Entzückungen des Forschers, dem die Geheimnisse der Natur sich langsam enthüllen, Musik, Malerei, Skulptur, die dem Alltagsleben ihren Schmuck verleihen – wie viel kostet das im Jahre? Die Herrlichkeiten, die uns vorgehalten werden, sind für Familienväter mit tausend Pfund Sterling Rente und darüber gewiß beachtenswert; für den Massenkonsum sind sie nicht berechnet. Ich weiß nicht, ob es zu hoch gerechnet ist, wenn man annimmt, daß ein Tausendstel der gesamten Menschheit die Mittel besitzt, um sich nach diesem Rezepte des Lebens zu freuen.
Aber die Geldmittel genügen allein nicht, um das Glück zu kaufen. Man muß auch verschont bleiben von allen den unzähligen Widerwärtigkeiten, die den Reichen wie den Armen bedrohen, Krankheit, ungeratenen Kindern, schlechten Nachbarn, beschwerlichen Kollegen, langweiligem Umgang, schlimmen Dienstboten, – ich überlasse es der Lebenserfahrung des geneigten Lesers, die Reihe mit Grazie fortzusetzen. Man muß ferner frei sein von den Affekten, die den süßesten Trank in Wermut verwandeln, von Neid, Ehrgeiz, Zanksucht, Geringschätzung des Erlangten, Begierde nach dem Unerreichbaren. Und man muß drittens innerlich so beschaffen sein, daß man wirklichen Genuß empfindet, wenn Natur und Kunst und Wissenschaft ihre Reize entfalten. Zehntausende sind es, die alljährlich die berühmten Aussichtspunkte der Welt absuchen und durch die Galerien des Louvre, des Vatikan und des Palastes Pitti wandern, aber wer einmal solche Pilgerscharen mit prüfendem Blick beobachtet hat, der wird schwerlich daran glauben, daß die Mehrzahl im Innern jubelt. Die Zahl der wahrhaft Bevorzugten schmilzt bedenklich zusammen.
Um übrigens Lubbock nicht zu nahe zu treten, muß ich bemerken, daß er auch an die unbemittelte Mehrheit ein wenig gedacht hat. Er versucht sie zu trösten, und es ist für den englischen Optimisten sehr bezeichnend, wie er es versucht. »Epikur hat gesagt, daß es für unser Wohlbefinden wichtiger sei, wenig Bedürfnisse zu haben als großen Reichtum. Aber in unserem glücklichen Lande ist es uns möglich, viele Bedürfnisse zu haben und gleichwohl sie alle, wenn sie nur vernünftig sind, zu befriedigen.« Reichtum macht mehr Sorge als Vergnügen, aber freilich »muß man wohl einräumen, daß der Besitz irgend eines Einkommens, das im Laufe der Jahre sich vermehrt, zum Lebensglücke beiträgt«. Manche auserlesene Genüsse sind dem Mittellosen ebenso zugänglich wie dem Wohlhabenden. Jedermann hat den Anblick der Landschaft, der Seeküste, des Himmels; wir alle besitzen Tausende von Äckern Landes, wenn wir nur recht zu genießen verstehen, und dieser Besitz kostet uns weder Geld noch Sorgen. Lubbock zitiert Ruskin, der gesagt hat: »Beobachten, wie das Getreide wächst oder die Blüten ansetzen, tief atmen über Spaten oder Pflugschar, lesen, denken, lieben, beten, – das sind die Dinge, die Menschen glücklich machen«; und Emerson, der uns belehrt, daß der reichste Millionär nicht die Disputa oder die Schule von Athen zu kaufen vermag, während jedem Bedienten es frei steht, sie sich anzusehen; daß ein Sammler für ein Autograph Shakespeares hundertsiebenundfünfzig Guineen hat zahlen müssen, während ein Sekundaner den Hamlet unentgeltlich lesen kann.
Alle diese Betrachtungen laufen im Grunde auf eine Sophisterei hinaus; sie unterdrücken den wichtigeren Teil der Frage, nämlich wie denn der Arme, den man trösten will, fühlt und denkt. Wahrscheinlich ist er ganz anderer Meinung als der feinsinnige Philosoph, gibt mit Vergnügen alle Reize der Landschaft und der Seeküste preis, wenn er ein Stück Kartoffelland dafür eintauschen kann, verzichtet ohne Seelenkampf auf das Privilegium, den Vatikan betreten zu dürfen, wenn man ihm dafür einige von des Sammlers Guineen gibt, und auf alle Shakespeareschen Dramen obendrein. Korn und Blüten zu beobachten, haben viele Millionen Mitbürger Lubbocks höchstens ein paarmal im Jahre Gelegenheit, und die anderen, die das Schauspiel täglich vor Augen haben, würden wahrscheinlich sehr verwundert sein, wenn sie hörten, daß dies und das Atmen über Spaten und Pflug glücklich mache. Hiob kannte die armen Leute besser: »Der Knecht sehnet sich nach dem Schatten und der Tagelöhner sehnet sich nach dem Ende seiner Arbeit.«
Das, was in einzelnen Fällen richtig ist, auf alle oder die meisten Fälle anzuwenden, anzunehmen, daß, was mich erfreut, eine Freude für die Menschheit bedeute, ist ein grober Fehler und doppelt befremdend, wenn ein Mann der exakten Wissenschaft ihn begeht. Aber auf diesem Gebiete, dem der Lebensphilosophie, ist der Fehler weit verbreitet, fast allgemein, und auch die Pessimisten verfallen ihm, in entgegengesetzter Richtung. Sie nehmen an, daß der Schmerz, den sie empfinden würden, wenn sie das Los der Mehrzahl zu teilen hätten, genau so lebhaft und heftig von dieser empfunden werde, was doch glücklicherweise nicht der Fall ist. Ein anderer, gleichfalls häufiger Fehler ist der, daß man glaubt, die Zeitgenossen mit ihrem Schicksal zu versöhnen, wenn man ihnen zeigt, wie viel besser sie es haben als frühere Geschlechter. »Mich dünkt, wir würdigen nicht genug unser Glück, dem neunzehnten Jahrhundert anzugehören.« Diese Bemerkung knüpft Lubbock an die Erörterungen der unschätzbaren Freuden, die wir den Büchern verdanken. Wie leicht haben wir es, uns diese Freuden zu verschaffen, wenn wir uns mit unseren Vorfahren vergleichen! Das ist gewiß richtig, und dasselbe gilt auch von einer Menge anderer Dinge, die für unsere Bequemlichkeit, unseren Genuß und unsere Ruhe wichtig sind, vom modernen Streichholze bis zur modernen Rechtspflege. Aber der Schuh drückt heute darum nicht weniger, weil man weiß, daß er früher noch mehr gedrückt habe. Jede heranwachsende Generation bildet sich einen neuen Maßstab, an dem sie Lust und Unlust mißt; was gestern noch als ein Glück empfunden wurde, ist heute schon eine kaum mehr bemerkte, selbstverständliche Lebenseinrichtung, und morgen wird es ein Gegenstand der Kritik sein, dessen Mangel und Unvollkommenheiten in aller Munde sind. Goethe seufzte:
»Ja, wenn wir das erfinden könnten,
Daß Lichter ohne Schnuppen brennten!«
Wir, längst im Besitze solcher idealen Lichter, murren, wenn das Gas Hitze verbreitet und die Dynamomaschine geräuschvoll arbeitet. Es tröstet uns nicht, wenn man uns an die elenden Beleuchtungsmethoden des Goethischen Zeitalters erinnert. Solche Vergleichungen anzustellen, hat für den philosophischen Betrachter gewiß einen hohen Wert, und es kann ihm auch Freude bereiten, wenn er nämlich in den verglichenen Tatsachen den Beweis dafür findet, daß der Zustand der Menschen mit der Zeit besser wird. Aber den Durchschnittsmenschen macht dieser Beweis nicht glücklicher. Er mißt die Gegenwart nur an seinen eigenen Wünschen, und das trägt selten zur Zufriedenheit bei. Den Arbeitern rechnen wohlmeinende Statistiker gern vor, daß und wie sehr ihr Los seit fünfzig und gar seit hundert Jahren sich verbessert hat, aber noch nie hat diese Rechnung, obwohl sie durchaus richtig ist, auch nur den leisesten Einfluß auf die Stimmung sozialistischer Massen ausgeübt, oder, wenn doch, höchstens einen irritierenden.
An die Mehrheit des Menschengeschlechts hat Lubbock, wie gesagt, auch ein wenig gedacht, aber nur ein ganz klein wenig. Im wesentlichen spricht er nur für die wohlhabenden Klassen und auch nur für eine Elite dieser letzteren, für die feiner besaiteten Herzen und die höher gebildeten Köpfe. Nun sollte man aber doch, wenn man von den Freuden des Menschenlebens redet, das ganze, das volle Menschenleben als sein Thema ansehen, zumal dies Thema, einer berühmten Autorität zufolge, von allen Seiten interessant ist. Freilich wäre das Buch dann nicht so salonfähig geworden. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer Teil der menschlichen Freuden recht grober und selbst roher Natur ist und manches davon in Damengesellschaft nicht wohl erörtert werden kann. Die tierische Natur bildet nun einmal den breiten Untergrund des menschlichen Daseins, und wenn man das einfach ignoriert, so gibt man von diesem Dasein ein unvollständiges, ja ein falsches Bild. Die sinnlichen Genüsse spielen eine ungeheure Rolle in unserer Welt; davon erhält, wer Lubbocks Betrachtungen liest, keine Ahnung. Er hat ein Kapitel über »Liebe«, aber man würde sich sehr irren, wenn man darin Belehrung über die Gewalt und den Einfluß, den die Neigung der Geschlechter weit und breit auf Erden ausübt, zu finden glaubte. »Es gibt allerdings,« sagt Lubbock, »zwei Arten der Liebe, eine die Tochter des Uranus, die ältere und weisere Göttin, die andere das Kind des Zeus und der Dione, das gemein und volkstümlich ist, – aber wir wollen nicht zu genau zusehen.«
Vom Essen und Trinken ist bezeichnenderweise nur beiläufig in dem Kapitel »Gesundheit« und vorzugsweise aus dem Gesichtspunkte die Rede, daß man nicht wohltue, zu viel des Guten zu sich zu nehmen, eine Warnung, die für die Mehrzahl überflüssig ist. Ein Engländer wird zwar anerkennen, daß Essen und Trinken Freude macht; es ist nicht sehr ästhetisch, aber es kommt morgens, mittags und abends, und »nach einem Spaziergange mit einem Freunde in den Bergen oder am Strande sich zu Tisch zu setzen, ist kein geringes Vergnügen.« Aber, ob ästhetisch oder nicht, das Essen und Trinken hat für das Wohlbefinden der Menschheit eine selbständige, und wenn man nach der Kopfzahl rechnet, eine viel größere Bedeutung als Naturschönheit, Kunst und Literatur. Für Hunderte von Millionen sind die Augenblicke, wo sie sich satt essen, fast die einzigen Lichtblicke zwischen Erwachen und Einschlafen, und für fast alle sind die Tafelfreuden unzertrennlich von dem Begriffe eines Festes, eines guten Tages. Darin stimmen Paris, London und Berlin mit Negern und Kalmücken überein, so verschieden auch die Speisekarten sein mögen. »Dies Geschlecht kann sich bei Tische nur erfreuen.«
Die Frage der Moralität muß man doch aus dem Spiele lassen, auch die Ästhetik, wenn man untersuchen will, welche Genüsse der Mensch, so wie er ist, im Leben findet. Auch darauf kommt es nicht an, ob der Untersucher mit diesem Genusse sympathisiert. Er hat nur zu fragen: was macht erfahrungsmäßig und tatsächlich allen, den meisten, vielen, einigen Vergnügen? Man hat (mit Recht) Lubbock getadelt, weil er vom Rauchen, als welches doch wirklich zu den Freuden des Lebens gehöre, ganz schweige. Darauf gibt er folgende unzulängliche Antwort: »Da ich selbst kein Raucher bin, kann ich vielleicht nicht urteilen; viel muß vom individuellen Temperament abhängen; einigen nervösen Naturen gewährt es gewiß großes Labsal, aber ich zweifle, ob Rauchen im allgemeinen die Freuden des Lebens vermehrt.« Das klingt doch gerade, als ob von Bromkali oder Kokain die Rede wäre und nicht von einem Genußmittel, das im Laufe der Jahrhunderte, den Verboten der Päpste, Kaiser und Sultane zum Trotz, sich ein Publikum erobert hat, wie kaum irgend ein anderer Verbrauchsartikel, der nicht unmittelbar der Lebensnotdurft dient.
Ich finde es begreiflich, daß der englische Schriftsteller an Opium, Betelkauen, Haschisch und ähnliche orientalische Kurzweil, die seinem Horizont fern liegt, nicht gedacht hat, aber über die Freude an berauschenden Getränken hätte er ein Wort zu sagen wohl Anlaß gehabt. Großbritannien und Irland liefern ja für ein solches Kapitel riesenhaften Stoff. Daß diese Freude in ihren Ausartungen höchst verderblich ist, völkervergiftend, liegt auf der Hand; umso interessanter wäre es vielleicht, sie in ihrem Wesen, in ihren Abstufungen, von dem Stadium harmloser Erheiterung und Erquickung durch alle ihre Steigerungen bis zum brutalisierenden Alkoholismus, zu studieren und ihr Verhältnis zur Kulturentwicklung zu untersuchen. Daß der Genuß berauschender Getränke zu allen Zeiten und unter allen Himmelsstrichen in hohem Grade populär gewesen ist, kann natürlich auch der eifrigste Mäßigkeitsapostel nicht leugnen; neben der Liebe ist das Trinken das vornehmste Thema der Lyrik gewesen von Persien bis Schottland, von Anakreon bis zu Scheffel, und es hieße einen Gemeinplatz wiederholen, wenn man auf den seltsamen Zusammenhang zwischen dem Getränk und unserem Geistes- und Seelenleben hinwiese. Der ernsthafte und ehrbare Gervinus hat das Zechen (wenigstens in Wein) den Übergang von materiellem zu geistigem Genusse genannt, und in den Worten liegt ein guter Sinn. Überhaupt ist es nicht ohne weiteres ausgemacht, daß die sogenannten materiellen Genüsse für die Entwicklung unserer höheren Natur so völlig wertlos sind. Es ist wahr, wir haben sie mit den Tieren gemein, aber wir machen aus ihnen etwas, was den Tieren fremd ist, Mittel einer fröhlichen Geselligkeit, eines brüderlichen Zusammenlebens, einer gemeinsamen Freude, gastfreien Spendens und dankbaren Empfangens, – lauter Dinge, ohne deren Mithilfe das bißchen Kultur, dessen wir uns erfreuen, nicht zu stande gekommen wäre und bald wieder verschwinden würde.
Steigen wir vom Essen und Trinken etwas höher zu den Lebensfreuden auf, die der Mehrzahl die wichtigsten und anziehendsten sind, so erblicken wir lauter Dinge, die Lubbock der Erwähnung nicht oder nur höchst flüchtig würdigt. Er kennt nicht des »Volkes wahren Himmel«, von dem Faust auf seinem Osterspaziergange spricht. Tanzen, Springen, Kegelschieben, bunte Tücher, rote Bänder, Böllerschießen und Feuerwerk, wer vermöchte sie alle aufzuzählen, die Lustbarkeiten, die in Nord und Süd, in Ost und West, mannigfaltig in der Form, im Wesen immer desselben Charakters, unzähligen Generationen dazu gedient haben, mit wenig Witz und viel Behagen den Feiertag totzuschlagen, den Alltag zu verbrämen, Sorge und Kummer zu verscheuchen? Und das weite Gebiet des Spiels, verdient es nicht auch einige Aufmerksamkeit, wenn man von den Freuden des Lebens redet? Kann man leugnen, daß alle die mehr oder minder sinnreichen Methoden, ihre Stärke, ihre Geschicklichkeit oder auch nur ihr Glück im Wettkampfe mit anderen zu messen, den Menschen eine große Summe von Vergnügen bereiten, die man nicht außer Rechnung lassen darf, wenn man es versuchen will, eine Bilanz des Lebens zu ziehen? An Popularität übertreffen die Spiele weitaus den Kunst- und Naturgenuß; auf ein Streichquartett werden selbst in unserem musikliebenden Lande leicht tausend Skatquartette kommen, und ein einziger Derbytag wird mehr Besucher zählen als das Britische Museum in zehn Jahren. Ob der Zeitvertreib edel oder unedel sei, ist eine Frage für sich; jedenfalls hat er einige Formen gefunden, die in Pindarischen Oden besungen werden konnten.
Und ferner, welchen Reiz übt es auf die Massen aus, ganz abgesehen von Spiel und Wette, die Kräfte der Tierwelt, sei es für sich, sei es im Kampf mit dem Menschen, anzuschauen, die reißenden Bestien der zoologischen Gärten, die Reiterkünste des Zirkus, Stiergefechte, Bärenhetzen, Hahnenkämpfe, diese letzteren drei allerdings unserem zivilisierten Horizont entrückt, aber vielleicht mehr durch das Machtgebot der Polizei als durch die Abneigung des Publikums. Es gibt doch noch christliche Nationen, die sich an solchen blutigen Schauspielen höchlich ergötzen, und was uns selbst betrifft, so will ich daran erinnern, daß vor nicht sehr langer Zeit bei uns wie in der ganzen Christenheit Hinrichtungen in recht weiten Kreisen als Volksfeste behandelt wurden.
Das führt mich auf die Freuden der Grausamkeit und überhaupt auf die Freuden, die aus der Befriedigung unserer bösen Leidenschaften entspringen: Schadenfreude, Freuden des Hochmuts, der Rachsucht. Sie sind verdammenswert, das versteht sich von selbst, aber sie sind trotzdem Freuden, und die Zahl der für sie empfänglichen ist, fürchte ich, recht ansehnlich. Und gibt es nicht Freuden der Eitelkeit (die ich übrigens nicht zu den bösen Leidenschaften rechnen möchte) und sind nicht ihrer Liebhaber so viel wie der Sand am Meere? Werden nicht, um ihrer teilhaft zu werden, täglich ungeheure Summen Geldes ausgegeben, Mühen und Anstrengungen aller Art, ja sogar Hunger und Durst, Hitze und Frost heldenmütig erduldet? Man denke, um nur eins zu nennen, an die Beseligungen, die ein Ordensband, ein Titel, eine kleine Präposition von drei Buchstaben zu erzeugen vermag! Es ist wahr, daß England weniger als das Festland Gelegenheit darbietet, diese Form des Genusses zu beobachten, aber Vanity fair ist unerschöpflich an anderen Artikeln, die auch jenseits des Kanals massenhafte Kundschaft anlocken. Sir John Lubbock ist verächtlichen Blicks an den glitzernden Buden vorübergegangen.
Befremdlicher als dies ist es, daß ein Engländer ein Buch über Freude schreiben kann, in dem das echt englische Synonym für Amüsement gar nicht vorkommt. Sport! diesem Abgotte des britischen Lebens ist nicht einmal eine mention honorable, nur ganz beiläufig einmal die Bemerkung gewidmet, daß »unsere Leute vom Tierreich viel Vergnügen haben, vom Hetzen, Jagen und Fischen, was ihnen Bewegung in frischer Luft verschafft und sie in allerlei schöne Landschaften führt«. Aber im Grunde sei dies eine Verirrung, ein Überbleibsel, a survival, barbarischer Zeiten; statt die Tiere zu töten, sollte man sich ihnen befreunden, ihren Ursprung, ihren Bau, ihre Lebensweise, ihre Intelligenz studieren; das gewähre unendlich mehr Unterhaltung und Gewinn. Es ist immer wieder der nämliche Fehler: die Freuden des Lebens werden verwechselt mit den Freuden Sir Johns.
Chamisso schrieb aus London: »Ich habe noch keinen Engländer lachen sehen, außer wenn ich englisch mit ihm sprach.« Nach Lubbocks Buch zu schließen, lachen seine Landsleute auch heute noch nicht. Daß das Lachen, die Freude am Komischen, ein wundervolles Kordial ist, das die Götter uns zur Erquickung auf unserer sauren Pilgerfahrt mitgegeben haben, das allen Lebensaltern, allen Bildungsstufen, allen Zonen seine Wohltaten spendet, scheint der gelehrte Mann nicht bemerkt zu haben. Es ist wirklich unbegreiflich; denn in England ist, trotz allem Puritanertum und aller respektablen Langweiligkeit, das Behagen an der komischen Seite des Daseins nicht erloschen. Von den Tagen Falstaffs bis zu denen Pickwicks und des Master Punch hat herzenbefreiendes Gelächter den Donner der Kanonen, den Lärm der Parteien und das Sausen der Maschinen immer vernehmbar begleitet, und wie in England, so ist es auch in anderen Ländern der Erde gehalten worden. Nicht überall mit derselben Virtuosität; auch der Sinn für Komik hat seine Abstufungen, vom grinsenden Negerlachen bis zum feinsten attischen Lächeln, aber Vergnügen bereitet er allen. Ich bitte überhaupt zu bemerken, daß die Freuden, die ich unter Nr. 5 aufgezählt habe, – zu denen sich noch manche andere fügen ließen, wie z. B. das Vergnügen an allerlei Schaugepränge, an militärischen Schauspielen, an Zusammenrottungen mit sensationellen Motiven, Ankunft Stanleys, Abfahrt Bismarcks, Begräbnis Victor Hugos –, ich sage, daß diese Freuden dieser Gattung mehr oder weniger Gemeingut aller Menschen, aller Klassen und nur in den Äußerlichkeiten verschieden sind, je nach der gesellschaftlichen Gewöhnung und der Länge des Geldbeutels. Die sogenannten »noblen Passionen« sind nur die kostspieligen Töchter derselben Familie, aus der die Volkslustbarkeiten stammen. Im Wesen der Sache macht es keinen Unterschied, ob der Mensch seine Mahlzeit mit Trüffeln würzt oder mit Knoblauch.
Sir John Lubbock hat sich nicht darauf eingelassen, der Behauptung der Pessimisten, daß die Summe der Lust in dieser Welt geringer, weit geringer sei als die Summe des Leidens, eine Gegenrechnung gegenüberzustellen. Und daran hat er wohlgetan. Denn leichter wäre es zu ermitteln, wie die Zahl der Tropfen im Atlantischen Ozean zu der im Stillen Ozean sich verhält, als eine ziffermäßige Bilanz zwischen den angenehmen und den unangenehmen Empfindungen der lebenden Wesen, ja auch nur des Menschengeschlechts, ja auch nur eines einzigen menschlichen Individuums zu ziehen. Die Tropfen des Weltmeers sind gleiche Größen, dem Zählen und dem Berechnen zugängig; die Lust- und Schmerzgefühle bilden eine unendliche Mannigfaltigkeit der verschiedenartigsten Einheiten, deren jede ganz und gar von der Natur des einen empfindenden Individuums, von dem Grade seiner Empfänglichkeit, abhängt, und die Grade dieser Empfänglichkeit selbst sind keine konstanten Größen, oft von Minute zu Minute wechselnd und immer nur im Augenblicke wirklich. Sogar die Freuden und Schmerzen der Erinnerung sind reine Produkte des Augenblicks; sie sind etwas völlig anderes, als die Freuden und Schmerzen, deren man sich erinnert, in dem Augenblicke, wo man sie genoß oder erlitt, waren. Das scheint noch am ersten möglich, die Erinnerung und das Erinnerte zu vergleichen, aber auch damit kommt man nicht über höchst vage Resultate hinaus, und dann vermag nur der einzelne den Vergleich für sich anzustellen. Kein anderer kann mir jemals nachrechnen, wie sich mein Seelenzustand, als ich die Siegesbotschaft von Sedan vernahm, zu meiner heutigen Erinnerung an jenen Seelenzustand verhält. Ich selbst kann es keinem anderen mitteilen. Es ist nie gelungen und es wird nie gelingen, die Lustgefühle und die Schmerzgefühle auf gleiche Einheiten zurückzuführen, wie man die Kräfte der materiellen Welt auf Kilogramme, Wärmegrade, Pferdekräfte, Ampere und Normalkerzenhelligkeiten zurückführt. Kein Präzisionsinstrument wird jemals im stande sein, von dem, was nur in der Subjektivität existiert, eine objektive Ziffer abzulesen. Auch die pessimistischen Philosophen haben – aus guten Gründen – niemals eine Rechnung aufgestellt, was man eine Rechnung nennt, sondern sie haben ihren Beweis auf die Phantasie gestützt; man bedenke, man male sich aus, welche enormen Massen von Jammer und Elend in der Welt existieren und was dagegen die seltenen, flüchtigen Freuden bedeuten wollen! Man vergleiche, ruft Schopenhauer, die Empfindung des fressenden Tieres mit dem des gefressenen! Aber gerade das kann man nicht. Und es ist noch gar nicht so ausgemacht, daß, wenn man es könnte, man so emphatisch Wehe rufen würde wie der Frankfurter Einsiedler. Ich sehe jetzt täglich, wie die Schwalben über den Rasen und durch die Lüfte streichen, und ich muß bekennen, daß ich hartherzig genug bin, an diesem beflügelten Morden Vergnügen zu haben. Es gewährt mir ein Bild heiterer Daseinsfreude. Die Schwalbe ist anscheinend glücklich; die Insekten, die sie im Fluge erhascht, haben keine Zeit, sich das Mißliche ihrer Situation klar zu machen; sie empfinden wahrscheinlich nichts; ihr Schicksal rührt mich nicht.
Freilich gibt es Situationen genug, die es dem Opfer nicht so leicht machen, und darin haben die Pessimisten ganz recht: wenn ich mir immer die ganze Summe des in der Welt vorhandenen Leidens deutlich vor die Seele stellen, alle Schrecken sympathisch miterleben, alle Bitterkeiten mitkosten wollte, könnte und müßte, nicht allein die gegenwärtigen, sondern auch die vergangenen und die zukünftigen, so würde ich keinen frohen Augenblick mehr haben. Aber diesen weltumfassenden Schmerz, der den Menschen zermalmen müßte, hat wahrscheinlich noch nie ein Sterblicher gefühlt. Das Mitleid, wie es uns in der Wirklichkeit begegnet, ist immer so organisiert, daß es über einen gewissen Sättigungspunkt hinaus keine schmerzlichen Eindrücke mehr aufnimmt. Dieser Sättigungspunkt liegt bei verschiedenen Individuen verschieden; aber wir sehen, daß auch den allermitleidigsten Seelen noch Raum für Freude und Behagen bleibt. Auch ist es eine tägliche Erfahrung, daß ein Unglück, das uns in den Staub beugt, wenn es uns selbst trifft, das uns tief erschüttert, wenn wir es in unserer unmittelbaren Nähe einschlagen sehen, uns nur oberflächlich berührt, wenn es in einer fremden Stadt oder gar in einem anderen Weltteil unbekannte Opfer ereilt. Wir geraten außer uns, wenn vor unseren Augen eine verzweifelte Mutter ihr getötetes Kind unter den Rädern eines Wagens hervorzieht; wenn wir in der Zeitung lesen, daß in einer Provinz Chinas Hunderttausende verhungern, fühlen wir zwar Entsetzen, aber das Entsetzen hindert uns nicht, mit Appetit zu essen, abends ins Theater zu gehen und nachts ruhig zu schlafen. Wenn man darauf achtet, wird man sogar finden, daß eine Mordtat, die in unserer Straße oder gar in dem Stockwerke über uns verübt worden ist, uns ganz anders berührt, als das Verbrechen, das in einem entlegenen Stadtteil begangen wird. Man könnte sagen, das Mitleid nimmt ab wie das Quadrat der Entfernung, nicht allein der räumlichen, sondern auch der zeitlichen und der sozialen Entfernung. Die Grubenexplosion von gestern rührt uns mehr als das Erdbeben von Lissabon, und es wird uns zehnfach schrecklich, wenn zufällig Leute unserer Bekanntschaft, Kollegen, gute Freunde, im Augenblick der Katastrophe das Bergwerk besichtigt hatten. Man ist geneigt, in dieser Einrichtung einen Mangel unserer Natur zu erkennen, von Stumpfsinn und Egoismus zu reden, aber die Stumpfheit ist doch, bei Lichte besehen, eine Bedingung des Lebens, das ohne sie nicht zu ertragen wäre. Der Herzenshärtigkeit soll natürlich damit nicht das Wort geredet werden; wollte aber ein frommer Mann mir diesen Vorwurf machen, so würde ich ihn daran erinnern, daß die christlichen Scholastiker das Mitleid als unvereinbar mit der ewigen Seligkeit aus dem Himmel gänzlich ausgewiesen haben, durchaus logisch, weil schmerzliche Teilnahme an dem Lose der unwiderruflich verdammten Mitmenschen die schönsten Paradiesesfreuden vergällen müßte. Milton behauptet zwar, daß die Engel über Adam getrauert hätten, ohne eine Minderung ihrer Seligkeit zu verspüren; aber ich kann es mir nicht vorstellen. Minder liebenswürdig, aber folgerichtiger straft Dantes Virgil die Tränen, die sein Begleiter beim Anblick der Höllenqualen vergießt:
»Hier sei die Liebe tot, sonst lebt sie nicht.
Denn welche Sünde, welche ärgre nennst du
Als Mitleid mit dem göttlichen Gericht?«
Ich glaube, der Eifer, die Welt als herrlich, schön und erfreulich gegen die Wehklagenden und die Schwarzblickenden zu verteidigen, ist eigentlich erst mit dem Protestantismus und auch erst in dessen späteren Stadien, als er deistischen Einflüssen zugängig wurde, entstanden. Ich meine natürlich nicht den Eifer, sich der Welt zu freuen, der wohl tief in prähistorische Zeiten zurückreicht, sondern den theoretischen Eifer, der sich anfänglich verpflichtet fühlte, die Schöpfung eines allgütigen Gottes als in allen Stücken vollkommen gegen die sehr naheliegenden Zweifel an solcher Vollkommenheit in Schutz zu nehmen, und der späterhin weniger in majorem dei gloriam als zur Sicherstellung der Lebensfreudigkeit den Überschuß der Lust über die Leiden des Daseins nachzuweisen und auszurechnen suchte. Es gibt Werke des Altertums, des Mittelalters und der Reformationszeit genug, die von hellster Lebenslust überströmen, aber sie alle, wenn ich nicht irre, preisen oder schildern ganz unbefangen das Genießen als solches, ohne polemische Tendenz, ohne etwas beweisen zu wollen, hin und wieder voll Dankes gegen den oder die Geber alles Guten, aber weit entfernt, die Übel und Leiden leugnen oder als Wohltaten darstellen zu wollen. Leiden und Übel werden ebenso unbefangen als einmal vorhandene, unabänderliche Dinge hingenommen, von den ernsteren Gemütern als Mahnungen zur Weisheit, Sündhaftigkeit und Mäßigung, von den leichtsinnigeren als ein Argument mehr, den guten Tag zu nutzen, den Wein zu trinken, ehe er schal wird, die Rose zu pflücken, ehe sie welkt. Als das Christentum kam, wurde ohnehin das Glück in eine andere Welt verlegt, und es nicht auf Erden zu finden, konnte eigentlich niemand mehr befremden. Im Gegenteil mußte selbstverständlich erscheinen, daß die Welt, von der man ja erlöst werden sollte, um zum Heile zu gelangen, schlecht und elend sei. Not und Plage mußte der Gläubige sogar willkommen heißen, weil sie es ihm erleichterten, sich von der Welt loszusagen und des Himmels würdig zu werden. Ein Bedürfnis, den Kredit eines allgütigen Schöpfers aufrecht zu erhalten, kannte das antike Heidentum überhaupt nicht, und den Christen kam dies Bedürfnis nicht zum Bewußtsein, weil sie für das Böse und das Übel innerhalb der Schöpfung den Teufel verantwortlich machten. Freilich hatte nach der Kirchenlehre auch den Teufel Gott geschaffen, aber das Bedenkliche dieses Umstandes machte man sich nicht klar, und auch die feinen Köpfe unter den Scholastikern haben es nicht bemerkt, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, unausgesprochen gelassen. Luther und die ersten Reformatoren und die ihnen folgenden Generationen sind, wie man weiß, im wesentlichen dem Standpunkte des Mittelalters treu geblieben; auch ihnen war der Teufel »der Fürst dieser Welt« und die Schlechtigkeit der Welt daher etwas Selbstverständliches. Erst im Laufe der letzten zweihundert Jahre etwa hat sich allmählich, zuerst unter Philosophen, Poeten und Gelehrten, dann in weiteren Kreisen der Glaube an ein selbständiges Reich des Bösen verloren, der Teufel sich zu einem bloßen Symbol verflüchtigt, die Idee der Gottheit als der alleinigen ersten Ursache alles Seienden Raum gewonnen.
Und nun erst, da Gott nicht allein »alles in allem«, sondern auch allmächtig, allweise, allgütig sein sollte, erhob sich die schwierige Frage, wie mit dem Wesen Gottes sich die mangelhafte Beschaffenheit der Welt, die Existenz des Bösen und des Übels vereinigen lasse. Wer vermag zu sagen, wie viele Gehirne von Leibniz bis auf John Stuart Mill sich zermartert haben, um das Rätsel zu lösen? Die Mehrzahl hat sich bei dem Troste beruhigt, daß unsere Vernunft nicht ausreiche, um hinter das Geheimnis zu kommen, daß aber ein allgütiger Vater sicherlich schließlich alles zum Besten wenden werde, und daß wir auf dieser Erde, statt über den finsteren Mysterien des Lebens zu brüten, uns an den Herrlichkeiten, Schönheiten und Wundern der Schöpfung dankbar und andächtig werden sollten. In diesem Sinne hat das vorige Jahrhundert seine Hymnen gedichtet und seine frommen Lieder gesungen, haben Pope, Gellert, Klopstock, Voß eine optimistische Erbauungspoesie geschaffen, hat Rousseau das Glaubensbekenntnis des savoyischen Pfarrers geschrieben, hat noch im neunzehnten Jahrhundert Beranger seinen lebenslustigen Landsleuten den »Gott der guten Leute« verkündet. Selbst tiefere Naturen wie Mathias Claudius verleugnen nicht die heitere und behagliche Stimmung, die sich in siegreichem Gegensatz zu asketischem, pietistischem und orthodoxem Geiste ausbreitete. Schillers Lied an die Freude möchte wohl den rhetorischen Höhepunkt der optimistischen Literatur bezeichnen, wie Brockes »Irdisches Vergnügen in Gott« ihr plattestes Tiefland, letztgenanntes Buch vor hundertfünfzig Jahren ein beliebtes und gefeiertes Kompendium aller zur Dankbarkeit gegen Gott stimmenden Tatsachen, von dem angenehmen Geschmack der Spargel bis zum erfreulichen Schimmer der Gestirne, für den heutigen Leser noch eine Quelle des Genusses durch die unvergleichliche unfreiwillige Komik seiner ehrbar einherschreitenden Verse.
Diese älteren Optimisten hatten es in einer Beziehung viel leichter als ihre modernen Nachfolger, insofern nämlich, als sie etwaige Zweifel und Bedenken Unzufriedener ohne weiteres auf den Ausgleich, der in einem Leben nach dem Tode sich vollziehen werde, verweisen durften. Mit einer solchen Verweisung wird im Grunde die ganze Kontroverse überflüssig. Aber das heutige Publikum ist anspruchsvoller geworden: der Philosoph soll ihm beweisen, daß es ein Leben nach dem Tode gebe, und zwar ein glückliches Leben; wenn er das nicht kann, soll er beweisen, daß schon das irdische Dasein allen vernünftigen Anforderungen entspreche. Selbst in England stellt man heutzutage solche Forderungen.
Lubbock hat, wie sich von selbst versteht, den Versuch nicht gemacht, ein künftiges glückliches Leben wissenschaftlich zu beweisen; er glaubt aber seine Leser überzeugt zu haben, daß es auch diesseits des Grabes sich schon vergnügt genug leben lasse. Was das Sterben betrifft, so soll man sich darum keine Sorge machen: es sei nicht so schlimm, in manchen Fällen nur ein schmerzloses Einschlafen. Aber er gibt zu, daß die meisten Menschen der Ansicht sind, daß nach dem Tode des Leibes die Seele fortbestehe und daß die Frage, was ihr die Zukunft bringen werde, unter dieser Voraussetzung sich nicht zurückweisen lasse. »Ich vermute, daß jeder sich gefragt haben wird, worin die Freuden des Himmels bestehen können.« In der Tat ist dies ein Problem, das von je die Menschen lebhaft beschäftigt, aber nie eine Antwort gefunden hat, wenigstens keine, bei der man sich etwas Deutliches vorstellen kann. Eine Hölle hat Dante uns veranschaulichen können, das Paradies nicht. Seine Kunst zeigt sich darin, daß er uns über die Dürftigkeit des Stoffs, den er bieten kann, hinwegtäuscht. Alle Menschenphantasie ist nicht im stande, etwas zu ersinnen, wozu ihr nicht die irdische Erfahrung den Stoff liefert, und es gibt keinen irdischen Stoff, der die Ewigkeit ausfüllen könnte. »Natürlich,« sagt Lubbock, »können wir uns nicht denken, daß es im Himmel einen Kampf um das Dasein gibt; dann wären wir drüben nicht viel besser daran als hier. Unsere Welt ist sehr schön, wenn wir sie nur in Frieden genießen könnten. Und doch würde eine bloß passive Existenz wenig Reiz bieten, ja geradezu unerträglich sein. Ferner scheint die mit jedem Wechsel verknüpfte Sorge unvereinbar mit vollkommenem Glück und gleichwohl würde endlose Monotonie, immer und immer dasselbe in alle Ewigkeit ohne Kontrast und Verschiedenheit, mehr Langeweile als Wonne versprechen.« Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus? Vielleicht rettet uns die Wissenschaft, Science! Dieser originelle Einfall charakterisiert den ganzen Mann, der nur an sich selbst denkt und überzeugt ist, daß in seinem Professorenhimmel alle Erschaffenen sich selig fühlen müssen, Frauen und Kinder, Bauern und Handwerker, Engländer und Hottentotten. Man höre, was ihrer wartet!
»Die Lösung der Probleme, die uns hienieden gepeinigt haben, die Erwerbung neuer Ideen, die Enthüllung der Geschichte der Vergangenheit, die Welt der Tiere und Pflanzen, die Geheimnisse des Raums, die Wunder der Sterne und der Regionen jenseits der Sterne. Schon die sämtlichen schönen und merkwürdigen Stellen unserer Welt kennen zu lernen, wäre der Mühe wert, und unsere Welt ist nur eine unter vielen Millionen. Oft, wenn ich nachts zu den Sternen aufblicke, frage ich mich, ob es mir einst vergönnt sein wird, als körperloser Geist sie zu erforschen. Wenn wir die große Tour gemacht hätten, würden neue Interessen erwacht sein, und wir könnten wohl von neuem anfangen. Hier haben wir eine Unendlichkeit des Interessanten ohne Sorge und Pein, und der einzige Zweifel bliebe nur, ob die Ewigkeit ausreichen würde, um alles zu erschöpfen.«
Meines Wissens ist es mathematisch sicher, daß eine Unendlichkeit sich auch in der Ewigkeit nicht ausschöpfen läßt. Der Forscher würde zur Erkenntnis der ganzen Wahrheit erst nach Ablauf der Ewigkeit, also niemals, gelangen, und er würde jederzeit, auch nach Billionen von Jahrtausenden, nur einen unendlich kleinen Bruchteil des Stoffes besitzen. Da wäre er schließlich auch nicht viel besser daran als hier. Wäre aber die materielle Welt, was sehr wohl möglich ist, nicht unendlich, so würde er allerdings Zeit haben, sie vollständig kennen zu lernen, aber damit wäre nichts gewonnen; die Ewigkeit läge nachher wie vorher unverkürzt vor ihm. Man könnte immer wieder von vorn anfangen, meint Lubbock; er hat sich wohl nicht klar gemacht, was es heißt, immer wieder, in alle Ewigkeit, ohne Aufhören. Ewig ist ein Wort, das sich wohl aussprechen läßt, aber menschlichem Witze unfaßbar bleibt.
Der Grönländer wollte nicht in den Himmel, als der Missionar ihm sagte, daß es dort keinen Tran gebe. Ich weiß nicht, ob vielen Europäern ein Himmel, wie Lubbock ihn sich denkt, lockender ist, als dem Eskimo das tranlose Paradies. Ich für meinen Teil würde erst inwendig verwandelt werden müssen, ehe ich mich für ein ewiges Leben naturwissenschaftlichen und astronomischen Erkennens begeistern könnte, und ich bin überzeugt, der Mehrzahl, wenn sie sich klar macht, um was es sich handelt, geht es ebenso. Denn ich meine, für die meisten Menschen, auch für die geistig geweckten und gebildeten, die volles Verständnis haben für die ungeheure praktische Wichtigkeit der Naturerforschung und für den geistigen Wert ihrer Hauptresultate, sind gleichwohl die einzelnen Tatsachen der materiellen Welt, die dem Forscher selbst das höchste Interesse einflößen, ziemlich gleichgültig. Was den Laien ergreift, was auf seine Weltanschauung Einfluß gewinnt, das sind die großen Zusammenhänge der Natur, die das All durchdringenden Kräfte, die unwandelbaren Gesetze des materiellen Geschehens, denen der Forscher nach langer mühseliger Arbeit, nach scharfsinniger Erwägung zahlloser Details schließlich eine allgemein verständliche Formel zu geben versteht; die Details selbst könnten ganz anders geartet, könnten das Gegenteil dessen sein, was sie sind, für die Menschheit im großen und ganzen bliebe deshalb doch die Welt dieselbe. Der tiefe Eindruck, den der von der Astronomie uns ermöglichte Blick in das Universum, in die Entstehung und Ökonomie der Sonnensysteme auf die Menschheit gemacht hat, würde genau der nämliche sein, wenn die gefundenen Sterne und Nebelflecke an beliebigen anderen Stellen ständen, wenn die ermittelten Entfernungen und Umlaufszeiten doppelt so groß oder doppelt so klein wären. Als Leverrier den »Neptun« entdeckte, ohne ihn zu sehen, ging durch alle Lande eine Regung der Freude, aber die Freude galt nicht dem neuen Planeten, der uns nicht glücklicher machte, als wir ohnehin waren, sondern sie galt dem Triumphe menschlichen Scharfsinns, der in der Entdeckung sich betätigt hatte, nicht der astronomischen Tatsache, sondern einer Tatsache des menschlichen Geistes. Was mich hindert, an die Möglichkeit einer ewigen Seligkeit in den Naturwissenschaften zu glauben, das hindert mich auch, den Schulreformern Vertrauen zu schenken, die mir versichern, daß in pädagogischer Beziehung für Knaben und Jünglinge die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Dingen ebenso wertvoll und wertvoller sei als die Beschäftigung mit den Schöpfungen des Geistes, die in der Sprache und der Kunst sich darbieten.
Es ließe sich noch viel sagen über das Thema, das mich so geschwätzig gemacht hat, aber ich glaube, daß alle Betrachtungen, die man noch anstellen könnte, immer nur zu dem Schlusse führen würden, den ich zu ziehen mir schon erlaubt habe: die Rechnung, ob mehr Lust oder mehr Leid existiert, ist unmöglich; ein jeder muß die Frage für sich selbst beantworten. Es ist eine Angelegenheit des unmittelbarsten individuellen Bewußtseins. Darum sind auch die weisen Lehren, wie man es anzufangen habe, glücklich und zufrieden zu leben, von geringem Nutzen; sie sind vielleicht charakteristisch für den Lehrer, aber sie helfen dem Schüler wenig, weil Glück und Leid von seiner Individualität abhängen, die in der Hauptsache sich nicht ändern läßt. Und noch eins darf man als gewiß annehmen: ohne Freude, ohne den Glauben an Freude, ohne Hoffnung auf Freude kann die Menschheit nicht bestehen; ohne Leiden, ohne Unzufriedenheit kann sie sich nicht entwickeln. Sobald man anfängt, für die unabsehbare Mannigfaltigkeit der einzelnen Menschenschicksale Regeln zu suchen und Maßstäbe zu ersinnen, gerät man in die Gesellschaft der Leute, die »des Zirkels Viereck« finden und das Perpetuum mobile konstruieren wollen. Marc Aurel sagt: »Wenn dir eine Widerwärtigkeit begegnet, so denke, daß dies kein Mißgeschick sei, wohl aber, es tapfer zu ertragen, ein hohes Glück.« Ein schöner Rat, aber um ihn benutzen zu können, muß man Marc Aurel sein, oder ihm ähnlich, und das sind wenige. Der Mann auf der Folter, dem man diese Worte wiederholte, würde sie höchst wahrscheinlich für grausamen Hohn halten. Lubbock zitiert mit Vorliebe den großen Stoiker, der, obwohl ein armer Sklave, in der Weisheit und Tugend, wenn man ihm glauben darf, sich völlig befriedigt und glücklich fühlte. Epiktet sagt unter anderem:
»Ihr fragt, wie es möglich sei, daß ein Mann, der nichts hat, nackt, hauslos, ohne Herd, zerlumpt, ohne Sklaven, ohne Vaterstadt, ein leicht dahinfließendes Leben führe? Sehet, Gott hat euch einen Mann geschickt, der euch zeigt, daß es möglich ist. Schauet auf mich, der weder Vaterstadt, noch Haus, noch Güter, noch Sklaven hat; ich schlafe auf dem Erdboden, ich habe nicht Weib noch Kind, nichts als Erde und Himmel und einen armseligen Mantel. Und was brauche ich? Bin ich nicht ohne Sorgen? Bin ich nicht ohne Furcht? Bin ich nicht frei? Hat mir je gefehlt, was ich wünschte? Oder hat mich je befallen, was ich meiden wollte? Hab' ich je Gott oder Menschen gescholten? Hab' ich je einen Menschen verklagt? Sahet ihr mich je mit betrübtem Gesichte? Und wie begegne ich denen, die ihr fürchtet und anstaunt? Behandle ich sie nicht wie Sklaven? Wer, der mich sieht, glaubt nicht seinen König und Herrn zu sehen?«
Die Schlußworte enthalten den Schlüssel, der aber nicht in die gewöhnlichen Schlösser paßt. Jenes höchste Glück der Erdenkinder, von dem Goethe spricht, war dem Epiktet zu teil geworden, der Selbstgenuß einer königlichen Persönlichkeit, der ihr eigener Reichtum genügte. So etwas läßt sich nicht nachahmen; es ist Gnade. Auch die minder erhabene, dafür aber glücklicherweise auch minder seltene Spielart dieser Epiktetischen Eigenschaft, was wir »heiteres Temperament«, »fröhliches Gemüt« nennen, ist eine Gnade und für die Freude am Leben wichtiger als alles, was Lubbocks Buch aufzählt. Nur ist auch sie angeboren und läßt sich nicht anerziehen. »La gaîté es un grand bien; c'est peut-être le plus grand de tous, puisque avec lui on de passe des autres.« So sagt Alfred de Musset, und ich bin ganz seiner Meinung.