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»Alles Feine kömmt von Osten,« sagt ein alter Spruch. Jedenfalls hat das östlichste Volk des Festlandes die Gesetze der Höflichkeit am gelehrtesten ausgebildet. China rechnet die Höflichkeit unter die Kardinaltugenden, wie das Abendland die Gerechtigkeit und die Tapferkeit. Das Abendland weist ihr höchstens einen Platz an neben solchen löblichen Eigenschaften, wie Reinlichkeit, Ordnungsliebe, die zwar wünschenswert, aber nicht notwendig sind, um in den Himmel zu kommen. Ja, es läßt sich in der abendländischen Anschauung sogar eine gewisse Feindseligkeit, ein mißtrauisches Übelwollen gegen diese chinesische Tugend nachweisen; man begegnet oft genug Äußerungen, als ob Höflichkeit eher ein Laster sei. Lessing wird zitiert, als welchem die Pflichten und Formen des höflichen Umgangs eingestandenermaßen fatal gewesen seien. Seumes Kanadier, »der Europas übertünchte HöflichkeitBemerkenswert ist, daß dies geflügelte Wort eigentlich hinkt. Die Höflichkeit ist nicht das Übertünchte, sondern im Gegenteil die Tünche. nicht kannte«, lebt noch immer, nach hundert Jahren, im Munde des Volks, welches dabei an die übertünchten Gräber des Evangeliums denkt, und der Vers »im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«, wird mit dem Zusatze »sagt Goethe« wohlgefällig auch heute von manchem Baccalaureus als Lebensregel vorgetragen. Die Begriffe deutsch und grob liegen dem Gefühle nahe beieinander. Wenn einer sagt: »Ich werde einmal deutsch reden,« so machen wir uns auf Grobheiten gefaßt. Unmerklich wird so die Grobheit auf Kosten ihres Widerparts zu einer Tugend. Weil Wahrhaftigkeit preiswürdig ist und weil sie manchmal zwingt, unhöflich zu sein, so schleicht sich die Begriffsverwirrung ein, daß das Preiswürdige in der Unhöflichkeit stecke, nicht in der Wahrhaftigkeit. Darauf zielt in »König Lear« der Herzog von Cornwall, wenn er sagt: »Diesen Burschen hat man einmal wegen Offenherzigkeit gelobt; seitdem bemüht er sich grob zu sein.« Und umgekehrt, weil Unredlichkeit die angenehmen Formen der Höflichkeit gleisnerisch benutzt und Unredlichkeit schlecht ist, so meint der Biedermann, der germanische zumal, mit ähnlicher Verwechselung der Begriffe, die angenehmen Formen seien das Verwerfliche; die Tugend, denkt er, ist ein Diamant, aber ein ungeschliffener. Es ist die nämliche Logik, welche zu der Ansicht führt, daß, weil die Heuchler fromm scheinen, die Frommen Heuchler seien.
Glücklicherweise ist diese Logik selten konsequent. Ein gewisser Instinkt hält die Leute ab, das kanadische Ideal praktisch zu verwirklichen, und die meisten würden es schmerzlich empfinden, wenn man sie für schlecht erzogen hielte, obwohl sie nach ihrer Theorie das für ein Lob halten müßten. Indes gibt es Ausnahmen, bewußte Praktiker der Ungezogenheit, welche auf die oben gedachte Begriffsverwechselung spekulieren. Ich erinnere mich aus meinen Knabenjahren eines Hamburger Grobians, der alljährlich den sogenannten Freimarkt (Messe) in meiner Vaterstadt Bremen bezog und mit den Manieren eines Korporals zarte Glacéhandschuhe verkaufte. Er erfreute sich des lebhaftesten Absatzes; die Damen dachten, je gröber der Mann, je feiner das Leder. Vor einem Menschenalter hatten beide hanseatischen Schwesterstädte die unangenehme Entdeckung zu machen, daß einer ihrer angesehenen Bürger seit Jahren sich an den ihm anvertrauten öffentlichen Geldern vergriffen habe. Der bremische faux bonhomme hatte den frommen Christen und Menschenfreund gespielt, der hamburgische – ähnlich wie der Handschuhhändler – mit Grobheit operiert. Er schnauzte alles an, was ihm nahe kam, schimpfte und polterte und gewann dadurch das unbedingte Vertrauen seiner Mitbürger. Als die Defekte an den Tag kamen, sagten die Leute: Wer hätte das gedacht? Ein so grober Mann!
Ich meine, daß die Abneigung gegen höfliches Wesen bei Völkern deutschen Geblüts mehr als bei anderen vorkommt; vielleicht ließe es historisch sich erklären. Wahrheitsliebe ist die Tugend, Grobheit der Fehler des Starken. Die Barbaren, welche das römische Reich stürzten, empfanden weniger als die überwundenen Lateiner das Bedürfnis, durch die Künste des Umganges bedrohlichen Konflikten auszuweichen. Wie die Lüge erschien ihnen auch die Höflichkeit als die Waffe des Feigen, und Feigheit war für sie das Laster aller Laster. Hoffen wir, daß die Enkel des Erbteils bessere Hälfte, die Wahrheitsliebe, sich erhalten, die schlechtere Hälfte von sich werfen mögen.
Leichter erklärt es sich, daß gerade im achtzehnten Jahrhundert die literarische Auflehnung gegen die verfeinerte Sitte beginnt. Die Verfeinerung war in der Tat zur Verfeinerung geworden, das Leben in künstlichen Formen erstarrt, als Rousseau das revolutionäre Losungswort ausgab, – Natur! Die Losung ward zum Kampfgeschrei, das durch alle Lande erscholl, wider Schminke und Puder, Reifrock und Perücke, gegen alle die buhlerischen Toilettenkünste, die dem verzärtelten Blicke die erhabene Nacktheit der Natur entziehen sollten. Selbst Wissenschaft und bildende Kunst galten den neuen Propheten als Abfall von der Unschuld reinen Menschentums; was Wunder, daß ihnen die Etikette und Redeweise der Salons als eitel Korruption und verdammte Lüge erschien! Der verdorbenen Welt ward die einfache Sitte und unverstellte Sprache der Naturvölker als Ideal vorgehalten, der Naturvölker, wie man im achtzehnten Jahrhundert sie sich dachte. Die Übersättigung an allen Leckerbissen einer üppigen Kultur hatte jenen Traum von transozeanischen Paradiesen erzeugt, von den Palmeninseln und Urwäldern glücklicher, unverdorbener Menschenstämme, welcher in der Dichtung jener Zeit bis in die Tage Chateaubriands und Byrons eine so bedeutende Rolle gespielt hat. Unhistorisch, wie die Zeit war, phantasierte sie sich ein tahitisches oder huronisches Arkadien, dessen Bewohner edelste Herzensbildung mit völliger Unkunde zivilisierter Zustände wunderbar vereinigten. Die Brutalitäten und Stupiditäten, das Elend und den Schmutz übersah oder ignorierte man, und man hätte ungläubig den Kopf geschüttelt, wenn ein sachverständiger Ethnologe darauf aufmerksam gemacht hätte, daß auch bei den Wilden Regeln der Höflichkeit und Zwangsjacken des Anstandes existieren, künstlicher nicht selten, verwickelter und unbequemer als alles, was Byzanz und Madrid im Fache der Etikette je ersonnen haben. Mit der Höflichkeit ist es in der Tat wie mit der Putzsucht: beide sind über den ganzen Erdball verbreitet, und beide zeigen sich in den verschiedensten, oft den bizarrsten Formen. Speke, der Nilforscher, erzählt, wie er einst mit einem Negerkönig eine Zusammenkunft hatte, welche damit begann, daß die schwarze Majestät ihm ins Gesicht spuckte. Von dem Grundsatze ausgehend, daß man Wilden immer in gleicher Münze zahlen müsse, spuckte der Engländer wieder. Und er tat wohl daran, denn er ermittelte sehr bald, daß man ihn für einen Menschen ohne Lebensart würde gehalten haben, wenn er das Kompliment nicht erwidert hätte.
Solcher Beispiele und noch seltsamerer lassen sich Hunderte anführen, aber es kommt mir weniger auf die Mannigfaltigkeit der Formen als auf die Allgemeinheit der Sache an. Und an der ist nicht zu zweifeln. Eine Monographie über Höflichkeitsbräuche müßte so gut von Kalmücken und Kamtschadalen handeln wie von Griechen und Römern, vom ältesten Ägypten so gut wie vom jüngsten Staate Nordamerikas. Eine so universelle Erscheinung, deren Grenzen mit den Grenzen der Menschheit zusammenfallen, kann offenbar nicht aus einer Konvention oder gar aus einer Kaprice begrenzter Gesellschaftsgruppen oder Zeitabschnitte entstanden sein. Allerdings führt die Höflichkeit bei uns ihren Namen von den Höfen, aber sie ist so wenig an den Höfen entsprungen und von den Zeremonienmeistern zuerst gelehrt worden, wie die Putzliebe von den Schneidern, die Sprache von den Grammatikern. Wie die Sprache ist sie aus einem Triebe der menschlichen Natur erwachsen; hinterdrein erst sind die Zeremonienmeister wie die Grammatiker gekommen und haben den vorgefundenen Stoff in Paragraphen geordnet, nicht immer zum Vorteil der Sache.
Wenn wir einen Trieb finden, welcher der ganzen Menschheit gemeinsam und zugleich auf die Menschheit beschränkt ist – bei den Tieren findet sich kein Analogon von Höflichkeit, höchstens von Galanterie –, dann ist die Vermutung gerechtfertigt, daß ein solcher Trieb für Entwicklung und Wohlfahrt der Gattung, bei welcher allein er hervortritt, eine gewisse Bedeutung habe, auf ein gewisses Ziel hinarbeite, welches auf anderem Wege nicht oder nicht so leicht zu erreichen wäre, ein Ziel, dessen der einzelne sich nicht bewußt sein mag, das aber für die Gattung wichtig ist. Dem Triebe zur Sprache, zum Familienleben, zur Staatenbildung sehen wir solche welterziehende Bestimmung leicht ab; daß dem Triebe zur Höflichkeit eine ähnliche Würde zukomme, wird noch heute denen, die Iherings »Zweck im Rechte, Band II« nicht gelesen haben, paradox klingen. Eine ähnliche Würde, sage ich, nicht eine gleich hohe. Sprache, Familie, Staat bedeuten für die Erziehung des Menschengeschlechts natürlich mehr als die Höflichkeit.
Höflichkeit ist, einer französischen Definition zufolge, nachgeahmte Achtung, une imitation de l'estime. Die Höflichkeit ahmt Sprache und Gebärde der Achtung nach, das ist schon richtig; aber das wesentliche ist, daß sie es ohne Präjudiz und Konsequenz tut, daß sie in keiner Weise für das Vorhandensein wirklicher Achtung sich verbürgt. Höflich kann ich gegen jemand sein, von dem ich nichts weiß, auch gegen den, der mir verächtlich ist. Ich benutze die äußeren Zeichen der Achtung lediglich, um ohne Störung und Weiterung mit ihm verhandeln oder auch nur, um friedlich neben ihm existieren zu können. Wäre ich genötigt, vorab mit ihm über den Grad seiner und meiner Achtungswürdigkeit ins reine zu kommen, so würde Zeitverlust und Schlimmeres zu besorgen sein. Dieser Gefahr überhebt mich die Höflichkeit, als welche dem anderen zu erkennen gibt, daß ich seine Achtbarkeit bis auf weiteres präsumiere und demgemäß mich betragen werde. Die Höflichkeit kann neben persönlicher Wertschätzung bestehen, aber sie ist unabhängig von ihr. Sie gilt nicht dem Individuum als solchem, sondern der menschlichen Gattung, deren Mitglied ich in dem anderen erblicke und unter allem Vorbehalt in dieser seiner Eigenschaft respektiere. Ich sage ihm gewissermaßen: »Die guten Elemente der Gattung fordern meine Achtung; ich will annehmen, du gehörest zu diesen; ob dem so ist, habe ich zu untersuchen keinen Beruf; bis zum Gegenbeweise behandle ich dich so, als ob es der Fall wäre: verfahr du mit mir nach demselben Grundsatze.«
Das klingt nun reichlich abstrakt, und im Leben spielt sich der Vorgang selten mit vollem Bewußtsein nach diesem Gedankengange ab. In vielen Fällen ist man nicht bloß höflich, sondern noch etwas anderes daneben, wohlwollend, mitleidig, dankbar, berechnend, gefallsüchtig, boshaft u. s. w., wodurch die einfache knappe Formel der Höflichkeit sich mannigfaltig modifiziert; und zweitens tun wir überhaupt nicht alles, was wir tun, mit klarem Bewußtsein unserer Absicht. Wer aber einmal Anlaß hat, sich deutlich zu machen, was er mit seiner höflichen Phrase eigentlich gewollt hat, der wird ungefähr zu dem von mir formulierten Resultate kommen. Der aller positiven Konsequenzen bare Charakter der höflichen Phrasen springt sofort in die Augen, wenn der andere sie ernsthaft nimmt und z. B. aus die Frage: »Was befehlen Sie?« wirklich zu befehlen anfängt. Ein Spanier sagte einem Yankee, der seine Uhr bewunderte, der Landessitte gemäß: »Sie gehört Ihnen, Señor.« Als aber der Yankee Miene machte, die Uhr einzustecken, sagte der Spanier: »Was ich aus Höflichkeit anbieten muß, das müssen Sie aus Höflichkeit ablehnen.«
Kein Tier ist höflich. Wenn der Hund sich unterwürfig und zutunlich zeigt, so meint er es ganz ernsthaft so. Man könnte versucht sein, in seinen ausdrucksvollen Schwanzbewegungen und seinem Niederducken das erste tierische Dämmern eines Höflichkeitsgefühls zu erblicken, wenn nicht die eigentliche Höflichkeit gerade diejenigen Motive ausschlösse, die den Hund ganz ausfüllen. Wer sich artig erweist, um einen einflußreichen Mann zu gewinnen, oder einen zornigen zu versöhnen, oder einen Käufer anzulocken, der handelt nicht aus Höflichkeit. Der Hund klemmt den Schwanz ein, weil er für sich Unannehmlichkeiten befürchtet; er wedelt, weil er einen lieben Bekannten trifft, mit aufrichtiger Freude, oder weil er einen leckeren Bissen wittert. Das Generalisieren, das Absehen vom individuellen Falle und von konkreten Zwecken, welches der menschlichen Höflichkeit zu Grunde liegt, ist den höchststehenden Tieren ebenso fremd wie der Genuß am Komischen.
Gleichwohl ist schwerlich, als der Mensch zuerst auf diesem Planeten erschien, sofort jene Grenzlinie zwischen ihm und der Tierwelt so scharf, wie wir sie sehen, hervorgetreten, das Höflichkeitsgefühl so entwickelt, wie wir es zum Thema der Betrachtung machen können, mit auf die Welt gekommen. Der Keim muß im Menschen von Urbeginn gelegen haben – denn aus nichts wird nichts –, aber es hat wohl unermeßlicher Zeiträume bedurft, ehe der Keim zur Pflanze sich entfaltete. Der Mensch mußte den gröbsten Bedürfnissen der Selbsterhaltung mit einiger Freiheit gegenüberstehen, ehe in seiner Brust das Gefühl sich regen und gar einwurzeln konnte, daß es löblich sei, auch anderen als den nächsten Jagdgenossen gegenüber feindselige Begegnung zu suspendieren, dem Unbekannten wohlwollende Neutralität zu gewähren, ihn, wenn auch nur symbolisch, mit Zeichen freundlicher Achtung zu begrüßen. Eine lange Schule mannigfacher Erfahrung mußte vorangehen, ehe die Ahnung dämmerte, daß es besser sein könnte, den Nebenmenschen, statt ihn zu töten, leben zu lassen, mit ihm zu gemeinsamer Jagd sich zu verbinden. Beute gegen Beute auszutauschen, und Äonen mögen verstrichen sein, ehe das, was anfangs Ausnahme und Berechnung war, die Begrüßung des nutzenversprechenden Fremdlings, zur milden Sitte allen Fremden gegenüber und zum instinktiven Gefühle oder Nebengedanken ward. Zuerst ist der Mensch dem Menschen ein Feind, den er flieht oder tötet; auf der zweiten Stufe wird die Möglichkeit erkannt, mit ihm als einem Gehilfen sich zu vertragen. Um solchen Verkehr aber nur zu eröffnen, muß der eine dem anderen schon von weitem, durch Signale gleichsam, zu verstehen geben, daß er ihn nicht töten wolle. Solche Zeichen müssen bald einen konventionellen Charakter angenommen haben; sie sind die ersten Symbole friedfertigen Umganges gewesen. Je häufiger die friedlichen Berührungen wurden, je vorteilhafter sie sich erwiesen, umsomehr wich die Scheu vor der Begegnung mit fremden Menschen, wandelte sie sich allmählich in Wohlgefallen und gastliche Stimmung.
Daß man, wenn Fremdlinge nahten, fortfuhr, die alten Friedenssymbole zu gebrauchen, begreift sich bei der Allmählichkeit solcher Umwandlungen leicht; das Zeichen, welches ursprünglich sagte: »Du bist deines Lebens sicher,« bedeutete im milder gewordenen Zeitalter: »Du bist willkommen! Wie wir dich behandeln, so mögen wir in der Fremde behandelt werden.« Das ist der Beginn höflicher Sitte. Schon im ersten Stadium hat sie den Charakter des Allgemeinen, abstrahiert sie von den Eigenschaften des einzelnen, ehrt sie in ihm die Gattung, gilt sie auch da, wo kein besonderer Zweck erreicht werden soll. Demgemäß mißt sie alle mit demselben Maße, wiederholt sie, ohne Unterschied der Personen, immer wieder die nämlichen Worte und Gebärden. Es bildet sich ein Kodex des Zeremoniells, vor welchem, wie vor dem Code Napoléon, alle gleich sind. Von nun an ist man, wenn die Person als solche geehrt werden soll, genötigt, für den besonderen Fall andere Gebärden und Worte anzuwenden oder wenigstens durch Ton und Miene das herkömmliche, für alle gültige Zeichen der Höflichkeit zu verstärken. Hier liegt die Erklärung, weshalb es unter Umständen kränkend ist, höflich behandelt zu werden, da nämlich, wo man erwartet, ausgezeichnet zu werden.
Daß die ersten Formen der Höflichkeit ursprünglich Friedenssignale waren, also ernstlich bedeuteten, was sie ankündigten, und daß sie erst allmählich sich zu bloßen Höflichkeiten abschliffen, wird niemand befremden, der mit der Naturgeschichte der symbolischen Gebräuche vertraut ist. Der Brauch überlebt nicht nur das Bedürfnis, dem er das Dasein verdankt, sondern sogar die Erinnerung an diesen Ursprung. Man übt ihn, weil er herkömmlich ist, aber man vergißt, weshalb er herkömmlich wurde. Erst die gelehrte Forschung hat uns wieder gelehrt, daß die lärmenden Scherze, welche noch heute in Europa bei den Hochzeiten vielfach vorkommen, nur Nachklänge der Handgemenge sind, die in alten Zeiten den Mädchenraub begleiteten. Was bitterer Ernst gewesen war, wurde ein Spiel der Erinnerung; allmählich schwand auch die Erinnerung, und nur das Spiel, das äußerliche Zeichen, ist geblieben. Analog wird der Vorgang bei Festsetzung der Höflichkeitsregeln gewesen sein, wenn schon ich mich nicht anheischig machen möchte, in jedem Falle den Faden des Zusammenhanges auszuklauben. Wie z. B. jener Negerbrauch, den Gastfreund anzuspucken, auf einen ursprünglichen Sinn zurückzuführen sei, wüßte ich nicht zu sagen.
Dagegen scheinen viele weitverbreitete Höflichkeitsgebärden unzweifelhaft Abkömmlinge des Friedenssignals, welches ja naturgemäß entweder in einer Selbstentwaffnung oder in einer den Waffengebrauch ausschließenden Körperhaltung bestehen mußte. Man senkte die Waffe oder legte sie ab; man erhob die leeren Hände oder streckte sie dem anderen offen entgegen; man kreuzte die Arme auf der Brust; man kniete nieder oder man berührte den Boden mit der Stirn. Wie naturgemäß diese Bewegungen sind, davon habe ich kürzlich ein modernstes Beispiel gelesen. In Australien hat vor etwa zehn Jahren eine Räuberbande, geführt von den beiden Brüdern Kelly, ein förmliches Schreckensregiment geübt, Städte und Dörfer gebrandschatzt, Warentransporte und Banken geplündert, mit Mord und Brand gewütet. Endlich gelang es der Polizei und dem aufgebotenen Landsturm, die Räuber zu umzingeln und in ein Blockhaus zu treiben. Aber erst nach einem vierundzwanzigstündigen Feuergefechte gaben die Belagerten den Widerstand auf. Es waren lauter moderne Rowdies, mit Hinterladern und Revolvern bewaffnet, wahrscheinlich frei von allen gelehrten Reminiszenzen. Was taten sie, um ihre Unterwerfung anzukündigen? Sie machten es genau, wie vor Jahrtausenden besiegte Tartaren und Beduinen es auch gemacht haben werden. »Die Leute,« sagte der Polizeibericht, »traten aus dem brennenden Hause, legten sich platt auf den Erdboden und streckten die Hände in die Luft. Da wir sahen, daß sie keine Waffen hielten, stellten wir das Feuern ein, u. s. w.« Der australische Polizeiinspektor bedurfte keiner paläontologischen Studien, um die urweltliche Gebärdensprache zu verstehen.
Verfolgen wir das Friedenssignal, das Zeichen der Unterwerfung, eine Strecke auf dem Wege seiner Geschichte, so gelangen wir, meine ich, zunächst an einen Punkt, wo es zum Symbol der Ehrerbietung wird. Frieden bietet man vor allem dem Stärkeren; Unterwerfung gilt dem Sieger; der Häuptling fordert, daß man ihm ohne Waffen nahe, daß, wo er erscheine, Gewalttat ferne bleibe. Die Entwaffnung, die unkriegerische Körperhaltung, anfänglich in vollem Ernste gefordert, dauerte hernach, als geordnetere Zustände eintraten, gewohnheitsmäßig beim Herannahen des Mächtigen fort, jetzt nur noch als eine Ehrenbezeigung, nicht mehr als notwendiges Unterpfand der Sicherheit. Und weil der Brauch seine praktische Wichtigkeit verlor, so wurden die einzelnen Bewegungen abgekürzt zu bloßen Andeutungen und erhielten eine scharf umrissene Form; sie wurden gewissermaßen heraldisch stilisiert, manchmal der ursprünglichen Handlung so unähnlich wie der Wappenadler dem natürlichen. Man warf sich nur noch einen Augenblick nieder, oder man beugte nur noch den Oberkörper; aus dem Hinknieen wurde die Kniebeugung, der Knicks; aus der Entwaffnung ein leichtes Senken oder Fernhalten der Waffe, das wir noch in dem Degengruß des Offiziers und in den Honneurs der Schildwachen erkennen; aus dem Lüften des Helms ward das Öffnen des Visiers, welches bei uns im Abnehmen der Kopfbedeckung, beim Militär in dem Handgriffe nach der Stirn fortlebt. In diese Klasse gehört vielleicht auch eine wunderliche Zeremonie, die Stanley am oberen Kongo antraf. Der Begrüßende füllt beide Hände mit Sand und reibt damit in unverständlicher Weise in bestimmter Reihenfolge Ellenbogen, Hüften u. s. w., bis der Sand alle ist. Jedenfalls ist er während dieser Prozedur kampfunfähig.
Eine andere Bewandtnis dürfte es mit der morgenländischen Sitte haben, welche durch Abtun der Schuhe Ehrfurcht bezeigt, im striktesten Gegensatze zum kopfentblößenden Abendlande. Die morgenländische Sitte wird jüngeren Datums sein, wenn auch immer noch uralt: sie deutet auf eine Entstehungszeit, wo der Häuptling schon ein teppichgeschmücktes Zelt, das Götzenbild einen Tempel mit künstlichem Estrich hatte. Freilich tat auch auf freiem Felde Moses seine Schuhe ab, als Jehova ihm im feurigen Dornbusch erschien; die Sitte hatte ihre ursprüngliche Bedeutung schon vergessen.
Dem Osten und dem Westen gemeinsam ist der Gedanke, daß Stehen mehr Ehrfurcht in sich hat als Sitzen und Liegen. Natürlich scheint es, daß in primitiven Zeiten, als auch in der Wohnung des Reichen der Sessel und Teppiche wenige waren, der Geringere aufstehen mußte, um dem Vornehmeren Gelegenheit zum Sitzen zu bieten, oder auch um ihm den besseren Platz, näher am Herde oder im Schatten, einzuräumen. Leicht knüpft sich daran die Anschauung, daß Sitzen dem Höheren, Stehen dem Niedrigeren zukomme, gleichviel ob der Stühle mehr oder weniger sind. Die Gastfreiheit, die Tugend patriarchalischer Zeiten, wirkte fördernd mit. Der Fremdling, der, ganz nach dem Schema der Höflichkeit, um seiner Fremdlingsschaft, nicht um seiner persönlichen Verdienste willen, ausgezeichnet werden soll, wird an der Tür empfangen; der Wirt erhebt sich und führt ihn zu seinem eigenen Platze, bietet ihm seine Dienste an, bevorzugt ihn beim Mahle, geleitet ihn beim Abschiede u. s. w. Aus der steten Wiederholung solcher Verläufe wurde schließlich jenes Zeremoniell der Ehrenbezeigung, welches noch heute, stark abgeschliffen zwar im großstädtischen, deutlicher im kleinstädtischen und bäuerlichen Verkehr, zu erkennen ist. In altfränkischen Häusern läuft man mitunter noch Gefahr, bei einem gelegentlichen Vormittagsbesuche mit den Hausbewohnern, wenn auch nicht Salz und Brot, doch Wein und Konfekt teilen zu müssen. Dabei läßt sich wenigstens noch an das Bestreben, dem Besucher »etwas zu gute zu tun«, denken, während es doch unerfindlich ist, worin »das Gute« besteht, wenn der Gast genötigt wird, sich ins Sofa statt in einen bequemen Fauteuil zu setzen, die Hausfrau statt der Dame seiner Wahl zur Tafel zu führen und die Treppe hinab, auf welcher kein Schatten von Gefahr droht, sich vom Hausherrn geleiten zu lassen. Vernunft entdecken wir nicht mehr in diesen Dingen, aber kraft unvordenklicher Gewöhnung empfinden wir sie ohne weitere Reflexionen als ehrende Behandlung.
Und nun frage ich: was würden wir wohl beginnen, wenn wir dies Erbteil nicht besäßen? Erfinden und dekretieren lassen sich diese Symbole nicht, so wenig sie sich willkürlich abschaffen lassen. Alle Vereine gegen das Hutabnehmen, welches dem Hute und seinem Träger nachteilig ist, haben Fiasko gemacht, und auch die so mächtige Sanitätsschwärmerei unserer Tage hat es nicht vermocht, eine rationellere Begrüßungsform durchzusetzen. Aller logischen Opposition ungeachtet bleiben wir der unbewußt entstandenen Sitte Untertan. Und im ganzen stehen wir uns gut dabei: in der Sitte ist mehr verborgene Weisheit als in der Logik der Individuen. Die Sitte hat es gefügt, daß der Ehrenplatz bei der Mahlzeit an der Seite der Hausfrau ist; dort hatte in alter Zeit der Gast die beste Sicherheit, reichlich und gut gespeist zu werden. Heute, wo dieser Grund gewöhnlich wegfällt, scheint es rationeller, den Stuhl neben der liebenswürdigsten, oder der geistreichsten, oder der schönsten Dame zum Ehrenplatz zu machen. Aber man bedenke, was entstehen würde, wenn vor jedem Diner und Souper das Schiedsgericht des Paris wiederholt werden müßte! Unter den aufgetragenen Früchten würde der Apfel der Eris nicht selten sich vorfinden. Es ist weit leichter, den Rang als die natürlichen Vorzüge zu messen, und selbst um den Rang hat es Hader und Haß genug gegeben. Es ist gut, daß die Sitte wenigstens weiteren Zank abwendet.
Der geneigte Leser findet vielleicht, daß ich mehr von Ehrerbietung als von Höflichkeit rede, was doch sehr verschiedene Dinge seien. Und der geneigte Leser hat recht: es sind ganz verschiedene Dinge. Höflichkeit im eigentlichen Sinne ist ja völlig unabhängig von der Erwägung, ob einer hochgeboren, mächtig, reich sei, ob er große Tugenden besitze, glänzende Verdienste sich erworben habe. Sie rechnet nur mit Durchschnittsgrößen. So sehr gehört dies zu ihrem eigensten Wesen, daß sie nur gegen Gleiche und gegen Tieferstehende geübt werden kann, nicht gegen Höhere. Es ist nicht Höflichkeit, wenn der Untertan vor dem Kaiser Front macht, wenn der Subalternbeamte vor dem Minister sich verneigt. Aber es ist Höflichkeit, wenn der Kaiser den Gruß erwidert, der Minister seinerseits den Hut zieht. Und man wird finden, daß diese Erwiderung meistens sich nicht viel von der Art, wie Gleiche in zwangloser Begegnung einander grüßen, unterscheidet. Um so höflicher ist die Erwiderung des Höheren, je weniger Herablassung durchschimmert. Denn Gleichheit ist das Lebenselement der Höflichkeit, wie Ungleichheit das der Ehrerbietung. Wenn einer höflich ist, wo er ehrerbietig sein sollte, wirkt er alsbald komisch, wie der bekannte »Einjährige«, den Prinz Friedrich Karl auf der Straße interpellierte.
– Kennen Sie mich nicht?
»Habe nicht die Ehre.«
– Ich bin Prinz Friedrich Karl.
»Sehr angenehm, mein Name ist Cohn.«
Die Geschichte ist lehrreich, weil sie einmal die Höflichkeit in ihrem Rechte zeigt (solange Cohn den Prinzen nicht kennt, benimmt er sich ganz korrekt), und dann mit einem Schlage sie ins Unrecht, d. h. in eine Situation, wo sie unpassend wird, versetzt.
Eine feinere Nuance bietet die Geschichte, wie Lord Stair vor dem großen König, wohlgemerkt König Ludwig dem Vierzehnten, in den Wagen stieg. Bekanntlich gehörte der Vorzug, in der Karosse des großen Monarchen zu fahren, zu den überschwenglichsten Segnungen, die Höflings Erdenwallen beglücken konnten. Wenn der Herzog von Saint-Simon (der doch zu den unabhängigeren Geistern des Hofs gehörte) von jemand zu berichten hat: »le roi le faisait entrer dans son carosse«, so nimmt er einen Ton an, als ob er sagen wollte, der Himmel öffnete sich! Eines Tages also, als die Wagen vor der großen Terrasse hielten, um den Hof nach Marly zu bringen, und alles atemlos harrte, welcher Glückliche erkoren werden möchte, winkte der König dem neuen Botschafter Englands, mit ihm einzusteigen. Der Botschafter machte seine Reverenz und wollte, wie sich von selbst versteht, warten, bis der König Platz genommen habe. Aber der König blieb am Schlage stehen und sagte: »Steigen Sie ein, Mylord.« Und siehe da, ohne einen Augenblick zu zaudern, zum Entsetzen der Hofgesellschaft, stieg der Botschafter ein, und der große Monarch folgte als zweiter. König Ludwig selbst erklärte hernach seiner entrüsteten Umgebung das Feine der Sache. Dem englischen Botschafter war der Ruf vorangegangen, daß er der vollkommenste Hofmann sei und in den schwierigsten Situationen unfehlbar das tue, was sich zieme. »Ich habe ihn auf die Probe stellen wollen,« sagte der König, »und er hat sie bestanden.« Die französischen Kavaliere mußten zugeben, daß der Lord, wenn er höflich den Vortritt beanstandet hätte, den König wie einen Gleichen behandelt haben würde, und daß er gerade durch Beiseitelassen der Höflichkeit die Ehrerbietung bewies. Hier muß ich nun eine Einschaltung machen, um mich vor einem Mißverständnisse zu schützen. Wenn ich sage, man könne gegen Höherstehende nur ehrerbietig, nicht höflich sein, so spreche ich nur von den Fallen, wo das Rangverhältnis als solches zur Geltung kommt, vom dienstlichen und zeremoniellen Verkehr, nicht von dem Zusammentreffen auf neutralem Gebiet. Im Salon, an der Tafel, im Klub, im Eisenbahnwagen, am Kurorte, auf Rigikulm und am Golf von Neapel kennt der Kodex der Sitte nur Ladys und Gentlemen, die berechtigt und verpflichtet sind, einander höflich zu behandeln, respektive höflich zu ignorieren, und wenn schon unterwürfige Gewohnheit und Befangenheit ihre Devotion auch in die freie Region oft mitschleppen mag und selbst auf dem Montblanc ihre Bücklinge nicht vergessen kann, so sind dies doch nur Ungebührlichkeiten, die man der menschlichen Schwäche zu gute halten, aber nicht nachahmen soll. Das allgemeine Urteil verwirft sie; ihm ist es guter Ton, im Verkehr mit Höheren sich einfach und zwanglos zu bewegen; den Kleinstädter, der seinen submissen Frack nie ablegt, belächelt man wie den König im Märchen, der mit Krone und Szepter spazieren geht.
Wenn nun aber Ehrerbietung und Höflichkeit so verschiedene Dinge sind, daß sogar eins das andere ausschließt, wie geht es dann zu, daß ihre Zeichen und Ausdrücke einander so ähnlich, ja zum Teil identisch sind? Hutabziehen, Aufstehen, Entgegenkommen und Begleiten, Verbeugung, Einräumung des Vortritts, alle diese im Verkehr Gleicher geübten Bräuche sind, wie wir wenigstens vermuteten, zuerst Zeichen der Ehrerbietung gewesen, und dasselbe gilt von unseren gewöhnlichen Höflichkeitsphrasen: »ergebenster Diener«, »mit ausgezeichnetster Hochachtung«, »erzeigen Sie mir die Ehre« u. s. w. Es gilt ja namentlich und nachweisbar von der allgemein gewordenen Anrede »Herr« und »Frau«. Wenn der Bewohner einer anderen Welt uns sprechen hörte, könnte er glauben, daß wir alle gegeneinander von Devotion überflössen, während wir selbst nichts davon merken und die Phrasen der Ehrfurcht nur gebrauchen, um nicht ungezogen zu erscheinen.
Hier liegt die Erklärung nicht in prähistorischen hypothetischen Vorgängen, sondern im hellen Licht der Geschichte. Zum Teil vor unseren Augen vollzieht sich die Umwandlung des ehrerbietigen in das höfliche Zeichen, und wir wissen genau, wie es dabei zugeht. Da man nicht immer genau weiß, wie viel Ehre der andere, der ja oft ein Unbekannter ist, mit Recht oder auch mit Unrecht erwartet, so gibt man ihm im Zweifelsfalle, zumal wenn man von höflicher oder schüchterner Gemütsart ist, lieber zu viel als zu wenig. Das Plus wird allmählich gewohnheitsmäßig (kostet es doch nichts), und nun ist es schon unhöflich, weniger als zuviel zu geben. Natürlich hört die Auszeichnung auf, Auszeichnung zu sein, wenn sie jedem ersten besten zu teil wird: von Stund' an ist sie nur mehr einfache Höflichkeit. Wie Papiergeld, wenn es zu häufig vorkommt, im Kurse sinkt, so geht es mit Titulaturen, Zeremonien und Phrasen. Wenn irgend ein soziales Gesetz nachweisbar ist, so ist es dieses, daß die Höflichkeit nach und nach die Zeichen der Ehrerbietung für sich usurpiert, sie in immer weiteren Kreisen umlaufen läßt und dadurch entwertet, daß dann die Ehrerbietung notgedrungen für ihren aparten Gebrauch neue schönere Zeichen ausgibt, und daß über ein Kleines die Höflichkeit auch dieser neuen Auflage sich bemächtigt und ihre alten abgegriffenen Noten außer Kurs setzt.
Kein Volk hat auf diesem Felde eine so unerschöpfliche Erfindungsgabe gezeigt, wie die Deutschen in den letzten drei oder vier Jahrhunderten, auch die Chinesen nicht, die sich konservativ mit den tausendjährigen Regeln behelfen. Kein größerer Kontrast als der zwischen den Schnörkeln und dem Schwulste unserer Umgangsformen und dem der beiden Völker des Altertums, auf deren Kultur doch unsere so vorwiegend beruht. Sinn für seine Lebensart gebrach sicherlich weder Hellenen noch Römern; die Worte »zivil« und »Urbanität« weisen ja unmittelbar auf Rom und seine Bürger. Aber der Stil ihrer Lebensart war einfach, knapp und keusch wie ihr Baustil. Sie haben nie einen Menschen anders als du genannt; Wendungen wie »ich habe die Ehre«, »ich erlaube mir« und dergleichen kommen in ihren Reden und Komödien, ihren Dialogen und Briefen nicht vor. Sie verlegten die Höflichkeit in das Benehmen, nicht in eine absonderliche Syntax und Grammatik; sie sprachen mit Perikles und König Alexander, mit Scipio und Julius Cäsar in den Satzbildungen wie mit dem letzten Bürger. Jene formale Gleichheit, welche das Ziel der Höflichkeit ist, ward von den Alten erreicht, indem sie den Vornehmen nicht höflicher anredeten als den Niedrigen; die Modernen, umgekehrt, erstreben die Gleichheit, indem sie den Niedrigen so anreden, als ob er vornehm wäre.
Diese moderne Methode, das Hinaufschrauben von unten nach oben, hat, seitdem die Barbaren Nordeuropas die Weltherrschaft angetreten, allerdings unter dem Einflusse byzantinischer Hofsitte, erst langsam, dann immer schnellere Fortschritte gemacht bis in die neueste Zeit, in Amerika bereits bis zu einem gleichen Niveau für alle Weißen, in Europa demselben Ziele sich stark annähernd. Von »Herr« und »Frau« sprach ich schon. Der Titel Herr Dominus, Seigneur, Lord, gebührte ursprünglich nur den Häuptern der Dynastengeschlechter, die keinen über sich hatten; allmählich gewährte man ihn den großen Vasallen und Prälaten, im späteren Mittelalter auf dem Kontinent schon allen Ritterbürtigen und allen Geistlichen, die ein bedeutenderes Amt bekleideten. Die Doktoren, die Patrizier, die Ratsmitglieder in den Städten, dann überhaupt die liberalen Professionen und die angesehensten Bürger wurden im Verlaufe der Zeit mit dem adligen Titel beehrt; heute wird er im mündlichen Verkehr den meisten, im schriftlichen allen zuerkannt. In meinem väterlichen Hause, d. h. vor fünfzig Jahren, wurden Schuster, Schneider und Tischler ganz unbefangen »Meister« angeredet; wir nennen ebenso unbefangen unsere Handwerker, selbst die Gesellen »Herr«. In meiner Jugend hießen die jungen Damen bürgerlichen Standes Mamsellen; auf den Theaterzetteln stand: »Zerline... Demoiselle Sonntag.« Heute schreibt man der Köchin »Fräulein« vor den Namen und nennt alle Damen »gnädig«, die Schauspielerinnen eingeschlossen.
In Frankreich ist es ähnlich ergangen. Von den drei aus dem lateinischen senior entsprungenen Formen des Herrentitels, Seigneur, Sire und Sieur, hat Seigneur am längsten als Auszeichnung des hohen Adels, Sire als Anrede an den König sich behauptet, Sieur die Wanderung nach unten angetreten wie unser »Herr«. Nicht das wenigst Ergötzliche in dem wundervollen Memoirenwerke des Herzogs von Saint-Simon ist die tiefe Trauer, mit welcher der Pair von Frankreich die einreißende Vermengung der Titel als Vorbotin des Weltunterganges an zahlreichen Beispielen illustriert. Schon, sagt er, entblöden die Minister sich nicht, sich Monseigneur anreden zu lassen! Wohin kommen wir? Alle Grenzmarken göttlicher und menschlicher Ordnung werden weggespült. Daß gleichzeitig der Bürger sich nicht entblödete, sich Monsieur anreden zu lassen, anstatt Maître, wie es ihm zukam, das ärgerte den Herzog nicht so sehr; ihm lag nur an dem Privilegium des hohen Adels. Einige Menschenalter später spülte dann in der Tat die große Sintflut den hohen Adel hinweg, ehe der Titel Zeit gehabt hatte, sich so zu encanaillieren wie das sonst hätte es geschehen können, daß die Franzosen alle sich Monsieur nennten, wie Italiener und Spanier es wirklich tun und wie wir alle »Herren« geworden sind. So ist Monsieur allein stehen geblieben, und nur vereinzelt, Prinzen und Kirchenfürsten gegenüber, wagt das feudale Prädikat sich noch hervor. Monsieur ist zwar auch feudaler Abkunft, aber es hatte, als die Sintflut kam, schon so breites bürgerliches Terrain gewonnen, daß es sich gegen die demokratischen Puristen behaupten konnte. Aber merkwürdig ist es doch, daß diese Puristen einige Jahre lang sich schmeicheln durften, gegen die französische Höflichkeit und den französischen bon sens ihr geschmackloses citoyen durchzusetzen. Der Gleichheitsfanatismus schien mächtiger als die höfliche Gewöhnung, und in seiner Blindheit begriff er nicht, daß gerade die Allgemeinheit des Titels Monsieur ein Triumph der Gleichheit sei. »Wenn ich Ihr Herr bin, mein Herr, und Sie mein Herr sind, wo bleibt da die Ungleichheit?« sagte Beaumarchais.
Im wesentlichen sind alle Völker Europas denselben Gang gewandelt, aber keins ist so beflissen gewesen wie das deutsche, für die Entwertung des Herrentitels der Eitelkeit der Vornehmen und der Devotion der Niederen immer neuen Ersatz zu schaffen durch immer neue, schwerfällige und bombastische Prädikate. Die übrigen Nationen übergehe ich mit Schweigen, nur von einer, weil sie am strengsten die alten Unterscheidungen festgehalten hat, will ich einige Worte sagen, von den Engländern. Ihnen ist wie im Mittelalter noch heute nur der Mann des hohen Adels und der Prälat der Landeskirche ein »Herr« (Lord). Auch den obersten Richtern und den Burgemeistern von zwei oder drei bevorzugten Städten gönnen sie diesen Titel. Jeder andere ist »Meister« (Mister) geblieben, wenn er nicht etwa einen militärischen Titel führt, oder Doktor, oder wenn er nicht als Inhaber der Ritterwürde auf das Prädikat Sir (das normannische Äquivalent für das angelsächsische Lord) Anspruch hat. Aber auch in diesem konservativen Lande macht sich jenes nivellierende Gesetz, von dem ich sprach, geltend. Den Lordstitel hat es nicht angetastet, aber schon seit Jahrhunderten wird jedermann Sir angeredet wie ein Ritter. Jede Mehrheit von Männern nennt man in der Ansprache »Gentleman«, ob sie zur Gentry gehören oder nicht. Alle Damen sind ohne Unterschied »Ladies«; nur in der Anrede an die einzelne sinkt diese, wenn sie nicht zu den Privilegierten gehört, zur »Madam«, in der dritten Person zur »Mistress« herab. Auf Briefadressen schreibt man statt »Mister« ziemlich allgemein »Esquire«, d. h. Schildknappe, ohne im entferntesten an die Bedeutung des Worts als einer feudalen Rangbezeichnung zu denken.
Selbst königlichen Prädikaten ist es nicht anders ergangen. In den spätesten Zeiten des weströmischen Reiches fing man an, den Kaiser anstatt mit Du mit tua clementia anzureden, auch ab And an mit tua majestas. Während des Mittelalters verblieb die »Majestät« ausschließlich den römischen Kaisern; andere Monarchen mußten sich mit der »Gnade« begnügen. Die Könige heißen auch wohl »Hoheit«, und die großen unter ihnen, Spanien, Frankreich, England, wurden seit dem sechzehnten Jahrhundert am eigenen Hofe »Majestät« genannt. Bei Shakespeare werden sie abwechselnd grace, highness, majesty tituliert. Der Kaiser sträubte sich lange, den größeren Monarchen die Majestät zu geben; schließlich mußte er sich darein finden und sich damit trösten, daß er die einzige »kaiserliche Majestät« sei. Der Herzog von Saint-Simon fand es unverschämt und lächerlich, daß der König von Dänemark es versucht hatte, in irgend ein Vertragsinstrument sich als Majestät einzuschmuggeln, und er tadelt die Versailler Kanzlei, daß sie aus Gutmütigkeit ihm zu »Altesse« noch »sérénissime« gegönnt habe. Mit welchen Gefühlen würde er unsere verkommenen Zustände betrachten! Altesse heißen heute die kleinen »landsässigen« Fürsten, die nicht einmal Pairs sind, und »Euer Gnaden« ist in Wien und Madrid jeder, der einen anständigen Rock trägt. Nur in England ist »Euer Gnaden« (your grace) eine Auszeichnung geblieben, freilich nicht der Könige, aber doch der beiden Erzbischöfe und der Herzöge. Der lateinische Süden hat die Exzellenzen und Signorien aufgebracht und streut sie mit vollen Händen auf alles nieder, was Symptome von Zahlungsfähigkeit zeigt.
Deutschland hat die Exzellenz und die Magnifizenz importiert, aber daneben einen förmlichen Wuchergarten heimischer Gewächse angelegt, Hoheit, Durchlaucht und Erlaucht, Hoch-, Hochwohl-, Hochedel-, Edel- und Wohlgeboren, Hoch- und Wohlweisheit, Hochwürden, Ehrwürden und Hochehrwürden, eine sinnverwirrende Fülle von Geschmacklosigkeiten, deren Perle mir »Euer Liebden« zu sein scheint. Daß auch diese Titulaturen immer tiefer herabsteigen, ist bekannt: Hochwohlgeboren ist bereits ein leeres Anhängsel geworden. Wohlgeboren beinahe eine Insulte, wie das geistliche »Ehren«, das man früher den Landpastoren gab.
Neben solchen Verschnörkelungen kann es nicht mehr wundernehmen, daß Ehrerbietung und Höflichkeit selbst die Grammatik verschraubt und verdrechselt, Singularis in Pluralis, zweite Person in dritte umgekünstelt hat. Die Sitte, Ihr statt du zu sagen, ist nach Jakob Grimm zuerst im neunten Jahrhundert nachweisbar, aber er zitiert selbst eine Quelle aus dem fünften, in der es (ganz ungeschichtlich natürlich) heißt, man habe Julius Cäsar geihrzt, »um ihn zu ehren«. Auf das Ehren war es jedenfalls abgesehen: der Angeredete sollte für mehr gelten als für eine Person. Der Brauch verbreitete sich über ganz Westeuropa, aber schon im späteren Mittelalter war das Ihrzen einfache Höflichkeit; das Du galt nur gegen Geringere und im vertraulichen Verkehr; sonst empfand man es als Kränkung. Kaiser Friedrich der Erste wurde noch vom Papste geduzt, was er seinerseits nur im Zorne zu erwidern wagte. Heute ist das »Ihr« tief von seiner Höhe gesunken. In England hat es das Duzen so vollständig verdrängt, daß man selbst Säuglinge, ja Pferde und Hunde mit you anredet. Es ist nicht Höflichkeitsform mehr; aber wenigstens haben die Engländer es dabei bewenden lassen, ohne, wie andere devotere Nationen, statt der erloschenen eine neue zu entwickeln, von der zweiten auf die dritte Person überzuspringen. Weit früher hat der sklavische Orient denselben Sprung von der ersten Person auf die dritte vollführt: »Siehe, dein Knecht hat Gnade gefunden vor deinen Augen und du hast ihm geholfen,« – was den Eindruck macht, als werde es mit ehrfürchtig abgekehrtem Antlitz gesprochen, als getraue der Redende nicht zu dem Mächtigen wie ein Ich zum Du zu sprechen. Gewiß von einem ähnlichen Gefühle geleitet, sagte der Abendländer anstatt »dein Knecht bittet dich«: »ich bitte den Herrn, mir seine Befehle kund zu geben.« Solche Art zu reden galt für feiner als das Ihrzen und drang im sechzehnten Jahrhundert aus Italien und Frankreich in Deutschland ein. Aber in Deutschland vertiefte man den Bückling noch erheblich. Die Ehrfurcht heischte, daß der Herr ein Pluralis sei, und man sagte deshalb: »Wie der Herr befehlen,« »wünschen der Herr zu speisen?« Das Pronomen machte dann den tieferen Bückling mit, und aus »er« wurde »sie«, das zu mehrerer Feierlichkeit mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden mußte. Dies schreckliche, naturwidrige, schleppende »Sie« sind wir nicht wieder los geworden; es herrscht im Gegenteil jetzt nahezu allgemein, und nur der vertrauliche Umgang bleibt ihm unzugänglich. Im vorigen Jahrhundert kämpfen noch Ihr, Er und Sie den Kampf um das Dasein, mit zunehmendem Überwiegen des schlechtesten Pronomens. König Friedrich Wilhelm I. von Preußen nannte brieflich seinen Kronprinzen Ihr, andere Leute Er; der Prinz gab ihm Sie zurück. Die Meinung, es sei dem alten Fritz eigentümlich und eine Art Grobheit gewesen, Minister und Generale Er zu nennen, ist irrig; der Brauch war allgemein, bis ans Ende des Jahrhunderts, und hatte im Munde eines Königs nichts Kränkendes, so wenig es heute verletzt, wenn der Fürst dem Untertanen gegenüber das »Herr« fallen läßt. In Lessings, Goethes und Schillers Dramen wechseln Er, Ihr und Sie in einer (beiläufig gesagt für die Nuancierung des Dialogs sehr wirksamen) Weise, welche zeigt, daß der Gebrauch noch in der Entwicklung sich befand. Schiller selbst ward von seinem Vater Er angeredet, ohne allen verächtlichen Nebensinn. Aber natürlich, je mehr das Sie sich einnistete, umsomehr verlor das Er im Kurse, umsomehr klang es geringschätzig, und das Selbstgefühl des gebildeten Mannes begann alsbald sich gegen differenzielle Behandlung in diesem Punkte zu sträuben. Vom Schwiegervater ließ man sich das Er allenfalls noch gefallen, wie Vossens »Luise« lehrt; aber Gellerts bekannter Leberreim beweist, daß die gute Gesellschaft anfing, gegen die dritte Person Singularis zu reagieren. Die Sprechweise in »Kabale und Liebe« würde heute unmöglich sein. Der Präsident nennt den Sekretär, Ferdinand den Vater seiner Geliebten, diese ihren Vater Er; Lady Milford fragt das anständige Bürgermädchen: »Luise nennt sie sich?« und ebenso spricht der Präsident zu Luisen. Nur in der Bauernsprache behielt die Anrede in der dritten Person Singularis ihren höflichen Sinn; im übrigen beschränkte sie sich auf den Verkehr mit dem gemeinen Mann, Dienstboten und Soldaten, neben dem »vertraulichen Du«. Seit 1848 verschwand das Er auch aus dieser seiner letzten Domäne; im Revolutionsjahre forderte der gemeine Mann das Sie mit solchem Nachdruck, daß selbst die Unteroffiziere sich fügen mußten, und die Sitte hat hernach diese Errungenschaft besiegelt, zum Glück aber den Sprachgebrauch der Familie und der Kameradschaft nicht, wie in England, angetastet. Im Gegenteil, aus diesem Gebiete, von dem sie vordem bereits einige Provinzen an sich gerissen hatte, ist sie wieder ausgewiesen worden. Vor hundert Jahren nannten Kinder ihre Eltern, Brautleute und selbst Gatten einander Sie, Väter ihre Söhne Er. Das wenigstens hat die Revolution, die mit Rousseau begann, wieder weggespült. Ich habe noch als Kind gehört, mit Verwunderung, als etwas sehr Drolliges, wie mein Vater zu seiner alten Mutter sagte: »Wie befinden Sie sich?«
Mir scheint, daß von den westeuropäischen Völkern die Franzosen am besten gefahren sind. Sie haben von der natürlichen Grazie der Sprache am wenigsten der Höflichkeit geopfert. Allerdings stehen sie den Engländern darin nach, daß sie die Anrede in dritter Person, die in England nur ganz vereinzelt in Wendungen wie your lordship erscheint, nicht so gründlich ausgemerzt haben. Indes einmal beschränkt sich in Frankreich diese Anrede – »Monsieur est servi« auf besonders zeremoniösen Umgang, während »vous« das herrschende Pronomen geblieben ist, und zweitens haben die Franzosen sich das unschätzbare Du, das in England nur noch bei den Quäkern als Rarität konserviert wird, nicht nur erhalten, sondern auch, wie wir, seine Grenzen weitergerückt. Besondere Devotionsfürwörter, wie wir sie haben, Hochdieselben, Allerhöchstihre, Dero u. s. w. hat selbst der Versailler Hof nicht gezeitigt.
Tröstlich ist für uns Deutsche, daß wir anscheinend nicht nur den Gipfel des Absurden bereits erstiegen haben, sondern mit der übrigen zivilisierten Menschheit uns in der Umkehr zu einfacherem Stile befinden. Gegen die Überschwenglichkeiten des Höflichkeitstriebs, die im vorigen Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, scheint eine dauernde Reaktion eingetreten zu sein, eine Bewegung nach dem richtigen Ziele, dessen Mittel die Höflichkeit ist, nämlich erstens nach der Friedfertigkeit, sodann nach der Bequemlichkeit und endlich nach der Schönheit des Umgangs. Dazu bedarf es Selbstbeherrschung, Schonung fremder Eigenliebe, Anerkennung gleicher Rechte aller, und die höflichen Formen sollen dazu erziehen, daran gewöhnen. Diese Formen waren aber allmählich anstatt Mittel Selbstzwecke geworden; sie hatten den Umgang, den sie erleichtern sollten, zu einer Last und Arbeit gemacht, ihn zum Schutze wider Roheit in eine Rüstung geschnürt, die ihn zu ersticken drohte. Wenn Leute wie Lessing das, was man Höflichkeit nannte, haßten, so muß man sich vergegenwärtigen, wie diese Höflichkeit aussah. Sie war eine tägliche Fronarbeit und eine kasuistische Wissenschaft, die das ganze Leben in ein Netz unbequemster Regeln einspann. Die gute Gesellschaft war fröhlich im Schweiße ihres Angesichts, schwitzend vor Anstrengung, schwitzend vor Angst, etwas zu versäumen. Und wie es zu gehen pflegt, unter dem Kultus der Formen litt die Sache. Wie um die Observanzen der Religion die gottlosesten Kriege, so sind um die Observanzen des Umgangs die gröbsten Zänkereien geführt worden. Weil man in den Formen die Ehre selbst erblickte, focht man um sie mit ahnungsloser Komik. Wie viel Schritte man dem Besucher entgegengehen, wie viel Grade der Winkel der Verbeugung haben, ob man den Hut nur obenhin lüften oder bis ans Ohr oder bis zur Schulter, zur Hüfte, zum Knie senken müsse, wie viel Ellen Krepp dieser Trauerfall, wie viel jener fordere, ob ein Stuhl mit Lehne oder ohne Lehne anzubieten, auf welcher Höhe des Papiers der Brief anzufangen und mit wie langem Devotionsstrich er zu schließen sei, und ob man bei der Unterschrift verharren oder ersterben solle, – diese und zahllose ähnliche Fragen wurden wie Haupt- und Staatsaktionen behandelt, stifteten Haß und Unfrieden, beherrschten und belasteten das Dasein. Wenn wir von alten Leuten hören, die gute Sitte gehe zum Teufel, so wollen wir nicht vergessen, daß die gute Sitte der alten Zeit auf dem besten Wege war, die Natur zu töten und mit der Natur die natürliche Höflichkeit. Ja, wer alle seinen Sitten jener Zopfzeit gewissenhaft befolgt hatte, mochte nach so saurem Tagewerke wohl meinen, mehr könne man nicht verlangen, mochte wohl vergessen, daß am Ende die höfliche Gesinnung die Hauptsache sei, – wie der Büßer, der sich die Knie wund rutscht, mit dem Himmel sich abgefunden zu haben glaubt.
Unser Jahrhundert, so dünkt mich, hat wenigstens gelernt, daß hinter den Symbolen eine Sache steckt, auf die es ankommt und auf welche die Schule der Jahrtausende abzielt. Wir begreifen, daß es ein Ideal des Verkehrs gibt, – jeder in jedem die Würde der Gattung respektierend, jeder in jedem die Schwächen unserer gemeinsamen Natur schonend, das Wohlwollen in den kleinen Dingen des Lebens den Vortritt gewinnend vor der rohen Selbstsucht. Und wir verstehen, daß alle Observanzen der Höflichkeit nur Wert haben, wenn sie auf dies Ideal hindeuten, zu ihm erziehen, daß ihr Übermaß schädlich wirkt, weil es das Wesen der Sache unter den Äußerlichkeiten verschüttet. Noch bleibt mancher Zopf abzuschneiden, aber zurückschauend dürfen wir doch sagen: es ist besser geworden. Welche Massen unnützen Ballastes haben wir über Bord geworfen, wie viel kostbare Zeit dem leeren Formelkram abgewonnen! Man kann sagen, daß wir ohne die starken Abbreviaturen, welche wir in Dingen der Etikette vornehmen, das Leben zu kurz finden würden, um die Pflichten der Höflichkeit zu erfüllen. Ich erinnere nur an die Visitenkarte, – deren Urheber leider, wie so mancher Wohltäter der Menschheit, unbekannt geblieben ist. Welche kolossale Zeit und leere Redensarten erspart diese Abbreviatur des Besuches der Welt!
Es ist wahr, zum großen Teil ist die Höflichkeit eine Konzession an die menschliche Eitelkeit. Aber ist sie deshalb verwerflich? Schriebe ich eine Abhandlung über die Eitelkeit, so könnte ich vielleicht auch ihr einige gute Seiten abgewinnen, vielleicht zeigen, daß sie nicht allein eine große, sondern auch eine nützliche Rolle in der Welt spiele, und insoweit Schonung verdiene. Das Thema wäre nicht uninteressant. Aber zugegeben, Eitelkeit wäre absolut schlecht. Jedenfalls existiert sie, eine der Großmächte dieser Welt, und jedenfalls ist da, wo man auf ihre Empfindlichkeit keine Rücksicht nimmt, auf die Dauer ein geselliger, ich glaube nicht einmal ein polizeilich korrekter Verkehr möglich. Wer geselligen und friedlichen Verkehr der Menschen nicht auf engste Freundeskreise beschränkt sehen möchte, vielmehr ihn in den weitesten Grenzen für wünschenswert hält, der muß die Konzession, ohne welche solcher Verkehr undenkbar ist, bewilligen, es sei denn, daß er fände, sie verstoße gegen höhere Pflichten, gegen unverrückbare Gesetze der Sittlichkeit, z. B. gegen die Wahrhaftigkeit. Derartige Skrupel gegen die Höflichkeit bestehen, wie wir schon sahen, allerdings: es gibt Leute, namentlich in England, die es für sündlich halten, eine höfliche Phrase zu gebrauchen, die sie nicht eidlich erhärten können. Wenn ein unbequemer Besuch sich anmeldet, sagen sie beileibe nicht: »Ich bin nicht zu Hause,« sondern: »Ich bin beschäftigt,« oder: »Ich bin verhindert,« was doch auch in den meisten Fällen nur eine Umschreibung ist für: »Man lasse mich ungeschoren!« Jedenfalls ist diese Lüge nicht schlimmer als die andere, sich »ergebenst« zu unterzeichnen, wo man keine Ergebenheit fühlt.
Nun bedarf aber der Vordersatz, von dem diese Puristen ausgehen, »daß man jedem die Wahrheit schuldig sei«, gar sehr des Salzkorns. Humboldt hatte einmal gelegentlich an Varnhagen geschrieben, »Wahrheit schulde man nur denen, die man achte,« und Fräulein Assing hatte es drucken lassen. Darob erhob sich denn großes Zetergeschrei über Humboldts laxe Moral: die Wahrheit zu sagen sei man immer und überall verpflichtet. Wenn dem so wäre, hätte es freilich mit der Höflichkeit ein Ende. Aber was heißt denn die Wahrheit sagen? Für mich (und für Menschen überhaupt) heißt es immer nur so viel als: das sagen, was ich für wahr halte. Und es ist mir doch mehr als zweifelhaft, ob jeder Mensch verpflichtet, ob er auch nur berechtigt ist, in diesem Sinne überall und immer die Wahrheit zu sagen. Ich male mir aus, wie, wenn diese Regel gelten sollte, manche Begegnung, die jetzt harmlos verläuft, sich entwickeln möchte.
»Ach, Herr Professor, gut, daß ich Sie sehe; ich möchte Ihnen doch mitteilen, daß ich Ihre Fresken unter aller Kritik finde.«
»Aber, Herr Pastor, Ihre Predigten werden immer langweiliger!«
»Häßlich sind Sie einmal, gnädige Frau, aber in diesem geschmacklosen Putz sehen Sie geradezu garstig aus.«
»Sie müssen wissen, Herr Kommerzienrat, daß ich Sie im Grunde für einen ganz gemeinen Gauner halte.«
Es gibt ja Fälle, wo es Pflicht wird, solche Dinge zu sagen; aber in der Regel hat man nicht einmal das Recht zu derartigen Offenherzigkeiten. In den zehn Geboten steht bekanntlich nicht: »Du sollst nicht lügen,« viel weniger: »Du sollst immer sagen, was du für wahr hältst.« Und der Apostel schreibt: »Richtet nicht.« Das gilt vom Richten über Personen, aber auch die sachliche Wahrheit, d. h. was ich dafür halte, darf ich keineswegs überall und gegen jedermann aussprechen. Mit gutem Grunde schließt der gute Ton von dem Gespräche in gemischter Gesellschaft und bei der Begegnung mit Unbekannten alle Themata aus, durch welche die Leidenschaften in Bewegung geraten könnten. Mit gutem Grunde, weil bei solchen Gelegenheiten das Disputieren nie der Wahrheit zum Siege verhelfen, wohl aber nutzlose Erbitterung erzeugen kann. Leider ist man nicht immer gegen indiskrete Versuche, ein unfriedenstiftendes Thema aufs Tapet zu bringen, gesichert. Es gibt Leute, die nicht ruhen, ehe sie ihre Ansichten über irgend eine brennende Streitfrage, über Zukunftsmusik, Zuckerbesteuerung, Semitentum, verlautbart und zu erkennen gegeben haben, daß sie jeden, der anders denkt, zu zermalmen gesonnen seien. Gegen solche Aufdringlichkeiten verhält man sich am besten schweigend, und wenn das nicht hilft, tut man wohl, einfach zu sagen, daß man über diese Dinge anders denke, und daß man sehr begierig sei, zu vernehmen, was für Reisepläne für den nächsten Sommer gemacht würden.
Der Pessimist wendet nun ein, man könnte sich die höfliche Verschleierung der Wahrheit gefallen lassen, wenn es wahr wäre, daß sie motiviert werde durch Achtung vor den Meinungen anderer, durch den Wunsch, fremde Eigenliebe zu schonen, durch die Besorgnis, ungerechte Urteile zu fällen. In den meisten Fällen aber sei lediglich Feigheit das Motiv, die Furcht vor Repressalien. Die Höflichkeit sei eine auf Gegenseitigkeit basierte Versicherungsanstalt gegen unangenehme Wahrheiten und nur insofern nützlich, als ohne sie es in der Welt zugehen würde wie in einem Bagno.
Die Menschen kennen sich einander nicht.
Nur die Galeerensklaven kennen sich,
Die eng an eine Bank geschmiedet, keuchen.
Wo keiner was zu fordern hat, und keiner
Was zu verlieren hat, die kennen sich,
Wo jeder sich für einen Schelmen giebt
Und seinesgleichen auch für Schelmen nimmt.
Noch wir verkennen nur die andern höflich,
Damit sie wieder uns verkennen sollen.
So sagt Goethe in klassischen Versen, und in klassischer Prosa erzählt Schopenhauer seine Fabel von den Stachelschweinen.
»Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Erwärmung sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfnis nach Gesellschaft, aus der Monotonie und Leere des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und seine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: Keep your distance! Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.«
Dem Dichter und dem Philosophen mag ein trefflicher Land- und Volksschilderer sich anschließen, der uns ergötzlich zu Gemüte führt, was dabei herauskommt, wenn – bei sonst gutmütigen Leuten – Europas übertünchte Höflichkeit kanadischer Aufrichtigkeit weicht. Von der entschwundenen Gemütlichkeit der Stammkneipen Tirols redend, sagt Steub:
»Man hört häufig die Behauptung, die Stuben seien, namentlich in den Wirtshäusern, zu akustisch gebaut. Wenn nur drei fröhliche Zecher an einem Tisch zusammen sitzen, erhebt sich oft schon ein solcher Lärm, daß die anderen ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Der allgemeine Umgangston war früher wohl sehr gemütlich, aber doch etwas rauh und herbe. Man schätzte nichts höher als die Wahrheit, und jeder glaubte sich verpflichtet, das, was er für Wahrheit hielt, dem andern ins Gesicht zu sagen. Da aber der andere die Wahrheit dieser Wahrheit nicht immer anerkannte und jeder Freund der Wahrheit bald wieder einen andern fand, der auch ihm die Wahrheit sagte, so traten beim Abendtrunke sehr oft Verstimmungen ein, so daß einer nach dem andern fortblieb. Die verwundeten Löwen hielten sich fortan schmollend zu Hause, und mancher soll sogar in der Langeweile geheiratet haben.«
Mich dünkt, wenn die Höflichkeit in der Tat nur den Lärm der Roheit dämpfte, nur die Stacheln frecher Selbstsucht abstumpfte, es wäre schon eine große Wohltat. Wir sind froh, wenn die Binde das häßliche Geschwür uns verbirgt, ob wir schon wissen, daß hinter ihr das Geschwür eitert. Aber die Binde dient nicht nur zum Verhüllen, sondern sie fördert auch die Heilung. In der höflichen Übung steckt eine zivilisierende Kraft. Die Sitte, vermittels ihrer Etikette, drillt den natürlichen Menschen, seinen Körper, seine Zunge, seine Leidenschaft anständig zu beherrschen; sie nötigt ihn, fortwährend zu bedenken, daß die anderen auch da sind. Erst wenn die elementare Wildheit gebändigt, die Kultur zur unbewußten Gewohnheit geworden ist, kann sich jene höhere Höflichkeit entfalten, die nicht bloß mechanisch Regeln befolgt, sondern selbständig wirkend, nach der Beschaffenheit des einzelnen Falles, in wohlwollenden, taktvollen Handlungen und Unterlassungen sich betätigt, die Höflichkeit des Herzens.
Freilich entspringt diese Höflichkeit aus der Güte des Charakters, die den Trieb empfindet, den schweren Lebensgang den Mitpilgern zu erleichtern, ihnen nicht allein ihr Recht, sondern darüber hinaus alles Gute zu gewähren, was Reisegefährten einander antun können. Aber Herzensgüte allein ist noch nicht Herzenshöflichkeit. Herzensgüte kann unbeholfen, plump, taktlos, unzart sein, despotisch und zudringlich; sie will manchmal beglücken, wie der andere nicht beglückt sein mag, uneingedenk, daß keine Wohltat dem Menschen das aufwiegt, was ihm das Kostbarste ist, seine Freiheit. Solche unzivilisierte Herzensgüte zeigt ihren gediegenen Wert, wenn schwere Schicksalsschläge ihre Hilfe herausfordern; den täglichen Umgang zu verschönen, ist nicht ihre Sache. Da aber gerade liegt die Wirkungssphäre ihrer liebenswürdigen Tochter. Gütig-höflich wartet sie in den kleinen Dingen des Lebens täglich und stündlich ihres Dienstes; mit geschäftiger Phantasie sieht sie voraus, was anderen peinlich sein möchte, um es wegzuräumen, was erwünscht, um es zur Stelle zu bringen; alles, was sie tut, tut sie mit leichter Hand, damit der freundliche Dienst nicht schwer wiege wie eine solide Wohltat, nicht dem andern der Dank zur Last und der Genuß der Freiheit verkümmert werde. Solche Höflichkeit ist doch mehr als die Berechnung der Stachelschweine. Aber sie hat eine Ähnlichkeit mit jener egoistischen Lebensregel Schopenhauers. Auch das Wohltun hat seine Stacheln; auch die Liebenswürdigkeit soll den Leuten nicht zu nahe auf den Leib rücken, und sie soll des Guten nicht zu viel tun, welches oft lästiger fällt als gänzliches Ignorieren. Immer dem Brausen stürmischer Menschenliebe ausgesetzt sein, ist ein unbehaglicher Zustand; aber angenehm ist es, den leisen Luftzug zu spüren, der des Tages Schwüle lindert und ein feines Arom aus unsichtbaren Gärten mit sich führt. Ja, man kann ein kreuzbraver Mensch sein und dennoch, wenn man nach dieser Seite hin stumpf ist, wenn man nicht die höfliche Kunst versteht, sich an die Stelle des andern zu versetzen, eine Flut von Plagen über seine Mitmenschen ausgießen.
Der Unhöfliche ist unpünktlich, weil er die Pein des Wartenden, die Kostbarkeit der Zeit des andern nicht mitfühlt; er schickt unleserliche Briefe ab, weil er die Mühsal des Entzifferns sich nicht vergegenwärtigt; er redet im Konzert den Nachbar an, der eben andächtig der Musik folgt; er drängt im Schauspiel sich durch die Reihen der Zuschauer, die atemlos den Worten des Tragöden lauschen; er spricht im Hause des Gehenkten mit Vorliebe vom Galgen; er foppt einen wehrlosen Bekannten in Gegenwart Fremder; er schüttelt sich vor Lachen, wenn die Gesellschaft bei grobdrähtigen Späßen in Verlegenheit gerät; er öffnet die Fenster, während er sich auf dem Klavier übt; er schenkt den Kindern eines Nervenkranken Trompeten und Trommeln; er hält seine Unterredungen mit Gevattern gern auf dem Trottoir, so daß die Passanten den Fahrdamm aufsuchen müssen; und wenn er einmal notgedrungen sich aufmerksam erweisen muß, arrangiert er Serenaden für den Tauben und Feuerwerk für den Blinden. Er sage ich; ich könnte auch sie sagen. Denn das weibliche Geschlecht ist in diesem Punkte zwar besser als das männliche, aber nicht viel, und bei den Frauen nimmt sich der Mangel, wie jeder Mangel, häßlicher aus. Ich glaube, im allgemeinen haben die Frauen mehr von der liebenswürdigen, die Männer mehr von der gerechten Seite der Höflichkeit. Daher die Frauen z. B. in Unpünktlichkeit, Sperren der Passage und ähnlichen das Rechtsgefühl verletzenden Rücksichtslosigkeiten voranstehen. Über das Verhältnis der Frauen zur Höflichkeit ließe sich überhaupt noch allerlei sagen, nicht nur über den Beruf, den Goethe ihnen zuweist, den Männern zu lehren, was sich wohl geziemt, und die Sitte zu hüten, die dem leichtverletzlichen Geschlechte besonders nützlich ist, sondern auch über die eigenartige Höflichkeit, welche die moderne Welt ganz speziell für den Verkehr der Männer mit den Frauen ausgebildet hat und die vielleicht nicht ohne nachteiligen Einfluß für die minder verständigen Damen geblieben ist. Aber ich sehe nicht ab, wie weit mich die »Galanterie« führen würde, und ich habe das Gefühl, als sei es hohe Zeit, an den Schluß zu denken.
Aus zahllosen habe ich einige Beispiele dessen angeführt, was wahre Höflichkeit nicht tun würde. Es ist leichter zu sagen, was sie nicht tut, als was sie tut; im Unterlassen des Verletzenden ist sie größer fast als im positiven Handeln. Sie tut das Gute wirklich im Verborgenen und rechnet nicht auf Dank und Gegenseitigkeit. Wo bliebe der Dank für das vermiedene kränkende Wort, für die nicht berührte wunde Stelle, für die mit heiterer Miene verzehrte schlechte Mahlzeit, für die mit aufmerksamem Antlitz zum hundertsten Male angehörte Geschichte, für den leise entfernten Stein des Anstoßes, für die durch Schweigen ersparte Beschämung? In einer großen Stadt wohnten ein Graf und ein Ingenieur, die denselben Namen führten, nur daß der eine von X und der andere einfach X hieß. Die beiden kannten einander; der Graf ließ sich von dem Ingenieur allerlei Projekte ausarbeiten. Eines Tages, als er ausgehen wollte, um mit dem Ingenieur etwas zu besprechen, reichte der Bediente ihm ein soeben abgegebenes Paket: »Ein Paar neue Schuhe für den Herrn Grafen.« – »Schuhe? Ich trage keine Schuhe; das wird wieder eine Verwechslung mit dem Herrn X sein. Gib das Paket nur her; ich werde es ihm mitnehmen.« Man sieht, der Graf besorgte nicht, mit seinem Pakete für einen Dienstmann gehalten zu werden. Aber die Frau des Ingenieurs, die ihn nicht kannte, taxierte ihn doch wohl für eine Art Kommissionär; denn als der Graf ihr den Wunsch zu erkennen gab, ihren Gemahl zu sprechen, antwortete sie: »Sie haben etwas abzugeben? Bitte, in der Küche.« – »Ich habe ein Paar Schuhe abzugeben, aber ich möchte Ihren Herrn Gemahl auch sprechen.« – »Ja, ja, warten Sie nur in der Küche; mein Mann wird gleich kommen.« Der Graf ging in die Küche, gab der Magd die Schuhe und verließ das Haus. Auf der Straße begegnete ihm der Ingenieur. Jetzt hätten, glaub' ich, unter tausend neunhundertundneunzig gesagt: »In Ihrem Hause, lieber X, ist mir eben etwas Spaßhaftes begegnet; so und so«; und der Ingenieur wäre vielleicht erschrocken und die Frau hätte nachträglich sich unbehaglich gefühlt. Der Graf aber erzählte von dem spaßhaften Vorfall kein Wort, teilte dem Ingenieur nur seine Aufträge mit, grüßte ihn und ging von dannen. Das war echte Herzenshöflichkeit, frei von jeder egoistischen Rücksicht, selbst auf Dank völlig verzichtend, über das Gebiet der Formen, die »Nachahmung der Achtung« schon weit hinausreichend.
Um vollständig zu sein, müßte ich nun auch die Grenzen angeben, über welche die Höflichkeit nicht hinausreichen sollte, jenseits welcher ihre Berechtigung erlischt. Aber ich bescheide mich auf die Logik der Dinge hinzuweisen, aus welcher sich von selbst ergibt, daß die Höflichkeit da zurückzutreten hat, wo ihr Zweck, den menschlichen Verkehr vor Störungen zu schirmen, durch stärkere Bollwerke, wie Kameradschaft, Freundschaft, Familiensinn, Liebe, gesichert wird, und nicht minder da, wo ein höheres Bedürfnis als das des geselligen Umgangs in Frage kommt, die allgemeine Wohlfahrt, die wissenschaftliche Wahrheit, die Moral, die Rechtspflege. Diesen Satz, zumal seine zweite Hälfte, besonders einzuschärfen halte ich nicht für notwendig: die Menschen sind nur allzu geneigt, den Vorwand »berechtigter höherer Interessen« zu benutzen, um sich vom Zwange der guten Lebensart zu emanzipieren. Die politische und die wissenschaftliche Polemik sündigt gewiß weit mehr aus der Seite unnötiger Grobheit als auf derjenigen übertriebener Höflichkeit. Anders verhält es sich, wenn wirklich vor der Macht höherer Triebe die Höflichkeit verblaßt, wie Kerzenlicht vor dem Sonnenschein. Zwar ist es hübsch, wenn auch über die innigsten menschlichen Beziehungen, über Freundschaft und Familienleben, sich ein zarter Schimmer von Höflichkeit breitet, aber die formelle Höflichkeit der Welt würde nicht allein das Behagen und die Zwanglosigkeit des häuslichen Lebens zerstören, sondern auch die erziehende Kraft, die in der derberen Aufrichtigkeit der nahen Blutsverwandten und der Kameraden liegt, abschwächen. Es gibt schöne Mädchen, die nur von ihren Brüdern die Wahrheit hören. Auch würde der Akzent der Vertraulichkeit der Familiensprache verloren gehen, wenn sie ebenso klänge wie die Sprache, die man gegen alle gebraucht, auch gegen die Fremdesten. Deshalb wird die höfliche Form schneidende Kränkung, wenn sie im Ernste gegen die Nächsten angewandt wird, wenn der Mann die Frau, der Vater den Sohn, der Freund den Duzbruder plötzlich »Sie« anredet.
Noch eine Grenze gibt es, wo es richtig sein kann, die Höflichkeit beiseite zu lassen, nämlich da, wo der Kampf gegen die Unhöflichkeit beginnt. Wenn die Höflichkeit eine wichtige Sache im Leben ist, wichtig wie für eine große Maschine das Öl, ohne dessen glatte Flut alles sich zerreiben und entzünden, nichts vorwärts kommen würde, dann ist es auch erlaubt, sie gegen die natürliche Roheit zu schützen. Wo die Roheit allen erziehenden Einflüssen der gesellschaftlichen Gewöhnung, der Scheu vor Tadel, des guten Beispiels und der Belehrung getrotzt hat, da soll man nicht anstehen, gegen die Ungezogenheit drastisch zu reagieren, nicht allein gegen die flegelhafte Insolenz, sondern auch gegen die arglose Ungeschliffenheit, die »nur nicht daran gedacht hat«, wie grob sie sei. Man erfüllt damit eine soziale Pflicht, und die Leute haben recht, welche unhöflicher Behandlung gegenüber sagen: das lasse ich mir nicht gefallen. Wenn man sich alles gefallen läßt, behalten die Rüpel die Oberhand. Es ist mehr als gekränkte Eitelkeit, was sich in uns auflehnt, wenn wir selbst das Opfer ungebührlicher Begegnung werden. Wenn wir um des lieben Friedens willen oder um Skandal zu vermeiden zu zahm gewesen sind, haben wir hernach Gewissensbisse, wie wegen einer verabsäumten Pflicht. Ich kannte einen feinen, liebenswürdigen Maler, der tagelang sich nicht beruhigen konnte, weil er in seinem Atelier einem hochnäsigen Geldprotzen nicht den Hut vom Kopfe geschlagen habe. Damit will ich nicht sagen, daß man immer gleich zu den direktesten und handgreiflichsten Mitteln seine Zuflucht nehmen soll. Hübscher ist es, wenn man den Ungezogenen beschämt, indem man ihm den Spiegel der guten Lebensart vor Augen hält, wie Heine es machte, als im Lesezimmer zu Dieppe die schwatzenden Engländerinnen sich niederließen. Er trat zu den Störerinnen und sagte mit größter Freundlichkeit: »Wenn mein Lesen vielleicht die Damen stört, werde ich gern hinausgehen!«