Otto Gildemeister
Essays - Erster Band
Otto Gildemeister

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Roschers »Politik«

(1893)

Wenn ein Mann wie Roscher, einer von denen, die man »Nestor« zu nennen pflegt, nach ruhmvoll geleistetem Dienste, anstatt um einen Ruhesitz in dem Prytaneum der Veteranen nachzusuchen, sich die Aufmerksamkeit der Lesewelt für ein neues Werk seiner Feder erbittet, so wird man in der Regel leichtere Ware, Späne, immerhin wertvolle, aus der Werkstätte, noch nicht benutzte Reste gesammelter Beobachtungen und Betrachtungen erwarten, Parerga und Paralipomena, Nebenprodukte und Nachträge zu der schon vollendeten eigentlichen Lebensarbeit. Ein Wunder fast schien es, als Ranke im neunten Jahrzehnt seines Lebens die Abfassung einer Weltgeschichte unternahm; außerordentlich mindestens muß es genannt werden, wenn Roscher in schon feierabendlicher Stunde ein Thema von kaum geringerem Umfange zu bearbeiten nicht nur unternimmt, sondern wirklich zu Ende führt und fertig auf den Tisch der Nation niederlegt. »Politik, geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie« betitelt sich der stattliche Band, der mit der Jahreszahl 1893 im Verlage der Cotta'schen Buchhandlung erschienen ist, 714 Seiten stark mit einem Sachregister, und – was vielleicht das merkwürdigste ist – der schon jetzt eine zweite Auflage erlebt hat. Im November hat Roscher das Vorwort unterzeichnet, im Dezember hat er seinen Namen unter ein paar Zeilen, um die zweite Auflage einzuführen, gesetzt. In Deutschland zumal begegnet so etwas Werken der Wissenschaft nicht oft.

Freilich ohne einen berühmten Namen erzielt man einen solchen Erfolg nicht; aber der Name allein tut es auch nicht. Das Thema des Buches muß doch eine besondere Anziehungskraft ausüben. Politik, Naturlehre, geschichtliche Naturlehre, diesen Titelworten entsprechen drei starke Kennzeichen unseres Zeitalters, die überwiegende politische Richtung des Interesses, die naturwissenschaftliche Methode der Forschung, der historische Sinn, der das neunzehnte Jahrhundert vor allen anderen auszeichnet. Und der Gegenstand dieser naturwissenschaftlich-historischen Darstellung, »Monarchie, Aristokratie, Demokratie«, hat von jeher oder, um nicht zu übertreiben, seit Jahrtausenden die Köpfe auf das lebhafteste beschäftigt und in der praktischen Politik wohl noch länger einen breiten Raum ausgefüllt.

Roscher will uns die Natur der drei vornehmsten Regierungsformen darlegen, indem er ihre Schicksale, Entstehung, Veränderungen, Wirkungen, in den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern, zu großen Gesamtbildern, Panoramen gewissermaßen, resümiert, mehr die Dinge selbst reden lassend – »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,« – als lehrhaft den geschichtlichen Stoff in ein logisch-symmetrisches System einzwängend. Allerdings läßt er eigene Betrachtungen oder Winke einfließen, die uns zeigen, daß er nicht mit der kühlen Unparteilichkeit des bloßen Gelehrten der Sache gegenübersteht, aber der Leser wird, auch wenn er andere Vorlieben und Abneigungen hat, sich daran nicht stoßen, weil Roscher weder aufdringlich ist, noch auch jemals den Verdacht erweckt, als ob er die Tatsachen einer Theorie zuliebe künstlich gruppiere, Licht und Schatten ungerecht verteile. Es ist ungemein wohltuend, einer solchen vertrauengewinnenden Redlichkeit in der politischen Literatur zu begegnen. Die Art und Weise Roschers erinnert an die des Aristoteles, der ja auch vor allem zu zeigen sucht, wie die Staatseinrichtungen, von denen er handelt, tatsächlich hier und dort gewirkt haben, und nur gelegentlich sein Urteil über Wert und Unwert der Dinge einfließen läßt. Auch darin ähnelt der deutsche Forscher dem altgriechischen, daß er sich enthält, dem praktischen Politiker Rezepte zu schreiben, nach denen die Gesundheit der Völker zu erhalten oder ihre Krankheit zu heilen sei. Er gibt wohl an, was ihm besonders wünschenswert oder besonders gefährlich erscheine; er stützt diese seine Meinung durch den Hinweis auf die Zeugnisse der Geschichte, aber er ist völlig frei von dem Dogmatismus, der davon ausgeht, daß es in der Politik Regeln von absoluter Gültigkeit gebe, die man nur zu befolgen brauche, um eine gewollte Wirkung zu erzielen. Gerade seine historisch-naturgeschichtliche Untersuchung führt zu der Erkenntnis, daß die menschlichen Dinge sich nicht auf chemische Formeln zurückführen lassen. Aus dem Panorama, das er uns entrollt, unermeßlich überlegen dem Aristoteles an Beobachtungsstoff, ergibt sich dies vor allem klar und mit unmittelbarer Anschaulichkeit, daß alle Staatsformen abhängig sind von Veränderungen, die niemand vorausberechnen kann: Veränderungen der außerpolitischen Verhältnisse, der menschlichen Bedürfnisse und Ansprüche, des religiösen Glaubens, der moralischen Urteile, sogar von dem Einflusse einzelner Individuen, der von Zeit zu Zeit beinahe alles andere in den Hintergrund drängt und dessen Kommen und Gehen gleichwohl sich immer erst nachträglich feststellen läßt.

Roscher unterscheidet sich von den meisten Lehrern der Politik auch darin, daß er sich nicht von der Neigung zu prophezeien verführen läßt. Er macht gelegentlich gern darauf aufmerksam, wie sehr gerade scharfblickende Politiker, praktische sowohl wie theoretische, geirrt haben, wenn sie nach ihrer Kenntnis der vergangenen und der gegenwärtigen Dinge der künftigen Entwicklung bestimmte Linien vorzeichnen wollten, und daß solcher Irrtum gewöhnlich deshalb sich einstellte, weil ganz neue, nicht vorherzusehende Faktoren die Rechnung störten. Napoleon weissagte, daß Europa binnen fünfzig Jahren nach seinem Sturze entweder kosakisch oder republikanisch sein werde; Alexander von Tocqueville hielt es für unmöglich, daß die Vereinigten Staaten, wenn sie die Zahl vierzig überschritten, als Union beisammenbleiben könnten; Gentz meinte, daß Rußland an seiner geographischen Ausdehnung, die auf die Dauer das Regieren ausschließe, zu Grunde gehen, sich in mehrere Reiche teilen werde. Von diesen drei Propheten hat der erste die drei konstitutionellen Großmächte, die heute den Dreibund bilden, nicht berücksichtigen können, die beiden anderen haben nicht geahnt, in welchem Maße Eisenbahnen und Telegraphen die Beherrschung großer Gebiete von einem Mittelpunkte aus erleichtern.


Wenn die vergleichende Politik keine unmittelbar zu verwendenden Rezepte liefern kann, worin besteht dann ihr Nutzen? Hat sie überhaupt einen Nutzen, der die Mühe so weit greifender Forschungen, der auch nur das Durchlesen eines solchen dicken Buches verlohnt? Es ist die alte Frage vom Nutzen der Geschichte, und die alte Antwort reicht aus: daß es nicht gut ist für den Menschen, ohne Ahnung von dem Zusammenhange der Dinge durch das Labyrinth der Welt dahin zu straucheln. Daß der Besitz geistiger Bildung wertvoll sei, braucht man keinem, der ihn sein eigen nennt, zu beweisen, und ebenso ist es von selbst klar, daß dieser Besitz sich erweitert, wenn ein so wichtiges Gebiet unseres Daseins, wie der Staat es darstellt, nicht bloß in seinen nächstliegenden und ephemersten Erscheinungen, sondern auch in der ganzen Breite seiner so verschiedenartigen Entfaltungen und in der Tiefe seiner Entstehungsgründe dem Blicke eröffnet wird. Nur eine umfassende Betrachtung dieser Art gestattet es uns, in der Aufeinanderfolge der Begebenheiten die Logik, in den Tatsachen das Bedeutsame zu erkennen, im Verschiedenen das Gleichartige, im Gleichartigen das Verschiedene, die falsche Analogie zu unterscheiden von der wirklichen Ähnlichkeit, das Urteil auf die Erfahrungen der Menschheit zu stützen anstatt auf den engen Kreis der eignen Erlebnisse. Und das eben nennen wir Bildung, Freiheit des Blicks, Weite des Horizonts. Es ist wahr, daß es geniale Staatsmänner gegeben hat, die ohne Bildung ihren Weg zu finden wußten, aber auch unter den größesten Praktikern finden wir manchen, der sich selbst mit berühmten Helden der Vorzeit, Heerführern und Gesetzgebern zu vergleichen liebte, von ihren Schicksalen sich warnen oder ermutigen ließ und die Wirkung der Einrichtungen, die er schuf, an den Institutionen anderer Zeiten und Völker abschätzte. Von Napoleon und von Friedrich dem Großen wissen wir, welche Fülle von Betrachtungen solcher Art ihre Taten begleitet hat. Sie haben schwerlich die Kenntnisse, die sie dazu in den Stand setzten, gering geschätzt; viel weniger dürfen wir anderen es, die wir nicht den Mangel an Kenntnissen durch geniale Intuition ersetzen können. Für die meisten besteht der »Nutzen« der Bildung darin, daß sie mit ihrer Hilfe ein besseres Leben leben, ich meine nicht ein moralischeres, sondern ein minder stumpfsinniges. Mit anderem Auge sieht in die ihn umgebenden Wirren und in die aufsteigenden Wolken der Zukunft, wer sich zuvor in dem Tun und Treiben früherer Geschlechter umgeschaut hat; Hoffnung und Furcht werden ihn minder leicht betören; Erfolge wird er ohne Übermut, Niederlagen ohne Verzweiflung beurteilen. Die dogmatischen Einseitigkeiten der Parteien und Sekten werden ihn nicht gefangen nehmen; anschaulich wird ihm die eine Hauptwahrheit einleuchten, daß alle irdische Wahrheit relativ ist.

Bloß relativ ist es wahr, was ich soeben erwähnt habe, daß alle Staatsgebilde von den immer wechselnden, immer sich ändernden Verhältnissen und Bedürfnissen der Menschen abhängig sind. Wäre es unbedingt wahr, so könnte alle Kenntnis der Vergangenheit uns für die Beurteilung der Gegenwart nichts nützen. Darum sagen diejenigen, die uns ermahnen, aus der Geschichte zu lernen, daß die menschliche Natur in allem Wechsel der Umstände dieselbe bleibe, daher die nämlichen Triebe und die nämlichen Kräfte, die vor Jahrtausenden tätig waren, auch heute noch, und in wesentlich gleicher Weise, sich wirksam und ausschlaggebend erweisen müßten. Und auch das ist wahr, relativ wahr. Röscher bemerkt an einer Stelle, daß in den politischen Erscheinungen viel weniger Neues enthalten sei, als die Unwissenheit glaube. Man kann aber auch behaupten, daß sehr wenig jemals so gewesen ist, wie es heute erscheint. Er selbst macht wiederholt darauf aufmerksam, wie völlig neu uralte Probleme sich durch neue Umstände gestalten. Die Gefahr, das Alte zu verkennen, ist kaum größer als die entgegengesetzte. Auch ist die volkstümliche Anschauung keineswegs abgeneigt, die Unveränderlichkeit des menschlichen Treibens zuzugeben. Der salomonische Satz: »Es geschieht nichts Neues unter der Sonne,« ist ein gemeines Sprichwort aller Nationen geworden, in Deutschland sogar in besonders vulgärer Fassung, die von Gutzkow herrührt. »Alles schon dagewesen.« Der Irrtum, alles Gegenwärtige für bloße Wiederholung zu halten, darauf ohne weiteres die Erfahrungen, wirkliche oder eingebildete, der Vergangenheit anzuwenden, überhaupt aber aus der Geschichte gewisse Reihenfolgen, in denen alle Veränderungen notwendig sich vollziehen müßten, abzuleiten, dieser Irrtum ist, wie es scheint, in einer dem Menschen angeborenen Vorliebe für Schemata und übersichtliche Systeme begründet, unabhängig von den Parteien rechts und links. Die Männer der englischen Revolution fanden für alle ihre Konflikte vorbildliche Ereignisse im Alten Testament, die der französischen im griechischen und römischen Altertum, und unsere Reaktionäre wiederum schöpfen ihre abschreckenden Beispiele, mit denen sie den modernen Fortschritt bekämpfen, aus der blutigen Chronik der Jahre 1792 und 1793. Der letztere Fall ist besonders häufig. Man hat sich aus dem, was einmal geschehen ist, ein Schema konstruiert, das uns beständig vorgehalten wird, wenn wir, nicht etwa Revolution, sondern nur Reform für notwendig halten. Mit dem Rufe nach Reform, so belehrt man uns, angeblich an der Hand der Geschichte, fängt die Revolution an, und wenn man ihr nicht im Beginne widersteht, so verschlingt sie ihre eigenen Kinder, die gewaltsamere Partei verdrängt immer die gemäßigtere, »auf die Gironde folgt stets der Berg«. Noch vor wenigen Wochen hat Herr Stöcker diese Weisheit den Liberalen gepredigt, um ihnen vor dem Wege der Reformen bange zu machen: auf die Gironde folgt der Berg! Unsere Liberalen sind nichts weniger als Girondisten, aber selbst wenn man den Vergleich zuließe, wäre der Satz sehr anfechtbar. In Frankreich, im Jahre 1793, hatte er seine Richtigkeit; ganz besondere Umstände trafen damals zusammen, um diese Wendung herbeizuführen. In der englischen Revolution von 1688, in der amerikanischen des vorigen Jahrhunderts, in der deutschen von 1848 hat kein Berg die Herrschaft erobert. Ja, in Frankreich selbst haben die Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts nicht von der Gironde zum Berge geführt, sondern zur Herrschaft der oberen Bürgerklassen, zum Cäsarismus und zum Regimente eines kleinbürgerlichen Radikalismus, der, was man ihm auch Übles zutrauen mag, mit den Jakobinern von 1793 doch nicht verglichen werden kann. Diese Art der Geschichtsphilosophie ist um nichts besser als die girondistische und die jakobinische, die sich auf Harmodius und Aristogiton oder auf den älteren Brutus berief, um den Sturz des Throns und die Hinrichtung Ludwigs XVI. zu rechtfertigen.

Die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur, von der bei allen solchen geschichtsphilosophischen Betrachtungen als von einem unumstößlichen Vordersatz ausgegangen wird, beschränkt sich doch bei Lichte besehen auf die allerletzten und allereinfachsten Elemente, zu denen die Analyse hinabzudringen vermag, – die Grundformen des Erkennens und des Denkens, die Hauptrichtungen des Willens, die eine, die nach Erlangung der Lust, die andere, die nach Abwendung des Schmerzes strebt. Auf dieser schmalen Einheit entfaltet sich eine so unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, daß es einer großen Anstrengung bedarf, unter der üppigen Vegetation den gemeinsamen Boden, der sie erzeugt und nährt, nach unwandelbaren Gesetzen, aber in unübersehbarer Fülle immer neuer Kombinationen, zu erkennen. Natürlich muß der Forscher immer die Aufmerksamkeit auf den letzten Naturgrund gerichtet halten; ohne den hätten wir eigentlich kein wirkliches Interesse an den Tatsachen, die er vor uns ausbreitet; sie würden zum Range bloßer Kuriositäten herabsinken, ohne tiefere Bedeutung, die allein auf dem »humanum est« beruht. Für den praktischen Politiker hat das konstante Element der Rechenaufgaben, die er von Tag zu Tag zu lösen hat, ausnehmend wenig Gewicht. Er bedarf der Menschenkenntnis, aber wenn er nur die Zeitgenossen richtig zu taxieren versteht, wird ihm der Mangel archaistischer Kunde wenig Abbruch tun. Den Begriff Zeitgenossen verstehe ich dabei in etwas weiterem Sinne, so daß er die Generationen, die annähernd auf gleicher Kulturstufe stehen, umfaßt. In der Praxis würde man die ärgsten Mißgriffe begehen, wenn man im Vertrauen auf die Unwandelbarkeit der menschlichen Natur glauben wollte, man brauche nur den Unterschied der äußeren Umstände in Ansatz zu bringen, um zu einem richtigen Fazit zu gelangen. Der alte abgegriffene Hexameter: »Tempora mutantur« lehrt das Gegenteil, wenn er hinzufügt: »nos et mutamur in illis« unbeschadet der Wandellosigkeit des Kerns unseres Wesens. Von reaktionären Lippen hört man oft, daß der Mensch immer Mensch bleibe, und daß daher, was einmal möglich gewesen sei, alle Zeit möglich sein werde, sofern nur die äußeren Bedingungen dieselben oder ähnliche seien. Aber die großen Meister haben dem Satze nie recht getraut, vielmehr angenommen, daß das Menschenmaterial, je nachdem seine intellektuellen und moralischen Eigenschaften, seine Empfindungen und Urteile sich entwickelt haben, ganz verschieden behandelt werden muß, bei Strafe argen Mißlingens. Napoleon studierte in seiner guten Zeit sorgfältig die französische Gesellschaft, wie sie unter dem Einflusse der Revolution sich umgewandelt hatte, und bei allem, was er einrichtete, war ihm die Frage, wie der moderne Franzose darauf reagiere, wichtiger als die andere, wie etwa im alten Rom das Volk eine verwandte Maßregel Cäsars aufgenommen habe. Er zitierte gern einen Ausspruch der Kaiserin Katharina: »Ich bin immer dessen eingedenk, daß ich auf Menschenhaut arbeite (que je travaille sur la peau humaine), die kitzlig ist.« Erst in den Tagen, wo Erfolg und Macht ihn verblendet hatten, verfiel er dem bequemen Despotenglauben: Mensch ist Mensch, man kann ihm alles bieten; was er in alten Zeiten ertragen hat, wird er wieder ertragen.

Daß der Fortschritt der Intelligenz große Verschiedenheiten herbeiführt, liegt zu Tage und wird auch ziemlich von allen anerkannt, indirekt von denen, die den Volksunterricht mit scheelen Augen ansehen. Auch oberflächlicher Blick lehrt, daß die Menschenhaut im Reiche der Kaiserin Katharina minder kitzlig sein mußte, als sie in Ländern ist, wo die Proletarier Zeitungen lesen und über Dogmen räsonieren gelernt haben. Mehr angezweifelt wird, ob es auch einen analogen moralischen Fortschritt gibt; über die wichtigste aller Fragen sind die Gelehrten noch uneinig. Man darf die Frage des moralischen Fortschritts wohl so nennen; wenn sie verneint werden müßte, verlöre die Weltgeschichte eigentlich jedes höhere Interesse und das Staatsleben jeden edleren Inhalt. Wie denn auch Philosophen, die der moralischen Natur des Menschen jede Entwicklungsfähigkeit absprechen, Schopenhauer zum Beispiel, die Geschichte und die Politik mit Geringschätzung behandeln. Eifer auf diesen Gebieten ist unzertrennlich von dem Glauben an eine bessere Zukunft. Glücklicherweise warten die Patrioten und Philanthropen mit ihrer Arbeit nicht auf die wissenschaftliche Begründung ihrer Hoffnungen, sondern folgen »jenem dunklen Drange«, der nach Goethe den guten Menschen auf den rechten Weg leitet. Nur ist der Zweifel in unseren Tagen mächtiger geworden, und das Bedürfnis nach Klarheit und Beruhigung wächst, je mehr die wissenschaftliche Forschung über die Vorzeit Licht verbreitet und uns die zahlreichen Ähnlichkeiten enthüllt zwischen dem, was war, und dem, was ist, Ähnlichkeiten, die sich trotz aller Zunahme der Intelligenz und der äußeren Zivilisation aufdrängen und die Überzeugung von einer moralischen Weiterentwicklung unseres Geschlechts wohl erschüttern können. Wer uns eine siegreiche Antwort auf die unheimliche Frage zu geben vermöchte, würde uns eine große Wohltat erweisen.

Roscher erhebt keinen Anspruch darauf, dieser Wohltäter zu sein. Der ungeheure Stoff, den er zu verarbeiten unternahm, ließ ihm keinen Raum für die Erörterung einer Frage, die so überaus weitschichtig und verwickelt ist, noch viel schwieriger als die Vergleichung der Staatseinrichtungen aller Zeiten und Völker. Die große, ja entscheidende Bedeutung der Intelligenz und der Moral für die Wirksamkeit der Staatsformen wird von Roscher an vielen Stellen nachdrücklich hervorgehoben, aber diese Bedeutung erscheint, was die Moral betrifft, in seiner Darstellung als eine konstante Größe, während wir gerade wissen möchten, ob eine sorgfältige Erwägung der Tatsachen nicht gestatte, ein Wachstum zu vermuten. Ich für meinen Teil glaube es, ich sehe aber so viele Schwierigkeiten dieses Glaubens, daß ich unbescheiden genug bin, von demselben Manne, der mir soeben erst eine Fülle von Belehrung verschafft hat, sofort noch eine weitere Belehrung zu wünschen, eine geschichtliche Naturlehre der Völkermoral. Wenn ich nicht irre, teilt Roscher meinen Glauben, aber seine Stützen würden natürlich einen ganz anderen Wert für mich, geschweige für das Publikum, haben als meine.

Mit diesem Wunsche will ich abbrechen, mir vorbehaltend, auf das moralische Thema sowohl als auf einige andere Punkte, die sich mir beim Lesen aufgedrängt haben, zurückzukommen.


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