Jean Giraudoux
Bella
Jean Giraudoux

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Fünftes Kapitel

Ein Mann war bei Maxim eingetreten und hatte uns gegenüber auf der andern Seite des Durchganges Platz genommen. Moïse erhob sich, um ihn zu grüßen. Der Gast war etwa sechzig Jahre alt, von prächtiger Figur, mit einem hängenden graublonden Schnurrbart und Augen von reinstem Blau. Es war einer von jenen Menschen, bei denen man den Eindruck hat, ihr Inneres darzustellen, wenn man ihre Kleidung beschreibt. Beschreiben wir sie also. Er trug eine schwarz und weiß kleinkarierte Hose, eine schwarze Lavallierekrawatte, gelbe Stiefel in Gamaschen, ein mit Borte eingefaßtes Jackett. Seine Nägel waren gepflegt, sein Scheitel tadellos. Er war in ständiger Bewegung. Er drehte seinen Siegelring, steckte sein Monokel ins Auge und nahm es wieder ab, er befestigte die Nadel seiner Krawatte; es war ein Mann, der eine große Seele mit kleinen Eigenheiten beschäftigt. Eine gewisse Sanftmut, ein Hauch von Kindlichkeit machte es, daß man ihn sich mit jeder der anwesenden Frauen vorstellen konnte; zu jeder hätte er gepaßt, selbst zu der Jüngsten, und angekleidet wie er war, selbst zu den nackten Frauen der Wandbilder. Doch er war allein. Er frühstückte ein Kotelett, begegnete mit der Bestellung des Koteletts beim Oberkellner jener Ehrerbietung, die andere nur mit Hummer oder Fasan erreichen, verbeugte sich vor uns und ging.

»Es ist der Vater von Rebendarts Schwiegertochter, Fontranges«, sagte mir Moïse. »Wir kommen heute aus der Familie nicht heraus ...«

Auf diese Weise lernte ich die Geschichte von Bellas Vater kennen.

Eine zwischen Härte und Gefühlsüberschwang abwechselnde Lebensweise beherrschte die Familie Fontranges. Auf eine Generation, die bis in ihr achtzigstes Jahr im Geiz, in der Mißachtung ihrer Nachbarn, in der Härte gegen die Kinder lebte, folgte stets eine von Leidenschaft beherrschte Generation, die jung starb ... So daß der Großvater und der Enkel der harten Richtung sich lange Jahre allein gegenüber befanden und dadurch der Familie, in der ein Mitglied von zweien vor Liebe, Hoffnungslosigkeit oder Melancholie starb, den einhelligen Ruf der Wildheit verschafften. Die einzige, den grausamen und den gefühlvollen Fontranges gemeinsame Passion war die Jagd. Sie war jetzt noch ebenso mannigfaltig wie vor der Revolution. Sie hielten darauf, alle Arten von Hunden, Frettchen, Falken, Lockvögeln zu haben. Sie wachten darüber, daß alles Wild gedieh und daß auch kein schädliches Tier, Dachs, Fischotter, Fuchs, ausgetilgt wurde. Kein Gesetz des Konvents oder des Direktoriums hatte bei ihnen auch nur eine tierische Spezies vom Kampf mit dem Menschen befreit, und der Vater unseres Nachbars wurde im Jahre 1878 seines Amtes als Jägermeister entsetzt, weil er in seinen Wäldern Wölfe hielt. Alle vierzig oder fünfzig Jahre, wenn ein kleiner mit Herz begabter Fontranges aufgewachsen war, kam im Schloß jener pathetische Moment, da die Hunde, die in ihrem Hundegedächtnis nur Pikenstiche und Peitschenhiebe bewahrten, Liebkosungen kennen lernten. Jede Hundeart, die bis jetzt in einem besonderen Haß gegen das Rebhuhn, gegen den Marder oder gegen das Wildschwein eingeübt worden war, erfuhr von diesem Fontranges, der in ihren Augen las, eine besondere Zärtlichkeit. Dann mußte der junge Herr zu den Spahis einrücken, verließ seine Dachshunde und seine Setter, welche bei seiner Abreise heulten, bereit, für ihn den Löwen zu jagen, und kam zurück, um seinem Herzen freien Lauf zu geben. Denn die Leidenschaften der Fontranges führten sie nie in die Irre. Sie wurden nie durch eine Schauspielerin oder durch eine verheiratete Cousine geweckt. Keine Begierde brachte sie außerhalb ihres Hauses und ihres Rechts, es war keine, die nicht mit den Geboten Gottes in Übereinstimmung gewesen wäre. Es war ihre Mutter, ihre Frau, ihre Schwiegermutter, zuweilen ihr harter Vater, denen sie sich hingaben. Doch diese Leidenschaft war so glühend, daß sie in den Augen aller den Eindruck des Verbotenen hervorrief. Die Leidenschaft unseres Fontranges war sein Sohn.

Der Sohn wurde ihm geboren, als er noch jung war, denn sein Vater hatte ihn gleich, nachdem er von den Kürassieren zurückgekehrt war, verheiratet. Er hatte das Kind selbst im Säuglingsalter nie auch nur einen Tag verlassen. Er kam jeden Nachmittag mit einem Klappstuhl und setzte sich an seine Wiege ihm gegenüber, wie an einen Fluß. Jeder Tag, vom ersten Tage an, schien ihm diesem Kind so bedeutende Fortschritte zu bringen, daß er sich fragte, wie Jacques das Alter der Verstandesreife erreichen könne, ohne schon seit Jahren alle Kräfte der Kindheit zu erschöpfen. Anderseits aber kam ihm nicht der Gedanke, daß eine Zeit kommen könnte, da er nicht mehr vor der Wiege, geduldig wie ein Fischer, auf ein Lallen, einen Blick, einen Schrei wartend, sitzen würde, und er war erschrocken, seinen Sohn eines Tages auf den Beinen stehend zu finden. Es schien ihm, daß am Tage, da das Kind gehen könnte, es ihm entfliehen würde; es konnte verschwinden, nicht mehr wiederkehren. Wenn er Jacques verschiedenen Arten der Fortbewegung, dem Ziegengespann, dem Pony, dem Zweirad, überließ, so tat er es nicht anders als mit dem Gefühl einer Trennung für immer. Er hatte schon lange vorher, als das Kind noch stumm war, alle Kinderbücher, Soldaten, Baukästen gekauft; er hatte bereits die illustrierte Kinderzeitschrift abonniert, als Jacques erst achtzehn Monate alt war. Er hielt Zeitschrift und Spiele in Vorrat, wie ein Vater Arzt seine Serumphiolen, seine Tuben mit Impfstoff bei sich bereit hält, wie wenn die Krankheit, welche Peau d'Ane und den Pionier Camembert befallen, plötzlich ausbrechen könnte und er von ihr nicht überrascht werden dürfte. Er war untröstlich, die zwei ersten Lebenstage Jacques' nicht bei ihm gewesen zu sein, weil er damals bei spanischen Freunden ein seltenes Wild jagte, das Fontranges nicht beherbergte. Er hatte den ersten Schrei, den ersten Blick, den ersten Händedruck versäumt. Eine Gemse hatte ihn dummerweise weit von der Quelle seines Glücks entführt. Diese zwei Tage der Vergangenheit entschwanden trotz aller seiner Fragen. Er konnte weder die genaue Zeit der Geburt, ja nicht einmal das Wetter feststellen. Wollte man den dummen Zeugen glauben, so war es schön und hat geregnet zugleich, hatte Jacques die beiden Tage geschlafen und zugleich gewacht! Böses Vorzeichen für die Familie. Wird Jacques am Todestage Fontranges' abwesend sein? Fontranges war zu jung und zu sorglos, um in seinem Sohn eine Nachfolge, eine Überwindung des Todes zu sehen. Er gehorchte ihm wie einem Älteren, erkannte ihm das Recht des Älteren zu, das seine Worte, seine Bewegungen achtunggebietend machte. Dieser Ältere war entzückend mit seinem einzigen neuen Elfenbeinzahn, seinem neuen Haar, seinen Augen von feuchtem Blau. Die Arglosigkeit, die Unschuld, die Lieblichkeit, das Lachen schienen Fontranges Eigenschaften der Älteren, der Reife des Lebens und nicht seines Anbruches. An der Seite dieses Kindes, das ohne Wort und fast noch ohne Blick war, schienen ihm die Männer kindlich. Er hatte Lust, vor ihnen Marionetten spielen zu lassen, war versucht, zu ihnen mit kindlichem Lallen zu sprechen. Dieser Jäger begriff endlich, was die Jagd war, als er seinen Sohn gegen Ameisen, Bienen und gegen die Schrecken einflößenden Spatzen zu verteidigen hatte. Man begann im Park die schädlichen Tiere auszurotten, man sah hier keine Wasserratten, keine Vipern mehr. Man verstopfte die Löcher, in denen die Dachse und Marder lebten. Die Gitter, welche die Pariser Eltern vor den Fenstern ihres Kinderzimmers anbringen, wurden hier längs der Seine gespannt; sie entspringt nicht weit von hier, und ihr Name weckte bei den Fontranges das Bild eines von Erlen beschatteten Baches, in dem die Kühe trinken. Durch vierjährigen Dienst an das Leben unter Kürassieren gewöhnt, war er von Jacques' Wuchs entzückt. Er konnte der Vorsehung nicht genug danken, daß die Kinder klein waren. Ohne den Blick des Einverständnisses, welchen der grausame Großvater und der egoistische Enkel bereits durch ihn und die Wiege hindurch wechselten, zu bemerken, hielt er daran fest, Jacques selbst jeden Tag auf einer Präzisionswage zu wiegen, die er, da es Sommer war, mitten im Garten aufgestellt hatte. Wenn man die Gewichte auflegte, sah man die ganze Champagne, und auf der andern Seite ganz Burgund, wenn man Jacques hinaufstellte. Er wog das nackte Kind zwischen diesen beiden fetten Provinzen. Dann setzte sich Fontranges an die Wiege, schlug die Mücken mit einer Bewegung nieder, mit welcher die Fontranges die Hirsche töten, lockte die Schmetterlinge mit Kriegslisten, die bis auf die Urahnin Berta mit den großen Füßen zurückgehen, und alle die onomatopoetischen Ausrufe, die uns die Frauen beibringen, das Miauen, Bellen, Brüllen, lernte Jacques von einem Baron Karls des Großen. Das Kind hatte Körper und Gesichtsfarbe von der hartherzigen Linie des Geschlechts. Seine Organe waren vollkommen. In jedem Alter übrigens, ob als Kind in der kleinen Badewanne, oder als Badender in der Seine und später in Deauville, war er das Muster eines Badenden, dessen Bilder die illustrierten Blätter begehren. Die Tagesstunden hatten für Fontranges erst einen Sinn bekommen, seitdem sie Jacques' Gesichtsfarbe veränderten. Sonne, Mond interessierten ihn aufs neue, wenn er Einrichtungen traf, um Jacques ihren Strahlen auszusetzen. Es ist fraglich, ob er einen Kummer erlebte, als seine Frau starb, nachdem sie das Zwillingspaar in die Welt entlassen hatte, das er Bella und Bellita nannte; als großer Züchter, der er war, hatte er Namen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben gewählt wie für zwei Füllen, die im selben Jahre geboren worden sind. Jacques war damals vier Jahre alt. Fontranges' Vaterschaft war nun durch eine körperliche Intimität verdoppelt, nach der zu trachten er aus Verehrung für die Mutter nicht gewagt hatte. Er lag jeden Abend neben seinem Sohn. Er überwachte seine Nahrung. Er brachte dem Kinde, das schon ans Töten dachte, und von dem die Hunde, einen Fontranges aus dem bösen Geschlecht witternd, sich abwandten, zärtlich das Morden der Wachteln, der Hirschkühe bei. Der kleine Riese gedieh, während er die Köpfe der Spatzen mit Steinen zerschmetterte, den lebenden Eichhörnchen die Schwänze abschnitt; lauter Spiele, die dem Vater Verheißungen der Sohnesliebe schienen, so sehr war der Kampf gegen die Tiere das Gesetz dieser Familie. Als er indessen an dem Kinde eine ebensolche völlige Geringschätzung der menschlichen Wesen wahrnahm, versuchte er ihm das Gute beizubringen, das er von den Menschen dachte, sprach zu ihm von dem Mut der Jagdaufseher, von der Aufopferung und Kraft der Kürassiere. Als er auf den Gedanken kam, ihm auch von den großen Männern zu erzählen, reichte seine Kenntnis dieses Kapitels nicht weit. Das war ein köstlicher Monat. Jacques sah mit Begeisterung Duguesclin vorbeiziehen, der einen Bären tötete, den großen Ferro, der einen Wolf erlegte, Voltaire, der einen Igel zerschnitt, und Wilhelm Tell, der vom Kopf seines Sohnes einen Apfel herabschoß. Die Sage umkehrend, versuchte der Sohn eine Woche lang, einen Apfel auf dem Kopf seines Vaters unterzubringen und herabzuschießen.

Die Jahre vergingen. Fontranges fühlte sich Jacques' nicht würdig. Er warf sich vor, stets nur ein mittelmäßiger Vater gewesen zu sein. Er habe, als Jacques zwei Jahre alt war, nicht genug Liebe für ihn gehabt, nicht genug Phantasie, wie er sechs war, und jetzt nicht genug Wissen. Ebenso wie er aus Vorsorge für Jacques' Zukunft die Beziehungen zum Haus Oranien und zu den Hohenzollern wieder aufnahm, mit welchen die Fontranges verwandt waren, und von denen er einen echten pommerschen Wolfshund zu erlangen suchte, ebenso wollte er mit der Geschichte, mit den Völkern des Orients, mit der Geographie sich wieder anfreunden. Ohne daß er es sich hätte erklären können weshalb, schien ihm vor allem das Studium ein Mittel, diesen prächtigen kleinen Körper, diese blühenden kleinen Beine, diese schönen kleinen Schultern im Leben festzuhalten. Er wußte zwar nicht recht, wie die Höhe der Pyramiden, die Regierungsdaten der französischen Könige, das Wissen von der Gleichheit der Dreiecke dem Auge mehr Liebenswürdigkeit, der Haut mehr Glanz, dem Händedruck mehr Kraft verleihen sollte, doch er stellte diese Wirkung an sich selbst fest. So wie er jetzt zum ersten Frühstück Phosphatine nahm, frische Milch zum Vesperbrot, fühlte sich dieser Vater von der Kindernahrung, vom Lesen der Schulbücher ebenfalls viel kräftiger. Er wurde wie Jacques selbst ein Muster von Gesundheit und Kraft. Es war das erstemal, daß das leidenschaftliche Geschlecht mit seiner Leidenschaft das vierzigste Jahr überlebte. Es gab übrigens ein ganzes Jahr, in dem die Beziehungen zwischen Vater und Sohn vollkommen waren. Es war, als Jacques ins zehnte Jahr ging. Eine Zeit, die nicht mehr wiederkehren sollte, in der die beiden Wesen auf die natürlichste Weise miteinander offen waren und sich einander widmeten. Alles, was Fontranges an ländlicher Eleganz hatte, seine Lavallierekrawatte, seine goldene Nadel in Form einer Peitsche, seine wappengestickten Taschentücher, wirkte auf das zehnjährige Kind verführerisch. Alles, was seine Phantasie hergab: Jacques als Jockei zu verkleiden, ihn mit den langsamsten Hunden wettlaufen zu lassen, konnte ein zehnjähriges Kind völlig befriedigen. Er hatte in diesem Jahr ein Pferd vor dem Ertrinken gerettet, eine kleine Feuersbrunst gelöscht: er war ein Held für zehnjährige Kinder. Diese Harmonie ging bis in den Klang ihrer Stimmen, die, bis jetzt verschieden, nun zusammenklangen. Immer schwebte die Erinnerung an dieses köstliche Jahr über anderen Erinnerungen Fontranges' als an das einzige Jahr, in dem die Masken zwischen Vater und Sohn gefallen waren. Er hatte das liebliche Gesicht des grausamen Jacques fürs Leben ganz nahe berührt und gesehen.

Mit neunzehn Jahren ging Jacques nach Paris. Nie ist ein Geschöpf so unberührt in eine Hauptstadt aufgebrochen. Kein weißer Fleck am Nagel, keine Schwiele, kein Geräusch am Herzen. Die Vaterliebe hatte ihn vor Narben, vor Pickeln, die durch Kragen, vor geschwollenen Adern, die durch Strumpfbänder verursacht werden, bewahrt. Der Unterricht, den ihm der Vater am Anfang unter der Aufsicht eines Geistlichen, später eines Kandidaten geben ließ, hatte seinen Geist zwar nicht überreichlich ausgestattet, doch ihm nach der Theorie Fontranges' physisch genützt. Das Studium der Römer hatte ihm einen tadellosen Brustkorb ohne Riß und ohne Herz, das der Griechen sehr geschickte Hände verliehen. Als dieser Sohn ohne Kurzsichtigkeit, Gelenkrheumatismus und Sommersprossen von ihm Abschied nahm, wurde Fontranges, während er das gesundeste Wesen, das die Welt je hervorgebracht, an sein Herz drückte, fast schwach vor Bewunderung und Glück. Jacques blieb sechs Monate fort, kam zu Beginn der Fischzeit zurück, ein wenig bedrückt, doch bald wieder aufgeheitert. Er fing noch am selben Abend einen zehnpfündigen Hecht. Einige Tage darauf machte der Hausarzt Fontranges einen Besuch und teilte ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß Jacques ein dummes Abenteuer in Paris erlebt hatte, daß er krank war.

Fontranges' Untröstlichkeit war grenzenlos. Es nützte nichts, ihm zu sagen, daß dieses Übel nicht mehr so schrecklich, daß es heilbar sei, daß es nichts bedeute. Jacques strahlte weiter in Schönheit und Gesundheit und war, von der bevorstehenden Heilung verlockt, bereits voll neuer Pläne. Fontranges ging fast zugrunde. Der Anblick der sich ansammelnden Hechte drückte ihm das Herz ab. Das Leben hatte keinen Sinn mehr für ihn. Ihm, der unbarmherzig die kurzsichtig gewordenen Jagdhunde, die Pferde mit kahlen Knieen tötete, ihm, dem schon die Vorstellung wurmstichiger Äpfel unerträglich war, hatte Paris statt eines unsterblichen Kindes einen von der verderblichsten und gemeinsten Geißel der Menschheit getroffenen Sohn zurückgeschickt. Die Tatsache, daß Jacques sich von ihm fernhielt, ihn nur flüchtig umarmte, ihn zu berühren vermied, seine Köder sorgfältig überwachte, als wenn die Hechte die Kranken wären, die Tatsache, daß man auf die Jagd zwei Trinkbecher mitnehmen mußte, gab ihm die Empfindung, daß er der Ausgestoßene war. Zur Strafe dafür, daß er im Leben alles, was gesund, ehrenhaft und schön ist, ausgesucht hatte, blieb er in einer Fülle von Reichtümern, Gesundheit und unnützer Ehren allein und bankerott, während sein Sohn für immer auf der andern, verachteten Seite stand. Konnte er nicht zu ihm hinübergelangen? Er machte einige schüchterne Schritte in dieser Richtung. Der von Natur so gepflegte und parfümierte Fontranges, der sich früher einem Pächter nicht auf zwei Meter genähert hätte, versuchte jetzt mit den Landarbeitern ins Gespräch zu kommen, bot ihnen Zigarren an, tauschte Händedrücke mit den Hirten, küßte ihre kleinen Mädchen. Er, der die Armen wegen ihres Geruches vermieden hatte, kreiste jetzt, sobald er einen Bettler erblickte, so lange um ihn herum, bis er einen Vorwand fand, ihn zu streifen, ihm beim Anziehen des Rockes behilflich zu sein, ihn zu berühren. Er näherte sich der Arbeit und der Armut wie einem Impfstoff, der ihn Jacques wieder gleichmachen sollte. Es war die Jahreszeit, die sich am wenigsten für derartige Äußerungen eignet, es war im Frühling. Jedes frische Laub auf einem Baum, jeder Strahl der jungen Sonne stürzte ihn in neue Hoffnungslosigkeit. Er mußte aus dem Zimmer gehen, wenn darin ein Wort fiel, das im Juni so häufig ist: das Wort Hochzeit, das Wort Nest, das Wort Brut. Er wurde von Mitleid ergriffen, wurde schwach. Er behielt drei kleine Hunde, deren Flecke schlecht geraten waren, in der Koppel. Der Arzt tröstete ihn, indem er ihm die großen Männer nannte, die aus diesem Übel sogar ihre Inspiration schöpften, nannte ihm Bücher, berühmte Theaterstücke, wissenschaftliche Entdeckungen, die man ihm verdankt, versicherte ihm, daß es die Brust, die Gelenke schütze. Es schloß, nach der Aussage des Arztes, nicht einmal die Heiterkeit aus. Die meisten modernen Lustspiele haben derartige Kranke zu Verfassern ... Fontranges hörte ihn an, ohne jemals zu erwidern. Er schämte sich seines gesunden Körpers. Er war bereit, auf ihn zu verzichten. Kurz, er befand sich wegen eines einzigen Wesens in jenem Stande der Heiligkeit, in welchem Salon de Fontranges um 1120 aus Liebe für die ganze Menschheit die Leprakranken pflegte. Alle Tiere, die er verabscheut hatte, die Spinnen, Kröten, Kaulquappen, er verachtete sie nicht mehr, er fühlte sich durch seine Zugehörigkeit als ihren Bruder, oder vielmehr, und was noch trauriger war, durch das Blut. Er trank ein wenig. Er hatte einen Anfall von Rheumatismus und war darüber glücklich. Er ließ seinen Sohn, der in der Sologne fischte, zu sich kommen und freute sich, sich ihm in diesem herabgeminderten Zustande zu zeigen. An seinen Händen hatten sich leichte Knoten gebildet, man ließ ihn hoffen, daß ein Knie geschwollen bleiben würde, doch als er, stolz auf dies Übel, das ihn entstellte und ans Bett fesselte, Jacques heiter, frisch und rosig ankommen sah, begriff er seinen Irrtum. Er sah ein, daß weder Rheumatismus, noch Typhus, noch das Alter ihm einen gemeinsamen Körper mit seinem Sohn verleihen würde ... Schlimm genug ... Er konnte in dieser abscheulichen Ungerechtigkeit nicht leben. Um so schlimmer. Er erinnerte sich an einen Tag seiner Kindheit, als er sein Pony durch einen Sturz verletzt und sich deshalb zwei Wunden am Knie beigebracht hatte. Jacques verstand nicht, weshalb sein Vater immer seinen Arm zu fassen suchte, die Messer bei Tisch durcheinander brachte. In seine Krankheit ausgestoßen, nahm er es Fontranges übel, daß er selbstsüchtig ihn zu sich herüberziehen wollte. Eines Tages, als ihn sein Vater umarmte, wandte er sich wütend um, bereit, alles zu sagen ... Doch Fontranges' Entschluß war gefaßt. Die Leidenschaft, die seinen Großvater zum Selbstmord getrieben, dem Großvater dieses Großvaters die Schwindsucht gebracht hatte, machte ihn hilflos ... Er reiste nach Paris ab.

Es war Sommer geworden. Es war der Sommer 1914. Zwischen den Herrschern von der Art Jacques' war das Schicksal Europas auf dem Spiel. Doch Fontranges las keine Zeitung. Vom Zug aus betrachtete er am Nachmittag die Seine, sah sie als ein Kind bis Bar, als junges Mädchen bis Romilly und von da ab, durch irgendeinen Unglücksfall, der ihn leiden machte, breit und beschmutzt. Der Abend brach an, als er im Hotel ankam. Sein Herz preßte sich zusammen, und er mußte sich überwinden, um nicht zu weinen, während er seine Koffer öffnete, die seine gepflegte parfümierte Garderobe, die letzte Reinheit seines Lebens enthielt, das silberne Necessaire mit seinem harmlosen Inhalt von Benzoepräparaten und Eau de Botot, sein Besteck, welches eine fünfzigjährige Erfahrung nur um einen Seidenfaden für die Zähne und einen Lack für die Nägel vermehrt hatte. Er gönnte sich einige Tage Frist. Es waren herrliche Sommertage. Die Sonne war in den Himmel geschmolzen und erschien erst am Abend wie ein gewaltiger Schröpfkopf, der um den Arc de Triomphe Hektare von Blut ansammelte. Das war zu wenig für die Staatskanzleien, zuviel für Fontranges, der davon die Augen voller Tränen bekam. Der Boden der Gärten, die Erde von Paris widerhallte dumpf, halb krank wie sie war. Fontranges spazierte herum, besichtigte die Monumente und die Umgebung, deren Besuch er bis jetzt verschoben hatte, als sollte er bald sterben. Er sah die historischen Gemälde in Versailles, eins nach dem andern, entdeckte auf der Eroberung von Smalah den Fontranges, der Generaladjutant des Königs war, und dem der Maler ein ungarisches Vollblut gab, während er an jenem Tag den berühmten Majordome, den Ruhm des Gestüts, geritten hatte. Er hätte nicht geglaubt, daß auch die Malerei von falschen Elementen lebte. Alles ist falsch in dieser Welt, auch die Farbe! Er wollte den Louvre wiedersehen, blieb vor dem Regenten stehen. Beim Anblick dieses riesigen Edelsteines traten ihm wieder Tränen in die Augen. Ein Sohn aus Diamant müßte etwas sehr Kostbares sein! Dann, nachdem er irgendein schönes Gebäude besucht hatte, verlor er sich gleichsam aus Reue darüber in die Quartiere der Armen, ließ sich in einer schmutzigen Menge herumstoßen. Die Weiber machten sich über diesen großen Kerl in Gamaschen lustig, der aber in seiner Haltung so französisch war, daß es im zwanzigsten Bezirk trotz der Krise und seinem Monokel niemand einfiel, ihn Spion zu nennen. Aber man nannte ihn Vercingetorix. Es war Vercingetorix, der seine Waffen dem Übel auslieferte. An einem Feiertag in der Tram nach Belleville, als ihn ein Apache beschimpfte, trat eine Dirne für ihn ein. Er lächelte. Er bestieg sein Golgatha mit der Drahtseilbahn. Er sah die Buttes-Chaumont, reich an abgezehrten Kindern, den von tausend Jacques' bevölkerten Park Monceau. Sobald er an den Fuß eines Turmes gelangte, stieg er hinauf; auf die Bastillesäule oder auf den Eiffelturm. An die Brüstung gelehnt, sah er unter sich die Seine fließen, die keinen Tropfen mehr von dem reinen Wasser der Quellen von Fontranges enthielt. Er hatte als eingeschlossenes Insekt, als ein Wesen ohne Ziel die Betrachtungsweise von Käfern, von Selbstmördern. Später kehrte er in sein Hotel zurück. Nur der Anblick seines Necessaires hielt ihn noch auf dieser Station seines Lebens aufrecht, der Pinsel aus feinem Silber, die mit Schildkrot gedeckten unverderblichen Rasiermesser, dieser Stahl, dieses Gold, das nie von andern als gesunden Händen berührt worden war. Der Benzoegeruch vor allem schien ihm fast der Geruch seines vergangenen Lebens, seines Glücks zu sein. Er goß es eines Tages in seine Waschtoilette aus und ersetzte es durch ein zufällig irgendwo gekauftes Haarwasser. Das ganze Zimmer roch zwei Tage nach Benzoe. Es half nichts, daß er die Fenster offen ließ, seine Vergangenheit wollte nicht entweichen. Er ersetzte seine gewohnte Seife durch eine von Gibbs. Was hätte er nicht alles darum gegeben, daß seine neue Menschwerdung sich so weit wirksam zeige, daß sie die Form seiner Flakons, den Inhalt seiner Tuben veränderte! Er gewährte sich einen Aufschub bis Mitte August. So glücklich war er, am Abend das Kästchen der Vergangenheit zu öffnen. Eines Tages beim Friseur ließ er sich sogar die Manicure gefallen. Sie nahm seine Hand. Er hatte den Eindruck, zum letztenmal der Reinheit die Hand zu geben. Doch eines Nachmittags fand er einen Brief von seinem Sohn. Jacques klagte, daß er heftig an Kopfschmerzen litte. Er leide so, fügte er hinzu, wie an jenem Tage, als er mit zehn Jahren vom Pferde gestürzt war. Er glaubte seinem Vater zu schmeicheln, wenn er ihn an dieses Jahr ihrer Liebe erinnerte. Dann ging Fontranges aus.

Er irrte auf Montmartre herum, blieb vor den Bars stehen, stieß vor den verschiedenen Türen mit denselben Puppenverkäufern, denselben Musikanten zusammen, deren Weg er unwillkürlich folgte, dem Weg der Bettler. Vor jeder Tür gab ihm das Licht eine neue Farbe. Fontranges war rosa, war blau, dann violett. Er probierte die Farben an seinem Körper, dessen Substanz er verändern wollte. Dann ging er wieder zurück. Die Mädchen wagten nicht, diesen älteren, traurigen und gut angezogenen feinen Herrn anzusprechen. Eine Furt der Reinheit öffnete sich vor ihm auf der Place Pigalle. Fontranges kannte die Gewohnheiten dieser Welt wenig. Wenn er nach Paris kam, ging er nirgends als in den Union-Club, und es wurde ihm schwer, um eine Straßenecke zu biegen, die nicht die Rue Royale war. Plötzlich bemerkte er auf dem Opernplatz, den er, nur dem Gefäll der Straße folgend, erreichte, eine Bar, von der sein Sohn einmal gesprochen hatte. Er stieß die Tür auf. Es war anders, als er sich vorgestellt hatte. Wenige Tische nur waren besetzt. Schriftsteller diskutierten in einer Ecke über orthographische Fehler des achtzehnten Jahrhunderts. Ihnen gegenüber siegelte irgendein Jurist mit Backenbart einen Brief. Es war die Ruhestunde in diesem Stadtteil. Die Schriftsteller sprachen, die Advokaten schrieben. Es fehlten die Frauen. Der Barman hatte vor sich ein silbernes Geschirr, das Fontranges an seine Flakons, an sein unberührtes Bett da unten im Hotel du Louvre, an sein früheres Glück denken ließ. Hie und da kam ein junger Mann herein, trank etwas an der Theke und fragte den Barman, ob Jeanne komme und wie es mit dem Kriege stehe. Man konnte auf beide ziemlich sicher rechnen ... Endlich trat eine junge Frau ein.

Sie war mit einer gewissen Kühnheit und in all die Farben gekleidet, die eben auf Fontranges geleuchtet hatten, doch sie schien sich in dem Raum zugleich vertraut und unsicher zu fühlen. Fontranges hatte im Hintergrunde auf der gepolsterten Bank Platz genommen. Die Frau setzte sich in seine Nähe. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Aber sie bestellte dasselbe Getränk, die gleichen Zigaretten. Diese schüchterne Schmeichelei berührte Fontranges. Er bot ihr Feuer an. Er näherte das brennende Streichholz ihrem Gesicht, sah deutlich die in Rouge, Khol und Reißpuder getauchte Locke, überwand sich, hatte das Gefühl, als zünde er seine Opiumpfeife, seine letzte Pfeife, an. Er zündete sie an. Der Barman mochte die Neuangekommene nicht. Sie sagte es Fontranges, immer ohne sich ihm zu nähern, aus Furcht vor dem Barman, und fuhr fort, mit dem Gesicht nach dem Büfett einen Monolog zu sprechen, den Fontranges zuweilen aus Höflichkeit zu unterbrechen sich verpflichtet hielt, und dessen Leitmotiv war, daß keine Frau auf der Welt besser als Indiana ausgerüstet sei, um gegen die Männer zu kämpfen. Denn sie hieß Indiana und war aus Melun. Sie hatte es schon von ihrer Kindheit an gelernt, vor ihnen auf der Hut zu sein; denn das Haus ihres Vaters lag dem Gefängnis für junge Männer am nächsten, und sie war es, mit der alle Entlassenen ebenso wie die Ausbrecher ihr erstes Wort in der Freiheit sprachen. Ja, Indiana war ihr richtiger Name. Jetzt wenigstens, früher hatte sie Germaine geheißen ... Kein junger Mann konnte sich einbilden, ihr etwas weisgemacht zu haben. Sie verweigerte den Entlassenen grob das Wasser, um das sie baten, sie machte den Ausbrechern falsche Angaben über den Weg. Vor den Alten übrigens nahm sie sich noch mehr in acht. Wenn die sich auf sie stürzten, auf der Straße oder in der Bar, diese alten Notare, die alten Richter, mit der gleichen Anrede wie die Ausbrecher: ›Na, meine Schöne, wie gehts?‹ pflegte sie ihnen gehörig heimzuleuchten ... Sie fuhr fort zu sprechen, ohne sich an Fontranges zu wenden oder zu ihm zu neigen, immer aus Angst vor dem Barman, der, nicht alt und nicht jung, in jenem mittleren Alter war, gegen das sie vielleicht keine Waffen besaß und dem sie ihr Unglück verdankte. Sie setzte den Bericht über ihr Leben mit einem Stolz fort, als wäre es ein beständiger Sieg über die Männer, erzählte, wie sie mit sechzehn Jahren in die Coëdukationsschule nach Sampuis gekommen sei, wo der Doktor Robin unter anderem den Jungen das Spiel auf Saiteninstrumenten und den Mädchen auf Blasinstrumenten beibrachte. Sie hatte das Horn gelernt. – Das Jagdhorn? fragte Fontranges. – Nein, das englische Horn, das Signalhorn. Sie hatte es so eingerichtet, daß die Öffnung sich dicht am Ohr des Doktor Robin befand; auch er ein Mann schließlich, wie andere. Er hatte nichts zu lachen. Sie machte sich den Spaß, um drei Uhr nachts, mitten im Winter, die Jungen zu wecken, indem sie ihnen plötzlich die Decken vom Leibe riß. Sie klapperten mit den Zähnen, sie niesten. Das war mordsmäßig gesund für die. Als Robin sie vor die Tür setzte, tat es ihr nur um den Hund des Instituts leid, einen großen gelben Fox mit langen Haaren. – Ein irischer Setter, korrigierte Fontranges. – Er hörte gepreßten Herzens dies Rezitativ der Walküre an. Es war eine Walküre, die ihre vier Spitäler, ihre zwölf Frühgeburten, ihre zwei Selbstmorde vergessen hatte, den ersten zu Ehren des jungen Veil-Picard, den zweiten einen Monat später, zu Ehren eines Stallburschen, beide auf der gleichen Rennbahn unternommen, wo man sie für eine ruinierte Wetterin gehalten und in dem Ambulanzwagen der Jockeis abtransportiert hatte. Die Leute vom Turf grüßten aufs Geratewohl: es war aber nur Indiana aus Melun, die das Leben aus dem Sattel geworfen hatte. Mit dem Diamantring, den sie damals noch besaß, hatte sie, um sich an den Männern zu rächen, in die Fensterscheibe der Ambulanz eine Schmähung auf die Pferde eingeritzt.

Der Barman erkundigte sich bei Fontranges, ob sie ihn nicht störe. Sprach sie nicht etwas grob? – Sie blieb unbeweglich, indem sie ihren Feind mit plötzlich erloschenen Augen ansah. Man dulde sie hier wegen eines Gastes, eines Malers, dessen Modell sie sei, aber ein Wort nur, und man werde sie hinausweisen. Sie blieb unbeweglich: sie war da als Modell! Fontranges winkte, daß man sie in Ruhe lasse. Doch sie sprach nicht mehr. Wenn die Männer meinten, ihr auf diese Weise beizukommen, so täuschten sie sich. Sie wird keine Silbe mehr reden. Sie vergnügte sich, um sich zu rächen, damit, daß sie unter dem Tisch die Klingel in Bewegung setzte. Der Barman konnte nicht erraten, wer geklingelt hatte, und ging von einem Tisch zum andern. Die Rache war süß, die man auf diese Weise an den Männern nehmen konnte, welche einen zum Alkohol, zum Morphium, zum Kokain verdammt hatten! Fontranges dachte an seinen Sohn, wie der sich mit fünf Jahren damit vergnügte, die große Glocke zu läuten, und alle zu Hause dann vorgaben, zu glauben, daß der Pfarrer oder die Rochefoucauld ankämen. Doch heute lehnten die Rochefoucauld und der Pfarrer ab, auf Indianas Ruf zu erwidern. Sie sprach zu Fontranges jetzt nur noch durch Winke und Zeichen, doch diese armseligen Gesten, nun aufrichtige Zeugen, schilderten ihr wahres Leben, die Morphiumschachtel, die blauen Flecke am Arm, ihr leeres Geldtäschchen. Dann platzte ihr Strumpfband, sie wurde ganz rot, denn sie sollte es wieder festmachen, ohne daß der Barman es bemerkte, sonst hätte er sie für immer hinausgejagt. Sie begann an sich selbst eine leise Arbeit, wie eine Schlange, die ein Tier verschlingt, das sich noch wehrt, oder wie ein Akrobat, der seine Ketten an sich zerreißt, oder wie ein Botschafter, dessen Hosenträger gerade in dem Augenblick geplatzt sind, da er sein Beglaubigungsschreiben überreicht. Fontranges, gewöhnt das Alter an den Lebewesen zu erraten, an denen es am wenigsten ablesbar ist, an Pferden, Rebhühnern, Hirschkühen, sah, daß sie zwanzig Jahre alt war.

Dann wurde die Bar geschlossen, und sie gingen. Trotz der späten Stunde schrie man die Zeitungen aus. Es war der 31. Juli 1914, und alle Leute auf der Straße sprachen von Deutschland. Indiana war einmal in Deutschland gewesen. Ein deutscher Freund, der im letzten Jahr von Paris nach München zurückgekehrt war, hatte sie eingeladen, zu kommen. Mitten in der Nacht, allein im Zuge, hatte sie das Wort München ausrufen zu hören geglaubt und war ausgestiegen. Doch es war nur der Bahnhof eines fränkischen Fleckens. Ohne einen Pfennig und nicht imstande, sich des Namens ihres Freundes in München zu erinnern, war sie einen Monat dageblieben. Wie nun Indiana in Frankenthal am Main – denn das war der Name der Station, die sie für München gehalten hatte –, wo sie nicht eine lebendige Seele kannte und sich mit niemand verständigen konnte, lebte, blieb ein Geheimnis. Doch mit der unerbittlichen Verachtung der Männer kommt man überall durch. Sie hatte da vortreffliches Wild gegessen, eine Art von Truthähnen, die sich um Mitternacht treffen, die dummen Tiere, um bei Mondschein für ihre Weibchen zu kämpfen. – Birkhühner oder Waldhühner, verbesserte Fontranges.

Paris verzehrte sich in einer Ausschweifung von Licht, der eine vierjährige Nacht folgen sollte. Die Ladeninhaber hatten ihre Läden offen gelassen und beleuchtet. Fontranges, der gekommen war, um ein dunkles Opfer zu vollbringen, begleitete Indiana auf einem Weg, wie ihn noch kein Sieger bei so strahlendem Licht geschritten war, und verbesserte nur die stets falschen Namen, mit denen sie die vorbeikommenden Hunde und Pferde bezeichnete. Die Portierleute in Indianas Hause waren noch nicht schlafen gegangen. Sie warteten auf jeden Einwohner, um Neuigkeiten über Deutschland zu hören. Sie fragten Fontranges umständlich aus, der sie beruhigte. Es zweifelte niemand, daß Indiana einen Vetter des Kaisers heimbrachte! Aus einem Winkel der Portierloge sah ihn ein kleines Mädchen in ihrer Wiege an. Indiana streichelte es. Nichts beruhigt so sehr wie ein gutgeschnittener, gutgebügelter Anzug, wie tadellos saubere Wäsche! Auf jeder Etage kam ein Kopf zum Vorschein und zog bei dem feingekleideten Herrn Erkundigungen ein. Er beruhigte alle Welt, besonders die Kinder, die er auf der einen Seite streichelte, wenn es seine Begleiterin auf der andern tat. Das war das einzige Haus in Paris, in dem man diese Nacht ruhig schlief. Endlich erreichte man Indianas Stockwerk, das Stockwerk ohne Kinder. Es gab keine Stühle bei ihr. Zum erstenmal sah Fontranges ein Zimmer, in dem kein Stuhl war. Er fühlte sich fremd und bewegt, wie ein Christ in einer Moschee. Gewöhnt, seine Kleider sorgfältig übereinanderzulegen, das Beinkleid zu spannen, die Krawatte zusammenzulegen, und nun gezwungen, das alles aufs Geratewohl zu tun, hatte er das Gefühl, in ein neues Leben zu treten, in dem man keine Kleider mehr brauchen werde ... für immer zu versinken ... Indessen machte ihm das ganz Europa in dieser Nacht nach und warf sich dem Krieg in die Arme.

Er kam gerade ins Hôtel Louvre zurück, als Jacques anlangte. In einem Anfall von Egoismus, den er für Begeisterung hielt, bedeckte Jacques seinen Vater mit Küssen. Der Vater erwiderte sie. – Wie doch der Krieg alles auslöscht, dachte Jacques. – Wie bedeutungslos ist mein kleiner Fleck bei solchem Umsturz, dachte Jacques ... So viele Menschen gingen in den Tod, ein plötzliches Greisenalter fraß an jedem seiner Kameraden, so daß er sich gereinigt fühlte. Er hatte recht. Er fiel noch 1914. Die Kugel drang durch die Schulter ein und bahnte sich einen Weg bis zum Herzen, wie ein Wurm ... Was Indiana betrifft, so war sie gesund.

Indessen fanden Bella und Bellita de Fontranges, denen es im Frühjahr unter dem Vorwand irgendeiner ansteckenden Krankheit verboten worden war, jemand zu umarmen, die Zeit lang und unterhielten sich damit, einander zu umarmen, indem sie sich selbst im Spiegel küßten, so täuschend war ihre Ähnlichkeit.


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