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Einen Tag vor Allerheiligen benachrichtigte die Gendarmerie von Marly meinen Onkel Charles und meinen Vater, daß sie sich um drei Uhr nachmittags im Justizministerium einfinden sollten. Rebendart lud sie vor. Während des Frühstücks kam Moïse im Automobil an und teilte uns mit, daß der Haftbefehl unterzeichnet sei.
»Er hat einen Trick gefunden«, sagte Moïse.
Das war wenig beruhigend. Wir kannten die hohe Schätzung, die Moïse für Tricks hatte und welchen bedeutenden Anteil an den Erfolgen seines Lebens er ihnen zuschrieb. Wenn er als Kind dem Tode, der die meisten seiner Brüder hingerafft hatte, entronnen war, so war es deshalb, weil er zur rechten Zeit, wie er behauptete, den Trick fand, trockene Feigen zu essen, ohne sich den Rotlauf zuzuziehen, den Trick, mit einem aus dem blauen Papier der Zuckerhüte herausgeschnittenen Pflaster die Beulenpest von Aleppo zu heilen, und den Trick, die Schafsmilch unschädlich zu machen. Wenn man mit ihm vertraut war, vergingen nicht zehn Minuten, daß er einem nicht den Kunstgriff verriet, um allein auf die Spitze der Pyramiden zu klettern, unter Wasser zu atmen, aus dem Labyrinth herauszukommen, Forain zum Schweigen zu bringen. Als ich ihm eines Tages erzählte, daß die Franzosen, um die deutschen Kriegsgefangenen bewegungslos zu machen, sich damit begnügten, ihnen die Hosenknöpfe abzuschneiden, zweifelte er nicht mehr am Siege Frankreichs. Zehn solcher Tricks, und der Krieg wäre beendet, ohne daß es nötig gewesen wäre, sich der amerikanischen Kniffe zu bedienen. Die Bank war in Moïses Augen das einzige Element, bei dem es keinen Zweck hatte, Schleichwege zu suchen oder mit Hilfe eines Weisheitsbuches Tricks ausfindig zu machen; und sobald es sich um das Geschäft handelte, kamen an ihm jene einfachen Tugenden zum Vorschein, die den Matrosen, den Tierbändiger und den Feuerwehrmann auszeichnen. Da galt kein Aberglaube, keine Gewohnheit mehr. Er schrieb mit der ersten besten Füllfeder, er sprach jede beliebige Sprache, und dann schlugen um ihn jene Tricks ihre Wellen, welche da heißen: die Kühnheit, der Meuchelmord, der Selbstmord, ja selbst die Hoffnung, ein Trick in Smaragdgrün.
»Ich frage mich nur welchen«, sagte er zerstreut, als suche er die Lösung eines Kreuzworträtsels.
Mein Onkel und mein Vater beunruhigten sich nicht wegen solcher Kleinigkeit. Nach dem Kaffee machten sie einen letzten Spaziergang im Park, wo der Herbst mittelst eines wahrhaft neuen Tricks die Eichen statt gelb purpurrot färbte. Es hatte in der Nacht geregnet. An den Kreisen und Rechtecken, die nasser waren, erkannten sie die beschädigten Stellen der Wasserbehälter, und einige schöne Wolken, unbeweglich am Himmel, schienen ihrerseits da oben die gestern klassischen Stellen einzunehmen. Die Symbole der Treue waren heute das Wasser und der Rauch. Während sie an dem Gatter, welches das Jagdgebiet abgrenzte, entlang gingen, sahen ihnen von ferne zwei Rehe nach, folgten voller Mitleid diesen gefangenen Menschen. Sie waren es noch nicht. Sie bereiteten sich lachend darauf vor. Es war meine Aufgabe, die Handtasche, die sie für mich während des Krieges nach jedem Urlaub packten, jetzt für sie zu rüsten. Sie kannten diese Handtasche ebenso genau wie seinerzeit mein Fassungsvermögen; sie wußten, wieviel sie bestenfalls aufnehmen, sie wußten, was ich an Rumflaschen, an Schokolade, an Artischocken fassen konnte. Jetzt sollte ich sie nach Akten und Büchern ausmessen. Mein Vater trat gerade ins Zimmer, als ich seine Zigaretten und ein Kriegstrikot einpackte, denn es konnte kalt werden im Gefängnis der Santé. Er lächelte. Ich rüstete jetzt ihn aus, wie er seinerzeit mich fürs Gymnasium.
Moïse fuhr uns langsam nach Paris hinab. Die Sonne stand hinter uns. Wir froren, doch wir sahen den besonnten Rücken des Chauffeurs. Alle Frauen, Kinder, auch Männer nutzten diesen schönen Tag, um Chrysanthemen nach dem Friedhof zu tragen. Nur die Blumengeschäfte waren offen. Aller Handel hatte dem Handel mit Chrysanthemen heute Platz gemacht. Margueriten, Begonien, Winterrosen verbargen sich. Wer diese alten Blumen trug, war wie einer, der alte Medizin gebraucht. Die Chrysantheme, eine Medizin aus dem fernsten Osten, war bis in die Vorstadt hinein jetzt als das beste Gegenmittel gegen Kummer und gegen Trauer anerkannt. Der Schmerz um die Toten war in ganz Frankreich durch die Sorge ersetzt, welche von den drei Chrysanthemenarten man ihnen bringen soll, weiße, fahlrote oder gelbe. Alle Familien machten in farbigen Kleidern und mit Blumen in den Händen den Weg, den sie tags darauf in Trauerkleidern und mit leeren Händen gehen sollten. Es war das Widerspiel des Theaters, das Widerspiel des Künstlichen. Als wahre Witwen schienen uns fast die Frauen, welche heute keine Chrysanthemen trugen, und als Waisen die Kinder, welche ohne Blumen spielten. Es war an diesem kurzen und schönen Tag kein Zeichen, keine Erinnerung an den Tod zu spüren. Auch die Toten bereiteten sich durch eine ungewöhnliche Bescheidenheit, durch ein völliges Verschwinden auf ihr Fest vor. Es war der einzige Tag, an dem man in ihrem Reich hin und her ging, lief, laut sprach, der einzige Tag, an dem sie nicht anwesend waren. Als endlich Paris erschien, mit seinem Eintrittsgitter, seinen Polizisten, seinem Gewühl, hatten wir ein Gefühl von Ruhe und Besänftigung, als hätten wir einen unermeßlichen Friedhof betreten.
Ich übergab unsere Reisetasche dem Portier von Ritz, und da ich mich als ihren Sekretär ausgab, durfte ich mit meinem Vater und mit meinem Onkel ins Ministerium eintreten. Diener, die offenbar nicht genau unterrichtet waren, führten uns auf der Suche nach einem leeren Saal schließlich in die Halle, in der zur Zeit, als der Finanzminister Ministerpräsident war, die Botschafterkonferenzen stattfanden. Hier war es, wo man unter anderem Österreich zerstückelt, Deutschland verstümmelt hatte. Mit seiner roten Tapete, seinen Pfeilerspiegeln und Marmortischen war der Saal einem Schlächterladen an heißen Sommertagen ähnlich, wenn er ganz ausgeräumt ist. Europa war im Kühlraum. Das Geschick variiert kaum die Effekte, denen es in der Geschichte den Ruf der Intelligenz und der Ironie verdankt: es zwang meinen Vater am Tage seiner Verhaftung, an der gleichen Stätte vorbeizukommen, von der sein Ruhm ausgegangen war. Der Effekt war leicht zu bewerkstelligen, und der Witz war schlagend, als wir anstatt Rebendart dreißig junge Leute in den Saal treten und sich an die hufeisenförmige Tafel setzen sahen – es waren nämlich die Kandidaten für die Staatsprüfung –, und besonders als der Prüfungsvorsitzende sein Kuvert entsiegelte und das Thema verlas. Er verlangte von ihnen, sich in das Jahr 1919 zurückzuversetzen und Europa, jeder nach seiner Auffassung, wieder aufzubauen. Sie hatten genug Zeit dazu, drei Stunden.
Das war für meinen Vater wenigstens eine Zerstreuung. Es amüsierte ihn, zu sehen, wie die Botschafterkonferenz für einen Tag Europa jungen Händen überließ, Händen, von denen viele noch keine Frau geliebkost hatten, wie in jenem Lande, in welchem der Sultan einen Tag lang seine Herrschaft einem Studenten, der von seinesgleichen gewählt wird, überläßt. Alle diese jungen Leute schienen übrigens an eine gewohnte Aufgabe zu gehen, und indem sie alle zugleich die Schultern senkten, schrieben sie hastig auf die großen leeren Blätter, die einzigen in allen Staatskanzleien Europas, die noch unbeschrieben sein mochten. Sie erhoben von Zeit zu Zeit ihre Köpfe, jeder mit einem andern Ausdruck im Gesicht, der meinem Vater genau anzeigte, daß sie gerade an Memel, Fiume oder an Temesvar geraten waren; so genau kannte er den Reflex der Städte auf den Gesichtern der Unterhändler. Nur einer war unruhig, schnitzelte an seinem Bleistift und gab durch alle seine Bewegungen zu erkennen, daß er Europa nicht wieder aufbauen konnte. Zu seiner Entlastung muß gesagt werden, daß er an einem schlechten Platz saß, daß er zwischen seinen Beinen ein Tischbein hatte, jenes doppelte Tischbein, welches dem amerikanischen Delegierten es so erschwerte, sich vorzubeugen oder aufzustehen, daß es vielleicht die Ursache war, welche die Vereinigten Staaten von dieser Konferenz vertrieb. Alles, was Amerika in üble Laune brachte, das unbequeme Tischbein, das zu weit entfernte Schreibzeug, der allzu nahe Vorhanghalter, an den der Kopf stieß, das gleiche machte auch diesen jungen Menschen übellaunig. Möglich auch, daß er nur Asien wieder aufbauen oder nur eine moderne Politik der Landengen schaffen konnte oder auch nur das Petroleum gerechter zu verteilen verstand! ... Er gab es auf, verließ den Saal, in dem seine neunundzwanzig Kollegen nun entfesselt und kühn die Bandagen des Kontinents aufwickelten. Doch in dem Moment, als er an uns vorbeiging, trat er vor meinen Vater, verbeugte sich und fand eine Entschuldigung für seine Unfähigkeit oder für seine Trägheit.
»Ich würde mich schämen, dieses Thema in Ihrer Gegenwart zu behandeln«, sagte er.
Und indem er so den Stolz meines Vaters wieder aufrichtete, verschwand er.
*
»Herein!« rief Rebendart.
Wir traten in das Arbeitszimmer Rebendarts. Der Justizminister stand vor seinem Tisch, unbeweglich, mit dem Gesicht zur Tür. Obgleich es noch hell war, flammte der Kronleuchter gerade über unsern Köpfen auf, unter dessen Licht ein schwarzer Fetzen vor uns fiel, als versuchte man, um uns zu verwirren, unsern Schatten so menschenunähnlich als möglich zu machen. Die vier nackten Frauen in den Spiegeln mit ihren Wagen auf dem toten Punkt schienen hier postiert zu sein, um diese drei bekleideten Männer auf irgendeiner frischen Tat zu ertappen. Noch nie hatte ich so viele holzgeschnitzte, in Gips gegossene Wagen gesehen, so daß der Briefbeschwerer auf Rebendarts Schreibtisch als einziges Gerät aus richtigem Metall wie eine Waffe erschien und den Gedanken an eine Tortur erweckte. Der Unterstaatssekretär Larubanon, dem Anschein nach müßig und zugleich zu Henkersdiensten bereit, berührte ihn mit dem Zeigefinger.
Rebendart forderte uns nicht zum Sitzen auf. Die Begegnung war in seiner Vorstellung sicherlich auf einer Höhe, welche kein Kanapee und nicht einmal einen Sessel erlaubte. Sein Schreibtisch stand vor dem Kamin, nicht weil er das Feuer liebte, sondern weil es ihm zuwider war, am Fenster oder vor Bäumen zu schreiben. Wenn eine Raupe zwischen eine seiner Phrasen fiel, eine Eintagsfliege sich in seinem Tintenfaß fing – ein schwaches Löschblatt für eine Tinte, die Europa mit Noten überschwemmte – konnten ihm diese Atome und Zeugen eines natürlichen Lebens, das dem Laiengesetz nicht unterstand, für zehn Minuten seine Macht verleiden. Doch heute, einen Scheiterhaufen gewaltiger Klötze im Rücken, strahlte er wie ein Rächer und dachte nur, wie er am besten auf unsere Lippen jene Worte hervorlocken könnte, die seine seit gestern vorbereiteten drei Antworten herausfordern sollten: über den guten Bürger, über die Pflicht, über den Stolz. Nur die Stenographin, unter soviel Bildern und Statuen die einzige bekleidete Frau in dem Raum, saß da, rothaarig, sehr parfümiert, von schöner Haut, und schien alle Düfte, alle Schatten, alles Haar dieser nackten und enthaarten rund um uns verstreuten Gestalten auf sich gesammelt zu haben. Regungslos sah sie uns mit ihren unbeteiligten, veilchenblauen Augen an, die sie ganz ruhig hielt. Sie machte in dieser Szene durch die Fülle ihrer Büste, durch die gekreuzten, ziemlich sichtbaren Beine nicht so sehr den Eindruck von Zerstreutheit als vielmehr von Eifer; unbeteiligt und verführerisch wie die Geschichte, hämmerte sie auf ihrem Klavier, aus dem ein Band sich abrollte, ähnlich dem der Börsenberichte, auf welchem Rebendart innerhalb der nächsten Stunde den wahren Kurs der Ehre und den richtigen Wert der Macht einzuzeichnen vorhatte. Nichts war an ihr lebendig als das Auf und Ab der Lider und eine fast unmerkliche Spannung des Blicks, die durch meine Gegenwart, die Gegenwart eines jungen Mannes verursacht war. Seit zehn Jahren im Ministerium war sie der einzige Zeuge, der sich genau an Prozesse, Szenen und Kämpfe zwischen den Mächtigen der Republik erinnerte, die einzige auch, auf die das keinen Eindruck mehr machte, sie zog keine Lehre daraus, wenn sie um sechs Uhr mit dem Bahnhofsassistenten, ihrem Geliebten, ausging. Doch hatte sie immerhin ein Bewußtsein von der Bedeutung dieser Zweikämpfe, das sie daran hinderte, ihr Haar zu berühren, wenn ein Luftzug es in Unordnung brachte, den Ausschnitt ihres Kleides nach einer ungeschickten Bewegung zu richten, eine knisternde Masche des Strumpfbandes anzufeuchten; sie war während der Stunde solcher Begegnungen ohne Koketterie und falsche Scham und kehrte in den gemeinsamen Saal der Stenotypistinnen fast etwas zerknittert durch die Weltgeschichte zurück, als käme sie von einem unternehmenden Bürochef. Rebendart hatte sich halb zu ihr gewendet und seine Stimme erhoben. Mein Vater dagegen schickte sich ihretwegen an, seine Worte zu dämpfen. Denn der eine behandelte die Geschichte stets wie eine Frau oder einen Zeugen, der andere wie einen Lautsprecher.
»Meine Herren!« begann Rebendart ... – »Sind Sie fertig, Larubanon?« Larubanon zog seinen Finger aus der Nase, den er mit einer gewohnten Bewegung dort eingeführt hatte, eine Gewohnheit, die ihn in den Autobussen zum Abscheu und zum Skandal der Hausmütter machte. Larubanon, kurzsichtig auf dem rechten, weitsichtig auf dem linken Auge, leicht krummbeinig und im Alter von zehn Jahren durch die Wissenschaft von zwei Klumpfüßen befreit, weshalb er alle Photographien aus seiner Kindheit vernichtet hatte, war die Frucht der geheimen, doch berühmten Liebe zwischen einem Begründer der Republik und jener Sängerin, welche Gambetta die ›Nachtigall, die nur am Tage singt‹ nannte, denn sie hatte unter dem Kaiserreich falsch und nach dem vierten September richtig gesungen. Der Kammerpräsident hatte seinerzeit alle Nachmittage während der Legislaturperiode, in welcher die Gesetze über die Prätendenten und die Presse zur Abstimmung kamen, die Sitzungen immer für eine Stunde unterbrochen. Und wie in den Theatern der Badeorte die Zwischenakte eine Stunde dauern, damit die Zuschauer in den Spielsaal hinübergehen können, war hier die Pause eingelegt, damit den neuen politischen Leuchten Gelegenheit geboten werde, sich mit den Künstlerinnen des vorangegangenen Regimes zu vereinen; damit unter anderem der Ministerpräsident, den Mund mit Butterbrot vollgestopft und von Wahrheiten überfließend, auf dreißig Schritt fruchtbar, und die von ihrem jungen Ruhm und ihrem Herbst vergoldete, wie Seide anzufassende Sängerin, ebenfalls von Gesundheit und neurepublikanischer Gesinnung überwältigt, Zeit fänden, sich zwischen falschen Boulemöbeln, Lyoner Damast und frühen Bildern von Gervex einzuschließen, um Larubanon zu zeugen. Verwaist schon gleich nach seiner Geburt und auf den Stufen des Staates ausgesetzt, verstand es die Mißgeburt bis zu diesem Tag auf bewundernswürdige Weise, eine Halbintelligenz mit einem halben Ehrgeiz zu verbinden. Ein halbes Glück kam ihm zu Hilfe. Er hatte ein halbschönes Mädchen mit einer halben Million Mitgift geheiratet. Er hatte einen halben Erfolg im Parlament. Doch auf seinem neuen Posten wollte es ihm zum erstenmal scheinen, daß er den Erfolg eigentlich seiner Intelligenz und seiner Lebenskraft und nicht, wie er früher meinte, einem Spiel des Zufalls und einem glücklichen Wind zu danken habe. In den drei Monaten, in denen er ein halber Minister war, versuchte er vergeblich, in sich die Gründe zu finden, weshalb das Schicksal ihn nicht zum ganzen Minister gemacht hatte. Er hatte Mißerfolg in Geschäften, er hatte zum erstenmal und sehr dringend Geld nötig. Jene Strenge in der Tugend und in den Überzeugungen, die er für seine Kraft hielt und die ihm, wenn er auf einem untergeordneten Posten geblieben wäre, gestattet hätte zu sterben, ohne zu lügen und ohne seine Frau zu betrügen, jenes Vertrauen in seine republikanische Sendung, das während fünfunddreißig Jahren ihm den Luxus der Automobile fern hielt, schienen ihm verjährt und lächerlich; was sie in der Tat waren. Doch er war außerstande, sie durch eine neue Tugend und durch eine stärkere Berufung zu ersetzen. Jede neue nette Sache, die anfing ihn zu locken, die Perlen, die Edelsteine, das Gold, löschte in ihm jedesmal ein kleines Licht aus. Es fing an, in ihm dunkel zu werden. Im verflossenen Monat hatte er begonnen, an farbigen Gravüren, an Emaillen, an Luxus-Autos Geschmack zu finden ... Er sah nicht mehr in sich. Hätte er Rembrandt verstanden, so wäre es schon Unterschlagung gewesen. Genau an dem Punkt, an dem seine Ehrenhaftigkeit und sein Anstand ein Ende nahm, fand er nur noch die Intrige und die Gemeinheit zu seiner Verfügung. Das geringste Hindernis auf seiner Bahn, das ein anderer einfach mit guter Laune und mit Geist überwunden hätte, konnte er nur noch durch Meineid und Verleumdung beseitigen. Alle seine pedantischen und einfältigen Meinungen waren in ein schmutziges Wasser untergetaucht: seine Ehrerbietung vor dem römischen Recht machte dem Poker, seine Leidenschaft für Tocqueville der Ausschweifung Platz. All die verdächtigen Gestalten, die korrektere Gehilfen um die Minister verschwinden zu machen verstehen, erhoben unter ihm ihr Haupt, da sie seinen Zynismus und seine Schwäche kannten. Er entmutigte sie nicht. In dieser Krise zog er es aus Schüchternheit vor, mit jedem dummen Börsenmakler direkt zu tun zu haben, statt mit dem Abgeordneten, der für ihn bürgte, mit dem Gründer von Spielhöllen persönlich lieber, als mit dem Stadtrat, seinem Advokaten. Alle Laster, alle Verbrechen, die, von Rebendart entboten, sich dem Ministerium unter ehrenhaften parlamentarischen Formen zur Verfügung stellten, kamen zum Unterstaatssekretär ohne Schminke. Was ihn übrigens in Verwirrung brachte, denn er gab sich bei diesem Verkehr klare Rechenschaft, daß er niemals mehr als einer halben Geschicklichkeit und einer halben Intrige fähig sein würde.
»Meine Herren,« begann Rebendart wieder, während Larubanon seine Augen zerstreut über jene von den vier nackten Frauen mit den Wagen schweifen ließ, für welche seine Mutter, wie man sagt, Modell gestanden hatte ..., »ich bin mit einer peinlichen Mission beauftragt. Ich sehe mich gezwungen, Sie des Verbrechens der Pflichtvergessenheit anzuklagen.«
Larubanon, der, immer in Bewegung, hinter uns einen Vorhang herabließ, hatte sich vorsichtigerweise wieder auf die Seite der Unschuldigen begeben. Dort betrachtete er durch seinen doppelten Zwicker, dessen eine Glas die Dinge näher rückte, während das andere sie entfernte, die prachtvoll gleichmäßigen, mütterlichen Schenkel, höchstes Symbol der Gerechtigkeit.
»Nur der Pflichtvergessenheit?« fragte Onkel Charles. Das war der geeignete Augenblick, um den Monolog über den Stolz einzuschieben. Doch Rebendart zögerte und ließ ihn für immer vorübergehen.
»Das Dokument, das Ihnen Herr Larubanon vorlesen wird, läßt nicht den geringsten Zweifel über diesen Punkt«, erklärte er wütend.
Larubanon öffnete eine Mappe, schickte sich zum Lesen an, hielt inne und reichte sie dann Rebendart:
»Ist es diese?«
Rebendart wurde ungeduldig:
»Nein doch, wie Sie sehen. Die über Dessaline, mit der von Dubardeau gezeichneten Quittung.«
Ich sah, wie mein Vater erblaßte. Als er noch Deputierter war, hatte er Dessaline eine Lieferung verschafft. Einige Monate später hatte ihm Dessaline zugunsten eines ins Unglück geratenen gemeinsamen Freundes einen Scheck über fünfzigtausend Franken überwiesen, der von ihm und meinem Onkel Charles gezeichnet war. Irgendein Bankier, der mit Rebendart befreundet war, mußte es diesem verraten haben. Es gab keine Zeugen. Der Schuldner war in Mexiko, Dessaline tot. Die hochherzige Tat hatte sich verflüchtigt und nur den Leichnam einer schlechten Handlung zurückgelassen.
Larubanon konnte die richtigen Dokumente noch immer nicht finden. Vor einer Stunde noch waren die zwei Beilagen da. Er hatte sich sogar an der Nadel, die sie aneinander heftete, den Finger verletzt. Er zeigte noch das Blut an seinem Taschentuch, als Beweis für seine Wahrhaftigkeit. Es waren sogar Spuren davon an seiner Nase zu sehen. Er versuchte vergeblich einen frischen Tropfen an der verletzten Stelle herauszudrücken. Rebendart klingelte.
»Fräulein Vergne!« befahl er.
Fräulein Vergne trat ein. Ihr Teint war milchweiß, doch nicht minder blühend als bei der Stenographin. Sie pflegte in den Luxusgeschäften, die das Ministerium umgaben, die jeweils wenigst teure Spezialität zu kaufen. Von Coty das Reklameparfüm, von Orsay das letzte Rouge, bei Rigaud Puder zu 3,25. Sie hatte so die wohlfeilste Frauenmaske in dieser zentralen Region von Paris. Doch unter diesem slawischen Teint und seinem leichten Überzug floß statt des Blutes nichts Geringeres als das Glück selbst. Es war eine Frau, wie geschaffen für die Vergnügungen des Wochenendes; sie strahlte am Vorabend des Totentages, an diesem erhabenen Wochenende, förmlich Glück aus, die Augen feucht von erstrangigen Säften, der Mund mit Luxusschleimhäuten ausgestattet. Die Aktenmappe, die sie trug, drohte sich zu öffnen, und sie hielt die Blätter an die Brust gedrückt, wie ein Nest junger Tauben. Die so fest Gehaltenen schnäbelten sich, die Protokolle liebkosten sich mit den Flügeln. Als auch sie ihre Unwissenheit zugeben mußte, trat Fräulein Larbit an ihre Stelle, im Ministerium besser unter dem Namen Pan-Pan bekannt, wohlbeleibt und mit Flittern behangen. Diese ganze Kampfszene männlicher Seelen spielte sich vor einer Schar Frauen ab, welche gleichmäßig beiden Parteien zulächelten, so als schlügen sich Rebendart und Dubardeau für sie; ein Schauspiel auf einem Hintergrund von Sinnenlust, Gesundheit und Natürlichkeit, der ihm fast seine Schärfe nahm. Diese hübschen Frauen hatten übrigens Schulterbreite und Kreuz, wie sie den Frauen der Athleten eigen sind, welche ihren Männern in der Vorstellung als Piedestal dienen. Und jedesmal, wenn sich eine von ihnen Rebendart näherte und den Nacken beugte, erwartete man, ihn einen Satz machen zu sehen ... Keine hatte die Dokumente gesehen. Larubanon erinnerte sich plötzlich, sie auf seinem Tisch gelassen zu haben und lief, um sie zu holen.
Es herrschte Schweigen. Die Antipathie unter diesen Menschen war so groß, daß das Wort in solcher Atmosphäre nicht leben konnte. Mein Vater war traurig. Er dachte an jenen Mann, dem er die fünfzigtausend Franken von Dessaline an den Hafenquai von Saint-Nazaire gebracht hatte. Der Mann war nervös. Es war das zweitemal, daß er in diesem Hafen ein Schiff bestieg; das erste hatte ihn nach Cayenne gebracht. Fünf Jahre vorher hatte er, wie das Urteil sagte, eine Schäferin vergewaltigt und erdrosselt. Man kann sich vorstellen, welche Erinnerungen in ihm die Möwen, die Schiffssirene, die Glocke und der Hintergrund dieser ganzen Ungerechtigkeit, das Meer selbst, hervorriefen, das den Auswurf, mit dem die Verbrecher während der ganzen Überfahrt es gezeichnet hatten, in einer Welle an die Wände des Quais zurückwarf. Mein Vater hatte diesen Reisenden vor seiner ersten Fahrt gekannt. Er war damals einer jener jungen Leute, die aus einer Familie mittlerer Provinzialbeamter nach Paris verschlagen, durch ausgezeichnete Eigenschaften und den Zauber ihrer Persönlichkeit plötzlich alles erobern. Während zweier Jahre verging nicht eine Woche, in der sich ihm der Erfolg in der konkreten Form von Geld, Macht oder Liebe nicht dargeboten hätte. Er blieb bescheiden, doch an jenem Tage auf der Wiese, am Ende der Ferien, am Tage vor seiner Rückkehr nach Paris, das mit einem hohen Posten und einem Dutzend Frauen winkte, war er einer Täuschung erlegen. Er ahnte nicht, wie das Leben mit ihm spielte. Noch nie hatte er sich so überschäumend von Lebenskraft, von Großherzigkeit gefühlt. Er war Pan im Jackett. Die Grünfinken, die seine Schritte aufscheuchten, schienen aus ihm selbst zu kommen. Jede neue Wolke an diesem schönen Himmel schien jedesmal eine andre Haut von seinem Hirn abzulösen. Infolge des großen Glücks, das ihm die Welt so freigebig geboten, fühlte er sich unter dem einfachen Himmel, vor den plumpen Hügeln dieser Landschaft verspätet. In einer italienischen Landschaft, oder in der Gegend von Agen, unter einem vom Genie gepriesenen, von den großen Männern geliebten Himmel, wäre er zufrieden gewesen. Doch er befand sich im Bas-Limousin. Wenn er sich der leidlich netten Schäferin dort näherte, so war es in der Tat nur eine Konzession an dieses durstige und der Liebkosungen bedürftige Klima, an diese zurückgezogene Provinz, die von der Lebensfreude so gar nicht verwöhnt war. Er ließ sich auf das Abenteuer ein, wie um sich vor seiner Zukunft, vor seinen Erwartungen zu demütigen, um in eine freundliche Gemeinschaft mit dem Boden, mit dem Gras zu kommen. Es war gleichsam eine Herablassung aus Dankbarkeit zu diesen netten und geringen Vermittlern, seine Familie eingeschlossen, die ihn, durch ihre Armut hindurch, ins Glück, durch Dunkelheit zum Glanz geführt hatten. Der Rahmen verführte ihn mehr als die Schäferin selbst, welche graue Augen, rote Bäckchen von einem Rot, das wie Schminke noch dem Tod widerstand, und schlechte Zähne hatte. Doch wie war der Baum, unter dem sie saß, schön und mächtig. Er schien diesen widerspenstigen Boden zu vergewaltigen. Eine Quelle floß vorbei, deren Wasser zu berühren beglückt hätte. Schwalben verfolgten sich in parallelem Fluge und gingen nieder, ohne sich gestreift zu haben; doch der Hund der Schäferin war es vor allem, der ihn verführte. Statt zu bellen, kam er, schweifwedelnd und seine Hände leckend, zu ihm gelaufen. Es war in der Tat nur des Hundes wegen, daß er nicht einfach vorbeiging. Er hatte diesem Hund in seiner künftigen Erinnerung an diesen Nachmittag bereits den besten Platz angewiesen. Der Wind großer Unternehmungen wehte um ihn, seine Ohren klangen davon; doch aus Bescheidenheit, aus Einfalt blieb er haften, beschloß er, diese kleine Episode in sein Leben aufzunehmen. Er hatte das Gefühl, eine gute Tat zu tun. Der Hund, der für ihn die Herde verlassen hatte, brachte ihn zu der Schäferin hin, dieser Hund mit schmutzigem Fell und Schnauzbart, der vor dem Unbekannten mit den weißen Händen und in einem Anzug von bestem Schnitt seinen wahren Beruf als Salonhund und sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit in sich entdeckt hatte. Er, ein Mann, dem nicht wenig Frauen den Hof machten und der sich ihnen entzog, um sich für eine einzige Freundin zu bewahren, setzte sich entschlossen neben die Schäferin. Er fragte sie nach dem Namen des Hundes und erfuhr, daß er Rotstrumpf hieß. Auch sie hatte rote Strümpfe. Er bemerkte, daß ihre grauen Augen wie die des Hundes ein wenig gesprenkelt waren. Eine so enge Beziehung zwischen diesen ländlichen Wesen schärfte noch mehr sein Bewußtsein, daß er an diesem Nachmittag mit der Natur selbst in nahe Berührung kommen würde. Ich vergaß zu erwähnen, daß er ein Mann von Universitätsbildung war. Er zog sie damit auf, daß er sie Rotstrumpf nannte. Sie lachte albern. Jedesmal, wenn der Hund den Namen hörte, sprang er hoch und bellte vor Freude. Sie war damit einverstanden, den Oberteil ihrer roten Strümpfe zu zeigen. Er zögerte noch. Durch ferne Schüsse aufgescheuchte Rebhühner flogen über ihre Köpfe hinweg, das Geräusch von Wäscheschlegeln drang vom Rande des flachen Horizonts her, irgendwo unten auf der Straße knirschte ein Fuhrwerk. Alle diese Geräusche der Dämmerung, die bei der großen Hitze und bei hellstem Sonnenschein zu hören waren, drängten ihn zu der kleinen belanglosen Tat. So hält der Fuchs die Falle für den Eingang zum Leben und dringt willfährig ein. Er fühlte, daß der kurze Augenblick mit diesem einfachen Mädchen ihm den Abend, die Nacht auftun würde, die sich sternenklar ankündigte, glanzvoll wie sein weiteres Leben. Er nahm die Schäferin in seine Arme. Rotstrumpf drängte sich mit der Nase in ihre Umarmung, als fordre er seinen Teil an Zärtlichkeit. Er sagte ihm, daß Rotstrumpf reizend sei, daß er Rotstrumpf liebe. Sie überließ sich ihm. Doch in diesem Augenblick traten zwei Jäger, die er nicht sah, auf die Wiese hinaus. Sie schämte sich plötzlich, schrie, wehrte sich. Ein Schuß befreite sie vom Kampf. Der eine Jäger hielt das Gewehr schußbereit, der andre tötete den Hund, der sich auf sie gestürzt hatte, um ihn zu verteidigen. Am nächsten Tage war sein Name, sein Vorname sogar in ganz Frankreich ein neues Schimpfwort geworden ... Die Verwendung der fünfzigtausend Franken von Dessaline für diesen Mann zuzugeben, hätte viel mehr Skandal hervorgerufen, als das Bekenntnis, sie für sich behalten zu haben. Ein Hund, eine fast menschliche Seele in einem Schäferhund, ein Hund aus der Beauce, der jede menschliche Begeisterung, selbst eine zweiten Ranges gebilligt hatte, war die Ursache, daß Rebendart den Sieg über die Dubardeau davontrug.
Wir schwiegen alle. Mein Vater erkannte auf seinem früheren Schreibtisch an der Farbe der Aktendeckel, mit welchen Kriminalsachen Rebendart sich heute befaßt hatte. Ein Vatermord und zwei einfache Morde. Es war der Tag in der Woche, an dem der Minister die Entscheidungen über Tod oder Begnadigung trifft. Es fehlte noch der Namenszug mit rotem oder mit blauem Stift, welcher Begnadigung oder Hinrichtung bedeutet. Doch die Lage dieser Akten des Elends und des Todes, die Rebendart unachtsam an den äußersten Rand des Tisches geschoben hatte, ganz geöffnet, so daß Namen und Vornamen deutlich zu lesen waren, bot den Schlüssel zu seiner Handlungsweise: dieser Mann war gefühllos. Seine klassische Bildung, auf die er eitel war, die lateinischen und griechischen Studien, die er noch pflegte, hatten ihm zwar eine Art Liebe zur Welt eingeflößt, doch nur der Zeit und nicht dem Raum nach. Alles, was Frankreich betraf, ging ihn an, sowohl die alten Länder Frankreichs, als auch die alten Länder Roms und Athens: er litt an dem Unrecht, das den Tribunen zugefügt worden war, darunter, daß die phönizischen Beamten eine lächerliche Wohnungsentschädigung erhielten; doch sobald sein Gedanke, statt dort zu verweilen, nur die Grenzen dieses klassischen Gebiets, das genau an den Grenzen des heutigen Frankreich aufhörte, überschritt, war kein Unbehagen, keine Sorge mehr für ihn zu befürchten. Wenn die Sturmflut einen Leuchtturm in Biarritz zerstörte, litt er darunter, doch gegen die Pest, den Hunger und alle Übel in Asien blieb er unempfindlich. Wenn er nach diesem Brande, nach dieser elektrischen Hinrichtung, nach dieser Überschwemmung Europas, alle seine Völker mit irgendeiner menschlichen Versicherung, welche zu zahlen ablehnte, mit einer göttlichen, welche zu trösten ablehnte, im Prozeß sah, so machte das Rebendart, der sich noch über die schlechte Erbteilung der Länder Karls des Großen aufregte, keine Schmerzen. Wenn er die Ingenieure in der ganzen Welt sich an der jammervollen Aufgabe abmühen sah, durch Veränderungen, welche ihren Verwaltungsräten möglichst wenig kosten sollten, den Arbeitern an Kanonen, Granaten und Stacheldraht, nährende Stoffe, moralische Vorstellungen und Badegelegenheiten zu schaffen, so ging das Rebendart, der noch vor Entrüstung über den Schimpf bebte, der unserm Königtum in Peronne angetan worden war, nichts an. Wenn die menschenfreundlichen Fabrikdirektoren, die mit ihren Vorräten nichts anzufangen wußten, ein neues Objekt suchten, um die europäischen Kinder, zumal mit Gußeisen und gehärtetem Stahl, die europäischen Frauen mit Aluminium für Flugzeuge zu beglücken; wenn sie sich den Kopf zerbrachen, wie sie die Produkte des Krieges, das Wolfram und das Lachgas am besten dem Familienleben anpassen könnten, machte das Rebendart, der über die Lage der provinzialen Advokatenschaftsvorsteher unter Ludwig XIV. empört war, keine Schmerzen. Er sah, daß keine Kraft der alten europäischen Völker mehr zum Handeln fähig, daß die Ehre, der Geist, das Blut einiger von ihnen verändert worden war, er sah Deutschland schwer keuchend über Europa daliegen, wie eine beschmutzte Fackel; er sah, wie alle in den Krieg geschleuderten herrlichen europäischen Gewerbe ganz uniform geworden waren, sah, daß die Vereinigten Staaten Europas zunächst leider nur in der Nivellierung aller Tätigkeiten der Ingenieure, der Kunsttischler, der Mechaniker bestanden, er konnte nicht sicher sein, daß sie sich jemals wieder erholen würden, daß sie ihren Sinn, ihre nationale Eigentümlichkeit wiederbekämen; er sah, daß es zu Ende war mit dem besonderen Schnitzwerk an Tischen, mit handgearbeiteten Antrieben und Federn für Präzisionsuhren, mit Karaffen in einem Exemplar, – doch Rebendart, noch tief bekümmert über die Unglücksfälle des Theodosius, litt nicht darunter, beklagte es nicht.
Thermometer für Gespenster, Seismograph verschollener Katastrophen, der er war, konnte man sicher sein, daß, wenn Rebendarts Stimme wärmer klang, wenn sein Auge sich sänftigte, die letzten Ausdünstungen Sullas und des Cujacius in den Saal drangen, oder der letzte Ausläufer der Welle vom Zusammenbruch Babylons.
»Meine Herren,« sagte endlich Rebendart, »ich glaube, eine Aufklärung erwarten zu dürfen.«
Mein Vater hatte stets die Gebärden und Einfälle eines Kindes gehabt. Es ist schön, an einem bejahrten Vater nicht die Merkmale seiner Jugend, sondern der Jugend der Menschen wahrzunehmen. Er sagte:
»Ich diskutiere nicht mit einem gefühllosen Manne.«
»Es handelt sich hier um keine Diskussion,« erwiderte Rebendart, »sondern um Daten, die keine dulden. Es handelt sich um den 12. Mai 1917, an dem Sie die Initiative ergriffen, einen Emissär nach Österreich zu schicken, ohne daß dazu ein Befehl vorlag, dann um den 1. Dezember 1913, das Datum des Schecks von Dessaline.«
Wenn Rebendart ganz ehrlich gewesen wäre, hätte er hinzufügen müssen den 28. Juni 1919, das Datum des Versailler Vertrages, den er meinem Vater nicht verzieh, den 5. Februar 1915, an welchem Tage der Sekretär meines Onkels Charles in einem Salon Rebendart als Essigpisser bezeichnet hatte, und den 3. September 1892 – ein weit zurückliegendes, doch lebhaft in seiner Erinnerung gebliebenes Datum – an welchem mein Vater in der Kammer bemerkt hatte, daß das Zitat aus Pascal in Rebendarts Rede zur Parlamentseröffnung falsch war. – »Woran denkt die Welt? Laute zu spielen«, heißt es bei Pascal. Rebendart hatte »Harfe zu spielen« zitiert. Wahrend der ganzen Sitzung, in welcher das Streichhölzermonopol debattiert wurde, hatte er mit dieser lächerlichen Harfe im Arm dagesessen ...
Wieder trat eine Sekretärin ein. Sie kam, die Akten der Verurteilten zu holen. Sie verlangte die Unterschriften. Rebendart ergriff den Blaustift, das Zeichen des Todes. So groß ist im Justizministerium die Disziplin, der irdische Respekt, daß dieses hübsche Mädchen nicht in Flehen ausbrach, sich nicht auf dem Boden wälzte, sich Rebendart nicht anbot, um das Leben dreier Menschen zu retten. Ebensowenig kam es dem über den Ruf der Gefühllosigkeit aufgebrachten Rebendart in den Sinn, die drei Mörder zu begnadigen und dadurch seine Menschlichkeit zu beweisen. Er unterzeichnete. Das hübsche Kind verschwand mit den drei wie Urnen leichten Akten, leichtfüßig sie selbst.
Larubanon stieß in seiner Bestürzung mit ihr an der Tür zusammen. Die Dokumente waren nicht bei ihm. Es war kein Zweifel mehr. Man hatte sie gestohlen. Er hatte einen Verantwortlichen, den Registrator vom Dienst erwischt und brachte ihn mit. Es war Brody-Larondet, jener Unglückliche, der seinerzeit vor Moïse, so gut er konnte, meinen Vater verteidigt hatte. Brody war von dem Viertelstunden langen Suchen ganz krumm. Er hatte sogar in seinem eigenen Büro gesucht, wo er nur sein Testament vom Juli 1914 wiederfand.
»Sie wollen Ihre Entlassung?« schrie ihn Larubanon an; »Sie sollen sie haben!«
Brody-Larondet bemerkte meinen Vater, richtete sich gerade auf, hatte den Mut uns zuzulächeln und verschwand. Seine Schwestern und seine drei Nichten warteten auf ihn bis zum Morgen. Ein Freund fand ihn in einer Kneipe in der Umgebung der Hallen, wo er die ganze Nacht versucht hatte, sein Kriegstestament dem Frieden anzupassen, bevor er sich in die Seine warf. Die dritte Nichte war nach 1914 geboren. Es ließ sich kein Kodizill unterbringen, denn, methodisch wie er war, hatte er seinen Nichten bereits jeden Gegenstand, jedes Möbel verschrieben. Man hätte alles umstoßen, eine dritte Vase von Galley, eine dritte farbige Gravüre bei Scott kaufen müssen. Er gab es auf, er kehrte nach Hause zurück.
Kaum hatte er das Kabinett Rebendarts verlassen, als der Gobelin, auf welchem – nach Rubens – Engel ein Dutzend nackter Mädchen von mächtigen Formen in die Höhe hoben, uns gegenüber sich öffnete und Bella erschien, lächelnd, strahlend zwischen diesen königlichen Körpern, welche durch ihr Emportauchen plötzlich Falten warfen und welk wurden.
»Ich habe die Papiere verbrannt«, sagte sie.
*
Rebendart sah Bella haßerfüllt an. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, dem Tragischen auszuweichen. Er hatte jede Gelegenheit, bei welcher eine Begegnung zweier von Leidenschaft bewegter Menschen, zweier Führer in Staatsgeschäften oder zweier Armeeführer, einen feierlichen Anstrich hätte erhalten können oder sollen, stets eskamotiert. Wahrend der letzten zehn Jahre, in denen das Schicksal durch die Welt jagte, hatte er es immer versucht, auf dem Wege, den es nahm, die Kreuzungsstellen zu überbrücken. Dank ihm gab es keine Zusammenkunft zwischen Ludendorff und Foch, zwischen Wilhelm II. und Viviani, zwischen Clemenceau und dem Papst. Wäre er ein Chemiker gewesen wie mein Onkel, so hätte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, ein Zusammentreffen zwischen Stickstoff und Wasserstoff zu verhindern, und alle denkbaren Dramen zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff waren aus der Welt geschafft. Mangel an Phantasie, aber auch die Furcht davor, wie sich die Menschen dazu verhalten würden, trieben ihn an, alle Schmelzpunkte im Politischen oder Philosophischen mit Papieren zu dämpfen. Es gab in seiner Familie und auch in seiner Regierung keine anderen Szenen als solche, die durch seinen schlechten Charakter hervorgerufen wurden. Der Jähzorn war alles, was vom Schicksal und seiner Blindheit in Rebendart übrig blieb. Wie einer heimtückisch einen Stützpunkt entfernt, hatte er – unmerklich selbst für seine Sekretäre – mit genauer Berechnung nach dem Fahrplan und den Schiffstabellen sein Lebtag die Begegnung zwischen Staatsmännern hintertrieben. Er ließ die Züge verspäten, damit er nicht in bestimmten Städten in einem Moment anlange, da die Erwartung, die man in ihn setzte, eine sonnige Stunde, die ganze Atmosphäre der Provinz oder Frankreichs an diesem Tage seiner Ankunft eine allzu eindrucksvolle Note hätte verleihen können. Es hätte genügt, ihn in die Odyssee oder in die Bibel zu bringen, um aus der Erzählung alle Begegnungen zu entfernen, welche den Helden nur deshalb widerfuhren, eben weil sie gegen das Schicksal höflich waren und weil das Erhabene auf den menschlichen Fahrplan Rücksicht nahm. Mit Rebendart hätte es keine Episode Nausikaa und Odysseus, keine Geschichte der Salome oder des Jonathan gegeben. Er haßte Leidenschaft, er sah in ihr nur einen Haufen emphatischer Gebärden, die ein Gott von Geschmack vermeiden sollte. Er haßte es, sterben zu sehen. Die Genauigkeit, mit der die Seele auf den Tod eingestellt ist, die Pünktlichkeit des Todes bei diesem Scheinrendezvous, diese Kälte des Todes, welche die Kleider der Teilnehmenden wie ein Frost steif macht, diese Stunde, in der die Bewegung des Lebens sich auch bei den konventionellsten Personen, bei feierlichen Tanten, bei Nichten mit Grundsätzen, bei den schlechten Rebendarts exakt zurückzieht –, er konnte das bei seinem falschen Freiheitsbegriff nicht ertragen ... Ein falsches Leben kann ja eigentlich auch nicht durch den Tod enden... Darum war auch seine Erregung gegen Bella grenzenlos. Daß sie ihn verraten hatte, mochte hingehen. Doch sie konnte doch wenigstens, nachdem sie die Dokumente verbrannt hatte, verreisen, verschwinden, schreiben ..., statt hinter dem Vorhang zu warten, um in diesem blaßgrünen Kleide mit ihrem Schmuck, mit ihren bloßen Armen hier zu erscheinen, die diese tragische Minute mit dem Geist der Mode belebten. Sie gab einer verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung moderne Farbe, einen neuen Stoff, eine Frisur, sogar ein Parfüm. Was wollte sie mit diesem Aufruhr? Das war geschmacklos. Das war Ophelia mit Petroleum, mit Naphtha. Rebendart wußte, daß er das Recht und die Vernunft nicht mehr auf seiner Seite haben würde, wenn jemand im Konflikt Rebendart-Dubardeau statt des Disziplinargerichts und der juristischen Sanktionen die Wesenheiten und die Allegorieen entfesselte. Die Dubardeau waren nur zu geschickt, um aus dem doppelten Astralleib des Rechts, aus dem Ektoplasma der Gesetzbücher Vorteil zu ziehen. Alle Dämme, durch welche Rebendart in härterer Arbeit, als die der Holländer es erreicht hatte, sich mitten im Krieg und in den inneren Kämpfen ein ausgetrocknetes Arbeitsgebiet zu schaffen, hatte Bella heute durchstochen. Aus der tiefen Niederung auf dem Grunde dieser Sackgasse, wohin er uns aus unseren Hügeln von Meudon hineingetrieben hatte, befreite uns plötzlich ein Schluß wie aus einem Rührstück von Crébillon-Vater, eine künstliche kindische Lösung, die aber zunächst seine Rache zunichte machte.
»Was reden Sie? Welcher Wahnwitz!«
Ich erfuhr erst viel später, daß die Szene noch vollendeter war, als ich gedacht hatte; denn Larubanon, der sich scheiden lassen wollte, um Bella zu heiraten, hatte ihr am Morgen seine Absicht entdeckt ... Bella strahlte wie damals, als es ihr gelungen war, Clemenceau zu bestimmen, daß er auf seiner Reise in den Vereinigten Staaten Wilson einen Besuch abstatte. Die Vorstellung, wie Clemenceau an einem schwülen Gewitterabend an der Tür des kleinen Hauses des Gelähmten läutet, hatte ihren Geist mehrere Wochen beschäftigt. Wie damals, als sie nicht unter versteckten Vorwänden, sondern mit gesellschaftlichen und offiziellen Gründen d'Annunzio und die Duse zusammenbrachte ... Ich betrachtete sie mit Bewunderung und nicht ohne Gewissensbisse. Ich verstand jetzt ihren Widerstand, ihre Flucht: es war die Einleitung zu dieser Tragödie. Ich machte mir fast Vorwürfe, sie trotz der Rivalität unserer Familien so sorglos geliebt zu haben. Die Schwiegertochter des Mannes, der uns verfolgte, besuchte mich in meinem Bett bei Sonnenaufgang. Bei Sonnenaufgang, wenn die Möwen, die einen Lachs von der Seinemündung bis nach Paris verfolgt hatten, die Place de la Concorde sahen und schrieen, umschlang ich die Tochter des Tyrannen. Doch heute erst ging es mir auf, daß Bella und ich – selbst in dieser schlaffen Welt, selbst in einer Zeit, da die Leidenschaften so kurzatmig und selbstsüchtig geworden sind, daß jede nur getrennt und für sich wie eine physische Funktion geübt wird und sich nicht mehr vermählen, um das Innerste der Menschen zu ergreifen; – daß wir in dieser Stadt, wo die Geizigen nicht mehr verliebt sind, die Eifersüchtigen keinen Ehrgeiz haben, eine jener schönen Liebesgeschichten der Vergangenheit wieder zum Leben hätten erwecken können. Die Liebenden unserer Zeit lassen ebensowenig in sich Konflikte wie Kinder keimen. Ich achtete Bella dafür, daß sie dieses da wachsen und zu seiner Bestimmung hatte heranreifen lassen. Ich aber wurde, ohne daß ich es merkte, der glückliche Vater eines netten Skandals, eines Dramas! Ich bewunderte ihren in seiner glühenden Schwangerschaft so zarten Körper, ihr reines und unberührtes Gesicht in seiner Maske. Dies eine Mal empfand ich keinerlei Unbehagen vor einer theatralischen Handlung. Ich wußte Bella unendlich Dank für ihr Warten hinter den nackten Königinnen, für ihr Erscheinen, für ihre Pünktlichkeit, in der ich das pünktliche Eintreffen dessen sah, was die Welt an Treue und Schönem für meinen schuldlosen Vater noch übrig hatte. Selbst das, was darin auf Wirkung berechnet war, bezauberte mich. Diese Emphase war nur der Schnörkel der höchsten Einfachheit, der Pflicht. Die wenigen Wunder, die ich in meinem Leben gesehen hatte, die Schlacht an der Marne zum Beispiel, schienen mir eigentlich recht ungeschickt angeordnet und für das Auge so verworren! Ich war von diesem sauberen und rechtzeitig eingetroffenen Wunder ergriffen.
Rebendart machte einen Schritt auf sie zu. Er war außer sich.
»Welche Tollheit hat Sie befallen? Was bedeutet dieser Verrat!«
Bella lächelte ihm zu, erhob die Hand, wies auf mich. Wie sorgfältig war doch ihre Erziehung in dem Pensionat von Charlieu gewesen! Ich war sicherlich der erste Mensch, auf den Bella mit dem Finger wies. Ihr Arm war fast wagerecht erhoben, die Hand hielt sie geöffnet, wie zu einem Schwur.
»Ich liebe Philippe«, sagte sie.
Doch bereits von mir weggewendet, ergriff sie mit einer Hand die Hand meines Vaters, mit der andern die Rebendarts und versuchte sie zu vereinen. Eine Minute lang kämpfte sie gegen das Geschick. Mein Vater gab aus Mitgefühl nach, doch Rebendart widerstrebte auf die roheste Weise. Bellas Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse der Anstrengung. Schon versuchte sie nicht mehr, wie sie es sich vorgestellt hatte, die beiden Hände so zu vereinen, daß die fünf Finger Rebendarts die fünf Finger Dubardeaus umfaßten, sie schien nur noch zu hoffen, daß die eine die andere streifte; nicht einen Strom der Versöhnung herbeizuführen, so doch einen Funken überspringen zu lassen. Sie fühlte die eine Hand folgsam und kühl, die andere feindselig und heiß. Zehn Sekunden versuchte sie es noch, verzweifelt schon, die beiden Arten von Ehre, Mut und Großzügigkeit im französischen Charakter ineinander zu haken. Unmögliches Vorhaben. Ich sah sie plötzlich erblassen, die Augen schließen; sie fiel auf die Kniee, dann nach rückwärts, dann niedergleitend und gleichsam ungewohnt dieser letzten Gesten, löste sie ihren Sturz in seine Bestandteile wie unter der Zeitlupe auf.
Das war der Trick, den Bella gefunden hatte, um meinen Vater vor dem Gefängnis zu retten: Sie hatte sich eine Ader geöffnet.
Eines Tages werde ich vielleicht den Mut finden, zu sagen, was es mit Bellas Tod auf sich hat.
Ich trug sie auf ihr Zimmer. Der Tod machte jeden Teil ihres Körpers gleich schwer. Mein Leben lang werde ich diese gleichmäßige Überbelastung im Gewicht meiner Freundin auf mir fühlen. Sie krampfte sich an meine Hand fest, die sie für Rebendarts Hand hielt. Sie hatte die Kraft einer Sterbenden, ich konnte mich nicht befreien. Der Arzt, die Zofe, auch Rebendart mußten uns als eine unzertrennliche Gruppe behandeln. Eine ganze Nacht lang war der Umkreis meiner Freiheit im Arm einer Sterbenden. Ich hatte die Bitterkeit, der überlebende Teil einer Agonie zu sein. Man hatte vergessen, die Vorhänge herunterzulassen. Der Allerseelenabend brach an. Gegenüber bei Ritz wurde Licht gemacht. Der kleine Argentinier, der jeden Morgen durch sein Fernglas Bella aus dem Bad steigen zu sehen sich bemühte, sah sie jetzt halb entblößt sterben. Sie hielt meine beiden Hände aneinander, sie forderte von ihnen eine absolute Versöhnung. Sie forderte, daß jeder Teil meines Selbst endlich dem andern verzeihe, daß in meinem Innern nichts von Rebendart und Dubardeau bliebe, daß alles, was in einem Wesen einander feindlich ist, Jugend und Kindheit, Kraft und Schwäche, Mut und Verzweiflung, endlich Frieden miteinander mache. Es war bald nichts mehr in mir, das geteilt wäre und gegeneinander stritte. Zum erstenmal fühlte ich in mir dank ihr, einen Kreis, den Kreis meines Lebens geschlossen ... Keine Klage. Kein Wort. Es war ihr gewohntes Schweigen, nur noch sprechender, unmittelbarer als irgendeine Sprache ... Es war ihr letztes Schweigen ... Jede Bewegung, durch welche jemand von uns das Kopfkissen oder die Laken richten wollte, ließ ein Kinderspielzeug vom Bett fallen oder zum Vorschein kommen, eine Puppe hinter dem Kopfkissen, eine Schulmedaille, ein Hundehalsband. Wenn man sie zum Trinken oder zum Atmen zu zwingen versuchte, traten in ihrem Gesicht kindliche Züge hervor. Ihre ganze Kindheit sickerte nach und nach bei jeder geringsten Erschütterung aus ihr. Man wird nie wieder ein menschliches Wesen sich mit mehr Bescheidenheit dem Tode nähern sehen.
Gegen Mitternacht, als ich etwas eingeschlummert war, wurde ich durch ein Gefühl des Wohlseins, der Befreiung geweckt. Bella hatte meine Hand losgelassen. Sofort brach die Familie ein und entfernte mich.