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Mein Zerwürfnis mit Bella befriedigte Jérome und Pierre d'Orgalesse durchaus nicht. Ich traf die beiden vierzigjährigen Riesen oft im Speisesaal des Automobilklubs. Stets saßen sie am gleichen Tisch am Fenster, beide in entgegengesetzter Richtung über die Place de la Concorde gebeugt, folgten mit gekreuzten Blicken den Wagen, den Autobussen, den Fußgängern, überwachten den Eiffelturm, das Gitter der Tuilerien und wußten danach genau zu bestimmen, was im tiefsten Innern in den Menschen von Paris vor sich ging. Beide, und mit ihnen ihr älterer Bruder Gontran, schienen von allen Leidenschaften besessen zu sein. Sie ließen Pferde laufen, sie spielten, sie hatten Sammlungen von Porzellan und von schlechten Gewohnheiten. Im Grunde jedoch hatten sie nur ein Laster: die Neugier. Sie selbst waren ohne Geheimnis, da ihre Leidenschaft so lebhaft war, daß sie es hinnahmen, in den Augen der Welt erst für indiskret, dann für Spione und schließlich für Neurastheniker zu gelten. Sie machten sich nichts mehr daraus, man verzieh ihnen schließlich, wie man perverse Neigungen hingehen läßt. Ihre schüchternen Freunde bezeichneten sie als Psychologen. Das war falsch, denn sie begnügten sich nicht damit, eine Existenz, eine Familie, ein Geschlecht zu studieren, sie beobachteten mit dem Mikroskop, mit dem Mikrophon alle Pariser. Sie waren die Spione von Paris für ein weltliches und weltmännisches Jüngstes Gericht. Doch sie hatten, abgesehen von ihrem Laster, nichts Unangenehmes, Brutales, nicht einmal Falsches an sich. Sehr groß, von der üblichen lateinischen Schönheit, doch nicht so gewöhnlich, daß sie sich dahinter hätten verbergen können, waren sie alle drei mit wertvollen Eigenschaften begabt, die man sehr selten mit der Indiskretion zusammen findet, nämlich mit Takt und Großmut; ihre kräftigen Nasen, ihre feingeschlitzten Augenlider, die bis an die Nasenwurzel griffen, ihre mit vollkommen ausgebildeter Schnecke und Labyrinth fabelhaft versehenen Ohren beherbergten geschärfte Sinne, die sie unablässig durch Jagd und Sport übten. Zudem war kein Pferd und kein Hund in ihrem Besitz, die sie nicht von einem Privaten gekauft hätten, und das in einem Augenblick, da dies Geschäft ihnen Gelegenheit bot, zum erstenmal in ein Haus oder in eine Existenz einzudringen, oder um festzustellen, welche Wirkung der Anblick des Geldes auf den Verkäufer übte. Auch ihre Automobile waren solche Gelegenheitskäufe, oder neue und von Erbauern, die eine große Leidenschaft bewegte, erworben. Geburt und eine sorgfältige klassische Erziehung bewirkten, daß sie sich nur mit den Geheimnissen jener Mischung befaßten, die zwar den bürgerlichen Gesetzen, doch nicht den moralischen unterworfen ist, und die man die Gesellschaft nennt. Das innere Leben eines Chevreuse interessierte sie mehr als das eines Potin, das eines Mitglieds der Akademie mehr als das eines Jockeis, es sei denn, daß Potin und der Jockei durch Weite und Niveau ihrer Narrheit die Schranke übersprangen, welche die Tragödie vom Rührstück trennt. Sie waren die Racine unserer Zeit. Sie sammelten, ohne es weiter auszusprengen – denn sie plauderten selten und nur um Vertraulichkeiten hervorzulocken –, ganze Albums übermenschlicher, großmütiger, auch allzu irdischer und gemeiner Züge, die sich sonst verflüchtigt und keine deutlichere Spur hinterlassen hätten als die Windkraft. Der handgreiflichste Niederschlag des gesellschaftlichen Lebens, von so viel Liebesaffären, Haß, Gemeinheit und Treulosigkeit, Rangstreitigkeiten und Plagiatvorwürfen diente nur dazu, die drei Brüder in ihrer Liebe zueinander fester zu knüpfen, so wie die Nutzung der Windkraft am Anfang des Jahrhunderts sich darauf beschränkte, eine kleine Fabrik zu versorgen und eine Familie in Oran zu beschäftigen. Oft erhielt der von ihnen, der in Indien oder in Japan reiste, um dort etwas Neues über Lord Curzon oder über eine Botschafterin, die gerade in Mode war, zu erfahren, ein chiffriertes folgendermaßen abgefaßtes Telegramm: »Hannibals Verhältnis bestätigt sich. Rachildas Entführung bevorsteht.« Denn sie liebten es viel mehr, ein Ereignis der Leidenschaft vorauszusehen, als es zu verstehen, wenn es einmal vorbei war. Was sie das Geheimnis nannten, war bereits in die Welt unterwegs; sie hatten nichts vom Detektiv, nichts vom Gelehrten an sich; sie öffneten auch keine Gräber. Sie wollten nur den Gefühlskatastrophen dieser Zeit, ihren moralischen Krönungen einige Stunden oder einige Tage voraus sein. Durch dreißigjährige Forschungen geübt, wußten sie unter den scheinbar banalsten Intrigen jene herauszufinden, die zum Tode führen. Die Gesellschaftschronik des »Gaulois« und des »Figaro« mit ihrem Tagesbericht, ihren Begräbnissen und Hochzeiten boten ihnen die aufregendste Lektüre. Sie lasen selbst die »Humanité« wegen der Nekrologe. Wenn sie mit ihrem Wissen über den alten Kontinent fast auf dem laufenden und der Meinung waren, daß die Dramen hier noch in der Entwicklung seien, ließen sie einen einzelnen Beobachter zurück und begaben sich zu zweit auf Entdeckungen nach neuen Erdteilen. Doch die Seelen der Argentinier und der Radschas waren für sie nur ein Alphabet, die der Nordamerikaner ein Transparent, und sie kehrten gern wieder nach Europa zurück, nach Frankreich vor allem, wo die Woge der Liebe oder des Hasses bereits ihre jährliche Anschwellung erreichte. Im Sommer gingen sie je nach der herrschenden Mode nach Deauville oder nach La Baule, streckten ihre drei schönen nackten Körper am Strande aus, mit einer gespielten Teilnahmslosigkeit, welche jedoch Beginn und Ende der Liebesverhältnisse anspornte und beunruhigte. Im Rücken die von ihnen so gründlich gekannte Menge, den Abgrund vor sich, vertieften sie sich in philosophische Diskussionen; stets einig über die Menschen und zwieträchtig über die Elemente, stritten sie witzig über Empfindung und Materie, bis die steigende Flut sie aufnahm. Sie schwammen weit hinaus, wobei jeder sich einem eigenen Geheimnis der Grundwelle, des Sandes hingab, jeder ganz persönlich sich einer Strömung oder einer Alge zuweilen überließ. Ebenso wie sie sich angesichts der Lebenden vereint fanden, trieben sie jetzt voneinander ab, um auf eine eigene Art zu schwimmen oder mit einem besonderen Wunsch des Todes oder des Überlebens. Vom Ufer aus sah man das brüderliche Bündel von der urweltlichen Kraft durcheinander geworfen in drei Exemplaren, zum erstenmal getrennt, schwimmen. Sie stiegen aus dem Meer, fast verzankt, fast zerstreut wie aus dem Tod herauf.
Seit einigen Monaten waren Jérome und Pierre traurig. Ihr älterer Bruder war auf den Tod krank. Ein Sturz vom Pferde hatte ihm eine Verletzung an der Leber zugezogen, die sich als unheilbar erwies. Beschämt, auf den Tod getroffen zu sein in dem einzigen Organ, dessen Name zu unserer Zeit wenigstens nicht in geistigem Sinne verstanden werden konnte, nicht am Herzen oder im Innern getroffen, sondern an der Leber, ging er dem entgegen, was Jérome das Jenseits, Pierre das Kreuzworträtsel und er selbst das Nichts nannte. Alle drei vermieden es übrigens, sich über diesen Punkt auseinanderzusetzen. Die Ärzte gaben Gontran noch sechs Monate Frist. Er würde zu Beginn des Jahres 1926 sterben. Er wußte es. Um an den Menschen die Prägung der Leidenschaften und der Übel besser unterscheiden zu können, hatte er sich einst für verpflichtet gehalten, seinen medizinischen Kursus, sein Gastspiel an der Salpêtrière zu absolvieren. Nichts ist so leicht zu entziffern wie die Spur des Todes an einem Lebewesen. Er verstand es übrigens auch, aus der Hand zu lesen. Er las in der seinen, daß er sterben mußte. Auf seinem Grabe werden zwei Daten Seite an Seite stehen: 1876–1926, durch einen Bindestrich getrennt. Dieser Bindestrich war sein Leben. – Ja, wird man sagen, Gontran war genau fünfzig Jahre alt! Das war falsch, denn er würde im Januar sterben und war im Dezember geboren. Das Leben nahm ihm ungerechterweise fast ein ganzes Jahr, arbeitete mit ihm wie mit allen andern en gros ... Er kam nicht mehr aus seinem Zimmer. Er ärgerte sich, daß er Gontran hieß, ein Name, der ihm für einen Toten so wenig passend schien. Es gab bei ihm kein Auspacken von Kunstgegenständen und Bilderkisten mehr, die er mit der gleichen ängstlichen Erwartung öffnete wie einen Brief. Er bekam keine Briefe mehr von der Zivilisation, vom Jahrhundert. Zuweilen wünschte er sich den Tod, den Tod im Notfall noch vor dem Jahresende, um das Schicksal zu ärgern. Dann aber gefiel ihm die Idee der beiden Zahlen, welche so harmonisch auf dem Marmor sich entsprechen würden, die Idee dieses runden halben Jahrhunderts, und er opferte auf seinem Grabe die drei verlorenen Jahreszeiten dem schönen Reim der Ziffern.
Seine Neugier war deshalb nicht geringer. Zweifelhafte Freunde pflegten seinen Brüdern zu sagen: der arme Gontran, wie mag er das aufnehmen, wie mag das interessant für ihn sein! – Nein, das, vielmehr der interessierte ihn nicht ... Er warf sich noch eifriger auf die Fährte der Zeit. Vergeblich bemühten sich seine Brüder, ihm vorzustellen, daß in Europa jetzt die Ehebrecher treu, die jungen Ehepaare ohne Rachegefühle, die Witwen ohne Narretei seien. Gontran dagegen fühlte, daß dieses Jahr 1926 die heftigsten unterirdischen und offenen Kämpfe zwischen Tugend und Laster versprach. Er ahnte, daß manches schöne Wild, das er seit Jahren verfolgte, in diesem Schicksalsjahr gerade seine Fesseln abstreifen, seinen Sinn und sein Geheimnis preisgeben werde; daß die Spieler, ja die Ehrbarkeit selbst, die er seit langem beobachtete, mogeln würden. Er litt darunter, nicht zu wissen, welch ein Ende die Affäre Dubardeau-Rebendart nehmen, wie mein Zerwürfnis mit Bella ausgehen würde. Rebendarts Langsamkeit und meine regten ihn auf. Die Tatsache dieser unnützen Langsamkeit bewirkte, daß das Leben der geringsten Menschen um ihn herum zu einem Problem wurde, dessen Lösung er ebensowenig erleben würde wie den Ausgang des Kampfes zwischen der angelsächsischen und lateinischen Rasse, oder das Abbröckeln der Klippen von Dieppe. Wie lebten doch die Menschen diesen Sommer wie unter der Zeitlupe! Was ihm noch an Kraft blieb, verbrauchte sich an der Unsterblichkeit seines Portiers oder seines Briefträgers. Wie schien ihm der Rhythmus des Lebens bei dieser kurzen Entfernung vom Tode falsch! Wahre Leidenschaften müßten sich ganz und gar in einen Nachmittag unterbringen, alle die zerstreuten auf ein Jahr ausgedehnten Bewegungen in eine Woche längstens zusammenpressen lassen. Welche Heuchelei war im Grunde diese Langsamkeit! Ein echter Dubardeau hätte Bella in acht Tagen wiedergewonnen und sie verlassen ... Doch um diesen Schildkröten Beine zu machen, hätten eben alle andern zu einem nahen Tode verurteilt sein, Gontran d'Orgalesse dagegen im besten Wohlbefinden leben müssen.
Die Brüder teilten seine Ungeduld. Zum erstenmal nutzten sie ihren Kredit und ihre gesellschaftliche Macht, die sie durch das Wissen so vieler Geheimnisse gewonnen hatten, um hier eine Anknüpfung, dort einen Bruch zu beschleunigen. Bis zu diesem Tage hätten sie sich ebensowenig für befugt gehalten, in ein Abenteuer einzugreifen, wie ein Gärtner die Reife seiner Gemüse oder seiner Früchte zu beschleunigen unternimmt. Aus Liebe zu Gontran gaben sie diese Zurückhaltung auf, für den sterbenden Gontran machten sie Frühobst. Während sie sonst mit der Heiterkeit und der Ruhe eines Gottes darauf warteten, daß Chatillon-Luçay seine Frau in flagranti erwische, daß Lord Bastle endlich seine amerikanische Frau bei Hofe vorstelle, daß die Wahrheit über Barbette herauskomme, beschleunigten sie nun für Gontran durch einen anonymen Brief, durch ihre Einwirkung auf den Prinzen von Wales und durch eine hohe Prämie diese drei Ereignisse. Sobald sie in einem Salon ein geistreiches Wort, einen neuen Vergleich hörten, telephonierten sie gleich nach Hause, um sicher zu sein, daß es noch vor dem Tode ankomme. »Lieber Bruder,« telegraphierten sie, »prachtvolle Nacht. Yvonne hat erhöhten Sternenhimmel Erhöhung für große Schrift an Schreibmaschine verglichen ...« So sehr erschienen die neuen Metaphern Gontran als wichtige Neuigkeiten! An dem Tage, an dem sie mich einluden, wußte ich, daß sie in meine Liebe eingreifen würden.
Es machte mir Spaß, ihnen als Treffpunkt die mittelste Insel auf dem Opernplatz zu bezeichnen, um jede Spur zu verwischen. Das war, als brächte man zwei Jagdhunde an einen Wechsel, wo sich alles Wild des Waldes kreuzt. Ein Geruch, der viel gemeiner war als bei ihren gewohnten Jagden, führte sie irre. Eine viel raschere Bewegung als die des Gesellschaftslebens betäubte sie hier. Die Hände, die sich nach den Autobusnummern ausstreckten, schienen sich ihnen nach Nummern des Flirts, der Leidenschaft zu recken. Sie sahen Anfänge, Entwürfe von Bekanntschaften, die in einer Woche schon dem Tagesbericht die Selbstmorde und Betrugsaffären liefern sollten, sie sahen einen ersten Kuß, einen Bruch. Um den sterbenden Gontran zu befriedigen, wäre es notwendig gewesen, daß die Welt liebte, daß sie diesen vulgären Rhythmus verlernte. Sie folgten mir mit Bedauern, das übrigens rasch schwand, als sie in einer Konditorei am Boulevard eine Freundin bemerkten, und Jérome trat unter einem Vorwand ein, um zu sehen, von welcher Beschaffenheit die Bonbons waren, die sie anbot. Der Himmel war ganz blau, Paris sah wie gefirnißt aus. Ich ging zu ihrer Rechten, um nicht wie ein Dieb zwischen zwei Gendarmen auszusehen, und mit meiner rechten Seite war ich in der Sonne und hatte freie Wahl. Die Herzseite stand unter ihrer Kontrolle. Ich fühlte, daß sie mich entweder zu einem endgültigen Bruch oder zu einer Versöhnung führten, und folgte ihnen in den Jockeiklub.
Es war die Einweihung des neuen Klubhauses, ein historisches Datum. Der Verlust des alten Hauses schien den d'Orgalesse eine ebenso furchtbare Zerstörung wie die der Bibliothek von Löwen. Die Klubs, die berühmten Restaurants waren für sie schwer von Geschichte beladene Stätten, die Kulissen des wahren Theaters, die empfindlichsten, zugleich aber auch die ruhigsten Punkte von Paris, wo Haß, Liebe und Gleichgültigkeit in einem noblen und friedlichen Automatismus aufeinandertrafen und sich kreuzten, bei einer Hitze, die, von den Oberkellnern am Thermometer überwacht, hier als die dem menschlichen Geschlecht zuträglichste empfunden wurde. Es waren ihre Kathedralen. Daß der Jockeiklub die Rue Aubert verlassen, daß die französische Aristokratie in Liebes- oder Spielstimmung nicht mehr an dem Friseurladen aus der Regentschaftszeit im Parterre vorbei oder, wenn es zu regnen anfing, nicht durch das Grand Hôtel gehen, nicht durch die ganze, von Südamerikanern wimmelnde Straße und von der Treppe ab durch die Soubise und Grammont sich durchdrängen mußte – das alles schien ihnen unfaßbar und verwirrte ihren Orientierungssinn. Daß die Veranstalter der Hindernisrennen nicht mehr zweimal am Tag den mit Zierat überladenen Aufzug besteigen sollten, daß an so vielen Häuptern berühmter und steinreicher Familien der seit fünfzig Jahren unveränderliche Geruch derselben Seife aus der Waschtoilette nicht zu riechen sein sollte, empfanden sie wie eine Herabsetzung, als wären dadurch die Fundamente ihrer Kunst und der Leidenschaften in Paris erschüttert. So beeilten sie sich denn, in das neue Haus zu kommen, in ängstlicher Erwartung, welche Windrose, welcher Kreuzweg der Herzen der neue Jockeiklub von nun an bedeuten würde.
Beim Übergang vom Plüsch zum frischen Stuck lernten die alten Diener das Niesen, und wenn ihre Augen zu den Fenstern schweiften, vermißten sie die Zimmer des Grand Hôtel gegenüber, wo man so viele zerstreuende Schauspiele wahrnehmen konnte, ärgerten sich über die Spatzen und Amseln, fluchten dem Kindergeschrei, das jetzt an Stelle des mannhaften Lärms der Rue Aubert aus dem Garten eindrang, und stürzten sich auf die schäbigen Überzieher der französischen Aristokratie, wie auf die Treue selbst. Das war alles, was von dem falschen Korduanleder, von Samt, Plüsch und von den Glockenzügen, deren Quasten mit Fransen besetzt waren, noch übrig blieb. Nichts war ihnen nach Wunsch. Statt zu verdunkeln, glänzten die Spiegel; statt daß sie einen vertrauten Reflex gegeben hätten, sah man sich in ihnen mit allen Einzelheiten und wurde ganz persönlich von Spiegel zu Spiegel zurückgeworfen. Wenn ein Mitglied Toast bestellte, konnte man nicht mehr der Hausmeisterin telephonieren, die sie im Hinterzimmer des Friseurs zubereitete. War einem Mitglied ein Hosenknopf abgefallen oder hatte einer einen Riß an seiner Kleidung, so gab es nicht mehr die Haushälterin des alten Arztes vom vierten Stock, die es reparierte. Sie vergingen fast in den langen Sekunden, die sie zwischen zwei schalldämpfenden Türen mit den wohlriechenden Platten zubringen mußten. Man kannte nicht einmal mehr die Spezialitäten des Jockeiklubs, welche vor dem Umzug Spinat und Pflaumenkompott waren. Statt zu ihren eingewurzelten Gewohnheiten, schienen die Herren wie in ein Hotel zu kommen.
Jérome und Pierre d'Orgalesse tranken mit den Augen, was an dem Schauspiel noch Neues, Unberührtes war. Sie gaben in Gedanken schon diesen Wänden, die an Geheimnissen, an pathetischen Erinnerungen noch leer waren, gleichsam als ersten Anstrich die künftige Erinnerung an dieses Einweihungsfrühstück mit dem Freunde Bella Rebendarts und die an ihren kranken Bruder. Das Fehlen der runden Sofas mitten in den Salons, welche früher fünf Herzögen gestatteten, sich zu unterhalten, ohne einander zu sehen – letzte Erinnerung an die runden Tische der Wälder –, das Verschwinden der Geweihe auf der Treppe, das dem Aufwand an Geist in den Gesprächen der hohen französischen Agrikultur aus ihrem Anlaß ein Ziel setzte, schienen ihnen wie eine Veränderung der moralischen Gewohnheiten. Die Verschiebung der Frühstückszeit um eine Viertelstunde war wie der Beginn eines neuen Fahrplans der Gefühle. Einzig der »Punch« und die »London Illustrated« verbanden im Geiste der Dienerschaft und der Herren den alten Klub mit dem neuen. Man riß sie sich aus den Händen wie einen Identitätsbeweis. England hat in der Tat manches Gute. Doch der alte Geruch der Pfeifen und schlechten Zähne, den die aus dem Orient zurückgekehrten Botschafter und der Bankier, der aus dem Boudoir seiner Tänzerin kam, so gern haben, war durch ein Reklameparfüm ersetzt. Es war der erste Duft dieses vielfältigen Wesens; Jérome und Pierre atmeten ihn mit Lust ein. Sie überhäuften mich mit Freundlichkeiten. Sie stellten mich allen vor. Ich hatte die Empfindung, daß sie mich hergebracht hatten, um mich in diesen Vorstellungen einzumauern, wie man eine Katze oder ein Goldstück unter dem Grundstein eines Gebäudes einmauert. Plötzlich verstummten sie, sahen auf eine Gruppe, die hereinkam, machten sich Zeichen. Das Wild war auf dem Wechsel erschienen. Es war Bella und Rebendart.
Der einzige leere Tisch war dicht bei unserm. Bella verzögerte ihren Schritt; ich fühlte, daß sie überlegte, ob sie den Mut fände, sich mir gegenüber zu setzen, um mir den Anblick ihres Schwiegervaters zu ersparen. Doch Rebendart hatte schon Platz genommen, und ich sah sie vom Rücken. Sie saß gebeugt, bot mir den Verschluß ihres Halsbandes, die Schnürseite ihres Kleides, den Knoten ihrer Haare, die Knöpfe ihrer Bluse dar, denn sie liebte es, ihre Kleider rückwärts zuzuknöpfen, niemals vorn oder seitlich. Sie fühlte meine Blicke auf sich. Sie fühlte, daß alle ihre Gefühle, ihr ganzer Widerstand ihren Verschluß hinten hatten. Ich hatte alles, wodurch man sie entkleiden und schwach machen konnte, unter meinen Augen. Es gibt nichts Lastenderes als den Kummer auf den Schultern einer Frau. Wie die hundertzwanzig Kilo, die er stemmt, auf den Athleten wirken, so wirkte auf Bella der Gedanke an meine Gegenwart. Wie war doch der Gewichtsrekord der Melancholie geschlagen! Wie willkommen war der berühmte Spinat! Sobald er serviert war, ließ sie sich gehen, beugte sich über ihn wie über eine Wiese. Nach vorn plauderte sie und lachte, aber ihre Schultern und ihr Kreuz schienen zusammenzubrechen. Zuweilen tastete sie mit der Hand, die wie die Hand einer Freundin war, nach dem Verschluß des Kolliers, nach dem ersten Knopf der Bluse, nach dem Kamm im Haar. Und als wenn sie meinen Blick gefühlt hätte, verschwand sie wieder. Es war wie die Hand einer Diebin, doch sie kehrte stets leer zurück. Wie ist doch der Schmerz schön an einem schönen Wesen! Bella war kräftiger, aufgeblühter als zur Zeit, da wir uns trennten. Was bei andern Frauen ein Kind bewirkt, verdankte sie unserm Zerwürfnis. Der Kummer hatte ihre Schultern gerundet, ihrem Rücken eine schöne Fülle verliehen, die Arme etwas stärker, die Muskeln des Halses verschwinden gemacht, indem er sie einhüllte. Nie mehr werde ich den leichten und geschmeidigen Körper an mich drücken. Er war jetzt in einer fleischigeren und weicheren Haut geborgen. Ich konnte nur noch ihn fühlen, wie er sich am Herzen dieser andern Frau wehrte, die ihn durch eine unsichtbare Naht, welche die auftauchende Hand immer aufs neue zu suchen schien, eingeschlossen hielt. Sie bewegte sich fast nicht, sie wußte, daß bei einer Neigung nach rechts oder links sie mir den Kopf Rebendarts enthüllen würde. Ich verstand jetzt das Martyrium jener Helden der Bibel oder des Altertums, die sich nach dem Menschenwesen, das ihre einzige Sorge war, nicht umdrehen durften; das sie dem Tode überlassen mußten, wenn sie es ihm nicht entreißen konnten. Geneigt wie ein Bug, wie mein Bug, spaltete Bella während dieser Mahlzeit den Strom meiner Übel, indessen Rebendart, als neue Sirene, durch geistreiche Angriffe gegen Tacitus sie in die Rechtswissenschaft und in die Geschichte zu locken versuchte. Die Brüder d'Orgalesse genossen diese Marter. Der Jockeiklub war kein Opferstein mehr ohne Opfer. Einer von ihnen stand unter einem Vorwand vom Tisch auf, um Gontran zu telefonieren, daß sie Bella und mich in dem ganz neuen, von den Oberkellnern gewebten Netz gefangen hielten, indem diese von unserer Tafel zu ihrer in einer für Bella schmerzlichen Gemeinsamkeit den Senf, das Salz und das Brot hinüberreichten. Rebendart aß den Rest meiner Pflaumen. Man nahm Bella die Früchte weg, um sie uns vorzusetzen. So erhielt ich von Bella, was wir uns einst als Liebende anzubieten pflegten: Kuchen, Äpfel. Sobald der eine Tisch irgend etwas wünschte, bot es ihm der andere. Sie nahm Kaffee. Ich glaube, sie pflegte ihn nie zu trinken. Darauf verlangte ich recht laut ebenfalls Kaffee. Ich sah, wie sie zitterte; sie wußte, daß er mir schädlich und verboten war. Ich legte damit Hand an ihre empfindlichsten Verschlüsse. Wir traten aus dem Bereich der Nahrungsmittel und in das Gebiet der Genußmittel ein. Dieser Kaffee am Ende der Mahlzeit, für sie einer der letzten Sprünge, um in die Freiheit, in die Gleichgültigkeit zu entkommen, für mich ein ganz, ganz leichtes Opfer meines Lebens, erhob uns einen Augenblick lang mit geschärften Sinnen über dieses Refektorium. Man bediente uns zu gleicher Zeit. Ich richtete es so ein, daß ich meine Tasse zu gleicher Zeit mit ihr an den Mund hob, jedem Geräusch ihres Löffels antwortete meiner. Als sie ihre leere Tasse niedersetzte, hörte sie genau zur selben Sekunde die meine auf dem Tisch. Dieser Kaffee fügte während eines Augenblicks unser beider Dasein eins ans andre, zwang uns zur gleichen Bewegung. Sie mußte jetzt an die Liebe denken. Ich bestellte laut eine zweite Tasse. Ich verlangte sie heißer und schwärzer. Sie beugte den Kopf nieder, schien noch schwächer, so daß ich über ihre Toque hinweg Rebendarts Stirn sah. Plötzlich überrascht und gezwungen, mich in diesem Kaffeespiel wiederzufinden, wehrte sie sich, mir auf den zweiten Absatz unseres geheimen Einverständnisses zu folgen. Der erste Oberkellner und der Verwalter kamen, durch meine Reklamation beschämt, selbst gelaufen, um zu sehen, ob der Kaffee mir jetzt stark genug sein werde. Auch die Nachbartische interessierten sich jetzt für meine Kaffeekanne. Der Prinz von Clermont nahm den Verwalter beiseite und ermahnte ihn, den Umzug zu nutzen, um endlich etwas anderes als gebrannte Eicheln zu servieren. Während dieser Vorbereitungen scherzte ich, tat lustig wie einer, dem man das fliegende Trapez oder die Chloroformmaske zurichtet. Dann trank ich unter den ängstlichen Augen von zehn Greisen, die unter Ludwig XV. den Regentschaftsrat gebildet hätten, die Mischung, welche den Ansturm meines Blutes auf mein zu schwaches Herz beschleunigen sollte. Sie schmeckte nach dem Pfropfen. Es war der erste Kaffee in meinem Leben, der nach dem Pfropfen schmeckte. Ich trank ihn in einem Zug hinunter, und als ich aufs neue meine Blicke nach Bellas Tisch richtete, sah ich – o Glück –, daß Rebendart, der Macht des Filters weichend, verschwunden war.
Rebendart war schlechter Laune in die Kammer gefahren, wo er erfuhr, daß man ihn über das Streichholzmonopol interpelliert hatte. Nicht daß es ihm unangenehm gewesen wäre, interpelliert zu werden, aber der Redner, ein junger Radikalsozialist, der keinen Platz in den Bänken der Linken gefunden hatte, hatte ihn von der rechten Seite her angegriffen. Obgleich seine Meinungen im Laufe seiner Karriere sich etwas geändert hatten, liebte es Rebendart nicht, mit dem Gesicht nach der rechten Seite hin Linksmeinungen zu vertreten und umgekehrt. Seit fünfzehn Tagen nun zwang ihn dieser Pujolet, durch seine unermüdlichen Fragen über die Staatseisenbahnen, über einen royalistischen Präfekten, über die Tätigkeit der Kongregationen sich mit dem Gesicht gegen seine Kollegen von der Akademie und vom Jockeiklub zu wenden, um seine freidenkerische Gesinnung und seine Liebe zur Republik zu manifestieren. Er sah alle diese Gesichter, aus denen der stille Vorwurf um so deutlicher ihn ansprang, als sie von keinen Haaren und schwarzen Bärten beschattet waren, sich seinen Blicken geniert entziehen. Wahrend Pujolet, weil er mitten unter der Reaktion saß, noch erregter, sich wie unsinnig gebärdete und Rebendart zu äußerst republikanischen Bekenntnissen antrieb, tat die Rechte, als interessiere sie das Schauspiel gar nicht, und mißbilligte diese forcierte Vorstellung durch ihr Schweigen. Pujolet ließ nicht locker und verlangte zu wissen, ob Rebendart entschlossen sei, ein Verbot der Prozessionen in Erwägung zu ziehen. Nun mußte dieser angesichts von Barrès und Denys Cochin darauf eingehen. Das war wahrhaftig geschmacklos. Es schien Rebendart, als hätte sich die Akustik der Kammer, das heißt die seines Herzens, plötzlich verändert. Er erkannte die Klaviatur dieser in ihrer Form einer Schreibmaschine so ähnlichen Sprechmaschine nicht wieder. Mit welcher halben Wendung der Erleichterung warf er sich gegen die äußerste Linke, wenn zufällig ein Kommunist in die Debatte eingriff, darauf mit dem gleichen Schwung nach rechts, wenn ein Zwischenfall in der Sitzung Gelegenheit bot, in ein Lob auf unsere Armee auszubrechen. Wie genoß er dabei einmal nach dem andern das ganze Vergnügen seiner zwiefachen Offenheit. Ich aber, ich segnete Pujolet, dank welchem Bella jetzt allein hier im Jockeiklub blieb, drei Schritt entfernt, und wie durch einen Abgrund von mir getrennt, jedoch unbeweglich und unsicher über ihre Flucht, weil ihre Ringe, ihre goldenen Kästchen, ihre Agraffen, der ganze gewohnte Krumenersatz noch vor ihr um ihre Untertasse zerstreut herumlagen.
Es war schönster Sonnenschein. Es war gerade zwei Uhr. Wir hatten den längsten Tag des Jahres. Der Wind hatte sich gelegt. Das schöne Wetter drang in den Klub ein bis ins Wasser der Karaffen und des Bassins. Der Monat ging zu Ende. Es war der Abschluß eines Kapitels in der Geschichte des Windes, des Regens und der Bewölkung, doch jeder meinte, es handle sich um eine Erholung in seiner Existenz, und bremste seine Bestrebungen. Nur meine beiden Gastgeber dachten an ihren sterbenden Bruder und beschlossen, nicht ohne Neuigkeiten zu ihm zurückzukehren. Wären sie nicht hier gewesen, dann wäre Bella ohne Zweifel rechts und ich links gegangen, doch die beiden Brüder d'Orgalesse stürzten sich vor diese offene Fuge unserer Schicksale, um sie zu löten. Sie gingen hinüber, Bella zu begrüßen, erinnerten sie, daß sie versprochen hatte, sie zu den Olympischen Spielen zu begleiten; und bevor sie noch wußte, daß ich mitkam, saßen wir schon im Auto.
Der Wagen war eng, und wir saßen aneinander gepreßt. Ich saß auf dem Klappsitz, Bella gegenüber, denn die d'Orgalesse hatten dafür gesorgt, uns gleich einander gegenüber zu setzen, und jede Bewegung der vier langen brüderlichen Beine drückte mich gegen meine Freundin. Und wenn sie es für notwendig hielten, verstärkten unsere Nachbarn durch physischen Druck den ohnehin im Auto bereits herrschenden starken moralischen. Bella, die nicht wußte, ob ich ein Komplize war, hielt ihren Oberkörper, ihr Bewußtsein, ihr Leben rein und aufrecht und überließ mir nur die unempfindlichen Beine. Das Kinn um einen Zentimeter gehoben, die Pupillen hoch im Auge, und mit gespannten Nüstern war sie auf dem höchsten Punkt der Würde, welche je eine Kameradin im Auto erreicht hatte. In den Schraubstock meiner Kniee plötzlicher als in eine Wolfsfalle hineingeraten, wechselte sie Schweigen, da sie kein Gespräch wechseln konnte, und zwischen den einzelnen Worten, welche ihr die d'Orgalesse entrissen, fühlte ich die Stummheit ihres Martyriums. Die Brüder aber konnten ihre Freude darüber kaum zurückhalten, daß sie in dieser engen Kammer eine so dichte und unverfälschte Leidenschaft beherbergten. Noch nie war es ihnen gelungen, so eng beieinander und so nah bei sich verzankte Liebende und zwei Abkömmlinge der feindlichen Familien einzuklammern. Wir waren für sie Rodrigo und Ximene, Romeo und Julie, an den Beinen gefesselt und spazieren gefahren in diese magnetische, von der großen Pariser Ringbahn eingefaßte Gegend, wo alles Pathetische, das die allzu schwere Luft von Paris über einen sammelt, mit Prasseln sich entzündet und aufflammt, sobald es mit dem Sauerstoff von Nanterre und St. Denis in Berührung kommt. Es war schlau und mit Absicht, daß die d'Orgalesse uns zu den Olympischen Spielen fuhren. Sie wußten, daß man alle Heilmittel, alle Lösungen für die Gefühlskrisen, die in Paris entstehen, in Chantilly, in Orsay am besten finden konnte, so wie man zuweilen die Brennpunkte außerhalb der Ellipse suchen muß. Wir machten in diesem Augenblick unter ihrem Befehl einen jener verzweifelten Ausfälle gegen Champigny hin, die bei den belagerten Pariser Herzen so beliebt sind, und sie hüpften vor Vergnügen, als wir Paris hinter uns hatten und draußen den ersten Raben aufscheuchten.
Bella schwieg. Ich fühlte ihren Körper in meinem, als wenn er dort geboren werden sollte, und ebenso unterscheidbar und feindlich, wie im Mutterleibe der Körper des Neugeborenen ist. Ihr Blut folgte einem ganz andern Lauf als meins. Sie schwieg übrigens in ihrer Freude ebenso, wie wenn sie gleichgültig war. Das Wort war für Bella ein Telephon, dessen sie sich nur gezwungen bediente. Ihre Monologe waren ein Kopfnicken, ihre Dialoge ein Schmachten. Ausrufe, Seufzer, onomatopoetische Worte: die Sprache, deren sich Bella in der Welt bediente, war die gleiche wie die ihrer Umarmungen. Nicht daß das physische Leben in Bella irgendwie vorherrschte. Im Gegenteil. Das Wort war ihr zu roh. Sie machte sich nichts aus diesem Geräusch des Gedankens, das nur ein Ergebnis gewisser Kniffe ist, von welchen ein jeder ihm die Wahrheit, die Wärme oder den Wahn entzieht. Sie saß einem nie gegenüber, wie es andere Menschen tun, so daß sie einen hören, einem auf den Mund sehen konnte. Sie nahm die Stellung eines Dings, einer Sache an, Haltungen, als wäre sie ohne Ohren, ein anderes als menschliches Lebewesen, das mit einem durch andere Bande als durch die anerkannten und legitimierten Sinne verknüpft ist. Man mußte sie in der Beschaulichkeit, im Gemüt erreichen, in einer Wärme der Seele, die von unserer Temperatur und unserem Jahrhundert unberechenbar weit entfernt ist. Ich fragte mich in der Tat oft, wozu sie gesprochen hatte, warum sie im Sprechen diesen Mund, diese Zähne, die in meiner Vorstellung ebenso fern waren wie die Augen und die Blicke, der Wirklichkeit genähert hatte. Ich hatte zuweilen den Eindruck, daß einzig ihre Sinne unsinnlich seien. Zum erstenmal traf ich eine weibliche Seele von so eigentümlicher Beschaffenheit. Ich hatte in bezug auf die Eigenschaften der Frauen, über die Seelenform der Frauen aufs neue die gleiche Ungewißheit, wie ich sie als Gymnasiast über ihre körperliche Form hatte. Bella gab mir die Unwissenheit, die Jugend wieder. Ich liebte sie, wie nur ein junger Mensch zu lieben fähig ist, mit Verehrung für ihren Körper, mit Sinnlichkeit für ihren Geist. Ich kannte keinen der Gründe, die sie haben mochte, mich zu verlassen, aber ich ging darauf ein, bei diesem letzten Zusammentreffen, dem ersten Match der Olympischen Spiele, den Konflikt, der uns trennte, schweigend mit ihr auszufechten. Ich fühlte sie voller Haß. Sie hatte einen mörderischen Blick in den Augen. Gerade diesen Augenblick wählte der Chauffeur, um einen Hund zu überfahren. Welche Qual, in dem Moment, da man gerne Menschen töten würde, plötzlich das Blut eines Hundes fließen zu sehen.
Der Hund war nicht danach, um die d'Orgalesse zu interessieren. Es war ein Dorfhund ohne Rasse, ohne Halsband und Erkennungsmarke, der Hund eines sicherlich nicht ehebrecherischen Lehrers oder eines Wegebaumeisters, der kein Spieler war; ein Geschöpf, das man weder von nahe noch von ferne mit einer gesellschaftlichen Intrige in Verbindung bringen konnte. Bella war ausgestiegen, obgleich unsere Begleiter nicht geneigt waren, sich über ein Tier aufzuregen. Jene Stellvertretung des menschlichen Leidens, welche die Affen, die Hunde haben, machte ihnen nicht viel Eindruck. Sobald das Leid nicht das persönliche Gut eines Menschenwesens war, interessierte es sie nicht mehr als die Elektrizität, der Dampf oder die Bewegung der Vulkane. Der Übergang vom Nichts des Gedankens zum Nichts des Lebens durch den Tod, ein Vorgang, den sie für göttlich erachteten, verletzte sie beim Tier. Die Hunde waren ihnen außerdem auch wegen der Flöhe zuwider, und sie versuchten Bella zu erschrecken.
»Lassen Sie ihn doch, Verehrte. Er sieht ganz so aus, als wäre er tollwütig. Es ist ihm übrigens nichts geschehen.«
Bella streichelte den Hund. Er lag auf der Seite. Das Geschick hatte ihm beigebracht, sich tot zu stellen und die Pfote zu reichen, wie es die Dresseure machen, indem es ihm die Rippen und das Schienbein brach. Unsere Taschentücher dienten zum ersten Verband. Die Pfote in die Initialen von Rebendart eingewickelt, den Leib in die Initialen der Dubardeau, schien er sich wohler zu fühlen. Doch man brauchte einen Tierarzt. Es war zum erstenmal, daß die d'Orgalesse mit einem Tierarzt zu tun haben sollten. Ihre schlechte Laune wuchs. Von Scherern und Verschneidern hatten sie nichts zu lernen. Aber eine Masseuse oder ein chinesischer Fußpfleger wären bei dem verwundeten Dachshund auch nicht am Platz gewesen. Da kam ihnen ein Gedanke:
»Sagen Sie, Philippe, das neue Gartenhaus Ihres Onkels ist nur fünf Minuten von hier entfernt. Charles Dubardeau dürfte wohl da sein. Er war es doch, der einem schwarzen Windhund die Pfote eines weißen Setters aufgepfropft hat?«
Onkel Charles war da.
»Also vorwärts! Der Hund stirbt!«
Außer sich vor Eifer, Bella bei den Dubardeaus einzuführen, fanden sie sogar in einer Tasche ein altes Stück Zucker, das der Hund leckte, bald aber mit bittrem Schlund traurig zurückwies, indem er sich fragte, was für einen Spaß die Menschen wohl daran fanden, verwundete Hunde mit Salzstücken zu füttern.
*
Bella war ganz bleich. Rebendart hatte ihr während des Frühstücks anvertraut, daß die Dubardeaus am Nachmittag auf ihrer neuen Besitzung in Marly irgendeine Verschwörung organisierten. Er wußte aus sicherer Quelle, daß der Marschall Bauer, Emanuel Moïse und der Chef des größten Abendblattes gegen vier Uhr sich dort treffen sollten. Eine sonderbare Verschwörung, an der der spanische Botschafter, der Direktor des Odéons, Antoine, teilzunehmen wagten, und Blavène, der infolge der Amnestie nach fünfjähriger Verbannung, zu der ihn der Staatsgerichtshof verurteilt hatte, tags zuvor aus Jersey zurückgekehrt war. Bella suchte zu entkommen und den Hund den d'Orgalesse zu überlassen. Doch sie paßten auf, stiegen zuerst aus und gingen voran. Sie mußte nun mit halbgeschlossenen Augen, wie eine Blinde von dem gemordeten Hund in das Haus der Widersacher gezogen, folgen. Sobald das Haus in Sicht kam, schien es ihr, daß meine Onkel ein recht merkwürdiges Verschwörerkostüm gewählt hatten. Sie trugen Leinenkittel, die man für zehn Franken in der Umgebung der medizinischen Institute kauft, jene Kombination für Rendezvous mit der Anatomie oder mit logarithmischen Rechnungen, jedoch von Gipsflecken und Ruß beschmutzt. Der Marschall Bauer und Antoine, in Monteurkitteln, die gerade damit fertig geworden waren, die Fensterluken des Speichers einzusetzen – wobei Antoine, der nur Häuser aus Leinwand, Fensterrahmen aus Pappdeckel gewohnt war, sich gewaltig angestrengt hatte –, hoben sich von der Mansarde wie ein Beobachtungsposten ab. Die Verschwörung hatte nämlich einen viel realeren Charakter, als Rebendart glauben mochte. Der Bauunternehmer, welcher den unbewohnbaren Pavillon instand setzen sollte, hatte wegen des Streiks sein Wort nicht gehalten, und meine Familie, entschlossen, am ersten Sommertag einzuziehen, hatte sich unter dieser urzeitlichen Notwendigkeit, wie die Kinder Noahs beim Austritt aus der Arche, in Gruppen von Schreinern und Maurern aufgeteilt. Da es die erste Nacht geregnet hatte, waren die Decken geborsten. Es war nicht einer von meinen Onkeln, in dessen Bett es nicht hineingeregnet hätte, und sie nahmen, um sich zu schützen, je nach ihrer historischen Vorliebe, ihre Zuflucht zum Zelt, zur Baracke, zur Wölbung oder zu dem am Bett befestigten Regenschirm. Sie beschlossen am Morgen, ihre Freunde aufzurufen, jene unter ihnen, die sehr stark waren, die am Rand eines Daches gehen, Eisenstangen biegen, Balken tragen konnten; und wäre die Polizei Rebendarts scharfsichtig gewesen, so hätte sie dieser Verschwörung, welche solche Riesen wie Bauer und Athleten von Ruf wie den spanischen Botschafter vereinte, einen bösen Ausgang für die Angegriffenen prophezeien müssen. Nur Onkel Jules war nicht erschienen, da er in einem entgegengesetzten Ungestüm sich seit sechs Wochen darauf geworfen hatte, das Ion zu zerlegen. Er hoffte heute Erfolg damit zu haben. Sooft die Pforte kreischte, glaubten die Verschwörer, er sei fertig geworden und käme plötzlich, und daß sie von dieser Stunde an in einer Welt zweigeteilter Atome bauten. Der Wind blies. Es war für die Nacht ein Sturm zu befürchten, und in dieser letzten Frühlingsstunde warben die Dubardeaus durch Rohrpost oder Telephon die Politik, die dramatische Kunst, die Strategie an und befestigten mit ihrer Hilfe Gebälk und Läden. Antoine lief zuweilen ins Freie vors Haus, nahm es prüfend in Augenschein, wie man Dekorationen betrachtet, machte, sobald er noch etwas Licht durch Balken und Mauern sickern sah, darauf aufmerksam, und alle hasteten sie dann wie die Biber, wie bei einem Dammbau. Es war ein elektrisch geladener und wilder Tag, als wäre meinen Onkeln durch die eisernen Antennentürme von Sainte-Assise ausnahmsweise ein letzter wiedererschienener Urweltfrühlingstag geschickt worden, glühend in reinen Farben, mit welchen die ersten Menschen unbeholfen ihre Gefühle ausdrückten: ein rebellisches Blau, ein echtes Gelb, ein trügerisches Rot. In ihrer Laboratoriumsuniform mit Sägen und Bohrern bewaffnet, boten sie wahrhaftig den Anblick von Leuten, die irgendein gewaltiges Experiment auszuführen im Begriffe sind. Es war auch eins. Es war eins, das, wenn es gelingt, den Menschen ein Haus verschafft.
So überraschte denn Bella diese Muster von Ehrgeiz, Selbstsucht und Verneinung draußen bei einer Verschwörung gegen Wind und Regen, während im Innern sich ihr ein Komplott gegen die Wände des Salons enthüllte. Einzig Blavène hatte seine Kleidung anbehalten, den Anzug, den er an dem Nachmittag, an welchem er durch die Agentur Reuter seine Amnestie erfuhr, in Jersey fertig gekauft hatte, als er in seiner Aufregung kein anständiges Geschäft fand, weil er den Photographen mit dem Schneider, die Bäckerei mit dem Wäschegeschäft verwechselte und mit dem Kopf gegen die Glasscheiben stieß, wie ein Vogel, der seine Freiheit fühlt. Meine Onkel hatten ihn trotz seiner Magerkeit und körperlichen Schwäche eingeladen, in dem Wunsche, ihn gleich vom ersten Tag an durch diese handwerkliche Mitarbeit mit unsern Großen und Helden zu vereinen, ohne daß er es nötig hätte, die Mittelglieder zu passieren. Mit Rücksicht auf seinen neuen Anzug stellten sie ihm auch keine schweren Aufgaben. Sie hatten ihm zuerst aufgetragen, aus dem Park und aus dem Haus die von den früheren Einwohnern zurückgelassenen Spuren zu entfernen. Dieser Auftrag schien ihm erst peinlich, weil das Haus früher der Stadt Paris als Waisenhaus gedient hatte. Blavène beseitigte diese kindlichen Spuren nur mit Bedauern. Er fand nicht gern im Gesträuch statt der Nester Kinderverstecke, wo nur ein Holzschemel und ein Federkasten als ihre einzige gefühlvolle Verwandtschaft übrig geblieben war. Er konnte nicht umhin, die herumliegenden Schulbücher zu lesen, aus welchen ein anonymer Menschenfreund jede Anspielung auf Väter und Mütter, auf den Vater von Bayard, auf die Mutter des heiligen Ludwig ausgemerzt hatte, und in denen alle berühmten Taten Findelkinder und Bastarde zu Urhebern hatten. Nach vierjähriger Verbannung wieder in Frankreich, war er darauf vorbereitet, ein Vaterland von schwacher Geburtenzahl zu finden, ein Land von Junggesellen zu sehen, doch gewiß nicht ein Land von Waisen. Deshalb fühlte er sich nicht wohl, obgleich seine Wirte ihn wie einen Genesenden behandelten und, um ihm ihr Vertrauen auszudrücken, ihm mit einer gewissen Zartheit die feineren Arbeiten beim Holzschuppen, die Reinigung der Spiegel und die Auffrischung der Malerei übertrugen. Aus dem Exil, aus dem Gefängnis fast, zu kommen und mit Königsblau oder Karmin die Ecken eines Louis-Quinze-Salons zu überstreichen, das mißfiel ihm. Er vermochte es heute nicht, Frankreich mit solchen Farben zu bemalen. Er fühlte diese schönen Farben nicht mehr in sich. Es ist auch nicht sehr vergnüglich, die Frau, die uns gestern betrogen hat, selbst aufzuputzen. Er ließ seine Blicke über die Landschaft schweifen, an deren Ende sein Auge nicht mehr auf den Ozean stieß, sondern auf Wolken über der Ile-de-France, einer Insel im Himmel. Darauf versuchte er das Kupfer mit Miror, die Spiegel mit Ozor zu putzen, doch er vertrug diese Arbeit, welche zum Zweck hatte, einen reineren Glanz aus ihm herauszuholen, seinen inneren Glanz allmählich vom Exil zu erholen, nicht lange; und indem er die Töpfe mit Putzmitteln stehen ließ, wie man die Schminktöpfe läßt, wenn man ans Baden denkt, zog er seinen Rock aus und machte sich an die schweren Arbeiten. Er trug jetzt nur noch Balken, richtete die Einfassung des Brunnens auf. Ebenso wie er am Morgen zu Hause sich nur der derbsten Sprache ohne Geist und Witz bediente und die Muttersprache mit den alltäglichsten Ausdrücken wieder aufnahm, so nutzte er die ihm von meinen Onkeln gebotene Gelegenheit, um sich der heimatlichen Erde durch das am meisten Lastende und rein Stoffliche zu bemächtigen. Bei seiner Rückkehr nach Frankreich waren es die Worte Brot, Wein, Gute Nacht, die er mit größter Freude aussprach. Nun fühlte er sich gereinigt genug, um mit den Bausteinen selbst, mit dem Holz, dem Herzen der Steinbrüche und der Wälder in körperliche Berührung zu kommen. Und meine Onkel, die das sehr gut verstanden, zögerten nicht mehr, ihm Mörtel auf die Schulter zu laden. Wir hörten ihn auf der Leiter lachen. Er hatte bei diesen Strafarbeiten des Glücks, in diesem Zuchthaus der Freundschaft endlich das Lachen wiedergefunden, dieser Maurerlehrling seines Landes ...
Die Geschäftigkeit der Wirte und ihrer Gäste war so groß, daß uns niemand kommen sah. Nägel zwischen den Lippen, die Hände schmutzig, begrüßte mich mein Vater, indem er mich mit der Schulter berührte. Er hatte es noch nicht gelernt, die Nagelspitzen in den Mund hineinzuschieben, wie es die Schreiner machen. Er versuchte, mich zu umarmen, streifte meine Wange mit seinen Stielen aus Eisen: Kuß eines Marsbewohners. Der Hund hatte sich beruhigt. Bella betrachtete mit Erstaunen meine Onkel an der Arbeit. Phantasie und Schöpferfreude ließen ihre Gesichter auf den Leitern und Dächern von dem gleichen Strahl wie in ihren Laboratorien erglänzen. Es gab nur etwas mehr Schweiß, der die primitiven menschlichen Arbeiten zeichnet. Sie hatten im Laufe des Tages neue Arten Schrauben einzudrehen, Drehriegel anzubringen, Behälter zu leeren entdeckt. Eine ganze Flutwelle genialer Erfindung war heute über die kleinen handwerklichen Fertigkeiten und Handwerkergewohnheiten hereingebrochen. Vier Paar schöpferischer Augen hatten die Hämmer, Zangen, Kleistertöpfe überwacht. Nun hißte mitten im Gewitter, das ausbrach, trotz einem Blitz und dem Einspruch des spanischen Botschafters, der keine Unvorsichtigkeiten liebte und erzählte, er habe einen Turner, während er seine Keulen schwang, vom Blitz getroffen gesehen, Onkel Charles als erste Flagge, als Familienflagge gleichsam, den Franklinschen Blitzableiter aufs Dach. Wir waren kaum im Salon um den Hund beschäftigt, den meine Onkel aus Mangel an anderem Werkzeug mit Winkelmaßen, Seilwerk und einer Heckenschere operierten und verbanden, mit Instrumenten, welche dazu dienen, die Häuser zu operieren und zu pflegen, als der Blitz, ohne sich um den Blitzableiter, die Dubardeaus und die Wissenschaft zu kümmern, in einen kleinen Eibenbaum auf dem Hof einschlug und ihn umstürzte. Das war nun Arbeit für Blavène, der ihn auf dem Rücken in die Holzkammer schleppte. Der Regen fiel. Der Baum war schwer. Doch es hätte ihm heute Freude gemacht, auch wenn es richtige Tote gewesen wären.
*
»Bella ist ganz verträumt«, telegraphierten die d'Orgalesse auf der Rückfahrt während unseres Abendessens in Versailles an Gontran ... »Sie und Philippe trinken wieder Kaffee.«