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Fontranges folgte dem Leichenzug an Rebendarts Seite. Er war durch die Gegenwart des Ministers eingeschüchtert, in allen seinen Bewegungen und Gedanken durch die Gegenwart des Todes beengt, und auch die geringe Vertrautheit mit Bella genierte ihn nicht minder. Er war heute ebensowenig dazu geeignet, Bella dem Tod zu übergeben, wie an dem Tage, als er sie Georges Rebendart zur Frau gab; und ebenso wie ein Vater durch die Zeremonie und die ihm auferlegte Haltung seine Gedanken von allem, was nach der Trauung folgen soll, fern hält, ebenso fühlte er sich jetzt nicht berechtigt, an diese erste Nacht, die Bella unter der Erde zubringen sollte, zu denken. Er stellte fest, daß er nicht der Traurigste war. Er sah mich, sah Moïse tief niedergedrückt. Er empfand es als gerecht, daß ihm die andern die Trauer um Bella abgenommen hatten, da er sie ja kaum kannte; er nahm es nicht übel. Er hatte durch den Tod seines Sohnes zu sehr gelitten, um die Trauer nicht als einen Vorzug oder wenigstens als eine Art Eigentum zu betrachten, und er hätte es bei seiner Ehrlichkeit oder vielmehr noch in seiner Höflichkeit als indiskret empfunden, mit seinem väterlichen Herzen heute diesem Leichnam zu nahe zu kommen.
›Ich täusche sie‹, dachte er. ›Sie meinen, daß ich dem Leichenzug meiner Tochter folge, es ist aber noch immer das Begräbnis meines Sohnes ...‹
Er bemerkte, daß er an seinem Hut das Kreppband von Jacques' Begräbnis nur etwas aufgebügelt trug und an seinem Monokel das Band, das er an jenem Tage getragen. Er nahm es sich übel. Er hätte doch wahrhaftig für Bella ein neues Kreppband anschaffen können. Er warf es sich so lange vor, bis es ihn quälte und in die gleiche Bedrückung versetzte, die ihm seit dem Tode Jacques', die Augen zerstreut, die Schultern gebeugt, zur Gewohnheit geworden war. Die Zaghaftigkeit, welche fast der alleinige Ausdruck seines liebenden und feinfühligen Herzens war, gebot ihm, bei dieser Zeremonie die alte Trauer von sich abzutun, die Kleider zu wechseln, bis zum Parfüm seines Taschentuches, das er zu reichlich besprengt hatte; mit dem Parfüm aus Jacques' Zeiten, von Jacques' Tode, das sein Unbehagen vergrößerte. Bella war ihm gegenüber stets gehorsam und nachgiebig gewesen. Jacques konnte doch wahrhaftig seinem Vater solche Bedenken nicht verübeln. Da er aber weder die Schuhe, die er bei Jacques' Totenmesse getragen, noch die Strümpfe, noch das Hemd gleich wechseln konnte, so wollte er doch wenigstens das schmerzliche Aussehen, das seit einigen Jahren seine Uniform mit Jacques' Wappen war, heute abstreifen. Er mußte für Bella seine Haltung ändern. Er richtete sich auf, hob den Kopf, sein Blick wurde lebhafter, er ging mit ungezwungenem Schritt. Einer der Leichenträger hatte Nasenbluten und ließ eine Spur von Blut hinter sich, was einen peinlichen Eindruck im Zuge machte. Er ließ ihm sein Taschentuch geben, zufrieden, sich so des Parfüms zu entledigen, und ohne daran zu denken, daß ein Taschentuch einem Vater in Trauer immerhin sehr notwendig sei. Auf seinem gespannteren Gesicht traten die Runzeln schwächer hervor. Bekannte fanden ihn zwischen Kirche und Friedhof um zwei Jahre verjüngt. Das war, weil er indessen die Trauer um Bella angelegt hatte. Auch der Tag, beim Anbruch neblig, hatte sich aufgeklärt. Zur selben Zeit, wie der Himmel sich von seinen Wolken befreite, befreite sich Fontranges' Herz auf dem Weg über die besonnten Boulevards, durch die im Wohlsein erstarrte Rue de la Roquette unter dem Vorwand der Trauer von seinem Trauerfirnis. Gleich nachmittags lief Fontranges bei Schneidern und in Wäschegeschäften herum, bestellte zu Ehren Bellas einen Anzug, Krawatten, Strümpfe. Es gab da welche aus schwarzer Seide mit einem Stäbchenmuster. Er benutzte die Gelegenheit, um sich ein paar weiße, schwarzgeränderte Hosenträger zu kaufen. Er dachte, das werde der Anfang einer neuen Trauer sein ... Es war der Anfang einer neuen Liebe.
Möglich, daß der durch Jacques' Tod bewirkte Kummer an sein Ende gelangt war und daß das geringere Leid und ein gewisses Nachlassen, das im Tode Bellas für ihn lag, genügte, um im Herzen Fontranges' das Denkmal seines Sohnes zum Abbröckeln zu bringen. Möglich auch, daß die liebevolle Seele Fontranges', vor welcher sich plötzlich die Perspektive eines unbekannten Gefühls eröffnete, nicht mehr Kraft genug hatte, um einer Sehnsucht, einer neuen Leidenschaft zu widerstehen. Nach und nach heftete sich Fontranges' Gedanke immer mehr an Bella. Der Notar hatte ihm ihr Testament geschickt. Es war ein einfaches Blatt mit ihren Buchstaben, auf welchem sie ihren Vater bat, sie in Fontranges unter einem Baum im Park, den sie genau bezeichnete, zu bestatten. Aus Versehen hatte sie nicht nur das Datum, sondern auch ihre Adresse angegeben ... ›Für welche Antwort?‹ fragte sich Fontranges. Es war der erste Brief, den er von seiner neuen Liebe erhielt. Er war schwach parfümiert. Ihm traten die Tränen in die Augen, als er den Duft dieser unbekannten Liebe atmete. Er besaß keine Photographie von Bella. Er ging deswegen zum Photographen, der aber durfte sie nicht verkaufen. Es war ihm zuwider, einem fremden Menschen sich als Vater zu nennen. Er bestach ihn, wie es ein Liebhaber getan hätte. Der Notar zwang ihn, in Paris zu bleiben, denn es mußte die Frist für die Exhumierung abgewartet werden, um Bella nach Fontranges zu überführen. Es regnete. Der Regen quälte ihn beim Gedanken an diese junge Tote, und er konnte nicht allein bleiben. Er kam zu Moïse, zu mir, als zu jenen, von denen er wußte, daß sie Bella gekannt und geliebt hatten, und bediente sich kindlicher Listen, um die Photographien zu sehen, die ich von ihr in Ervy gemacht, deren jede ihm zum Andenken wurde. Die beschattete Bella, wie sie die künstlerische Photographie darstellte, wurde allmählich, dank den Momentaufnahmen, eine junge Frau mit deutlichen Zügen für ihn. Seine Augen, seine Vorstellung zitterten nicht mehr vor seiner Tochter. Er wollte auch die Namen ihrer Parfümlieferanten wissen. Er ging zu ihnen, begab sich als alter Jäger auf die Spur eines Parfüms. Er gefiel sich in dieser Übergangszeit, die wegen der bevorstehenden zweiten Bestattung noch zum Leben Bellas zu gehören schien und während welcher er Nachlese hielt an allem, was er an Eindrücken und Sachen vor ihrem endgültigen Tode noch finden konnte. Der Tod Jacques' war ein Verschwinden gewesen, er hatte ihn nicht tot gesehen. Er hatte fünf Jahre warten müssen, um nur sein Grab in Belgien zu sehen, wo er ihn wegen seiner Verwandtschaft mit dem Hause Coburg, das Jacques in sein Erbbegräbnis aufnahm, gelassen hatte. Durch seinen Tod hatte sich Jacques aus einem Herzen, das von ihm erfüllt war, auf brutale Art herausgerissen. Bella aber schenkte sich, näherte sich durch ihre liebliche posthume Agonie, welche fortdauerte, durch ihr von der Sonne beschienenes prächtiges Begräbnis, selbst noch durch die Formalitäten, die Fontranges zwischen zwei offenen Gräbern aufrecht erhielten. Ihm, den der Tod bis jetzt nur zerschmettert hatte, wurde es offenbar, daß es auch weibliche Tote gibt, einen weiblichen Tod voller Sanftmut. Einen ganzen Monat lang bot Bella ihrem Vater ihr noch warmes Gedenken. Fontranges mußte Gänge zum Notar machen, hinterlegte Beträge abheben, einen Marmor aussuchen. Er bezahlte die Lieferanten, die paar Schulden, die seine Tochter in dieser Welt hienieden hinterlassen hatte. Er hielt darauf, sie von seinem Gelde zu bezahlen, ihr ihre letzten Kleider, den letzten Mantel zu schenken. Über einen ganzen Monat dehnte Bella diese erste Vertraulichkeit, die er mit ihr hatte, aus. Rebendart befand sich auf einer Reise: dieses zweite Begräbnis, dieser zweite Tod blieb für Fontranges, für ihn allein. Er war Bella dankbar, daß sie nicht wie der arme Jacques im Coburger Erbbegräbnis sich in einer Feuerbestattung verflüchtigte, sondern sich dem Boden von Fontranges, einem Baum in Fontranges anvertraute. Es war der Baum, unter welchem einst Jacques' Wiege stand, die einzelne Eiche inmitten hügeliger Grasplätze, welche das Schloß vom Park trennten, und der in den Generalstabskarten als trigonometrischer Punkt eingetragen war. Jetzt wurde er das Signalzeichen auf der rauhen Karte der Liebe, die das Herz Fontranges' war. Hätte es nicht so viel geregnet, wäre der Himmel klar gewesen, so würde er sich fast glücklich gefühlt haben. Während sein Gedanke in der Erinnerung an Jacques auf ein brutales Bild stieß, auf eine Vergangenheit, die mit jedem Tag sich immer mehr verhärtete, konnte er, wenn er an Bella dachte, zwar keine Erinnerungen finden, denn er hatte sie Jahre lang unbeachtet gelassen, doch stieß er dabei auf alle die kleinen Freuden, welche die Geburt eines Kindes dem Vater bringt. Wieviel Enttäuschungen erspart man sich, wenn man daran geht, nicht mehr ein lebendes Kind, sondern ein totes zu lieben. Statt sich über ein schweißbedecktes, ungestümes, grausames Gesicht zu beugen, boten sich jetzt seiner Zärtlichkeit in jedem Augenblick ein Gesicht voll Liebreiz, Augen voller Reinheit dar. Als er aus der Kantine Jacques' hinterlassene Sachen zurückbekam, waren es ein Revolver, zweifelhafte Toilettengeräte, ein liederliches Buch, dazu geheftet, was ihn, der niemals andere als gebundene Bücher las, besonders quälte, jetzt fand er in den zwei Koffern mit den Sachen aus Bellas Zimmer, die ihm Rebendart schickte, persische Stoffe, die Gedichte von Alfred de Vigny in Ganzmaroquin, eine Ballmaske, eine Puppe. Er konnte sich leichter an das Gesicht dieser Puppe als an das Bellas erinnern. Er nahm sie in die Hand ..., sie öffnete langsam die Augen. Diese Koffer enthielten alles, was die Ägypter ihren Toten ins Grab mitgaben. Er entleerte sie. Es war wie ein Kramen in seinem väterlichen Herzen. Zum erstenmal, seit die Fontranges existierten, versuchte einer von ihnen in sich hinein zu sehen. Er fragte sich, warum der Tod, der bis zu diesem Tage ihn verhärtet, mager gemacht, gefurcht hatte, seinen Geist jetzt ständig liebkoste, mit einem Wort: ihn glücklich machte. Beim Übergang von der Trauer um seinen Sohn zur Trauer um seine Tochter hatte er die Welt der Selbstsucht, des Kampfes, der Infamie gegen eine Welt des Friedens und des Komforts getauscht. Er fühlte, daß das Leben ein Mittel gefunden hatte, um in ein neues Verhältnis mit den Fontranges zu kommen. Er hatte einen neuen Flirt mit dem Leben. Mitten auf der Straße mußte er oft bei dem banalen Anblick einer Pelzauslage oder einer schönen Frau stehen bleiben, er fühlte sich an neuen Stellen seines Herzens berührt. Wie wunderbar war es doch, wenn eine Vorübergehende nach Bellas Parfüm duftete! ... Es kam daher, daß seine Trauer, sein Schmerz das Geschlecht gewechselt hatte. Daher, daß Fontranges, der geglaubt hatte, sein Leben gehöre nur seinem Sohn, beim Lebensabstieg seiner androgynen Natur nachgab. Arme, zwiespältige Blüte, diese Seele Fontranges'! Alle seine Bewegungen, die unter der Bürde der Traurigkeiten über sein erstes Unglück schon automatisch geworden waren, verloren sich in den einundzwanzig Tagen bis zur Exhumierung nach und nach, als hätte er eine Kur in Vitell gebraucht. Jacques' Todestag fiel dazwischen auf einen Mittwoch. Es war ein trostloser Tag. Als er seine alten Kleider zu der Gelegenheit anlegte, drückten sie ihn. Er war stärker geworden. An diesem Tage, aller freundlichen Gedanken beraubt, die ihn sonst mit großen, zufriedenen Schritten auf den Friedhof führten, irrte er gequält in Paris herum, ging ins Bois, ins Kaffeehaus. Jacques' ganze Vergangenheit stieß eifersüchtig mit den wenigen Erinnerungen zusammen, die Fontranges an seine Tochter hatte. Das ganze Leben, das ganze Elend seines Sohnes brach in diesen Mittwoch ein, riß ein Fenster nach der Vergangenheit auf und wollte am Nachmittag Puppen, Einbände und persische Stoffe für immer davontragen. Doch sie hielten stand. Er fand sie am Abend in seinem Zimmer unbefleckt wieder. Am Tage darauf wartete er zum erstenmal nicht mehr bis zum Nachmittag, um sich auf den Friedhof zu begeben. Er ging zum erstenmal mit seinem Parmaveilchenbukett, mit welchem er in der Straßenbahn wie ein Liebhaber aussah, auf den Friedhof, um noch unter dem Frühtau mitten in der Wirtschaft, welche die Gärtner und Ausfeger machten, das Grab Bellas zu überraschen. Der kleine irische Terrier Bellas, Gilbert, den ihm Rebendart gegeben hatte, begleitete ihn. Es war ein junges kluges Tier, mit schlechtem Gebiß und wackelndem Gang, doch zum erstenmal schienen Fontranges diese Fehler an einem Hund als Vorzüge. Nahe am Grabe fing der Hund, der Ratten witterte, zu graben an. Fontranges glaubte, daß Gilbert seine Herrin suche. Das war die erste Metapher, die je durch den Kopf eines Fontranges gegangen sein mochte. Es war eine sehr schwache Bewegung der Phantasie, doch Fontranges erbebte, als hätte sich die Natur verändert. Was ging da vor? Wurde er am Ende zum Dichter? Er wurde fast eitel darüber. Er fühlte sich leichter, Bella erhob ihn über diese Welt, in der er siebenundfünfzig Jahre verbracht hatte, ohne je eine Vergleichung gemacht zu haben. Als Gilbert aus dem Loch flache Kiesel zum Vorschein brachte, dachte Fontranges, daß Bella sich noch in dem steinigen Boden von Paris aufhielt, bevor sie tiefer in die Erde hinabsank ... Kein Zweifel, das war wieder eine Vergleichung. ›Was mag ich wohl haben?‹ fragte er sich. Den ganzen Tag hatte er auf diese Weise kleine Anfälle von Phantasie. Er hielt jedesmal still wie ein Herzkranker, wenn sein Puls aussetzt. Ein unbekannter Gott lieferte ihm einen Bildertext zum Leben Fontranges'. Als er nach Hause kam, roch Gilbert Bellas Parfüm in dem offengelassenen Necessaire und bellte den Flakon an. Nichts ist so natürlich und häufig, als daß ein Hund von dem Geruch seines Herrn angezogen wird. Doch Fontranges empfand auch dieses Bellen wie eine Metapher. Er konnte sie sich nicht ganz deutlich machen, und doch, wie war sie exakt! Was konnte man nicht alles im Leben miteinander vergleichen? Er fühlte, daß, wenn er nur etwas mehr Intelligenz und Erfindungsgabe besäße, er aus jedem Möbel, aus jeder Bewegung, aus jedem Spiel des Lichtes oder der Lampe ein schimmerndes inneres Leben herausholen und befreien könnte. Wie würde es doch trostreich sein, zu leben, wenn die wirkliche Welt und die Welt der Einbildung sich so miteinander verwöben! Er vertraute sich dem Schlaf wie irgendeinem Gleichnis an. Es bekam ihm gut. Mitten in der Nacht fuhr er plötzlich aus dem Schlaf. Es war ihm, als befände er sich in seinem Bett, wie er noch jung war. Das Laken von dem gleichen Gewebe wie damals, die gleiche Frische, wenn er sich bewegte. Er erkannte es an der Temperatur, an einer wohltuenden Strömung, wie der aus Amerika zurückkehrende Italiener das Mittelmeer erkennt, wenn seine Kameraden ihn zum Scherz bei Nacht drin eintauchen. Alles, wogegen er seit langem schon taub war, der Pfiff der Züge, der immer zum Reisen auffordert, der Gesang der Angeheiterten, jetzt hörte er es wieder. Bella war es in der Unterwelt, die ihm seine Jugend wiedergab, um sein Alter zu beglücken. Er traute sich nicht, die Hände übereinander zu legen, aus Furcht, daß sein Körper, minder treu als die Laken, nicht mehr von der gleichen Beschaffenheit wäre. Er hielt seinen Husten zurück, um nicht seine Stimme zu hören. Doch so, die Augen in die Stille und in die Nacht geöffnet, durfte er sich jung fühlen. Es war derselbe Schatten, wie in der Nacht der Jugend, dieselbe Dunkelheit ... So wurde wieder eine dieser erlaubten, jedoch unheilvollen Leidenschaften geboren, welche in gewissen zeitlichen Abständen die Seele der Fontranges verheerten.
Zu Beginn gab sie sich ruhig. Als er auf sein Schloß zurückkehrte, war Fontranges überrascht, überall Bellas Spuren wiederzufinden. Hunde trugen noch Halsbänder mit ihrem Namen. Er öffnete ihre Schubfächer. Er fand ein Tagebuch Bellas, in dem von ihm die Rede war. Hatte sie ihn geliebt? Er suchte in den Briefpaketen herum, selbst in der Bibliothek, indem er der Methode des Professors folgte, der einst gekommen war, um festzustellen, ob Laura de Fontranges Chateaubriand geliebt hatte. Laura hatte Chateaubriand nicht geliebt, und es ließen sich wenig Zeugnisse dafür finden, daß Bella ihren Vater geliebt hatte. Doch wenn im ersten Fall richtige Beweise notwendig waren, begnügte sich Fontranges in seinem mit negativen Beweisen. Es war anzunehmen, daß eine liebende Tochter ihren Vater liebte, daß eine Tochter, die zärtlich war, den liebte, dem sie das Leben dankte. Er konnte in keinem Brief, in keinem Notizbuch etwas entdecken, das darauf hingewiesen hätte, daß sie ihn haßte, daß sie ihn nicht achtete. Um die Gefühle zu erforschen, die Bella für ihn hätte haben können, gelangte er dahin, sich selbst zu studieren, sich zu sehen, im Spiegel zu sehen, sich so zu sehen, wie er wirklich war, ein Wesen ohne Bosheit, ohne Gewalttätigkeit – kurz: sich selbst kennen zu lernen. Er betrachtete seine eigenen Photographien, um zu erraten, was ein Kind oder ein junges Mädchen an ihm Anziehendes hätte finden können. Er brachte es nach allem und dank Bella dazu, sich selbst ein wenig zu lieben, während Jacques ihn schließlich dahin geführt hatte, sich selbst und alles mit Widerwillen anzusehen. So wie er nach dem Unglück seines Sohnes durch den Verkehr mit den schmutzigsten Bauern einen Weg durch den Schmutz gesucht hatte, der ihn gemein machte, entdeckte er jetzt dagegen den Weg, welchen Bella gegangen war, der ihn zu den schattigsten Bäumen, den liebenswürdigsten Hündinnen, den reinsten Gesichtern führte. Nach allerhand Zeichen und Merkmalen gelang es ihm, in der Bibliothek die Spuren ihrer Lektüre wieder aufzufinden. Es gab nie eine Enttäuschung, stets die schönsten Einbände. Wieviel angenehmer ist es doch, mit dem Schönen als mit dem Laster in Berührung zu kommen! Seine eigene Gesundheit, sein heiler Körper, seine vollendet funktionierenden inneren Organe schienen ihm nicht mehr ein Vorzug, den er seinem Kinde entrissen hatte, denn Bella hatte im Tode einen Körper von leichtester, flüssigster Substanz. Welche Genugtuung, sich von schwererer Dichte zu fühlen, als jene, die man liebt! Er las in dem eingebundenen de Vigny auf Bänken, auf denen er Bella lesend sich erinnerte. »Der Tod des Wolfs« begeisterte ihn. Er bedauerte, daß er einen so würdigen Feind nicht mehr jagen, nicht mehr erlegen konnte. Er setzte sich in die Nähe des Grabes auf den Feldstuhl, den er an der Wiege Jacques' benutzt hatte. Denn so, wie sich die Gegenstände für ihn scharf unterschieden, wenn es sich um die Trauer handelte, waren sie im Glück für beide Kinder in gleicher Weise verwendbar. Zuweilen überraschte ihn ein dichterischer Einfall, wie er sich beim Gebaren Gilberts auf dem Friedhof zuerst eingestellt hatte. Fliegende Raben erschienen ihm wie verbranntes Papier im Winde; die junge Rebe weinfarbig. Er hatte dabei jedesmal das Gefühl, daß es Bella war, die ihn so begnadete. Er ging jetzt oft aus, um Familien zu besuchen, in denen Bella verkehrt oder wo sie gleichaltrige Freundinnen besessen hatte, unterhielt sich höflich mit der ältesten Dame; doch beeilte er sich, indem er bei der Großtante, bei der Mutter sich nur kurz aufhielt und jede Generation in fünf Minuten erledigte, die jüngste Frau zu erreichen, und kehrte fast immer um eine neue Tatsache bereichert zurück, welche in der väterlichen Vergangenheit etwas Fehlendes ersetzte. Die drei klarsten Erinnerungen, die er an Bella hatte, waren ihre Festtage, an denen die Pflicht ihn zwang, sich der Leidenschaft für Jacques zu entreißen und an einer Zeremonie oder an einem Bankett an der Spitze teilzunehmen; die Tage ihrer Taufe, ihrer ersten Kommunion, ihrer Hochzeit. Zwischen diesen drei Erinnerungen, die den Sakramenten entsprachen, brachte er alles bei seinen Besuchen Eroberte und auch die aufgefundenen Gegenstände unter. Zuweilen tauchten wirkliche Erinnerungen wieder auf. Er erlebte eines Tages eine glückliche Überraschung. Er erinnerte sich, daß er Bella am Tage ihrer Geburt eine Stunde lang im Arm gehalten hatte. Die Wiege war nur für ein Kind vorbereitet, und plötzlich hatte der Arzt ein zweites angekündigt. Innerhalb zwanzig Minuten war Bellita geboren und wurde auch gleich mit einem gewissen Vorzug behandelt. Sie bekam die Wiege. Für Bella wurde ein kleines Bett von Jacques hergerichtet, doch während des Umzugs hatte Fontranges Bella gehalten; eine sehr ungeschickte Amme, doch die erste. Diese Erinnerung brachte ihn über viele Selbstvorwürfe hinweg. Gewiß, er hatte seine Tochter nicht an den Tagen, da ihre ersten Gefühle sie mit der Welt verknüpften, er hatte Bella, die von ihrer Kindheit an Neigung für die Astronomie zeigte, nicht an jenem Abend gehabt, an welchem sie begriff, daß die Sterne nicht angeheftet sind. Er war auch damals, als Bella offenbar wurde, daß die Erde oval ist, nicht bei ihr, doch er hatte sie in der ersten Stunde nach ihrem Eintritt in die Welt. Dieses Kind, das er im ganzen, ausgenommen am Tage seiner Geburt, wo es nackt war, mit dicken Falten nur unter dem Kommunionsschleier und unter dem Brautschleier und zuletzt am Tage des Todes mit entblößter Brust und Hüfte gesehen hatte; diese Tochter, deren Körper er nur beim Eintritt ins Leben und beim Eintritt in den Tod gesehen hatte, schien er jetzt in allen Lebensaltern in seinen Armen zu tragen. Er fühlte die süße Last, die sie für die Sessel, für die Schaukel, für den Rasen und für das Leben selbst gewesen war. Es war hinreißend gewesen, den kleinen männlichen Körper Jacques' mit der Natur kämpfen zu sehen, die Wirkungen, welche das Wild, die Nahrung, die Jahreszeiten auf das kleine Männchen ausübten, zu verfolgen, doch der Kampf eines weiblichen Herzens mit Freundschaft und Liebe, eines weiblichen Körpers mit Kälte, Kissen und auch mit den männlichen Körpern, rührte Fontranges aufs tiefste. Er beobachtete, wie Madame Bardini atmete. Er sah den Hausmädchen beim Wasserschöpfen zu. Er las jetzt nicht mehr die Lebensbeschreibungen der Jäger, sondern die der berühmten Jägerinnen. Wie Jacques in Bella sich verwandelt hatte, so Hubertus in Diana. Die Erscheinung, welcher der wenig scharfsichtige Geist Fontranges' seit seiner Jugend nachgejagt war, befreite sich plötzlich aus der Vermummung und kam als Frau zum Vorschein.
Fontranges hatte noch nie einen so schönen Herbst erlebt. Vom Morgen bis zum Abend wandelte er zwischen Goldkäfern herum. Man fing Dachse. Er verschonte Bella zu Ehren ein Weibchen. Es lief nach dem Loch bei dem großen Baum, zu seiner Beschützerin zurück und wiederholte so die Metapher des kleinen Hundes Gilbert; doch wer ist originell? Irgendeine Eigenschaft Bellas ging jetzt auf alle Tierweibchen, auf Ratten, Rebhennen über und machte seinen Arm schwach. Ein Marderweibchen sah ihn mit den Augen Bellas an. Vor den Wasserhennen und Füchsinnen ließ er sein Gewehr sinken. Aber es steigerte sich noch. Die ganze Natur war von weiblichen Kräften durchsetzt. Der Park und der Wald wurden zur Waldung, aus den Rasenplätzen wurden die Wiesen, sogar das Schloß schrumpfte ein, lächelte, vereinfachte sich und wurde im Herzen Fontranges' zur einfachen Wohnung. Die ganze Welt, welche ihn bis jetzt durch ihre männlichen Eigenschaften, durch ihre Felsen, durch ihre breiten Ströme angezogen hatte, in welcher er mit Vorliebe die Kirchtürme, die Tannenbäume, die Berggipfel als männliche Attribute sah, wechselte jetzt das Geschlecht, verführte ihn jetzt durch ihre Klippen, ihre Wasserfurchen, und wie einem Gymnasiasten boten sich ihm die Hügel wie Busen und beschattete Schluchten dar. Das männliche Element wurde immer seltener in der Welt. Die Männer, die männlichen Tiere erschienen ihm jetzt als Seltenheiten, als Ausnahmen, so zerstreut waren sie in ihrer schwachen Dichtigkeit gegenüber dieser weiblichen Masse der Ebenen und Bergketten. Selbst die Bäume schienen ihm verwandelt zu sein ... Er erfuhr vom Pfarrer, daß sie auf lateinisch weiblichen Geschlechts seien; (die Lateiner sind ebenso wie wir beschaffen, das wirkliche Geschlecht der Dinge zu erkennen). Gegen Ende seines Lebens fühlte sich dieser Mann glücklich, daß er nicht auf einem männlichen Stern, sondern auf einer weiblichen Erdkugel gelebt hatte und in eine weibliche Erde bestattet werden würde. In der Waldung ließ er sich von den Ruten berühren, von ihnen aufhalten ..., die Regenflut sein Gesicht überschwemmen ... Die weiblichen Liebkosungen sind schön. Alle ... Selbst die Indianas!
*
Der Herbst wollte kein Ende nehmen. Er schien diesmal entschlossen, lebend bis an sein offizielles Ende zu kommen, bis zu dem zwanzigsten Dezember, der sonst schon unter dem Winter begraben liegt. Alles, was im Jahre am meisten dem Verderben ausgesetzt ist, lebte noch. Auf den Bäumen erreichten die Blätter ein Greisenalter wie noch nie zuvor. Es war die Hundertjahrfeier für jedes Blatt, für Spinnen, für Fliegen. Fontranges, der für einige Tage nach Paris gekommen war, saß auf den Kaffeehausterrassen herum. Die Museen interessierten ihn nicht mehr ... Er war der Bewegung des Pariser Lebens, der städtischen Art so sehr entfremdet, daß ihm wie einem Ausländer fremder Rasse unanständige Postkarten und Führer angeboten wurden. Zuweilen tauchte plötzlich, als wären sie aus seinem Kopf entsprungen, ein Kreis junger Mädchen mit Papierhüten auf und umringte ihn; es war das Fest der heiligen Katharina. Sie stürzten sich auf diesen wehrlosen Mann mit ihren schärfsten Waffen, mit ihren weißen Zähnen und jungen Augen. Doch sie waren zu heiter, zu laut, sie erregten nicht sein Verlangen. Sie machten ihm den Eindruck von fast männlichen Wesen. Wenn man das Geschlecht der Erde und der Jahreszeiten entdeckt hat, spielt das der Arbeiterinnen von Patou wahrhaftig keine Rolle. Am Abend ging er ins Kino. Er hatte bisher nur Kriegsfilme, Bombardements und Leichen gesehen. Er war erstaunt, im Herrschaftsgebiet der Lichtstrahlen den Frieden begründet zu sehen. Die Lichtbilder kräftiger junger Männer umschlangen junge Mädchen. Das Lichtbild des Ozeans ergriff zehn schöne Bademädchen von San Franzisko und zog sie nackt aus. Lichtbilder von Gorillas retteten kleine Mädchen. Diese Zärtlichkeit für die Frau in der ganzen Welt machte ihn sehnsüchtig. Als er eines Tages aus einer solchen Vorstellung kam, fand er sich vor der Bar, in der er Indiana kennen gelernt hatte. Er stieß die Tür auf.
Der Krieg, der alles ruiniert, hatte die Bar mit Mahagoni und Bronze bedeckt. Aus dem Kriege, der die ganze Zivilisation zerstört hatte, ging die Bar im Directoirestil und pompejanisch vergoldet hervor. Es war noch der gleiche Barman. Der Krieg, der alles massakrierte, hatte ihm nicht ein Haar gekrümmt. Fontranges schien ins Ewige einzutreten. Mit dem Schritt eines täglichen Besuchers begab er sich auf seinen von ihm einmal eingenommenen Platz und setzte sich. Warum zitterte er, als die Tür aufging? Warum geriet sein Herz in Alarm bei einer so banalen Tätigkeit, wie es die Zubereitung einer Zitronenlimonade ist? Eine Volksmenge zog mit Fahnen vorüber. Er erkundigte sich. Es war die feierliche Bestattung Jaurès'. Man begrub heute den Mann, den man damals, als Fontranges erstmals Indiana traf, ermordet hatte. Er war weder überrascht noch unzufrieden, durch den Willen des Schicksals mit diesem Mädchen verknüpft zu sein. Wenn Jaurès wieder von den Toten erstehen wird oder auch wenn die Kommunisten Jaurès' Asche in alle Winde zerstreuen werden, dann wird er wieder hier sitzen, von Indiana gelegentlich eines dritten Trauerfalls herbeigerufen. Der Wunsch packte ihn, Indiana selbst zu sehen, das Ende dieses zehnjährigen Umlaufs zu erreichen, Indiana zu berühren ... Eine Frau kam herein, setzte sich in seine Nähe, lockte ihn auf anmutige Weise, griff ihn mit all den metallenen Schildern an, für welche Männer in einer Bar so empfindlich sind, mit ihrem Zigarettenetui, ihrem Feuerzeug, ihrer Uhr. Sie war viel feiner als Indiana. Sie las ganz korrekt das Wappen Fontranges' auf seinem Ring, lächelte, jedoch ohne Zudringlichkeit, über das »Ferrum ubique« darauf, benannte mit den richtigen traditionellen Bezeichnungen die heraldischen Amseln, das Grün. Der einen Augenblick lang beunruhigte Barman hütete sich, in ein Gespräch über Familienwappen einzugreifen. Doch als wäre er für einen Abend von jenem Geist inspiriert, welcher den Schriftstellern von Genie das offenbart, was die mittelmäßigen Schriftsteller das Ewig-Weibliche nennen, fühlte sich der Landedelmann von ihr nicht angezogen. Diese Frau wurde, je länger man sie sah, desto männlicher ... Doch sie war geschickt. Sie brachte Fontranges auf alle Themen, die geeignet gewesen wären, ihn zu verführen, auf die Jagd, auf Pferde. Sie spielte um diesen Abend, um diese Nachtbekanntschaft mit Sanftmut und Geduld, wie eine Frau, die um ihre Karriere, um eine wirkliche Ehe kämpft. Sie versprach für diese Nacht alles, was eine Verbindung dauernd und glücklich macht, einen guten Charakter, Umgänglichkeit; sie verstehe zu nähen, sie sei nicht leicht beleidigt. Eine Verlobte, die einen Bruch befürchtet, hätte kaum so viel Takt, so viel anmutige Würde ins Feld geschickt: sie war nicht geschminkt, sie hatte keine kurzen Haare. Doch Fontranges in seinem Starrsinn erwiderte unlustig. Er fragte nicht einmal, wie sie heiße. Seinetwegen mochte sie August oder Georges heißen. Ja, er hatte sogar den Mut, sie nach einer blonden Frau mit blauen Augen und einer sehr weißen Haut, die Indiana hieß, zu fragen. Er war selbst erstaunt, so viele Details in seiner Erinnerung zu finden, um Indiana zu beschreiben; er hätte noch sagen können, daß sie doppelte Augenbrauen hatte, kaum sichtbare Nasenöffnungen, rosige Ohren, von denen eins durchlöchert war. Die Frau kannte Indiana. Indiana kam nicht mehr in diese Bar, seitdem ihr der Barman ein paar Ohrfeigen versetzt hatte, wobei sie einen halben Liter Blut durch die kaum wahrnehmbaren Nasenlöcher verlor. Sie schrieb ihm die Adresse ihrer Bar auf. Ihre eigene fügte sie nicht dazu. Dann ging sie bald, jedoch in bester Haltung, nachdem sie es abgelehnt hatte, sich von ihm das Getränk bezahlen zu lassen; sie lächelte ihm noch von der Tür würdevoll und traurig zu, als wäre ihr Abgang die Trennung nach einem zwanzigjährigen Zusammenleben. Sobald sie verschwunden war, erhob er sich und ging, Indianas Bar aufzusuchen.
Die Bar war ganz in der Nähe. Indiana war in diesen zehn Jahren nie aufs Land gegangen, nie im Auto gefahren, hatte nicht einmal die Schwelle eines Theaters betreten. Die Bars, in welchen sie nacheinander vor den Granaten, vor Bomben, vor der Polizei Zuflucht fand, hatten nur verschiedene Nummern, lagen aber in derselben Straße. Sie hatte die siebenundzwanzig gegen die fünfzehn, dann gegen die neun getauscht, sie hatte in einem Spiel, das ihr Leben lang dauern sollte, nur die Felder auf dem Brett gewechselt. Die Vollendung des Boulevards Hausmann hatte ihr Gebiet noch mehr eingeengt, doch es fiel ihr nicht ein, über diese neue Zone hinauszugreifen. Man muß sich in solchen Zeiten eben einschränken. So gab es für sie, bei allen Unannehmlichkeiten, die ihr mit jedem Barman, Barmädchen oder Polizisten widerfuhren, mochten sie auch hundertfältig sein, in ganz Paris, wie auf einer Insel, nicht mehr als drei Barmen und sechs Agenten. Man darf wohl annehmen, daß sie sie wiedererkannten! Fontranges war kaum einige Augenblicke in der Bar, als Indiana eintrat.
Sie war allein. Indiana war übrigens immer allein. Man hatte nie gesehen, daß sie mit einem Mann am Arm oder mit einem Mann überhaupt spazieren gegangen wäre ... Man konnte dies Gewerbe ausüben, ohne sich zu kompromittieren. Das Kompromittierende in ihren Augen war Freundschaft oder Kameradschaftlichkeit. Sie hatte sich nicht verändert. Derselbe milchweiße Teint ohne Puder, dieselben roten Lippen ohne Rouge, dieselben blauen Augen, in denen die Iris so groß war, als wäre sie vom grauen Star zerstört; mit den schwarzen Brauen, mit dem nach rückwärts gekämmten blonden Haar, bot sie gleichgültig ein lebloses Gesicht dar, das wie eine Experimentiertafel aussah, auf welcher die Farben mit äußerster Härte sich absetzten. Zwischen diesem Rosa, diesem Blau, diesem Weiß lagen Jahrhunderte, gab es krasse Unterschiede des Klimas, der Materie ... Die Bar war fast leer. Automatisch, wie in der Hypnose kam sie auf Fontranges zu, setzte sich neben ihn, und alles begann von neuem. Fontranges betrachtete diese schöne gedankenlose Stirn, diese schönen, blicklosen Augen, diesen schweren, dichten Körper mit den zarten Hand- und Fußgelenken, welchen die Nachlässigkeit mehr als die Mode mit leichten Kleidern, fast mit Kinderkleidern eingehüllt hatte. Welches Übel, welches menschliche Gebrechen sollte er sich diesmal aus Liebe zu Bella von dieser Frau holen? Sie hatte ihn nicht erkannt. Sie erkannte auch die Gegenstände, die Fontranges, um ihre Erinnerung zu wecken, herausnahm, nicht wieder, das Zigarettenetui mit dem sich bäumenden Pferd, die Streichholzschachtel, die an den kleinen Wildschweinsköpfen besonders kenntlich war. Doch sie erkannte nie etwas wieder, kaum das Opernhaus. Sie sprach. Er erfuhr, was in diesen zehn Jahren sich ereignet hatte. Die Rache Indianas an den Männern war fortgesetzt worden. Sie stahl ihnen das Kokain, die Heldin. Ein Subjekt, sehr reich sogar, wollte sie heiraten. Er glaubte, sie hätte keinen Liebhaber. Wie hat sie sich an ihm gerächt! Sie hatte es so eingerichtet, daß er sie ertappte. Er aber wollte ihr verzeihen. Er brachte ihr drei Ringe zur Auswahl, sie hatte den teuersten gewählt und ihn ihm, den Rubin gespalten, in einem Senftopf zurückgeschickt. Sie sprach ohne Betonung gerade vor sich hin, saß da wie eine Souffleuse, wie der unbeteiligte Souffleur eines Verrückten, den Fontranges in gewissen Augenblicken in richtiger Größe hinter ihr sah. Die Bar schloß, sie gingen. Er begleitete sie, ohne daß sie ein Wort der Einladung oder der Ablehnung geäußert hatte, als wäre er es, auf den sie seit zehn Jahren jeden Abend um Mitternacht wartete. Fontranges erinnerte sich an alle die bestürzten Gesichter, die vor zehn Jahren aus den Türen jedes Treppenabsatzes hervorkamen, um Neues über den Krieg zu hören. Er vermißte den Aufenthalt auf jedem Stockwerk, die Kinder, die er damals beruhigte. Sie waren es doch, die ihn selbst beruhigt hatten. Im Zimmer gab es noch immer keinen Stuhl. Man mußte sich in diese greuliche und liebliche Nacht wie ein Schwimmer von einem Vorgebirge aus hineinstürzen. Als er sich niedergelegt hatte, die Lampe ausgelöscht war, ging sie lange nackt hin und her, versorgte nackt ihren Petroleumofen. Auf diese Weise vermied sie die Feuersbrunst, die sie fürchtete. Es war ein von Eis und Feuer geflecktes Tier, das sich dann zu ihm legte.
Mitten in der Nacht erwachte sie. Fontranges schluchzte. Jacques und Bella, plötzlich in vollkommener Liebe vereinigt, hatten sich über ihn gebeugt... – Ich bin deine Tochter, hatte Jacques gesagt. – Ich bin dein Sohn, sagte Bella ... Und sie umarmten sich ... Indiana hatte noch nie einen Mann weinen gehört. Doch hatte sie genug andere Erfahrungen und versuchte darnach das Geräusch zu erraten. Sie spannte das Ohr an ... Das war doch nicht Niesen? Man niest doch nicht hundertmal hintereinander ... Das war auch nicht, wie vor drei Wochen, ein Brustkrampf. Dabei wehrt man sich, ruft um Hilfe ... Er war auch zu alt, um etwa an Nachwirkungen der Giftgase zu leiden ... Vielleicht ganz einfach ein Anfall ... Und doch nicht ... ein Anfall dauerte einen Moment, das hier schien doch gar kein Ende zu nehmen! ... Jetzt war kein Zweifel mehr. Der Mann neben ihr weinte. Nur Indiana mußten solche Sachen passieren! Zum erstenmal entriß ihr die Krankheit eines Mannes ein Wort.
»Was ist, Papa?« fragte sie in dem blutschänderischen Jargon, in dem allein sie Zärtlichkeit auszudrücken vermochte, – »du weinst?«
Er versuchte sich zurückzuhalten. Vergeblich ...
»Gehts nicht vorüber, Onkelchen? Magst 'n Aspirin?«
Eine Minute verging ... Wieder hörte sie das Schluchzen ... »Ja, wahrhaftig, mein Junge, die Liebe ist nicht heiter!« sagte sie.