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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Nur der Lasterhafte ist lange und vollkommen elend.

Es bedurfte einigen Fleißes, um unsere gegenwärtige Wohnung so bequem als möglich einzurichten; doch bald waren wir wieder im Stande, uns der frühern Heiterkeit zu überlassen. Da ich nicht im Stande war, meinem Sohne bei den gewöhnlichen Geschäften zu helfen, so las ich der Familie aus den wenigen Büchern vor, die wir gerettet hatten, und besonders aus solchen, die, indem sie die Phantasie ergötzten, zur Beruhigung der Herzens beitrugen. Auch kamen unsere guten Nachbarn jeden Tag zu uns, bezeigten uns ihre Teilnahme und bestimmten eine Zeit, wo sie uns alle behülflich sein wollten, unsere frühere Wohnung wiederherzustellen. Der redliche Pächter Williams war nicht der Letzte unter diesen, und bot uns von ganzem Herzen seine Freundschaft an. Er würde auch jetzt noch seine Bewerbungen um meine Tochter erneuert haben, hätte sie ihn nicht auf eine solche Weise zurückgewiesen, daß er alle Hoffnung verlor. Ihr Gram schien dauernd zu sein, und sie war in unserm kleinen Kreise die Einzige, der nach Verlauf einer Woche nicht der ehemalige Frohsinn zurückgekehrt war. Sie hatte die sorglose Unschuld verloren, die ihr einst gelehrt, sich selbst zu achten und sich daran zu ergötzen. Andern Vergnügen zu gewähren. Kummer und Gram hatten sich ihres Gemüthes bemächtigt und ihre wankende Gesundheit wirkte nachtheilig auf ihre Schönheit, der sie durch Vernachlässigung noch mehr schadete. Jedes freundliche Wort, welches an ihre Schwester gerichtet wurde, verletzte sie tief und lockte Thränen in ihre Augen; und so wie ein Laster, wenn es auch ausgerottet ist, immer andere an seiner Stelle emporschießen läßt, so hatte ihr früheres Vergehen, obgleich durch Neue aufgehoben, Neid und Eifersucht zurückgelassen. Ich war auf tausendfache Weise bemüht, ihren Gram zu lindern, und indem ich darüber selbst meinen eigenen Schmerz vergaß, suchte ich so viele unterhaltende Erzählungen hervor, als mein gutes Gedächtniß und einige Belesenheit mir darboten. »Unser Glück, liebes Kind,« sagte ich oftmals, »steht in der Macht desjenigen, der es auf tausend unbekannten Wegen, die unserer Voraussehung spotten, herbeizuführen vermag. Wenn es eines Beispiels bedarf, um Dich davon zu überzeugen, so will ich Dir eine Erzählung mittheilen, die uns ein ernster, obgleich etwas romanhafter Geschichtschreiber berichtet.

»Mathilde war sehr jung an einen neapolitanischen Edelmann ersten Ranges verheirathet und war im funfzehnten Jahre bereits Wittwe und Mutter. Als sie eines Tages ihren kleinen Sohn liebkoste und im offnen Fenster eines Gemaches stand, welches auf den Fluß Volturna hinausging, machte das Kind eine plötzliche Bewegung, sprang aus ihren Armen in die Fluth hinab und verschwand in einem Augenblick. In der Uebereilung des Augenblicks sprang die Mutter ihm nach und war bemüht, ihn zu retten; doch anstatt dem Kinde beistehen zu können, gelangte sie selber nur mit großer Schwierigkeit an das entgegengesetzte Ufer, wo gerade einige französische Soldaten das Land plünderten und sie sogleich gefangen nahmen.«

»Da der Krieg zwischen den Franzosen und Italienern damals mit der größten Unmenschlichkeit geführt wurde, so wäre sie gewiß mit der äußersten Grausamkeit behandelt worden, hätte sich nicht ein junger Officier widersetzt, der sie hinter sich auf's Pferd nahm, rasch davon ritt und sie in seine Vaterstadt brachte. Ihre Schönheit fesselte zuerst sein Auge, bald darauf ihr Verdienst sein Herz. Sie verheiratheten sich; er stieg zu den höchsten Ehrenposten; sie lebten lange mit einander und waren glücklich. Doch das Glück eines Soldaten kann niemals dauernd genannt werden. Nach mehreren Jahren wurden die Truppen, die er befehligte, zurückgetrieben und er genöthigt, in der Stadt Schutz zu suchen, wo er mit seiner Frau gelebt hatte. Hier hatten sie eine Belagerung auszustehen und endlich wurde die Stadt eingenommen. Wenige historische Begebenheiten liefern so verschiedene Proben von Grausamkeit, als die Franzosen und Italiener zu der Zeit gegen einander ausübten. Bei dieser Gelegenheit beschlossen die Sieger, alle französische Gefangene zu tödten, besonders aber den Gemahl der unglücklichen Mathilde, weil er vorzüglich die Verzögerung der Belagerung veranlaßt hatte. Im Allgemeinen wurden ihre Entschlüsse fast eben so bald ausgeführt, als man sie gefaßt hatte. Der gefangene Krieger wurde vorgeführt, und der Scharfrichter stand mit seinem Schwert bereit, während die Zuschauer in dumpfem Stillschweigen den Todesschlag erwarteten, welcher erst erfolgen sollte, wenn der General, der als Richter den Vorsitz führte, das Zeichen dazu gebe. In diesem Augenblick der Qual und Erwartung kam Mathilde, von ihrem Gatten und Befreier Abschied zu nehmen, indem sie ihre elende Lage und die Grausamkeit ihres Schicksals beklagte, welches sie von einem frühzeitigen Tode in dem Flusse Volturna errettet hatte, um noch größeres Elend zu erleben. Der General, welcher ein junger Mann war, erstaunte über ihre Schönheit und bemitleidete sie wegen ihres Kummers; doch wurde er noch mächtiger bewegt, als sie ihm von ihren frühern Gefahren erzählte. Er war ihr Sohn, das Kind, um deswillen sie sich so großer Gefahr ausgesetzt. Er erkannte sie sogleich für seine Mutter und fiel ihr zu Füßen. Das Uebrige ist leicht zu errathen, der Gefangene wurde in Freiheit gesetzt, und alles Glück, welches Liebe, Freundschaft und Pflicht gewähren können, fand sich jetzt vereinigt.«

»Auf diese Weise war ich bemüht, meine Tochter zu unterhalten; doch hörte sie mir nur mit getheilter Aufmerksamkeit zu; denn ihr eigenes Mißgeschick hatte alles Mitleid aufgezehrt, welches sie sonst für Andere empfunden hatte, und nichts konnte ihr Ruhe verschaffen. In Gesellschaft fürchtete sie Verachtung und in der Einsamkeit fand sie nichts als Qual. Von dieser Art war ihr Gemütszustand, als wir die gewisse Nachricht erhielten, Herr Thornhill sei im Begriff, sich mit Fräulein Wilmot zu verheirathen, und obgleich er jede Gelegenheit benutzt hatte, gegen mich seine Verachtung sowohl in Betreff ihrer Person als auch ihres Vermögens auszusprechen, so hegte ich doch den Argwohn, daß er sie wirklich liebe. Diese Nachricht diente nur dazu, die Betrübniß der armen Olivia zu vermehren; ein so schändlicher Treubruch war mehr, als ihr Muth ertragen konnte. Ich entschloß mich indeß, mir genauere Nachrichten zu verschaffen und wo möglich die Ausführung seiner Absicht zu hintertreiben, indem ich meinen Sohn an den alten Herrn Wilmot abschickte, um sich von der Wahrheit des Gerüchtes zu überzeugen und Fräulein Wilmot einen Brief zu überbringen, der sie von Herrn Thornhills Betragen in meiner Familie benachrichtigte. Mein Sohn ging und kehrte in drei Tagen mit der Gewißheit zurück, daß die Nachricht wahr sei. Doch war es ihm unmöglich gewesen, den Brief abzugeben, und er hatte ihn zurücklassen müssen, da Herr Thornhill und Fräulein Wilmot eben Besuche in der Gegend gemacht. Wie er sagte, sollten sie in wenigen Tagen verheirathet werden, denn am Sonntag vorher, als er da gewesen, wären sie mit großem Glanze in der Kirche erschienen, die Braut von sechs jungen Damen begleitet und er von eben so viel Herren. Ihre bevorstehende Verheirathung erfüllte die ganze Gegend mit Freude und sie ritten gewöhnlich in so großem Gefolge aus, wie man es seit vielen Jahren in der Gegend nicht gesehen. Alle Verwandte beider Familien, sagte er, wären da, besonders der Onkel des Gutsherrn, Sir William Thornhill, von dem man so viel Vortreffliches sagte. Er setzte hinzu, man rede von nichts weiter, als von Lustbarkeiten und festlichem Gelagen, die ganze Gegend rühme die Schönheit der jungen Braut und die hübsche Gestalt des Bräutigams, und man sage, daß sie außerordentlich zärtlich gegen einander wären. Er schloß mit der Bemerkung, daß er nicht umhinkönne, Herrn Thornhill für einen der glücklichsten Menschen auf Erden zu halten.

»Er mag es sein, wenn er kann,« versetzte ich, »aber, mein Sohn, betrachte dieses Strohlager, dieses verfallene Dach, diese modernden Wände, diesen feuchten Fußboden, meinen durchs Feuer verletzten elenden Körper und meine Kinder, die um mich her nach Brod schreien – alles dies siehst Du wieder, mein Sohn, aber hier, hier siehst Du einen Mann, der nicht mit ihm tauschen würde, und könnte er tausend Welten dadurch gewinnen.. O meine Kinder, könntet Ihr nur lernen, mit Eurem eignen Herzen umzugehen, und erfahren, welche edle Gesellschaft Ihr daran habt, so würdet Ihr die Pracht und den Glanz der Unwürdigen wenig achten. Fast alle Menschen nennen das Leben eine Wanderschaft, und sich selber die Wanderer. Das Gleichniß kann nur verbessert werden, wenn wir bemerken, daß die Guten freudig und heiter sind, gleich Wanderern, die ihrer Heimath zueilen; daß aber die Gottlosen nur selten glücklich sind, gleich Reisenden, die in die Verbannung gehen.«

Mein Mitleid mit meiner armen Tochter, die durch, dieses neue Mißgeschick überwältigt wurde, hielt meine weitern Bemerkungen zurück. Ich bat ihre Mutter, ihr beizustehen, und nach kurzer Zeit kam sie wieder zu sich. Von der Zeit an erschien sie ruhiger, und ich bildete mir ein, daß sie sich eine neue Entschlossenheit angeeignet habe; doch der Schein täuschte mich, denn ihre Ruhe war die Ermattung des überspannten Gefühles. Eine Sendung Lebensmittel von meinen teilnehmenden Pfarrkindern schien neue Freudigkeit in meiner übrigen Familie zu verbreiten, auch war es mir lieb, sie wieder einmal heiter und beruhigt zu sehen. Es wäre Unrecht gewesen, ihre Freude zu stören, um bloß mit der entschlossenen Schwermuth zu klagen, oder sie mit einer Traurigkeit belasten zu wollen, die sie nicht fühlten. So wurde die Unterhaltung wieder belebt, der Gesang wieder gehört und Munterkeit herrschte wieder in unserer kleinen Wohnung.


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