Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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4

Ich bin wieder in der Stadt, in einem zweistöckigen weißen Haus – es erinnert mich an einen Sarg, in den sich viele Menschen teilen. Das Haus ist neu, aber voller schlechter Säfte und aufgedunsen wie ein Bettler, der plötzlich reich geworden und vom vielen Essen verfettet ist. Es steht seitlich zur Straße und hat in jedem Stock acht Fenster, während dort, wo sich die Front befinden müßte, in jedem Stockwerk vier Fenster vorhanden sind; die unteren gehen auf eine schmale Durchfahrt und in den Hof, aus den oberen blickt man über einen Zaun auf das kleine Haus einer Wäscherin und eine schmutzige Erdschlucht.

Eine richtige Straße, wie ich sie kenne, gibt es nicht; vor dem Hause zieht sich, an zwei Stellen von schmalen Dämmen durchschnitten, die schmutzige Erdschlucht hin. Links führt sie auf das Arrestantenhaus zu; hier wird aus den benachbarten Höfen der Müll abgeladen, auf dem Grunde steht eine Pfütze von dickem, tiefgrünem Schlamm; rechts, am Ende der Schlucht, vergammelt der morastige Swesdin-Teich, während sich die Mitte der Schlucht genau gegenüber dem Hause befindet; die eine Hälfte ist mit Kehricht zugeschüttet und von Brennesseln, Kletten und Sauerampfer überwuchert, während in der anderen der Priester Dorimedont Pokrowskij einen Garten angelegt hat; im Garten steht eine Laube aus dünnen, grün gestrichenen Latten. Wirft man nach dieser Laube mit Steinen, dann gehen die Latten mit leisem Krachen entzwei.

Es ist eine unglaublich langweilige, unverschämt schmutzige Ecke; der Herbst hat die verunreinigte Lehmerde in einen abscheulichen rotbraunen Teer verwandelt, der zäh an den Füßen klebt. Ich habe noch nie soviel Schmutz auf einer so kleinen Fläche gesehen; und da ich mich an die Sauberkeit von Feld und Wald gewöhnt habe, macht mich diese Stadtgegend trübselig.

Jenseits der Schlucht ziehen sich graue, baufällige Zäune hin, und weiter weg erkenne ich zwischen ihnen das schmutzigbraune Häuschen, in dem ich im Winter gewohnt habe, als ich Lehrjunge im Schuhwarenladen war. Die Nähe dieses Hauses bedrückt mich nur noch mehr. Warum muß ich wieder in dieser Straße leben?

Meinen Brotherrn kenne ich schon, er ist gelegentlich bei meiner Mutter zu Besuch gewesen – zusammen mit seinem Bruder, der immer so komisch kreischte: »Andrej – Papa, Andrej – Papa.«

Beide sehen aus wie früher – der ältere, adlernasig und langhaarig, wirkt angenehm und scheint gutmütig, der jüngere, Wiktor, hat sein Pferdegesicht und seine Sommersprossen behalten. Ihre Mutter, die Schwester meiner Großmutter, ist äußerst böse und zänkisch. Der Ältere ist verheiratet; seine üppige Frau ist weiß wie Weizenbrot und hat große, sehr dunkle Augen.

Gleich in den ersten Tagen sagte sie ein- oder zweimal zu mir: »Deine Mutter hat einen seidenen Überwurf von mir geschenkt bekommen, mit Glasperlen . . .«

Ich wollte aus irgendeinem Grunde nicht glauben, daß sie den Überwurf verschenkt und meine Mutter ihn angenommen hatte. Als sie mich nochmals daran erinnerte, empfahl ich ihr: »Auch wenn du ihn ihr geschenkt hast, brauchst du nicht so damit zu prahlen.«

Sie fuhr erschrocken zurück.

»Waaas? Mit wem sprichst du denn?«

Ihr Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken, sie riß die Augen auf und rief nach ihrem Mann.

Er kam mit einem Zirkel in der Hand und einem Bleistift hinter dem Ohr in die Küche, hörte sie an und sagte zu mir: »Du mußt zu ihr und allen anderen ›Sie‹ sagen. Und die Frechheiten unterlaß mal!«

Dann wandte er sich ungeduldig an seine Frau: »Stör mich doch nicht mit Kleinigkeiten!«

»Was heißt – mit Kleinigkeiten? Wenn deine Verwandtschaft . . .«

»Der Teufel hole die ganze Verwandtschaft!« rief der Hausherr und zog sich eilig zurück.

Auch mir gefiel es nicht, daß diese Leute Großmutters Verwandte waren; nach meinen Beobachtungen behandelten Verwandte einander schlechter als Fremde – da sie mehr Schlechtes und Lächerliches voneinander wußten, verklatschten sie einander nur desto boshafter und zankten und schlugen sich noch öfter.

Der Hausherr gefiel mir; er warf mit schöner Gebärde die Haare zurück und erinnerte mich irgendwie an »Gar nicht übel«. Er lachte oft und gern, seine grauen Augen blickten gutmütig drein, lustig spielten neben der Habichtnase komische Fältchen.

»Hört doch endlich auf mit dem Gezänk, ihr Bestien von Hühnern!« pflegte er zu Frau und Mutter zu sagen, wobei ein weiches Lächeln die dichten kleinen Zähne entblößte.

Schwiegermutter und Schwiegertochter zankten sich jeden Tag; ich wunderte mich immer wieder, wie leicht und rasch sie in Streit gerieten. Vom Morgen an hasteten beide, ungekämmt und halbangezogen, durch die Stuben, als wäre im Haus ein Feuer ausgebrochen; sie taten es den ganzen Tag und ruhten nur bei Tisch während des Mittagessens, des Tees oder des Abendbrots aus. Man aß und trank viel, bis zur Trunkenheit, bis zur Erschlaffung, sprach während des Essens vom Essen, stichelte – vorerst noch träge – aneinander herum und bereitete sich auf den großen Streit vor. Einerlei, was die Schwiegermutter auf den Tisch brachte, die Schwiegertochter sagte bestimmt: »Meine Mama macht das anders.«

»Wenn sie es anders macht, dann macht sie es schlechter!«

»Nein – besser!«

»Dann geh doch zu deiner Mama!«

»Ich bin hier die Frau des Hauses!«

»Und wer bin ich?«

Der Hausherr mischte sich ein: »Hört auf, ihr Bestien von Hühnern! Seid ihr von Gott verlassen?«

Alles im Hause war unerklärlich seltsam und komisch. Der Weg von der Küche zum Eßzimmer führte durch ein kleines, enges Klosett, das einzige in der Wohnung; durch dieses Klosett trug man den Samowar und die Speisen herein, es war der Gegenstand fröhlicher Scherze und oft auch die Quelle komischer Mißverständnisse. Zu meinen Pflichten gehörte es, Wasser in den Behälter zu gießen; ich schlief in der Küche, der Klosettür gegenüber, an der Tür zum Vordereingang – mein Kopf glühte von der Hitze des Küchenherds, während es an den Beinen vom Eingang her zog; wenn ich schlafen ging, sammelte ich alle Fußmatten ein und legte sie mir auf die Füße.

Im großen »Salon« mit den zwei Wandspiegeln zwischen den Fenstern, den goldgerahmten, als Beilagen zur Zeitschrift »Die Flur« gedruckten Bildern, den beiden zusammengehörigen Kartentischen und einem Dutzend Wiener Stühle war es öde und leer. Das kleine Wohnzimmer war mit bunten Polstermöbeln, Glasschränken mit »Heiratsgut« – Tischsilber und Teegeschirr – vollgestellt; drei Lampen schmückten es, die eine immer größer als die andere. Im dunklen, fensterlosen Schlafzimmer standen außer dem breiten Bett Truhen und Schränke herum, die einen Geruch von Blättertabak und persischer Kamille ausströmten. Diese drei Zimmer standen immer leer, während sich die Familie in dem kleinen Eßzimmer drängte und gegenseitig behinderte. Gleich nach dem Morgentee, um acht Uhr früh, zogen der Hausherr und sein Bruder den Tisch aus, verteilten Bogen von weißem Papier, Reißzeug, Bleistifte, Schälchen mit Tusche und machten sich an die Arbeit – der eine an einem Ende des Tisches, der andere ihm gegenüber. Der Tisch wackelte. Er verstellte das ganze Zimmer, und wenn das Kindermädchen oder die Hausfrau aus dem Kinderzimmer kamen, stießen sie an den Tisch.

»So treibt euch doch hier nicht herum!« schrie Wiktor.

Die Frau des Hauses wandte sich gekränkt an ihren Mann: »Wasja, sage ihm, er hat mich nicht anzuschreien!«

»Dann rüttel nicht am Tisch«, empfahl der Herr des Hauses friedfertig.

»Ich bin schwanger, und hier ist es eng . . .«

»Also gut, dann ziehen wir um – in den Salon.«

Doch die Frau empört sich: »Mein Gott, wer arbeitet denn im Salon!«

In der Klosettür erscheint das böse, von der Ofenglut gerötete Gesicht der alten Matrjona Iwanowna; sie faucht: »Da siehst du es, Wasja, du schuftest, und ihr genügen nicht einmal vier Zimmer zum Kalben. Ein Fräulein von Stand und keinen Zoll Verstand!«

Während Wiktor boshaft lacht, ruft der Hausherr: »Genug jetzt!«

Doch die Schwiegertochter sinkt, nachdem sie die Schwiegermutter mit Strömen giftigster Beredsamkeit überschüttet hat, auf einen Stuhl und stöhnt: »Ich gehe! Ich sterbe!«

»So laßt mich doch arbeiten, schert euch zum Teufel!« brüllt, blaß vor Anstrengung, der Hausherr. »Die reinste Irrenanstalt – für wen krümme ich denn den Rücken, wenn nicht für euch, für euer Futter! Ihr Hühnerbestien!«

Zuerst machten mir solche Auftritte angst; besonders erschrak ich, als die Frau des Hausherrn eines Tages ein Tischmesser ergriff, ins Klosett stürzte, beide Türen verriegelte und außer sich drauflosheulte. Für einen Augenblick wurde es im Hause still; dann stemmte der Hausherr die Hände gegen die Tür, duckte sich und rief mir zu: »Klettere an mir hinauf, schlag die Scheibe ein und nimm den Haken aus der Öse!«

Ich war im Nu auf seinem Rücken, zerschlug die Scheibe über der Tür und beugte mich ins Kämmerlein vor, doch die Hausfrau begann mir eifrig mit dem Messergriff auf den Kopf zu trommeln. Es gelang mir dennoch, die Tür aufzuhaken, und der Hausherr zerrte die widerstrebende Gattin zurück ins Eßzimmer und nahm ihr das Messer fort. Als ich dann in der Küche saß und meinen mißhandelten Schädel rieb, kam ich sehr bald zu der Erkenntnis, daß ich ganz unnötig gelitten hatte. Das Messer war stumpf, man konnte mit seiner Hilfe gerade noch eine Scheibe Brot abschneiden, auf keinen Fall aber die Haut durchdringen; es wäre auch nicht nötig gewesen, dem Hausherrn auf den Rücken zu klettern, die Scheibe hätte sich ebensogut von einem Stuhl aus einschlagen lassen; und schließlich hätte ein Erwachsener den Haken bequemer aushaken können – er hatte längere Arme. Nach dieser Geschichte erschrak ich über die Streitigkeiten im Hause nicht mehr.

Die Brüder sangen im Kirchenchor; manchmal stimmten sie während der Arbeit ein Lied an. Der Ältere sang im Bariton:

»Der Ring des Mädchens wunderbar
Glitt mir hinab ins Meer . . .«

Der Jüngere fiel mit Tenorstimme ein:

»Und alles Glück der Erde war
Für mich dahin seither.«

Aus dem Kinderzimmer flüsterte die Hausherrin: »Seid ihr von Sinnen? Das Kind schläft doch . . .«

Oder: »Du bist verheiratet, Wasja, und könntest es ruhig unterlassen, von irgendwelchen Mädchen zu singen. Was soll das? Auch wird es bald zur Abendmesse läuten . . .«

»Gut, dann singen wir etwas Geistliches.«

Doch die Frau des Hauses erklärte, Geistliches außerhalb der Kirche zu singen sei überhaupt unangebracht, insbesondere hier . . . Und sie wies vielsagend auf die kleine Tür.

»Wir müssen die Wohnung wechseln, sonst . . . weiß der Teufel!« sagte gelegentlich der Hausherr.

Nicht weniger oft sagte er, man müsse den Tisch auswechseln, aber er wiederholte das seit nun schon drei Jahren.

Wenn sich die Angehörigen des Hauses über andere Leute unterhielten, mußte ich immer an den Schuhladen zurückdenken – dort sprach man ebenso. Mir war klar, daß man sich auch hier für besser als alle anderen hielt, die Regeln der Lebensführung genauestens zu kennen glaubte und, eben auf diese mir unklaren Regeln gestützt, unnachsichtig und mitleidslos über die Menschen richtete. Bei mir riefen diese Richtersprüche grimmigen Mißmut und Verdruß über die Lebensregeln im Hause hervor; gegen sie zu verstoßen wurde mir zum Vergnügen.

Arbeit hatte ich genug. Ich erfüllte die Pflichten eines Stubenmädchens: Mittwochs putzte ich den Samowar und das Kupfergeschirr und wischte den Fußboden in der Küche auf, sonnabends in der ganzen Wohnung und auf den beiden Treppenfluren. Ich hackte und schleppte Holz für die Öfen herbei, wusch das Geschirr ab, putzte Gemüse, ging mit der Frau des Hauses auf den Basar und trug den Korb mit den Einkäufen hinter ihr her; ich lief in den Kaufladen und in die Apotheke.

Meine unmittelbare Vorgesetzte – Großmutters Schwester, eine laute, jähzornige Alte – stand früh, gewöhnlich schon gegen sechs Uhr morgens, auf; flüchtig gewaschen, kniete sie im bloßen Hemd vor dem Heiligenbild nieder und beklagte sich lange beim Herrgott über ihr Leben, über die Kinder, über die Schwiegertochter.

»Herrgott!« rief sie mit Tränen in der Stimme aus, die zum Bekreuzigen zusammengelegten Finger an der Stirn. »Herrgott, ich bitte dich um nichts, ich brauche nichts – nur laß mich ausruhen, Herr, und gib mir Frieden durch deine Macht!«

Ihr Jammern pflegte mich zu wecken; ich lugte unter der Decke hervor und lauschte mit Schrecken dem inbrünstigen Gebet.

Der herbstliche Morgen blickt trüb zum Küchenfenster herein, durch Scheiben, die naß vom Regen sind; auf dem Fußboden schwankt im kalten Dämmerschein eine graue Gestalt hin und her und fuchtelt aufgeregt mit den Armen; unter dem abgeglittenen Kopftuch hervor fällt dünnes, helles Haar von dem kleinen Kopf auf Nacken und Schultern; die Alte schiebt das Tuch, das immer wieder verrutscht, mit einer heftigen Bewegung der linken Hand zurecht und murmelt: »Ha, daß dich der und jener!«

Sie holt weit aus, schlägt sich an Stirn, Bauch und Schultern und zischt: »Und strafe die Schwiegertochter, o Herr, um meinetwillen; rechne ihr alle Kränkungen an, die sie mir zufügt! Und öffne meinem Sohn die Augen – daß er sie und Wiktoruschka erkenne! Herr, hilf Wiktoruschka, gewähre ihm deine Wohltaten . . .«

Wiktoruschka schläft hier in der Küche, gleich nebenan auf der Pritsche; das Gegreine der Mutter hat ihn geweckt, er ruft mit schläfriger Stimme: »Mama, schon wieder plärren Sie in aller Frühe! Es ist das reinste Unglück!«

»Schon gut, schon gut, schlaf nur«, murmelt schuldbewußt die Alte. Ein, zwei Minuten schaukelt sie schweigend hin und her, dann ruft sie plötzlich aufs neue laut und rachegierig aus: »Auf daß sie der Schlag rühre und sie ohne Sarg begraben werden, o Herr . . .«

So schrecklich hatte nicht einmal mein Großvater gebetet.

Nach dem Gebet weckte sie mich: »Steh auf, genug gepennt, wir leben nicht, um zu schlafen! Heiz den Samowar an und schaff Holz heran – Kienspäne hast du gestern wohl wieder nicht vorbereitet? Hu!«

Ich bemühe mich, alles so rasch wie möglich zu machen, nur um die Alte nicht zischeln zu hören, aber man kann es ihr einfach nicht recht tun; sie hetzt wie der Wintersturm in der Küche umher und zischelt und heult: »Leise, du Teufel! Wenn du mir Wiktoruschka weckst, bekommst du was ab! Los, lauf in den Laden . . .«

Wochentags kaufte ich zum Morgentee zwei Pfund Weizenbrot und für zwei Kopeken Brötchen für die junge Frau des Hauses. Wenn ich das Brot nach Hause brachte, sahen die Frauen es mißtrauisch an, wogen es in der Hand und fragten: »Hat es denn keine Zuwaage gegeben? Nein? Los, mach mal den Mund auf!« Und triumphierend riefen sie: »Er hat die Zuwaage aufgefressen, da stecken ja noch die Krümel zwischen den Zähnen!«

Ich arbeitete gern – es machte mir Spaß, dem Schmutz im Hause zu Leibe zu gehen, die Fußböden zu wischen, das Kupfergeschirr, die Ofenklappen und Türklinken zu putzen; waren die beiden Frauen friedfertig gestimmt, dann hörte ich sie oft von mir sagen: »Fleißig ist er ja.«

»Und sauber auch.«

»Aber reichlich frech.«

»Ja, meine Liebe, was hat er denn schon für eine Erziehung genossen?«

Und beide bemühten sich, mir Respekt beizubringen; ich mochte sie jedoch nicht leiden, sah sie als Halbverrückte an, hörte nicht auf sie und blieb ihnen auch kein Wort schuldig.

Die junge Frau des Hauses merkte wohl, wie wenig Eindruck manche Reden auf mich machten, und sagte immer häufiger zu mir: »Du darfst nicht vergessen, daß du aus einem bettelarmen Hause kommst. Deine Mutter hat einen seidenen Überwurf von mir geschenkt bekommen. Mit Glasperlen!«

Eines Tages entgegnete ich ihr: »Soll ich mich dieses Überwurfs wegen vielleicht von Ihnen schinden lassen?«

»Ach du meine Güte, der steckt uns noch das Haus an!« rief sie erschrocken aus.

Ich war verblüfft – warum sollte ich das Haus anstecken?

Beide beschwerten sich alle Augenblicke über mich beim Hausherrn, worauf der Hausherr mich streng ermahnte: »Freundchen, nimm dich in acht!«

Doch eines Tages gab er den beiden Frauen gelassen zur Antwort: »Ihr seid mir die Rechten! Reitet auf dem Jungen herum wie auf einem Wallach – ein anderer wäre längst davongelaufen oder bei dieser Arbeit verreckt.«

Die Frauen brachen in Zornestränen aus; die Ehegattin stampfte außer sich mit dem Fuß und schrie: »Wie kannst du so etwas in seiner Gegenwart sagen, langmähniger Dummkopf du! Wie soll er nach diesen Worten noch Achtung vor mir haben? Ich bin doch schwanger!«

Die Mutter jammerte und heulte: »Vergebe dir Gott, Wassilij, denk aber an mein Wort – du wirst den Jungen nur verderben!«

Nachdem sie entrüstet gegangen waren, sagte der Hausherr streng: »Siehst du, kleiner Teufel, was deinetwegen für ein Lärm im Hause ist? Warte nur, ich schicke dich zum Großvater zurück, da kannst du wieder Lumpen sammeln!«

Ich ließ die Kränkung nicht auf mir sitzen und entgegnete: »Lieber Lumpen sammeln als bei Ihnen leben! Sie nehmen mich als Lehrling auf, aber was lehren Sie mich? Die Mülleimer hinuntertragen . . .«

Der Hausherr packte mich an den Haaren, aber so vorsichtig, daß es nicht weh tat, sah mir verwundert in die Augen und meinte: »Du bist aber auch eine ziemliche Kröte! Nein, Freundchen, so etwas kann ich nicht brauchen, nein . . .«

Ich glaubte schon, er würde mich davonjagen, aber er kam am übernächsten Tag mit einer Rolle dickem Papier, mit Bleistift, Winkelmaß und Lineal in der Hand zu mir in die Küche.

»Wenn du mit dem Messerputzen fertig bist, zeichnest du mir das nach!«

Auf dem Blatt sah man die Front eines zweistöckigen Hauses mit vielen Fenstern und Stuckverzierungen.

»Hier hast du einen Zirkel! Miß alle Linien nach, trage die Enden auf dem Papier als Punkte ein und verbinde diese Punkte mit Bleistift und Lineal durch Linien. Zuerst der Länge nach – das sind die Horizontalen, dann quer zu ihnen das sind die Vertikalen. Leg los!«

Ich war über die saubere Arbeit und den Beginn der Lehre sehr erfreut, starrte jedoch Papier und Werkzeug mit ehrfürchtiger Scheu und ohne das mindeste Verständnis an.

Dennoch wusch ich mir rasch die Hände und machte mich ans Lernen. Erst zog ich die Horizontalen und prüfte sie – alles in Ordnung! Es waren allerdings drei zuviel. Dann zog ich die Vertikalen und stellte überrascht fest, daß sich die Front des Hauses unsinnig verzerrt hatte – die Fenster waren an die Stelle der Zwischenmauern gerückt; eins hatte sich sogar selbständig gemacht und hing neben dem Hause in der Luft. Auch der Vordereingang hatte sich bis zum zweiten Stock in die Luft geschwungen, während sich das Gesims mitten aufs Dach und die Dachluke auf den Schornstein verirrt hatten.

Ich starrte lange, fast unter Tränen, auf alle diese nicht wiedergutzumachenden Wunder und versuchte zu begreifen, wie sie geschehen waren. Und ohne es begriffen zu haben, beschloß ich, der Sache durch Phantasie nachzuhelfen – ich zeichnete an der Front des Hauses auf allen Gesimsen und auf dem Dachfirst Krähen, Tauben und Spatzen hin, auf der Erde vor dem Fenster krummbeinige Menschen mit Regenschirmen, die ihre Mißgestalt nicht ganz verbargen. Dann bedeckte ich das ganze Blatt mit schrägen Strichen und brachte mein Werk zum Lehrer.

Er zog die Brauen hoch, zerwühlte sein Haar und erkundigte sich mit finsterer Miene: »Was soll denn das bedeuten?«

»Es regnet«, erläuterte ich mein Werk. »Wenn es regnet, erscheinen alle Häuser schief, weil der Regen selbst immer schief fällt. Die Vögel – das hier sind alles Vögel – haben auf den Gesimsen Schutz gefunden. So ist es bei Regen immer. Und das sind Menschen, die nach Hause eilen. Die feine Dame da ist hingefallen, und das hier ist ein Straßenhändler, der mit Zitronen handelt . . .«

»Ergebenen Dank«, sagte mein Lehrherr, beugte sich über den Tisch – seine Haare fegten dabei das Blatt zu Boden –, brach in Lachen aus und rief: »Daß dich der und jener, du Spatzenvieh!«

Die Hausherrin kam herein – ihr Bauch schaukelte wie ein Fäßchen –, sah meine Arbeit an und sagte zu ihrem Gatten: »Verdrisch ihn doch!«

Aber der Hausherr bemerkte friedfertig: »Macht nichts, ich habe auch nicht besser angefangen.«

Nachdem er die Verheerungen an der Fassade mit dem Rotstift bezeichnet hatte, gab er mir neues Papier.

»Los, mach alles noch einmal! Du wirst das so lange zeichnen, bis du es hingekriegt hast.«

Die zweite Kopie gelang mir schon besser – soweit man davon absieht, daß das eine Fenster genau auf die Eingangstür traf. Mir gefiel jedoch nicht, daß das Haus so leer war, und ich bevölkerte es mit allerlei Gestalten – man sah feine Damen mit Fächern in der Hand und Kavaliere mit Zigaretten in den Fenstern; einer von ihnen, ein Nichtraucher, drehte allen anderen eine Nase. Am Eingang wartete ein Mietkutscher, daneben lag ein Hund.

»Warum hast du wieder herumgeschmiert?« fragte mich böse der Lehrherr.

Ich erklärte ihm, ohne Menschen sehe alles so traurig aus, aber er schimpfte: »Zum Teufel damit! Wenn du lernen willst, lerne! Das ist doch Unfug . . .«

Als es mir endlich gelang, eine Kopie der Fassade herzustellen, die dem Original ähnlich war, freute er sich.

»Na siehst du, du kannst es doch! Auf diese Art werden wir beiden wohl eher zur Sache kommen . . .«

Und er stellte mir die Aufgabe: »Entwirf den Plan der Wohnung – wie die Zimmer liegen, wo sich die Türen und Fenster befinden, wo was steht. Ich gebe dir keinerlei Anweisungen – mach's selber!«

Ich wandte mich nachdenklich in die Küche – womit sollte ich anfangen?

An diesem Punkt fand meine Ausbildung im Zeichnen jedoch auch schon ihr Ende.

Die alte Hausherrin trat auf mich zu und fragte unheildrohend: »Zeichnen willst du?«

Sie packte mich an den Haaren und stieß mich mit dem Gesicht auf den Tisch, daß mir Nase und Lippen bluteten; dann zerriß sie die Zeichnung, schnellte hoch, fegte das Werkzeug vom Tisch und rief, die Fäuste in die Hüften gestemmt, triumphierend: »So, zeichne doch! Nein, daraus wird nichts! Ein Fremder soll mitarbeiten, während der einzige Bruder, das eigene Fleisch und Blut, fort soll?«

Der Hausherr kam gelaufen, auch seine Frau wogte herbei, und ein wilder Tumult begann – alle drei fielen übereinander her, schrien und spien sich an; es endete damit, daß der Hausherr, nachdem die Frauen sich zurückgezogen hatten, um zu heulen, mir sagte: »Stell das alles vorerst zurück, das Lernen, meine ich – du siehst doch selber, was dabei herauskommt!«

Er tat mir leid – er war so zerknittert und hilflos, für alle Zeiten von dem Gezeter der Weiber betäubt.

Ich war mir schon früher darüber im klaren gewesen, daß mich die Alte nicht gern lernen sah und mich absichtlich darin behinderte. Bevor ich mich ans Zeichnen machte, fragte ich jedesmal: »Ist noch etwas zu tun?«

Und sie gab mürrisch zur Antwort: »Wenn etwas ist, werde ich es schon sagen, hock nieder am Tisch und amüsier dich . . .«

Nach einiger Zeit pflegte sie mich irgendwohin zu schicken oder zu sagen: »Wie sieht der Vorderaufgang bei dir aus? In den Ecken – Schmutz und Staub! Geh, feg aus!«

Ich ging hin und sah nach – es war kein Staub da.

»Du wagst es, mir zu widersprechen?« schrie sie mich an.

Eines Tages übergoß sie alle meine Zeichnungen mit Kwaß, ein anderes Mal kippte sie eine Schale Ikonenöl darüber – sie verübte ihre Kleinmädchenstreiche mit kindlicher List und mit dem kindlichen Unvermögen, sie zu verbergen. Weder vorher noch nachher habe ich einen Menschen gesehen, der sich so rasch und leicht wie sie über etwas entrüstet oder so leidenschaftlich gern über alle und alles beklagt hätte. Die Menschen beklagen sich zwar alle ganz gern, aber sie tat es mit besonderem Genuß – es war, als sänge sie ein Lied.

Ihre Liebe zum Sohn grenzte an Wahnsinn, wirkte lächerlich und erschreckte mich durch eine Kraft, die ich nicht anders als grimmig nennen kann. Da stellte sie sich manchmal nach dem Morgengebet auf den Ofentritt, legte die Ellenbogen auf das Außenbrett des Hängebodens und flüsterte wie im Fieber: »Mein Unverhoffter, Gottesgeschenk, heißer Tropfen aus meinem Blut, rein wie ein Diamant, leichte Engelsfeder du! Er schläft – schlaf, Kind, umfange deine Seele ein heiterer Traum, träume von einer Braut, schöner als alle, schön wie ein Königskind und reich wie eine Kaufmannstochter! Deine Feinde sollen ungeboren verrecken und deine Freunde hundert Jahre leben, die Mädchen aber in Rudeln hinter dir her sein – wie Enten hinter dem Enterich!«

Ich verspüre einen unerträglichen Lachreiz – der grobe und träge Wiktor erinnert an einen Specht; er ist genauso bunt, genauso großnäsig, genauso eigensinnig und beschränkt.

Gelegentlich wurde er vom Flüstern der Mutter wach und murmelte im Halbschlaf: »Scheren Sie sich zum Teufel, Mama, was prusten Sie mir mitten in die Schnauze! . . . Ist doch kein Leben mehr!«

Manchmal stieg sie gehorsam vom Ofentritt herunter und lächelte: »So schlaf schon, schlaf . . . du Grobian!«

Es kam aber auch vor, daß ihr die Beine versagten – dann klatschte sie auf den Ofenrand hin und keuchte mit offenem Mund, laut atmend, als hätte sie sich die Zunge verbrannt, die beißenden Worte: »So also ist das? Du jagst deine Mutter zum Teufel, du Hundsfott? Ach meine Mitternachtsschande, verfluchter Kummer du, den mir der Teufel in die Seele gepflanzt, wärst du doch vor der Geburt verfault!«

Sie redete in schmutzigen Worten, wie die betrunkene Straße redet – mich gruselte, wenn ich es hörte.

Sie schlief wenig und unruhig, sprang manche Nacht mehrmals vom Ofen, sank zu mir auf die Bank und weckte mich.

»Was haben Sie?«

»Schweig still«, flüsterte sie, bekreuzigte sich und starrte irgendwohin ins Dunkel. »Herrgott . . . und du, Prophet Ilja . . . und du, Märtyrerin Warwara . . . bewahret mich vor unverhofftem Tod . . .«

Sie zündete mit zitternder Hand eine Kerze an. Die Anspannung ließ ihr rundes, starknasiges Gesicht aufquellen, die grauen, unruhig zwinkernden Augen spähten angestrengt umher – das Dämmerlicht hatte alles ringsum verändert. Die Küche war groß, aber mit Schränken und Truhen vollgestellt; nachts wirkte sie klein. Still woben in ihr die Mondstrahlen, vor den Heiligenbildern flackerte das Licht eines »Ewigen Lämpchens«, an der Wand blitzten wie Eiszapfen die Küchenmesser, auf den Regalen verschwammen gleich blicklosen Fratzen die schwarzen Bratpfannen.

Sie pflegte mit einer Vorsicht vom Ofen zu klettern, als ginge es über ein Flußufer ins Wasser, und patschte mit bloßen Füßen auf eine Ecke zu, wo über einem Ausgußeimer ein Handwaschbecken mit großen Henkeln hing, das mich an einen abgehackten Kopf erinnerte; gleich daneben stand der Wasserzuber.

Sie trank seufzend und sich verschluckend Wasser, dann starrte sie durch die bläulich bereiften Fensterscheiben ins Freie.

»Erbarme dich, Herr, erbarme dich mein«, betete sie flüsternd.

Manchmal löschte sie das Licht, sank auf die Knie und fauchte: »Wer liebt mich denn, o Herr, wer braucht mich?«

Wenn sie das Abzugsblech bekreuzigt hatte und wieder auf den Ofen kroch, befühlte sie die Klappen – ob sie auch fest geschlossen waren; sie beschmierte dabei die Hände mit Ruß, schimpfte entsetzlich und schlief plötzlich ein – als hätte sie eine unsichtbare Macht niedergeschmettert. Hatte sie mich gekränkt, dann dachte ich mir: Schade, daß nicht mein Großvater ihr Mann ist – dem hätte sie aber zugesetzt! Freilich hätte auch sie bei ihm nichts zu lachen gehabt. Sie kränkte mich oft genug, aber es gab auch Tage, an denen ihr aufgedunsenes, gleichsam wattiertes Gesicht traurig wurde, die Augen in Tränen schwammen und sie mit Nachdruck zu mir sagte: »Glaubst du vielleicht – ich habe es leicht? Da habe ich Kinder in die Welt gesetzt, habe sie großgezogen und auf eigene Füße gestellt – wozu eigentlich? Jetzt schlage ich mich bei ihnen als Köchin durch – meinst du etwa, es macht mir Spaß? Da holt mein Sohn ein fremdes Frauenzimmer ins Haus und setzt sein eigen Fleisch und Blut zurück. Ist das vielleicht schön?«

»Nein«, entgegnete ich überzeugt.

»Na also! Da siehst du's . . .«

Und sie erging sich in schamlosen Worten über die Schwiegertochter: »Ich bin mal mit ihr im Bad gewesen und habe genug gesehen! Was hat er nur an ihr gefunden? Das soll eine Schönheit sein?«

Über die Beziehungen zwischen Mann und Frau sprach sie immer erstaunlich schmutzig; zuerst riefen ihre Reden Widerwillen bei mir hervor, aber bald gewöhnte ich mich daran, sie aufmerksam und mit großem Interesse anzuhören; ich fühlte, hinter diesen Reden verbarg sich etwas Wahres und Bedrückendes.

»Das Weib ist eine Macht, es hat sogar den Herrgott überlistet, jawohl doch!« plärrte sie und hieb mit der Hand auf den Tisch. »Evas wegen fahren die Menschen zur Hölle – bitte, da hast du's!«

Von der Macht des Weibes konnte sie ohne Ende reden, und manchmal schien mir, sie wolle mit solchen Reden jemand erschrecken. Besonders behielt ich im Gedächtnis, daß »Eva sogar den Herrgott überlistet« habe.

Auf unserem Hof stand ein Flügel, ebenso groß wie das Vorderhaus; von den acht Wohnungen in beiden Gebäuden waren vier von Offizieren bewohnt, eine fünfte vom Regimentsgeistlichen. Der Hof wimmelte von Offiziersburschen und Meldern, bei denen Wäscherinnen, Stubenmädchen und Köchinnen ein und aus gingen; in allen Küchen spielten sich ständig unter Tränen, Gezänk und Schlägereien allerlei Romane und Dramen ab. Die Soldaten schlugen sich untereinander oder mit den Erdarbeitern, die im Dienst des Hausbesitzers standen; daneben prügelte man die Frauen. Ununterbrochen brodelte auf dem Hof, was man Unzucht, Ausschweifung nennt – die unbezähmbare tierische Gier gesunder Burschen. Dieses Leben voller heftiger Sinnlichkeit, absurder Quälsucht und schmutziger Prahlerei mit dem Erfolg wurde in der Familie meines Brotherrn beim Mittagessen während des Abendtees und des Abendbrots zynisch mit allen Einzelheiten erörtert. Die Alte war über alle Geschichten, die sich im Hause ereigneten, stets auf dem laufenden und gab sie schadenfroh und leidenschaftlich interessiert zum besten.

Die Junge hörte sich diese Geschichten an und lächelte schweigend mit ihren vollen Lippen. Wiktor lachte, während der Hausherr denn doch das Gesicht verzog und sagte: »Genug jetzt, Mama . . .«

»Mein Gott, darf man denn gar nichts mehr sagen?« beklagte sich die Erzählerin.

Wiktor ermunterte sie: »Immer weiter im Text, Mama, wozu sich genieren! Wir sind doch schließlich unter uns . . .«

Der ältere Sohn behandelte die Mutter mit widerwilliger Nachsicht und vermied es, mit ihr allein zu bleiben; traf es sich dennoch, dann überhäufte ihn die Mutter mit Klagen über seine Frau und bat ihn jedesmal um Geld. Er drückte ihr hastig einen oder drei Rubel und einige Silbermünzen in die Hand.

»Es ist nicht recht von Ihnen, Mama, daß Sie sich dieses Geld von mir geben lassen, es geht mir nicht um das Geld, aber recht ist es nicht!«

»Ich will es doch nur für die Bettler, für Kerzen, für die Kirche . . .«

»Ich bitte Sie. Für Bettler! Sie werden Wiktor endgültig verderben.«

»Du liebst den Bruder eben nicht, das ist eine große Sünde!«

Er winkte nur ab und ging.

Wiktor behandelte die Mutter grob und mit herablassendem Spott. Er war sehr gefräßig und ewig hungrig. Sonntags, wenn die Mutter Pfannkuchen buk, tat sie immer einige in einen Topf und versteckte sie unter der Bank, auf der ich schlief; Wiktor kam von der Mittagsmesse zurück, holte den Topf hervor und brummte: »Konntest du denn nicht mehr beiseite schaffen? Pfannkuchen – bitte zu versuchen!«

»Futter sie lieber rasch auf, damit die anderen es nicht sehen . . .«

»Ich erzähle es ihnen, dir zum Trotz, wie du Pfannkuchen für mich stiehlst! Gabel in den Schnabel!«

Eines Tages zog ich den Topf hervor und aß ein paar Pfannkuchen auf – Wiktor verprügelte mich dafür. Er konnte mich ebensowenig leiden wie ich ihn, trieb seinen Spott mit mir, ließ mich dreimal am Tage seine Stiefel putzen, schob, wenn er sich auf der Hängepritsche schlafen legte, die Bretter auseinander und spuckte durch die Lücken – möglichst auf meinen Kopf.

Er ahmte offenbar seinen Bruder nach, der häufig genug Ausdrücke wie »Bestien von Hühnern« gebrauchte, doch wenn sich Wiktor in allerlei Wendungen erging, wirkte es erstaunlich unsinnig und albern.

»Mama, rechtsum trara – wo sind meine Socken?«

Er verfolgte mich mit allerlei dummen Fragen: »Aljoschka, antworte mir! Warum schreibt man – Geheul, und sagt geh, heul? Warum sagt man – Ameise, und nicht am Eise? Warum heißt es – vergeblich, und nicht vernehmlich?«

Mir mißfiel, wie sie alle sprachen; in der schönen Sprache meiner Großmutter und meines Großvaters erzogen, verstand ich solche Verbindungen unvereinbarer Wörter wie »entsetzlich komisch«, »sterbenshungrig«, »schrecklich lustig« zuerst nicht; mir schien, das Komische könnte nicht entsetzlich, das Lustige nicht schrecklich sein und alle Menschen müßten bis zu ihrem Tode Hunger empfinden und also essen.

Ich fragte sie: »Kann man denn so sagen?«

Sie schalten: »Was du schon für ein Lehrmeister bist! Man sollte dir die Ohren abreißen . . .« Doch auch das »Ohrenabreißen« schien mir falsch – abreißen konnte man Grashalme, Blumen, Nüsse. Sie versuchten mir zu beweisen, daß man auch an den Ohren reißen kann, aber das überzeugte mich nicht, und triumphierend verkündete ich: »Und doch sind meine Ohren nicht abgerissen!«

Ringsum gab es unvergleichlich mehr grausamen Übermut und schmutzige Schamlosigkeit als in den Straßen Kunawinos, das reich an »öffentlichen Häusern« und »bummelnden« Mädchen war. In Kunawino war hinter dem Schmutz und der Zügellosigkeit immerhin etwas zu spüren, das die Unvermeidlichkeit des Schmutzes und der Zügellosigkeit erklärte – das Hungerdasein, die schwere Arbeit. Hier führte man ein sattes und leichtes Leben, und eine unverständliche, ganz unnütze Geschäftigkeit vertrat die Stelle der Arbeit. Darüber hinaus war alles in eine beißende, entnervende Langeweile gehüllt.

Es ging mir nicht gut, aber am schlimmsten fühlte ich mich, wenn die Großmutter mich besuchte. Sie kam durch den Hintereingang herein, betrat die Küche und bekreuzigte sich gegen die Heiligenbilder; dann verneigte sie sich tief vor der jüngeren Schwester, und diese Verneigung würgte mich, drückte mich nieder wie eine viele, viele Pud schwere Last.

»Ach, du bist es, Akulina«, empfing meine Herrin die Großmutter geringschätzig und kühl.

Ich kannte die Großmutter nicht wieder – sie setzte sich mit bescheiden geschürzten Lippen und völlig verändertem, fremdem Gesicht still auf die Bank an der Tür, neben den Ausgußzuber, und schwieg, als fühle sie sich schuldig; die Fragen der Schwester beantwortete sie ergeben und leise.

Das quälte mich, und ärgerlich sagte ich zu ihr: »Wo hast du dich denn hingesetzt?«

Sie zwinkerte mir freundlich zu und gab belehrend zur Antwort: »Sei du mal still, du bist hier nicht der Hausherr!«

»Er mischt sich immer in Dinge ein, die ihn nichts angehen, ob man ihn schlägt oder schilt«, begann die Alte mit ihren Klagen.

Nicht selten erkundigte sie sich schadenfroh bei der Schwester: »Was ist, Akulina, lebst wohl als Bettlerin?«

»Als wenn das so ein Unglück wäre . . .«

»Ist alles kein Unglück, solange man sich nicht schämt.«

»Man sagt, auch Christus hat von Almosen gelebt . . .«

»Dummköpfe sagen das und Ketzer, aber du, dumme Gans, hörst auf sie! Christus ist kein Bettler, er ist Gottes Sohn, er wird kommen in seiner Herrlichkeit, so steht's geschrieben, zu richten die Lebendigen und die Toten – auch die Toten, vergiß das nicht! Vor ihm kannst du dich nicht verbergen, und wenn du zu Asche verbrennst . . . Er wird es dir und Wassilij heimzahlen – für euren Stolz, dafür, wie ihr mich behandelt habt, wenn ich euch reiche Leute manchmal um Hilfe bat . . .«

»Ich habe dir doch geholfen, so gut ich konnte«, entgegnete die Großmutter teilnahmslos. »Und heimgezahlt, das weißt du, hat es uns der Herr . . .«

»Viel zuwenig! Viel zuwenig . . .«

Lange setzte die Schwester mit ihrer unermüdlichen Zunge der Großmutter zu und zankte mit ihr herum, während ich ihrem bösen Kreischen zuhörte und mich niedergeschlagen fragte, wie die Großmutter sich das gefallen lassen konnte. Ich mochte sie in solchen Augenblicken nicht.

Die jüngere Hausherrin kam in die Küche und nickte der Großmutter wohlwollend zu.

»Kommen Sie zu uns ins Eßzimmer, macht nichts, kommen Sie nur herein!«

Die Schwester rief der Großmutter nach: »Tritt die Füße ab, du – finsteres Dorf!«

Der Hausherr begrüßte die Großmutter mit einem fröhlichen Wort: »Aha, die weise Akulina! Wie geht's? Atmet der alte Kaschirin noch?«

Großmutter lächelte ihm herzlich zu.

»Und du krümmst immer den Rücken und schuftest?«

»Ja! Wie ein Sträfling.«

Mit ihm unterhielt sich Großmutter freundlich und nett, doch als die Ältere. Gelegentlich erinnerte er sich meiner Mutter: »Jaaa, Warwara Wassiljewna . . . Was für eine Frau . . . großartig, was?«

Seine Frau wandte sich an die Großmutter und flocht ein: »Erinnern Sie sich noch, ich habe ihr einen Überwurf geschenkt, aus schwarzer Seide, mit Glasperlen?«

»Gewiß doch . . .«

»Der Überwurf war fast noch neu . . .«

»Ja, ja«, murmelte der Hausherr, »Überwurf oder Wurfüber, das Leben ist rasch vorüber!«

»Was redest du da?« fragte mißtrauisch seine Frau.

»Ich? Nichts Besonderes . . . Die frohen Tage gehen hin, die Menschen, die guten, auch . . .«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.« Die Hausherrin konnte sich nicht beruhigen.

Dann führt man die Großmutter zum Neugeborenen, ich räume das Teegeschirr ab, während der Hausherr mit gedämpfter Stimme nachdenklich zu mir sagt: »Eine liebe Alte – deine Großmutter . . .«

Ich bin ihm für diese Worte im Innersten dankbar; gequält sage ich zur Großmutter, nachdem wir allein geblieben sind: »Warum du nur herkommst! Warum? Du siehst doch, was es für Leute sind . . .«

»Ach, Oljoscha, ich sehe alles«, entgegnet sie und blickt mich mit gütigem Spott auf dem wunderbaren Gesicht an; ich schäme mich plötzlich – ja, natürlich sieht und weiß sie alles, natürlich weiß sie auch, was in diesem Augenblick in meiner Seele vorgeht.

Sie sieht sich vorsichtig um – ob auch nicht jemand kommt –, umarmt mich und redet mir gut zu: »Ich würde ja nicht herkommen, wenn du nicht wärst; was habe ich schon von ihnen? Aber der Großvater war krank, ich habe meine liebe Not mit ihm gehabt und nicht gearbeitet – jetzt fehlt mir das Geld . . . Mein Sohn Michailo aber hat Sascha aus dem Haus gejagt, und Sascha muß was zu essen und zu trinken haben. Sie hatten uns versprochen, sechs Rubel im Jahr für dich zu zahlen, da hab ich mir eben gedacht – ob sie nicht wenigstens mit einem Rubel herausrücken? Du bist doch schon bald ein halbes Jahr hier . . .« Und sie flüstert mir ins Ohr: »Sie haben von mir verlangt, ich soll dir den Kopf waschen, soll mit dir schelten – sie sagen, du hörst auf niemand. Versuche es, bei ihnen auszuhalten, mein Herzchen, vielleicht zwei Jährchen noch, solange, bis du richtig groß und stark bist! Tust du es?«

Ich verspreche es ihr. Aber es fällt mir sehr schwer. Dieses armselige, langweilige Leben, das aus einem einzigen Gehetze um das bißchen Essen besteht, bedrückt mich; ich lebe wie im Schlaf.

Manchmal denke ich mir – du mußt weglaufen! Aber draußen ist gottverfluchter Winter, nachts heulen die Schneestürme, auf dem Dachboden rumort der Wind und knistern, vom Frost zusammengepreßt, die Dachsparren – wo soll man da hin?

Spazierengehen durfte ich nicht, und zum Spazierengehen war auch keine Zeit – der kurze Wintertag verflog im Hin und Her der häuslichen Arbeit ungreifbar rasch.

Es war jedoch für mich Pflicht, zur Kirche zu gehen; sonnabends zum Abendgottesdienst, feiertags zur Mittagsmesse.

Ich hielt mich gern in Kirchen auf; ich liebte es, in einer Ecke zu stehen, wo es nicht ganz so voll und dunkler war, und von fern auf den Ikonostas, die Bilderwand, zu blicken – sie schien im Kerzenlicht zu schmelzen und sich in dunkelgoldenen Bächen über die grauen Steinplatten vor der Lesekanzel zu ergießen; die düsteren Gestalten auf den Ikonen beginnen sich leise zu regen; lustig flimmert das goldene Spitzenwerk des »Zarentores«, die Kerzenflammen hängen in der bläulichen Luft wie goldene Bienen, die Köpfe der Frauen und Mädchen erinnern an Blumen.

Alles ringsum verschmilzt harmonisch mit dem Gesang des Chores, alles lebt ein seltsames Märchenleben, die ganze Kirche schwingt langsam wie eine Wiege – in einer dunklen Leere, schwarz wie Pech.

Manchmal schien mir, die Kirche wäre in einem tiefen See versunken, sie hätte sich vor der Erde versteckt, um ihr besonderes, mit nichts zu vergleichendes Leben zu führen. Vermutlich war Großmutters Erzählung von der Stadt Kitesh daran schuld, und oft genug sprach ich, während ich mich, eingelullt vom Gesang des Chors, dem Raunen der Gebete, den Seufzern der Menschen, mit allem, was mich umgab, schläfrig hin und her wiegte, die schwermütig dahinströmenden Verse vor mich hin:

»Es umschlossen die verdammten Tataren
Mit ihrer heidnischen Heeresmacht
Unser ruhmreiches Kiteshgrad
Zur lichten Stunde des Morgenrots . . .
    Wie ist's möglich, Herr, unser Gott,
    Muttergottes, du heilige!
Ach, so helft euren Knechten treu,
Die Morgenandacht noch durchzustehen
Und die Heilige Schrift anzuhören!
    Ach, so laßt den Tataren nicht
    Die heilige Kirche entweihen,
    Gebt die Frauen und Mädchen der Schande nicht,
    Die kleinen Kinder nicht der Willkür preis,
    Nicht die Greise dem schlimmen Tode!
Es erhörte der Herr Zebaoth,
Es erhörte die Muttergottes
Jener menschlichen Seufzer Flehen,
Jener gläubigen Christen Klagen.
    Und es sprach der Herr Zebaoth
    Zu der Engel Zier Michael:
›So geh hin denn, o Michael,
Erschüttre die Erde um Kiteshgrad,
Laß die Stadt im See versinken;
Mögen die Menschen beten dort
Ohne Unterlaß, ohne Müdigkeit
Von der Frühmesse bis zum Abendgebet,
Alle heiligen Gottesdienste hindurch
Von Ewigkeit zu Ewigkeit!‹«

Ich war in jenen Jahren mit Großmutters Versen so angefüllt wie ein Bienenstock mit Honig; ich glaube, ich habe damals sogar in ihren Versformen gedacht.

Ich sagte in der Kirche keine Gebete her – es schien mir unangebracht, vor Großmutters Gott die zornigen Gebete und weinerlichen Psalmen des Großvaters nachzusprechen; ich war überzeugt, Großmutters Gott könnte keinen Gefallen an ihnen finden, wie auch ich keinen an ihnen fand; obendrein standen sie ja in den Büchern gedruckt, und der Herrgott mußte sie auswendig kennen – wie jeder, der lesen und schreiben kann.

Ich war darum in der Kirche, in jenen Augenblicken, da sich das Herz in wehmütiger Trauer zusammenzog oder die kleinen Kränkungen des verflossenen Tages es zwackten, bemüht, meine Gebete selbst zu erfinden; ich brauchte nur über mein trauriges Los nachzudenken, und die Worte fügten sich mir von selbst, ohne viel Mühe, zu Klagen:

»Herr, ach Herr – ich bin traurig!
Gib, daß ich rasch erwachsen sei!
Ich halte es sonst nicht aus
Und erhäng mich – Herrgott, verzeih!
Aus dem Lernen will nicht viel werden.
Großmutter Matrjona, dieser Drachen,
Knurrt mich an wie ein Wolf,
Kann mir das Leben bitter machen!«

Viele meiner »Gebete« weiß ich noch heute auswendig – in der Kindheit läßt die Arbeit des Verstandes allzu tiefe Narben in der Seele zurück; häufig wachsen sie im ganzen Leben nicht mehr zu.

In der Kirche war es schön, ich ruhte mich dort ebenso aus wie im Wald und auf der Flur. Das kleine Herz, das schon mancherlei Kränkungen erfahren hatte und von der bösen Roheit des Lebens beschmutzt war, wusch sich in unklaren, heißen Träumen rein.

Ich ging aber nur bei strengem Frost in die Kirche oder dann, wenn ein wilder Schneesturm die Stadt durchtobte, wenn es schien, der Himmel wäre erfroren und vom Wind zu Schneewolken zerstäubt, wenn es schien, die Erde, auch sie unter den Schneewehen erstarrt, würde nie wieder erwachen, nie wieder auferstehen.

In stillen Nächten zog ich es vor, in der Stadt umherzustreifen, aus einer Straße in die andere, immer weiter fort, bis in die entlegensten Winkel. Da gehe ich manchmal dahin, als trügen mich Flügel; ich bin mutterseelenallein wie am Himmel der Mond; mein Schatten kriecht vor mir her, löscht die Lichtfunken auf dem Schnee, stößt komisch gegen Prellsteine, gegen Zäune. In der Mitte des Fahrdamms kommt, im schweren Schafpelz, die Klapper in der Hand, der Nachtwächter daher; neben ihm läuft sein zitternder Hund.

Der ungeschlachte Mann erinnert mich an eine Hundehütte – sie hat den Hof verlassen und bewegt sich die Straße entlang, mit unbekanntem Ziel, hinter ihr her der betrübte Hund.

Manchmal begegnen mir lustige junge Damen und Kavaliere – ich bilde mir ein, daß auch sie aus der Abendmesse fortgelaufen sind.

Gelegentlich dringen durch die Lüftungsklappen erleuchteter Fenster eigentümliche Gerüche an die reine Luft – sie wirken fein und fremd und deuten auf ein andersartiges, mir unbekanntes Leben hin; ich stehe vor dem Fenster, schnuppere, horche und versuche zu erraten, was es wohl für ein Leben sein mag und was für Menschen in diesem Hause wohnen. Es ist die Stunde der Abendmesse, aber sie lärmen, sind fröhlich und lachen und spielen irgendwelche Gitarren, deren voller, eherner Klang durch die Lüftungsklappe dringt.

Besonders fesselte mich ein niedriges, einstöckiges Haus an der Ecke zweier einsamer Straßen – der Tichonowskaja und der Martynowskaja. Ich stieß in einer Mondnacht, bei Tauwetter, kurz vor der Fastenwoche darauf; der quadratischen Lüftungsklappe in einem der Fenster entströmte mit dem warmen Dunst ein ungewöhnlicher Ton – es war, als sänge ein starker und guter Mensch mit geschlossenem Mund; Worte waren nicht zu hören, aber das Lied kam mir seltsam vertraut und verständlich vor, wenn mich auch der Saitenklang, der den Fluß des Liedes auf lästige Art unterbrach, beim Zuhören störte. Ich setzte mich auf einen Prellstein; ich verstand, daß man da eine Art Geige spielte, von der eine wunderbare, unerträgliche Gewalt ausging – es tat fast weh, ihr zuzuhören. Manchmal sang sie mit solcher Kraft, daß das ganze Haus zu erbeben schien und die Fensterscheiben klirrten. Es tropfte vom Dach, und auch aus meinen Augen tropften Tränen.

Unbemerkt trat der Nachtwächter auf mich zu, stieß mich vom Prellstein und fragte: »Was hockst du hier herum?«

»Die Musik«, erläuterte ich.

»Was heißt hier – Musik! Mach, daß du fortkommst . . .«

Ich rannte rasch ums Viertel herum und kehrte zum Fenster zurück, aber im Hause wurde nicht mehr musiziert – aus der Lüftungsklappe ergoß sich rauschend ein fröhlicher Lärm; er war der traurigen Musik so wenig ähnlich, als hätte ich alles nur im Traum gehört.

Von da an lief ich fast jeden Sonnabend zu diesem Haus, aber nur einmal, im Frühjahr, war mir beschieden, aufs neue das Cello zu hören – es spielte fast ununterbrochen bis Mitternacht; als ich nach Hause zurückkehrte, verprügelte man mich.

Die nächtlichen Streifzüge unter den winterlichen Sternen, inmitten der menschenleeren Straßen, bereicherten mich sehr. Ich suchte mir geflissentlich Straßen aus, die möglichst weit vom Zentrum entfernt lagen; im Zentrum gab es viele Laternen, ich konnte von Bekannten meiner Herrschaft bemerkt werden, sie hätte erfahren, daß ich die Abendmessen schwänzte. Auch die Betrunkenen, die Polizisten, die »bummelnden« Mädchen störten mich; in den entlegenen Straßen dagegen konnte man durch die Fenster in die unteren Stockwerke spähen – wenn sie nicht allzusehr vereist oder von innen verhangen waren.

Viele Bilder haben mir diese Fenster gezeigt – ich sah, wie die Menschen beteten, wie sie sich küßten oder prügelten, Karten spielten und sich besorgt und lautlos unterhielten; ein stummes Fischleben zog wie im Groschenpanorama an mir vorüber.

Eines Tages sah ich in einer Kellerwohnung zwei Frauen an einem Tisch – die eine jung, die andere etwas älter; ihnen gegenüber saß ein langhaariger Gymnasiast, der die Arme schwenkte und aus einem Buche vorlas. Die Junge hörte zurückgelehnt und mit finster zusammengeschobenen Brauen zu; die Ältere – schmal und mit üppigem Haar – deckte plötzlich die Hände vor das Gesicht; ihre Schultern begannen zu zucken; der Gymnasiast warf das Buch in die Ecke, sank, nachdem die Jüngere aufgesprungen und davongelaufen war, vor der mit dem üppigen Haar auf die Knie und küßte ihr immerfort die Hände.

In einem anderen Fenster erspähte ich einen großen bärtigen Mann, der eine Frau in roter Jacke auf seinen Knien hielt, sie wie ein Kind wiegte und offenbar etwas sang – sein Mund und seine Augen waren weit geöffnet. Sie warf sich vor lauter Lachen hintenüber und schlenkerte mit den Beinen; er richtete sie auf und begann wieder zu singen, während sie aufs neue in Lachen ausbrach. Ich blickte lange zu ihnen hin und ging schließlich weg, nachdem ich verstanden hatte, daß dieser Frohsinn die ganze Nacht kein Ende nehmen würde.

Viele dieser Bilder haben sich meinem Gedächtnis für immer eingeprägt, und oft genug kehrte ich, von ihnen gebannt, zu spät nach Hause zurück.

Das rief bei meiner Herrschaft Mißtrauen hervor, und man verhörte mich: »In welcher Kirche bist du gewesen? Welcher Pope hat zelebriert?« Sie kannten sämtliche Popen in der Stadt, sie wußten, aus welchem Evangelium gelesen wurde, sie wußten alles – es war für sie ein leichtes, mich zu entlarven.

Beide Frauen im Hause verehrten den zornigen Gott meines Großvaters – den Gott, der Furcht von jedem verlangte, der vor ihn trat; sein Name wich nicht von ihren Lippen selbst wenn sie zankten, drohten sie einander: »Warte nur! Gott der Herr wird dich strafen, er wird dich, niederträchtiges Frauenzimmer, noch in die Knie zwingen! . . .«

Am Sonntag der ersten Fastenwoche buk die Alte wie gewöhnlich Pfannkuchen, aber sie brannten ihr immerfort an; rot von der Glut, rief sie zornig aus: »Hole euch doch der Teufel!«

Plötzlich roch sie an der Bratpfanne, warf die Pfannengabel auf den Fußboden und heulte auf: »Ach du meine Güte, die Bratpfanne ist noch unrein, ich habe sie am ersten Montag der Großen Fasten nicht ausgebrannt, o Gott, o Gott!«

Sie sank auf die Knie und flehte mit tränenerstickter Stimme: »Herrgott, himmlischer Vater, vergib mir Verruchten um deiner Leiden willen! O Herr, strafe mich alte Närrin nicht . . .«

Man gab die schon gebackenen Pfannkuchen den Hunden und brannte die Bratpfanne aus, die Schwiegertochter aber warf der Schwiegermutter, wenn sie sich stritten, von da an vor: »Sie backen selbst zur Fastenzeit in unreinen Pfannen!«

Sie zogen ihren Herrgott in alle Angelegenheiten des Hauses, in alle Winkel ihres kleinen Lebens hinein – dadurch erhielt ihr kümmerliches Dasein eine gewisse äußere Bedeutung, erschien es als ständiger Dienst an einer höheren Macht. Dieses Hineinziehen Gottes in langweilige Nichtigkeiten bedrückte mich, und unwillkürlich blickte ich mich, da ich mich unsichtbar von jemand überwacht fühlte, in einem fort nach allen Ecken um; nachts hüllte mich eine kalte Wolke von Furcht ein, sie ging von jener Ecke der Küche aus, in der vor dunklen Heiligenbildern das Ewige Lämpchen brannte.

Neben dem Küchenregal befand sich ein großes, durch einen Pfeiler zweigeteiltes Fenster, durch dieses Fenster blickte eine bodenlose blaue Leere herein, das Haus, die Küche, ich selbst schien am äußersten Rande dieser Leere zu hängen; man brauchte nur eine heftige Bewegung zu machen, und alles würde in den kalten blauen Abgrund stürzen und an den Sternen vorbei durch Totenstille irgendwohin davonfliegen – lautlos wie ein im Wasser versinkender Stein. Ich lag lange regungslos da, wagte nicht, mich auf die andere Seite zu drehen, und wartete auf ein schreckliches Ende meines Lebens.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich mich von dieser Furcht befreite, ich befreite mich aber sehr bald von ihr; natürlich half mir dabei Großmutters gütiger Gott, und ich glaube, schon damals fühlte ich die einfache Wahrheit: Ich hatte bis dahin nichts Schlechtes getan, mich schuldlos zu strafen wäre ein Unrecht, für fremde Sünden aber war ich nicht verantwortlich.

Ich schwänzte gelegentlich auch die Mittagsmesse, besonders im Frühjahr – seine unüberwindliche Macht hielt mich mit aller Entschiedenheit von einem Kirchenbesuch ab. Gab man mir aber ein Zweikopekenstück für eine Kerze mit, dann war ich endgültig verloren, ich kaufte mir »Knöchel«, verbrachte die ganze Zeit der Mittagsmesse mit »Knöchelspielen« und kam unvermeidlich zu spät nach Hause. Eines Tages brachte ich es sogar fertig, ganze zehn Kopeken zu verspielen, die ich für ein Gedächtnisgebet und ein Weihbrot mitbekommen hatte, so daß mir nichts anderes übrigblieb, als von der Schale, mit der der Kirchendiener aus dem Altarraum an mir vorüberkam, ein fremdes Weihbrot zu stibitzen.

Ich spielte leidenschaftlich gern und geriet beim Spielen völlig aus dem Häuschen. Da ich ziemlich gewandt und stark war, machte ich mir in den Nachbarstraßen als Spieler bald einen Namen.

Während der Großen Fasten sollte ich mich auf den Empfang des Abendmahls vorbereiten; ich ging also zu unserem Nachbarn, Vater Dorimedont Pokrowskij, zur Beichte. Ich hielt ihn für streng und hatte gerade ihm gegenüber viel gesündigt – ich hatte wiederholt die Laube in seinem Garten mit Steinen beworfen und war mit seinen Kindern verfeindet; er konnte mich auch sonst an mancherlei Taten erinnern, die ihm Unannehmlichkeiten bereitet hatten. Alles das verwirrte mich sehr, und mein Herz schlug, während ich in der ärmlichen Kirche zur Beichte anstand, recht ängstlich.

Aber Vater Dorimedont empfing mich mit dem gutmütig-brummigen Ausruf: »Aha, der Nachbar . . . Nun gut, knie nieder! Worin hast du gefehlt?«

Er bedeckte meinen Kopf mit schwerem Samt, ich erstickte fast an dem Geruch von Weihrauch und Wachs, es fiel mir schwer zu sprechen, ich hatte auch keine Lust dazu.

»Gehorchst du den Erwachsenen?«

»Nein.«

»Sage – ich habe gefehlt!«

Überraschend für mich selbst platzte ich heraus: »Ich habe Weihbrote gestohlen.«

»Wieso denn das? Und wo?« fragte nach kurzem Nachdenken gelassen der Geistliche.

»Bei den ›Drei Metropoliten‹, bei ›Mariä Schutz und Fürbitte‹, bei Nikola . . .«

»Nanu – in allen Kirchen? Das, mein Freund, ist aber wenig schön, das ist Sünde – verstehst du?«

»Ja.«

»Sage – ich habe gefehlt! Du Kauz! Hast du sie denn gestohlen, um sie zu essen?«

»Manchmal, um sie zu essen, aber gewöhnlich hatte ich das Geld beim ›Knöchelspiel‹ verloren, und da ich ein Weihbrot nach Hause bringen mußte, habe ich eben eins gestohlen.«

Vater Dorimedont murmelte undeutlich und müde vor sich hin, stellte mir noch einige Fragen und erkundigte sich plötzlich streng: »Hast du auch keine illegalen Druckschriften gelesen?«

Ich verstand die Frage natürlich nicht und fragte zurück: »Was meinen Sie?«

»Ob du verbotene Bücher gelesen hast?«

»Nein, habe ich nicht . . .«

»Ich erlasse dir deine Sünden . . . Steh auf!«

Ich sah ihm erstaunt ins Gesicht – es erschien mir nachdenklich und gut. Mir war das alles peinlich, ich schämte mich – als meine Herrschaft mich zur Beichte schickte, hatte sie mir allerlei Schreckliches von ihr erzählt und mir eingeschärft, alle meine Sünden ehrlich zu bekennen.

»Ich habe mit Steinen nach Ihrer Laube geworfen«, erklärte ich.

Der Geistliche sah auf und sagte: »Auch das ist nicht schön! Geh jetzt!«

»Und nach dem Hund auch . . .«

»Der nächste!« rief Vater Dorimedont und sah an mir vorbei.

Ich ging mit dem Gefühl, getäuscht und gekränkt worden zu sein. Mit welcher ängstlichen Spannung war ich zur Beichte gegangen, und plötzlich stellte sich alles als keineswegs schrecklich, ja sogar als langweilig heraus! Interessant war nur die Frage nach den mir unbekannten Büchern gewesen – ich erinnerte mich des Gymnasiasten, der den zwei Frauen in der Kellerwohnung aus einem Buch vorgelesen hatte, erinnerte mich an »Gar nicht übel« – auch bei ihm hatte ich zahlreiche dicke schwarze Bücher mit unverständlichen Zeichnungen gesehen.

Am folgenden Tage gab man mir ein Fünfzehnkopekenstück in Silber und schickte mich in die Kirche zum Abendmahl. Das Osterfest fiel auf ein spätes Datum, der Schnee war längst geschmolzen, die Straßen waren trocken und staubten; es war ein heiterer, sonniger Tag.

Neben der Kirchenumfriedung gab sich eine größere Gesellschaft von Handwerksburschen leidenschaftlich dem »Knöchelspiel« hin; ich entschied, ich würde zum Abendmahl schon noch zurechtkommen, und bat die Spieler: »Laßt mich mitmachen!«

»Eine Kopeke für die Teilnahme am Spiel!« erklärte stolz ein pockennarbiger, rothaariger Bursche.

Ich gab nicht weniger stolz zur Antwort: »Drei auf das zweite Paar links!«

»Den Einsatz aufs Feld!«

Und das Spiel begann.

Ich wechselte das Fünfzehnkopekenstück und schob meine drei Kopeken unter das Knöchelpaar auf dem langen Feld; wer dieses Knöchelpaar umwarf, hatte das Geld gewonnen, traf er daneben, zahlte er drei Kopeken an mich. Ich hatte Glück – zwei Spieler hatten nach meinem Geld gezielt und beide nicht getroffen; ich hatte also sechs Kopeken von richtigen, erwachsenen Männern gewonnen. Das hob natürlich meine Stimmung.

Aber dann sagte einer der Spieler: »Paßt auf ihn auf, Jungen, sonst läuft er uns mit dem Gewinn davon!«

Ich war gekränkt und erklärte, ohne mich zu bedenken, als haute ich auf eine Pauke: »Neun Kopeken auf das äußerste Paar links!«

Das machte auf die anderen Spieler jedoch keinen merklichen Eindruck, und nur ein Junge in meinem Alter rief warnend aus: »Paßt auf, er ist ein Glückspilz, es ist der Zeichner von der Swesdinka, ich kenne ihn!«

Ein hagerer Handwerksbursche, nach dem Geruch zu urteilen, ein Kürschner, erkundigte sich giftig: »Der kleine Teufel da? Nun guut . . .«

Er nahm mit dem bleigefüllten Wurfknöchel Maß, brachte die von mir gesetzten Knöchel sicher zu Fall, beugte sich vor und erkundigte sich: »Jetzt heulst du wohl, was?«

Ich gab zur Antwort: »Drei auf den äußersten rechts!«

»Auch den fege ich um!« prahlte der Kürschner, doch er verlor.

Mehr als dreimal hintereinander durfte man nicht setzen – ich warf also gegen fremde Einsätze und gewann wohl noch vier Kopeken und einen Haufen »Knöchel« dazu. Als ich dann aber wieder an der Reihe war, setzte ich dreimal und verlor mein ganzes Geld, genau im richtigen Augenblick – die Mittagsmesse war zu Ende, die Glocken läuteten, das Volk kam aus der Kirche.

»Hinterläßt du Frau und Kinder?« fragte mich der Kürschner, offenbar in der Absicht, mich am Schlafittchen zu nehmen, doch ich entwand mich ihm, lief davon, holte irgendein feiertäglich gekleidetes Bürschlein ein und erkundigte mich äußerst höflich: »Haben Sie das Abendmahl empfangen?«

»Na und?« entgegnete er und maß mich mit einem argwöhnischen Blick.

Ich bat ihn, mir zu erzählen, wie das Abendmahl vor sich geht, was dabei der Priester sagt und was ich meinerseits zu tun gehabt hätte.

Der Bursche machte ein finsteres Gesicht und knurrte mich mit furchterregender Stimme an: »Hast wohl das Abendmahl geschwänzt, du Ketzer? Gar nichts sage ich dir, soll dir der Vater ruhig das Fell gerben!«

Ich rannte nach Hause, fest davon überzeugt, man werde mich lange ausfragen und unvermeidlich herausbekommen, daß ich gar nicht zum Abendmahl gewesen war.

Doch die Alte erkundigte sich, nachdem sie mich beglückwünscht hatte, nur nach einem: »Wieviel hast du dem Kirchendiener fürs warme Wasser gegeben?«

»Fünf Kopeken«, entgegnete ich auf gut Glück.

»Drei hätten vollauf genügt. Die restlichen zwei hättest du auch für dich behalten können, du Vogelscheuche!«

Es ist Frühling. Jeder Tag kommt in neuen Kleidern daher, jeder neue Tag ist strahlender, lieblicher als die anderen; es duftet berauschend nach jungen Gräsern und frischen Maien, unwiderstehlich zieht es mich hinaus auf die Felder, wo ich mich auf der warmen Erde ausstrecken und der Lerche lauschen möchte. Statt dessen reinige ich Winterkleidung, helfe sie in eine Truhe verpacken, zerkrümele Blättertabak, klopfe Staub aus den Möbeln und mühe mich von morgens bis nachts mit allerlei Dingen ab, die mir unangenehm sind und völlig entbehrlich erscheinen.

Habe ich eine freie Stunde, dann weiß ich nicht, was ich tun könnte; unsere kümmerliche Straße ist menschenleer, aber weiter darf ich mich nicht entfernen; auf dem Hof – verärgerte, müde Erdarbeiter, zerzauste Köchinnen und Waschfrauen und jeden Abend eine »Hundehochzeit« – das widert mich so an, verletzt mich so sehr, daß ich am liebsten erblinden möchte.

Ich greife nach einer Schere und Buntpapier, steige zum Dachboden hinauf, schneide Spitzenmuster aus und verziere damit die Dachsparren . . . Immerhin etwas, das meiner Sehnsucht entgegenkommt. Ich finde keine Ruhe, möchte irgendwohin fort, wo man weniger schläft, sich nicht so oft zankt, dem Herrgott nicht so aufdringlich mit Klagen zusetzt und wo man nicht so zornig Gericht über andere Menschen hält.

Am Ostersonnabend bringt man eine wundertätige Ikone der Muttergottes von Wladimir aus dem Oranskij-Kloster in die Stadt; sie soll hier bis Mitte Juni zu Gast sein und jede Kirchengemeinde, jedes Haus, jede Wohnung besuchen.

Im Hause meiner Herrschaft erschien sie an einem Wochentagmorgen; ich putzte in der Küche Kupfergeschirr, als mir die jüngere Herrin aufgeregt aus dem Zimmer zurief: »Schließ den Vordereingang auf – sie kommen mit der Oranskaja!«

Schmutzig, wie ich war, die Hände voller Fett und geriebenem Ziegelstein, stürzte ich nach unten und öffnete die Tür – ein junger Mönch mit einer Laterne in der einen und einem Räuchergefäß in der anderen Hand knurrte mich leise an: »Ihr pennt wohl noch? Los, hilf mal . . .«

Zwei Männer aus der Nachbarschaft trugen den schweren Heiligenschrein die enge Treppe hinauf; ich half ihnen, indem ich den Schrein auf meine Schulter nahm und mit den schmutzigen Händen stützte, hinter uns stampften gewichtige Mönche, die lustlos mit satten Stimmen sangen: »Heilige Muttergottes, bitte für u–uns . . .«

Ich dachte traurig und schuldbewußt: Sie wird es mir übelnehmen, weil ich sie – so schmutzig – trage; die Arme werden mir verdorren . . .

Man stellte die Ikone in der vorderen Ecke auf zwei mit einem sauberen Bettuch bedeckte Stühle, zu ihren Seiten bauten sich, um sie zu stützen, zwei Mönche auf, die – jung und schön, helläugig, heiter und mit vollem Haar – an Engel erinnerten.

Man hielt einen Bittgottesdienst ab.

»O hochgepriesene Mutter«, psalmodierte mit hoher Stimme der großgewachsene Pope und befühlte in einem fort mit rotem Finger das angeschwollene, unter dem vollen Haar verborgene Ohrläppchen.

»Heilige Muttergottes, erbarme dich unser«, fielen müde die Mönche ein.

Ich liebte die Muttergottes; sie säte, so sagte die Großmutter, den armen Menschen zum Trost Blumen und Freuden, alles Gute und Schöne auf dieser Erde. Und als ich ihre Hand mit den Lippen berühren sollte, küßte ich sie, ohne bemerkt zu haben, was die Erwachsenen taten, scheu auf die Lippen, auf das Gesicht.

Irgend jemand stieß mich mit starker Hand in die Ecke, zur Türschwelle zurück. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Mönche dann gingen und die Ikone forttrugen, aber eins weiß ich noch sehr genau – daß mich die Hausangehörigen, während ich auf dem Fußboden saß, umringten und in großer Furcht und Sorge hin und her rieten, was mir nach alledem geschehen würde.

»Man muß mit einem Geistlichen reden, einem von den gebildeten«, sagte der Hausherr und schalt mich gutmütig aus: »Flegel, verstehst du denn nicht, daß man sie nicht auf die Lippen küssen darf? Und hast auch noch eine Schule besucht . . .«

Ich wartete mehrere Tage lang schicksalergeben, was denn nun werden würde. Ich hatte den Heiligenschrein mit schmutzigen Händen angefaßt und die Ikone gegen die Regeln geküßt – das konnte nicht ungestraft bleiben, auf keinen Fall!

Doch die Muttergottes hatte mir die unwillkürliche, durch innige Liebe hervorgerufene Sünde offenbar verziehen. Es mochte auch sein, daß die Strafe, die sie mir auferlegt hatte, so leicht war, daß ich sie bei den vielen Strafen, die ich von guten Menschen zu erdulden hatte, gar nicht bemerkte.

Manchmal sagte ich zur alten Herrin, um sie zu ärgern, im Tone der Zerknirschung: »Die Muttergottes hat offenbar vergessen, mich zu strafen.«

»Warte nur ab«, verhieß die Alte giftig, »das wird man ja noch sehen . . .«

. . . Wenn ich die Dachsparren auf dem Hausboden mit Mustern aus rosa Tee- oder Stanniolpapier, Baumblättern und allerlei anderem verzierte, sang ich zu kirchlichen Melodien, was mir gerade einfiel, wie es die Kalmücken auf Reisen tun:

»Auf dem Dachboden an der Wand
Sitz ich, die Schere in der Hand,
Und schneide Papier aus; schneide,
Langweile mich und leide.
Wär ich ein Hund, ein Köter,
Lief ich umher, wie ich will;
So schreit mich an all und jeder:
›Sitz da, Galgenstrick, und sei still!‹«

Die Alte sah sich mein Werk an, lächelte und schüttelte den Kopf.

»So solltest du die Küche ausschmücken . . .«

Eines Tages kam auch der Hausherr auf den Dachboden, besichtigte, was ich geschaffen hatte, seufzte und sagte: »Bist ein komischer Kauz, Peschkow, hol dich der Teufel . . . Ob mal ein Taschenspieler aus dir wird? Man kommt einfach nicht recht dahinter . . .«

Er schenkte mir ein großes, unter dem Zaren Nikolai geprägtes Fünfkopekenstück.

Ich faßte die Münze in Klammern aus dünnem Draht und befestigte sie inmitten meines bunten Werks an sichtbarer Stelle wie eine Medaille.

Sie war jedoch schon am übernächsten Tag zusammen mit der Klammer verschwunden – ich bin fest davon überzeugt, die Alte hat sie stibitzt!

 


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