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Der Großvater und die Großmutter waren wieder in die Stadt gezogen. Ich traf verärgert und kriegerisch gestimmt bei ihnen ein; mein Herz war schwer – wieso hatte man mich zum Dieb gestempelt? Die Großmutter nahm mich freundlich auf und ging sogleich daran, den Samowar zu heizen; der Großvater erkundigte sich – spöttisch wie immer: »Nun, hast du viel Geld zusammengespart?«
»Jedenfalls gehört, was ich zusammengespart habe, mir«, entgegnete ich und setzte mich ans Fenster. Ich zog feierlich eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und steckte mir wichtigtuerisch eine an.
»Sooo«, sagte der Großvater, während er aufmerksam meine Handlungen verfolgte, »so also ist das. Du rauchst dieses Teufelskraut? Ist es auch nicht zu früh?«
»Ich habe sogar schon diesen Tabaksbeutel hier geschenkt bekommen«, prahlte ich.
»Einen Tabaksbeutel«, kreischte der Großvater. »Du willst mich wohl reizen?«
Die dünnen, kräftigen Arme vorgestreckt, stürzte er mit funkelnden grünen Augen auf mich zu; ich sprang auf und stieß ihn mit dem Kopf vor den Bauch – der Alte setzte sich auf den Fußboden hin und starrte mich, erstaunt zwinkernd, mit offenem dunklem Munde mehrere bedrückende Sekunden lang an; dann fragte er gelassen: »Du stößt mich, deinen Großvater? Den leiblichen Vater deiner Mutter?«
»Sie haben mich genug geprügelt«, murmelte ich und begriff, daß ich widerwärtig gehandelt hatte.
Dürr und leicht, erhob sich der Großvater vom Fußboden, setzte sich neben mich, entriß mir geschickt die Zigarette, warf sie zum Fenster hinaus und sagte erschrocken: »Du Dickschädel, verstehst du denn nicht, daß dir der Herrgott das nie vergeben wird, dein ganzes Leben lang nicht? Mutter«, wandte er sich an die Großmutter, »sieh ihn dir an, er hat mich gestoßen, geschlagen! Er mich! Frag ihn doch mal!«
Sie fragte mich nicht erst, trat einfach auf mich zu, packte mich an den Haaren und zauste mich. »Dafür bekommt er es mit mir zu tun, jawohl, ja, so, jetzt hat er's . . .«, sagte sie.
Es tat nicht weh, aber ich fühlte mich unerträglich gekränkt, besonders durch Großvaters Lachen – er schnellte auf seinem Stuhle hoch, klatschte sich auf die Knie und krächzte unter Lachen: »Ja doch, gib ihm . . .«
Ich riß mich los, sprang in den Flur hinaus und streckte mich dort, bedrückt und leergebrannt, in eine Ecke; man hörte den Samowar summen. Die Großmutter kam zu mir heraus, beugte sich über mich und flüsterte mir kaum hörbar zu: »Du mußt mir verzeihen, ich habe dich doch nur leicht gezaust, absichtlich so, daß es nicht schmerzt. Ich konnte nicht anders – der Großvater ist schließlich ein alter Mann, vor dem man Achtung haben muß, auch er hat seine Knochen strapaziert, auch er hat allerlei Kummer hinuntergewürgt – man darf ihm nicht weh tun. Du bist schon erwachsen genug, du wirst es verstehen . . . Du mußt es verstehen, Oljoscha! Er ist doch ein richtiges Kind, nicht mehr . . .«
Ihre Worte rieselten wie warmes Wasser auf mich herab, das freundschaftliche Flüstern beschämte und erleichterte mich, ich schloß sie fest in meine Arme, und wir gaben uns einen Kuß.
»Geh nur zu ihm hinein, geh, ist ja schon alles gut! Aber rauche nicht gleich wieder in seiner Gegenwart, er muß sich doch erst daran gewöhnen . . .«
Ich ging hinein, sah den Großvater an und mußte mich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen – er war zufrieden wie ein Kind, strahlte über das ganze Gesicht, schlenkerte mit den Beinen und trommelte mit den rötlich behaarten Fingern auf dem Tisch herum.
»Nun, du Ziegenbock? Willst du mich wieder auf die Hörner nehmen? So ein Raufbold! Ganz wie der Vater! Kommt herein wie ein Heide, bekreuzigt sich nicht und fängt sofort an zu rauchen! Hach, du, Bonaparte im Groschenformat!«
Ich schwieg. Auch er hatte sich verausgabt und schwieg ermüdet still, fing jedoch während des Tees aufs neue mit seinen Belehrungen an: »Der Mensch braucht die Gottesfurcht wie das Pferd den Zaum. Wir haben keinen Freund außer dem Herrn! Der ärgste Feind des Menschen ist der Mensch!«
Daß die Menschen untereinander Feinde waren, schien mir wahr, alles übrige berührte mich nicht.
»Du wirst jetzt zur Tante Matrjona gehen, und im Frühjahr wieder auf einen Dampfer. Bleibe den Winter über bei ihnen. Sag aber ja nicht, daß du im Frühjahr gehst . . .«
»Wozu denn die Leute betrügen?« warf die Großmutter ein, die eben erst den Großvater betrogen hatte, indem sie mich zum Schein an den Haaren zauste.
»Ohne Betrug kommt man nicht aus«, bestand der Großvater auf seiner Meinung, »nenn mir doch einen, der ohne ihn auskommt!«
Abends, als der Großvater den Psalter las, gingen die Großmutter und ich vors Tor, aufs Feld hinaus; die zweifenstrige kleine Hütte, in der der Großvater jetzt lebte, stand ganz am Rande der Stadt, am Ende der Kanatnaja-Straße, in der er einst ein eigenes Haus besessen hatte.
»Du siehst, wo wir gelandet sind!« spöttelte die Großmutter. »Der Alte kann keinen Platz nach seinem Herzen finden und zieht in einem fort um. Auch hier gefällt es ihm nicht, während ich mich ganz wohl fühle!«
Vor uns erstreckt sich gute drei Werst weit ein dürftiges Grasfeld – es ist von Schluchten durchschnitten, vom Kamm eines Waldes und von der Birkenzeile entlang der Kasaner Chaussee begrenzt. Aus den Schluchten starren gleich Ruten Zweige von Strauchwerk empor, und die kalte Abendsonne taucht sie in blutiges Rot. Graue Halme schaukeln im schwachen Abendwind; hinter der nächsten Schlucht flimmern – auch sie an Halme erinnernd – die dunklen Gestalten von Burschen und Mädeln aus der Vorstadt. Weiter rechts zieht sich die rote Mauer eines Altgläubigenfriedhofs hin – man nennt ihn die »Einsiedelei Bugrowskij« –, während links, hinter der Schlucht, eine dunkle Baumgruppe über dem Feld emporstrebt – dort liegt der Judenfriedhof. Alles ringsum ist kümmerlich, alles ringsum schmiegt sich wortlos an die zerschundene Erde. Scheu blicken die kleinen Vorstadthäuser mit ihren Fenstern zur staubigen Straße, und kleine, kümmerliche Hühner trippeln auf ihr dahin. Am Dewitschij-Kloster vorbei zieht eine Herde; die Kühe muhen; aus dem Feldlager dringt Militärmusik herüber – die Blechinstrumente heulen und dröhnen.
Ein Betrunkener kommt daher, mißhandelt die Ziehharmonika, stolpert und lallt: »Ich komm dir noch auf den Kopf . . . worauf du dich verlassen kannst . . .«
»Armer Narr«, sagt die Großmutter und blinzelt in die rote Sonne, »wie weit wirst du schon kommen? Es dauert nicht lange, und du fällst um; dann schläfst du ein, und sie plündern dich aus . . . Auch die Harmonika, deinen Trost, nehmen sie dir fort.«
Ich erzähle ihr, wie ich auf dem Dampfer gelebt habe, und blicke mich um. Nach allem, was ich gesehen habe, ist mir hier traurig ums Herz, ich fühle mich wie ein Barsch in der Pfanne. Die Großmutter hört mir schweigend und aufmerksam zu – genauso gern, wie ich ihr zuzuhören pflege –, und als ich ihr von Smuryj erzähle, bekreuzigt sie sich eifrig und sagt: »Ein guter Mensch, helf ihm die Muttergottes! Sieh zu, daß du ihn nicht vergißt! Behalte das Gute immer im Gedächtnis, was aber schlecht war – vergiß.«
Es fiel mir äußerst schwer, ihr zu erklären, warum ich entlassen worden war, ich faßte mir dann aber doch ein Herz und erzählte es ihr. Es machte keinerlei Eindruck auf sie; sie flocht nur gleichgültig ein: »Du bist noch zu jung, verstehst nicht zu leben.«
»Das werfen sie sich alle gegenseitig vor: ›Du verstehst nicht zu leben.‹ Die Bauern, die Matrosen, Tante Matrjona ihrem Sohn; und was muß man denn nun eigentlich verstehen?«
Sie schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf: »Das kann ich dir nicht sagen.«
»Aber du redest davon!«
»Warum sollte man nicht davon reden?« entgegnete die Großmutter gelassen. »Nimm es dir nicht zu Herzen, du bist noch klein, du sollst es noch gar nicht verstehen. Und wer versteht es schon? Höchstens die Spitzbuben. Sieh dir den Großvater an – er ist gescheit und kann lesen und schreiben, aber auch er hat es nicht geschafft . . .«
»Hast denn du selber ein schönes Leben gehabt?«
»Ich? Ja doch. Manchmal auch nicht – je nachdem . . .«
Menschen, die lange Schatten warfen, gingen langsam an uns vorüber, Staub wirbelte unter ihren Füßen und löschte die Schatten wieder aus. Die abendliche Schwermut vertiefte sich immer mehr, aus den Fenstern drang Großvaters brummige Stimme: »Herr, verurteile mich nicht in deinem Grimm, strafe mich nicht in deinem Zorn.«
Großmutter meinte lächelnd: »Was er dem Herrgott schon zur Last gefallen sein mag! Jeden Abend dasselbe Gewinsel! Und wozu? Ist doch alt genug und braucht nichts mehr, aber er jammert immer noch und sträubt sich . . . Der Herrgott wird, wenn er so auf die abendlichen Stimmen hinhört, vermutlich spötteln: ›Plärrt da nicht wieder der Wassilij Kaschirin?‹ Komm, gehen wir schlafen . . .«
Ich beschloß, mich dem Vogelfang zu widmen; mir schien, wir würden uns gut damit durchschlagen können – ich würde Singvögel fangen und die Großmutter sie verkaufen. Ich legte mir Netze und Fallen zu und verfertigte Käfige; und schließlich sitze ich beim Morgengrauen in einer Schlucht im Busch, während die Großmutter mit Korb und Sack im Wald umherstreift und die letzten Pilze, Holunderbeeren und Nüsse sammelt.
Die müde Septembersonne ist eben erst aufgegangen; ihre weißen Strahlen erlöschen in den Wolken und fallen als silberner Fächer zu mir in die Schlucht. Auf dem Grunde der Schlucht ist es noch dämmerig, ein weißlicher Nebel steigt von ihm auf; der lehmige Steilhang ist dunkel und kahl, während die sanfter abfallende Seite gegenüber von fahlem Gras und dichtem Strauchwerk mit gelben, fuchsigen und roten Blättern bedeckt ist; der frische Wind reißt sie ab und wirbelt sie durch die Schlucht.
Am Boden, zwischen den Kletten, schreien Stieglitzjunge, ich sehe die munteren Vogelköpfchen mit ihren roten Häubchen durchs graue, zerzauste Steppengras. Um mich herum rufen neugierige Meisen; sie blasen komisch die weißen Backen auf und lärmen und hasten wie junge Kleinbürgerinnen aus Kunawino an einem Feiertag; rasch, schlau und boshaft, müssen sie alles wissen, alles anrühren – und gehen eine nach der anderen in die Falle. Wenn ich sie ängstlich flattern sehe, tun sie mir leid, aber es ist mein Geschäft, und mein Geschäft ist rauh; ich setze die Vögel in die bereitgehaltenen Käfige und stecke sie in einen Sack – im Dunkeln verhalten sie sich still.
Auf einem Hagedornbusch läßt sich ein Zeisigschwarm nieder, der Busch ist überflutet von Sonne, die Zeisige freuen sich und zwitschern nur noch munterer; nach ihrem Benehmen erinnern sie an Schulbuben. Ein gieriger, haushälterischer Neuntöter hat es versäumt, in wärmere Länder zu fliegen, sitzt auf dem biegsamen Zweig einer Heckenrose, putzt mit dem Schnabel die Flügelfedern und schaut mit wachsamem schwarzem Auge nach Beute aus. Er schießt wie eine Lerche in die Luft, fängt eine Hummel, spießt sie sorgsam auf einen Dorn, sitzt wieder still und dreht den grauen Spitzbubenkopf hin und her. Geräuschlos fliegt der weise Kernbeißer an mir vorüber, der Gegenstand meiner sehnlichen Träume – wenn ich den einmal fangen könnte! Ein Gimpel, der vom Schwarm abgekommen ist, sitzt – rot und aufgeblasen wie ein General – auf einer Erle, wippt mit dem schwarzen Schnabel und gibt hier und da ein ärgerliches Knarren von sich.
Je höher die Sonne steigt, desto mehr Vögel kommen und desto fröhlicher klingt ihr Gezwitscher. Die ganze Schlucht ist von Musik erfüllt; den Grundton bildet das Rascheln des Buschlaubs im Winde; die übermütigen Vogelstimmen vermögen das leise, angenehm-schwermütige Rauschen nicht zu ersticken – ich höre den Schwanengesang des Sommers aus ihm heraus, es gibt mir besondere Worte ein, und diese Worte fügen sich mir von selbst zu Versen. Zugleich aber werden gegen meinen Willen auch Bilder von Erlebtem in der Erinnerung lebendig.
Irgendwoher von oben ruft die Großmutter: »Wo bist du?«
Sie hat sich am Rande der Schlucht niedergelassen, ein Tuch ausgebreitet und Brot, Gurken, Rüben und Äpfel zurechtgelegt; inmitten all dieser guten Dinge funkelt eine kleine, sehr hübsche, geschliffene Karaffe mit Kristallpfropfen in der Sonne – der Pfropfen stellt den Kopf Napoleons dar, und die Karaffe enthält Johanniskrautwodka.
»Mein Gott, wie schön es hier ist!« sagt die Großmutter dankbar.
»Ich habe sogar ein Lied gedichtet!«
»Nein? wirklich?«
Ich spreche ihr etwas vor, das an Verse erinnert:
»Der Winter kommt näher, bald schaut er herein,
Lebt wohl denn, Sommer und Sonnenschein!«
Sie läßt mich nicht ausreden und fällt mir ins Wort: »So ein Lied gibt es schon, nur besser!«
Und sie sagt es in singendem Tonfall her:
»Ach, es sinkt der Sommersonnenschein
Hinter fernen Wäldern in den dunklen Raum,
Und ich bin allein, ich Mägdelein,
Ohne meiner Frühlingsfreuden Traum . . .
Tret ich morgens vor den Dorfrain hin,
Steigt der Maientage Lust vor mir empor,
Aber freudlos sieht mich an das kahle Feld,
Wo ich meiner Jugend Glanz verlor.
Ach, ihr Freundinnen, ihr, meine Lieben!
Wenn erst fällt der erste leichte Schnee,
Reißt das Herz mir aus dem weißen Busen
Und beerdigt es im Schnee mit seinem Weh!«
Ich fühle mich in meinem Dichterehrgeiz keineswegs gekränkt, die Verse gefallen mir sehr gut, und das Mädchen tut mir sehr leid. Die Großmutter aber sagt: »So singt man von seinem Kummer! Das hat, mußt du wissen, ein Mädchen erfunden – sie hatte den Sommer über mit ihrem Liebsten verträumt, und als der Winter kam, verließ er sie und ging vielleicht mit einer anderen . . . da schluchzte sie in ihrem Herzeleid auf . . . Was man nicht selber erlebt hat, wird man nicht gut und richtig ausdrücken können, während sie . . . nun, du siehst ja, was für ein schönes Lied es geworden ist.«
Als sie zum erstenmal für vierzig Kopeken Vögel verkauft hatte, war sie äußerst erstaunt: »Sieh einer an! Ich habe geglaubt, das seien Dummheiten, nichts als ein Jungenspaß! Und plötzlich stellt sich heraus, es ist ganz anders!«
»Dabei hast du sie noch zu billig abgegeben . . .«
»Nein, wirklich?«
An Markttagen verkaufte sie für einen Rubel oder auch mehr und wunderte sich immer wieder, wieviel man mit solchen Kleinigkeiten verdienen konnte!
»Und da wäscht eine Frau den ganzen Tag Wäsche oder sie scheuert Fußböden und bekommt fünfundzwanzig Kopeken dafür – das soll einer verstehen! Dabei ist das nicht einmal schön! Auch Vögel im Käfig zu halten ist nicht schön! Laß das mal lieber sein, Oljoscha!«
Doch der Vogelfang hatte mich längst in seinen Bann geschlagen; er sagte mir zu, weil ich mein eigener Herr dabei blieb und – von den Vögeln abgesehen – niemandem Ungelegenheiten bereitete. Ich hatte mir eine gute Ausrüstung zugelegt; Unterhaltungen mit alten Vogelstellern hatten mich mancherlei gelehrt – ich ging zum Vogelfang allein fast dreißig Werst weit in den Kstowskij-Forst an der Wolga, einen Kiefernhochwald, in dem es Kreuzschnäbel und die von Liebhabern geschätzten Schwanzmeisen gab wunderhübsche weiße Vögel mit langen Schwänzen.
Da geht man abends aus dem Haus und stapft die Nacht hindurch auf dem Kasaner Trakt dahin, manchmal im Herbstregen, durch tiefen Schlamm. Auf dem Rücken einen mit Wachstuch verkleideten Sack, in dem sich Vogelbauer und Käfige mit Lockvögeln befinden. In der Hand einen soliden Nußbaumstock. Es ist ein wenig kalt, und man fürchtet sich in der herbstlichen Dunkelheit, ja, man fürchtet sich sogar sehr! . . . Am Straßenrand stehen alte, vom Sturm zerzauste Birken und strecken die nassen Äste über meinem Kopf aus; links unten schwimmen über der schwarzen Wolga, gleichsam im Bodenlosen versinkend, die nun schon raren Topplaternen der letzten Kähne und Dampfer; dumpf klatschen die Schaufelräder aufs Wasser; Sirenen heulen auf.
Aus der eisengrauen Erde wachsen Häuser empor – sie gehören zu den Dörfern an der Straße; böse, hungrige Hunde rollen vor meine Füße, der Nachtwächter schlägt an sein Klopfbrett und ruft mir ein wenig furchtsam zu: »Wer da? Wen reitet – unberufen! – zu dieser Nachtstunde der Teufel?«
Ich fürchtete sehr, man könne mir meine Geräte fortnehmen, und steckte mir Fünfkopekenstücke für die Nachtwächter ein. Der Nachtwächter im Dorfe Fokina freundete sich mit mir an und staunte jedesmal aufs neue: »Bist du schon wieder unterwegs? Du furchtloser, unruhiger Nachtschwärmer! Wie?«
Er hieß Nifont, war klein und grauhaarig und erinnerte an einen Heiligen; oft zog er eine Rübe, einen Apfel, eine Handvoll Erbsen aus seinem Rock, steckte mir die Gabe zu und sagte: »Hier, nimm, mein Freund, ich habe dir etwas Gutes aufgehoben, laß es dir schmecken!«
Und er begleitete mich bis an den Dorfrain.
Ich komme beim Morgengrauen im Walde an, stelle die Netze auf, hänge die Lockvögel hin, strecke mich am Waldesrand aus und warte, daß es tagt. Es ist still. Alles ringsum liegt in tiefem herbstlichem Schlaf; durch das graue Halbdunkel zeichnet sich weiter unten ganz schwach ein weites Wiesengelände ab; es wird von der Wolga durchschnitten, setzt sich jenseits des Flusses fort und verschwimmt, zergeht in Nebel. Fernab hinter den Wäldern der Wiesenseite geht langsam die blasser gewordene Sonne auf, über die Waldrücken flammen Lichter hin, alles gerät in eine sonderbare, das Herz ergreifende Bewegung – immer rascher steigt über den Wiesen der Nebel hoch, die Sonne versilbert ihn, Büsche, Bäume, Heuschober wachsen aus dem Boden empor, die Wiesen scheinen im Sonnenlicht zu schmelzen und fließen nach allen Seiten auseinander wie rötliches Gold. Schließlich fällt die Sonne auf stilles Ufergewässer der ganze Fluß scheint auf die Stelle zuzustreben, an der sie eingetaucht ist. Dann steigt sie immer höher, segnet, erwärmt mit Freuden die schon entblößte, frierende Erde, während die Erde sie mit den süßen Gerüchen des Herbstes umschmeichelt. Die klare Luft läßt die Erde riesig erscheinen; sie dehnt sie ins Unermeßliche aus. Alles strebt in die Ferne und lockt zum blauen Erdenrand. Ich habe die Sonne Dutzende von Malen an dieser Stelle aufgehen sehen – jedesmal breitet sich eine neue, auf neue Art schöne Welt vor mir aus.
Ich liebe die Sonne auf meine Weise, allein schon ihr Name, sein wohliger Klang, das Läuten, das sich in ihm verbirgt, gefallen mir; ich liebe es, mein Gesicht mit geschlossenen Augen den heißen Strahlen auszusetzen, sie mit den Händen aufzufangen, während sie eine Lücke im Zaun oder Zweig wie mit dem Schwert durchdringen. Der Großvater hegt eine große Verehrung für »den Fürsten Michail von Tschernigow und den Bojaren Fjodor, die sich weigerten, die Sonne anzubeten« – ich stelle mir diese Leute finster und böse vor, dunkel wie die Zigeuner, mit ewig kranken Augen wie arme Mordwinen. Wenn sich die Sonne über den Wiesen erhebt, muß ich – ob ich will oder nicht – vor Freude lächeln.
Über mir tönt der Nadelwald und schüttelt die Tautropfen von seinen grünen Tatzen; wie Silberbrokat funkelt im Schatten, unter den Bäumen, auf den durchbrochenen Blättern der Farne, der Reif des Morgenfrostes. Das fahle, rötliche Gras ist vom Regen niedergedrückt, die Halme hängen regungslos zum Boden herab, und nur wenn ein heller Strahl sie trifft, geht eine leichte Bewegung über sie hin vielleicht das letzte Aufbegehren des Lebens.
Die Vögel sind erwacht; graue Tannenmeisen, die wolligen Knäueln gleichen, lassen sich von einem Zweig auf den anderen fallen, feuerfarbene Kreuzschnäbel zerkrümeln oben in den Wipfeln mit ihren krummen Schnäbeln Fichtenzapfen, am Ende eines Fichtenzweigs wippt eine weiße Schwanzmeise – die langen Ruderfedern schwingen auf und nieder, das schwarze Glasperlenauge späht mißtrauisch zum Netz, das ich gespannt habe. Und plötzlich bemerkt man, daß schon der ganze, eben noch ernste und nachdenkliche Wald von vielen hundert Vogelstimmen widerhallt, von der Emsigkeit der reinsten aller Lebewesen auf dieser Erde erfüllt ist – nach ihrem Bilde hat sich der Mensch, der Vater aller irdischen Schönheit, zu seinem Trost die Elfen, die Cherubim und Seraphim, die ganze Heerschar der Engel erschaffen.
Es tut mir ein wenig leid, die kleinen Sänger einzufangen, ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich sie in die Käfige sperre. Am liebsten sähe ich ihnen nur zu; doch die Jagdleidenschaft und der Wunsch, Geld zu verdienen, lassen mich das Mitleid überwinden.
Die Vögel bringen mich mit ihren Listen zum Lachen. Eine Blaumeise besichtigt aufmerksam und in aller Ausführlichkeit die Falle, erkennt, womit sie ihr droht, umgeht sie von der Seite und holt die Körner geschickt und ohne jede Gefahr zwischen den Fallenstäben heraus. Die Meisen sind sehr gescheit, aber zu neugierig, und das wird ihnen zum Verhängnis. Die aufgeblasenen Gimpel sind etwas dumm; sie gehen scharenweise ins Netz – wie satte Kleinbürger in die Kirche; hat man sie, dann sind sie sehr erstaunt, reißen die Augen auf und kneifen einen mit dem dicken Schnabel in den Finger. Der Kreuzschnabel geht gesetzt und ruhig in die Falle; der Kleiber, ein rätselhafter Vogel, der allen anderen unähnlich ist, sitzt eine Weile vor dem Netz, bewegt den langen Schnabel, und stützt sich auf den dicken Schwanz; er läuft wie ein Specht an den Stämmen der Bäume entlang und hält sich stets im Gefolge der Meisen. Diesem rauchgrauen Vogel haftet etwas Unheimliches an, er scheint einsam zu sein, von niemand geliebt – wie wohl auch er niemand liebt. Wie die Elster stiehlt und versteckt er gern kleine blitzende Gegenstände.
Gegen Mittag beende ich den Vogelfang und gehe durch Wald und Feld nach Haus; kehrte ich auf der Landstraße und durch die Dörfer zurück, dann würden mir Jungen oder Burschen die Käfige fortnehmen und mein Gerät zerbrechen oder zerreißen – diese Erfahrungen hatte ich schon gemacht.
Ich komme gegen Abend müde und hungrig zu Hause an, habe aber das Gefühl, an diesem Tage gewachsen und stärker geworden zu sein und Neues erfahren zu haben.
Dieses Gefühl läßt mich Großvaters boshafte Spötteleien gleichmütig und gelassen hinnehmen; er merkt es und geht auf einen ernsten, vernünftigen Ton über: »Laß die Dummheiten, laß das! Aus einem Vogelfänger ist noch nie etwas geworden, das hat es nicht gegeben, ich weiß es! Suche dir eine Stellung und schule deinen Verstand. Der Mensch lebt nicht zum Spaß, er ist ein Samenkorn des Herrn, er soll eine volle Ähre ergeben! Der Mensch ist wie ein Rubel – setzt man den Rubel vorteilhaft um, dann sind es plötzlich drei! Glaubst du vielleicht, das Leben ist leicht? Nein, wirklich nicht! Die Welt ist für den Menschen – eine dunkle Nacht, da muß sich jeder selbst voranleuchten. Jeder hat zehn Finger mitbekommen, und jeder möchte soviel wie möglich mit ihnen erraffen. Da muß man Kraft beweisen, und hat man keine Kraft – dann eben Witz; ist einer schwach und klein, paßt er nicht da, nicht dort hinein! Tu so, als lebtest du mit den anderen, aber vergiß nicht, daß du allein bist; hör jeden an, und traue niemand; trau nicht dem Schein, dann fällst du nicht herein. Sei schweigsam – Häuser und Städte baut man nicht mit dem Munde, das tun Rubel und Axt im Bunde. Du bist kein Baschkire und kein Kalmük, deren ganzer Reichtum Schafe und Läuse sind . . .«
In solchen Wendungen konnte er sich einen ganzen Abend ergehen – ich kannte sie auswendig. Die Worte gefielen mir, doch ihren Sinn nahm ich mit Mißtrauen auf. Nach dem, was er sagte, gab es zwei Kräfte, die den Menschen nach eigenem Willen zu leben hinderten – Gott und die Menschen.
Die Großmutter saß am Fenster und zwirnte Garn zum Spitzenklöppeln; die Spindel summte in ihren geschickten Händen, sie hörte dem Großvater lange schweigend zu und flocht plötzlich ein: »Alles wird so, wie es das Lächeln der Muttergottes will.«
»Was heißt das?« fuhr der Großvater sie an. »Gott! Ich habe Gott nicht vergessen, ich denke an ihn! Glaubst du vielleicht, du alberne alte Gans, der Herrgott hat lauter Dummköpfe in die Welt gesetzt?«
Am besten, so schien mir, hatten es auf der Erde die Kosaken und die Soldaten; ihr Leben war einfach und fröhlich. Bei gutem Wetter tauchten sie frühmorgens jenseits der Erdschlucht vor unserem Haus auf, übersäten das Feld wie weiße Pilze und begannen ein kompliziertes, interessantes Spiel – gewandt und stark liefen sie in ihren weißen Blusen, das Gewehr in der Hand, lustig dahin, verschwanden in der Schlucht, zerstreuten sich auf ein Trompetensignal plötzlich wieder über das Feld und stürmten mit gefälltem Bajonett, unter Hurrarufen und unheildrohendem Trommelwirbel geradeswegs auf unser Haus zu; es sah so aus, als würden sie es jeden Augenblick wie einen Schober Heu hinwegfegen.
Auch ich schrie »hurra« und rannte selbstvergessen hinter den Soldaten her; der wütende Trommelwirbel weckte den brennenden Wunsch, irgend etwas zu zerstören, einen Zaun zu zertrümmern oder andere Jungen zu verhauen.
In den Ruhepausen bewirteten mich die Soldaten mit Machorka, zeigten mir ihre schweren Gewehre, gelegentlich richtete der eine oder andere das Bajonett gegen meinen Bauch und rief mit gemacht grimmiger Stimme: »Stich sie nieder, die Küchenschabe!«
Das Bajonett blitzte, es schien lebendig, schien sich zu winden und auf mich zuzuschießen wie eine Schlange – das war ein wenig unheimlich, aber doch irgendwie angenehm.
Der Trommler, ein Mordwine, lehrte mich mit den Schlegeln das Fell bearbeiten; zuerst faßte er mich an den Händen, knetete sie durch, daß es schmerzte, und steckte mir die Schlegel schließlich zwischen die gelockerten Finger.
»Mach so – eins–zwei, eins–zwei! Tram-ta-ta-tam! Links schwach, rechts stark, tram-ta-ta-tam!« rief er mir grimmig zu und riß die Vogelaugen auf.
Ich lief bis zum Schluß der Übung mit den Soldaten auf dem Felde umher und begleitete sie durch die ganze Stadt zu ihren Kasernen; ich lauschte den lauten Liedern und sah in die guten Gesichter – alle wirkten wie frisch gemünzte Fünfkopekenstücke.
Die geschlossene Masse der gleichartigen Menschen ergoß sich fröhlich durch die Stadt – mit einer einheitlichen Kraft, die anzog und den Wunsch weckte, in ihr unterzutauchen wie in einem Fluß, von ihr aufgenommen zu werden wie von einem Wald. Diese Menschen fürchteten sich vor nichts, sahen alles unerschrocken an, konnten alles besiegen, alles erreichen; vor allem aber waren sie einfach und gut.
Doch eines Tages bot mir während einer Übungspause ein junger Unteroffizier eine dicke Zigarette an.
»Rauch mal! Das ist etwas Besonderes, ich würde sie sonst niemand geben, nur dir – du bist nun mal ein braver Bursche!«
Ich steckte mir die Zigarette an. Er wich einen Schritt zurück, und plötzlich blendete mich eine rote Flamme, die mir die Finger, die Nase, die Brauen verbrannte; ein grauer, beißender Rauch zwang mich zu husten und zu niesen; ich trat erschrocken und außerstande, etwas zu sehen, auf der Stelle, während die Soldaten mich umdrängten und laut und fröhlich lachten. Ich rannte schließlich nach Hause – sie pfiffen und lachten hinter mir her, irgend etwas knallte wie eine Hirtenpeitsche. Meine verbrannten Finger schmerzten, mein Gesicht war wund, aus meinen Augen flossen Tränen, doch nicht die Schmerzen lähmten mich, sondern das dumpfe, niederdrückende Erstaunen – warum hatte man mir das angetan? Wieso bereitete das den guten Burschen ein Vergnügen?
Zu Hause verkroch ich mich auf dem Dachboden, saß lange da und erinnerte mich all jenes unerklärlich Grausamen, das mir so häufig auf meinem Wege begegnet war. Besonders lebhaft und deutlich erinnerte ich mich des kleinen Sarapuler Soldaten – mir war, als stehe er leibhaftig vor mir und frage: »Nun? Hast du's begriffen?«
Bald darauf sollte ich etwas erleben, das noch bedrückender und verblüffender war.
Ich lief jetzt öfter in die Kosakenkasernen – sie lagen neben der Vorstadt Petscherskaja. Die Kosaken erschienen mir anders als die Soldaten – sie waren nicht nur gewandte Reiter und schöner angezogen, sie sprachen auch anders, sangen andere Lieder und konnten vorzüglich tanzen.
Da bilden sie abends, nachdem die Pferde gestriegelt sind, neben den Ställen einen Kreis, und ein kleiner rothaariger Kosak wirft das krause Haar aus der Stirn und beginnt mit einer Stimme zu singen, die hoch wie eine Messingtrompete klingt; angespannt hochgereckt, stimmt er leise ein trauriges Lied vom stillen Don oder der blauen Donau an. Er schließt beim Singen die Augen wie der Vogel Sorjanka, der so leidenschaftlich singt, daß er manchmal tot von seinem Zweig zur Erde fällt; der Hemdkragen des Kosaken steht offen, man sieht das Schlüsselbein, das an ein kupfernes Pferdemundstück erinnert, der ganze Mann ist wie aus Erz gegossen. Er wiegt sich auf dünnen Beinen, als ob der Boden unter ihm schwankte, breitet die Arme aus und hat, tönend und blind, gleichsam aufgehört, Mensch zu sein, ist zum Horn, zur Hirtenflöte geworden. Manchmal glaube ich, er wird gleich umsinken, auf den Rücken fallen und sterben wie die Sorjanka, weil er die Seele, all ihre Kraft im Lied verausgabt hat.
Die Hände in den Hosentaschen oder hinter den breiten Rücken verborgen, stehen die Kameraden im Kreis um ihn herum, blicken ihm starr ins kupferne Gesicht, folgen der Hand, die langsam in der Luft dahinschwebt, und singen ernst und ruhig wie im Kirchenchor. In diesem Augenblick erinnern sie alle, ob bartlos oder bärtig, an Ikonen – so streng, so den Menschen entrückt blicken sie drein. Das Lied ist lang wie eine Landstraße, ebenso gleichmäßig, breit und weise erdacht wie sie; ich höre zu und vergesse, ob Tag auf der Erde ist oder Nacht, ob ich ein Junge bin oder ein alter Mann, vergesse alles! Wenn die Stimmen der Sänger verstummen, hört man die Pferde tief atmen, fühlt ihre Sehnsucht nach der freien Weite der Steppe, fühlt, wie leise und unerbittlich die Herbstnacht vom Feld heraufzieht; das Herz aber wächst und möchte zerspringen von der Überfülle ungewöhnlicher Gefühle, von übergroßer, stummer Liebe zu den Menschen und zu der Erde.
Der kleine kupferne Kosak schien mir kein Mensch, sondern ein Märchenwesen, besser, höher stehend als alle Menschen. Es war mir unmöglich, mit ihm zu sprechen. Wenn er mich etwas fragte, lächelte ich beglückt und schwieg mich verlegen aus. Ich wäre bereit gewesen, ihm stumm und ergeben zu folgen wie ein Hund, nur um ihn öfter zu sehen, nur um zu hören, wie er singt.
Eines Tages sah ich ihn in einer Stallecke stehen, die Hand zum Gesicht erheben und einen glatten Silberring an seinem Finger betrachten; seine wohlgeformten Lippen bewegten sich, der kleine rotblonde Schnurrbart zuckte, das Gesicht war traurig, wirkte gekränkt.
Doch dann, an einem dunklen Abend, betrat ich mit meinen Käfigen eine Schankwirtschaft am Staraja-Sennaja-Platz – der Wirt war ein leidenschaftlicher Liebhaber von Singvögeln und kaufte mir öfter welche ab.
Der Kosak saß in der Ecke neben dem Schanktisch, zwischen Ofen und Wand; mit ihm war eine üppige Frau, fast doppelt so stark und groß wie er; ihr rundes Gesicht glänzte wie Saffian, sie blickte ihn mit mütterlichen Augen freundlich, aber ein wenig unruhig an; er war betrunken, scharrte mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden herum und stieß dabei gegen die Füße der Frau; offenbar war es recht schmerzhaft, denn sie zuckte zusammen, verzog das Gesicht und bat mit leiser Stimme: »Lassen Sie den Unfug . . .«
Der Kosak hob mit vieler Mühe die Brauen, aber sie fielen ihm gleich wieder müde auf die Augen herab. Ihm war heiß, der Waffenrock und das Hemd standen offen, der Hals war entblößt. Die Frau hatte das Kopftuch auf ihre Schultern abgestreift und die prallen weißen Arme auf den Tisch gelegt; die Finger waren so fest ineinander verklammert, daß sie rot anliefen.
Je länger ich die beiden anblickte, desto deutlicher glaubte ich einen schuldbewußten Sohn vor seiner guten Mutter zu sehen; sie redete freundlich-ermahnend auf ihn ein, während er verlegen schwieg – er hatte den wohlverdienten Vorwürfen nichts entgegenzusetzen.
Plötzlich erhob er sich, als hätte ihn etwas gestochen, setzte die Mütze auf – und zwar falsch, zu sehr in die Stirn –, klatschte sie mit der Hand an und wandte sich, ohne den Waffenrock zuzuknöpfen, zur Tür; auch die Frau stand auf und sagte zum Wirt: »Wir sind gleich wieder da, Kusmitsch . . .«
Die Gäste lachten und scherzten hinter ihnen her. Jemand bemerkte mit tiefer und rauher Stimme: »Wenn der Lotse zurück ist, wird er es ihr schon zeigen!«
Ich ging den beiden nach; sie liefen zehn Schritt vor mir und bewegten sich in der Dunkelheit durch dicken Schlamm quer über den Platz auf den Hang, auf das Steilufer der Wolga zu. Ich sah, wie die Frau den Kosaken stützte und hin und her schwankte, ich hörte, wie es unter ihren und des Kosaken Füßen schmatzte; die Frau fragte mehrmals mit leiser, flehender Stimme: »Wo wollen Sie denn hin? Ja, wohin denn?«
Obwohl es nicht mein Weg war, folgte ich ihnen durch den Schlamm. Sie erreichten den Gehsteig, der am Hang entlangführte, der Kosak blieb stehen, trat einen Schritt zurück und schlug plötzlich der Frau ins Gesicht; erstaunt, erschrocken schrie sie auf: »Aber wofür denn?«
Auch ich war erschrocken und stürzte zu ihnen hin, doch der Kosak packte die Frau um die Taille, warf sie über das Geländer und sprang ihr nach; beide rollten als schwarzer Knäuel den Grashang hinab. Ich war sprachlos, erstarrte, horchte, wie unten in der Tiefe ein Kleid zerriß, wie der Kosak keuchte und eine tiefe Frauenstimme abgerissen murmelte: »Ich schreie . . . ich schreie . . .«
Man hörte ein lautes, gequältes Stöhnen, dann war es still. Ich ertastete einen Stein und ließ ihn hinunterrollen – er raschelte durch das Gras. Auf dem Platz fiel die Glastür der Schankwirtschaft zu, jemand stolperte, schlug offenbar hin, dann trat aufs neue Stille ein – eine Stille, in der jede Sekunde etwas Erschreckendes geschehen konnte.
Am Hang taucht ein großer weißer Klumpen auf; er bewegt sich schluchzend und schnaufend langsam und ungleichmäßig bergan – ich erkenne die Frau. Sie klettert auf allen vieren wie ein Schaf, ich sehe, daß sie bis an den Gürtel nackt ist, die großen Brüste hängen herab, und es sieht aus, als hätte sie drei Gesichter. Sie erreicht das Geländer, setzt sich fast unmittelbar neben mir auf ihm nieder, keucht wie ein abgejagtes Pferd und ordnet das wirre Haar; deutlich erkennt man auf dem weißen Körper dunkle Schmutzflecken; sie weint, wischt sich mit den Gebärden einer sich putzenden Katze die Tränen von den Wangen, erblickt mich und ruft leise aus: »Mein Gott – wer ist da? Geh, Schamloser!«
Das kann ich nicht, ich bin vor Staunen, von einem bitteren, wehmütigen Gefühl wie erstarrt – ich muß an die Worte von Großmutters Schwester denken: »Das Weib ist eine Macht – Eva hat selbst den Herrgott überlistet . . .«
Die Frau stand auf und bedeckte mit dem Rest ihres Kleides die Brust, wobei sie ihre Beine entblößte, und ging rasch davon. Über dem Hang erschien der Kosak, schwenkte irdendwelche weißen Fetzen, pfiff leise und horchte; dann rief er vergnügt: »Darja! Nun? Ein Kosak wird sich immer nehmen, was er braucht . . . Du hast geglaubt, ich bin betrunken? Nein, das hat dir nur so geschienen . . . Darja!«
Er steht fest auf den Beinen, seine Stimme klingt nüchtern und spöttisch. Er beugt sich vor, wischt mit den Fetzen seine Stiefel ab und fährt fort: »He, nimm deine Jacke . . . Daschka! Hab dich doch nicht so . . .«
Und er spricht mit lauter Stimme ein für die Frauen schmähliches Schimpfwort aus.
Ich sitze auf einem Haufen Schotter, während ich dieser Stimme lausche, die einsam und so bedrückend herrisch durch die nächtliche Stille klingt.
Die Laternenlichter auf dem Platz tanzen mir vor den Augen; rechts ragt aus einem Haufen schwarzer Bäume das weiße Stift für adlige Fräulein hervor. Der Kosak geht, träge ein schmutziges Wort an das andere reihend, über den Platz, schwenkt die weißen Fetzen und verschwindet wie ein böser Traum.
Unten, am Fuße des Hangs, schnauft das Dampfabzugsrohr eines Pumphauses, die Abfahrt zum Fluß hinunter rollt eine Mietdroschke, ringsum ist keine Menschenseele zu sehen. Ich gehe, im Innersten vergiftet, am Rande des Hangs entlang und presse einen kalten Stein in meiner Hand – ich hatte mit ihm nach dem Kosaken werfen wollen. Vor der Kirche Georgs des Drachentöters hält mich der Nachtwächter an und fragt mich grimmig aus – wer ich sei und was ich da im Sack auf meinem Rücken trage.
Ich erzähle ihm ausführlich von dem Kosaken – er schüttelt sich vor Lachen und ruft zwischendurch aus: »Guuut! Die Kosaken, Verehrter, sind ein gerissenes Volk, da kommt unsereins nicht mit! Das Frauenzimmer aber ist eine Herumtreiberin!«
Er droht vor Lachen zu ersticken, während ich weitergehe und nicht verstehen kann, worüber er eigentlich lacht.
Und voller Entsetzen frage ich mich: Wenn das nun meiner Mutter oder Großmutter geschehen wäre?