Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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11

Ich bin aufs neue Geschirrwäscher auf einem Dampfer, der schwanenweißen, geräumigen und schnellen »Perm«. Ich bin jetzt Wäscher oder »Küchenknecht«, bekomme sieben Rubel im Monat und habe die Aufgabe, den Köchen zu helfen.

Der Büfettier, rundlich und aufgeblasen, ist kahl wie ein Ball; er geht, die Hände auf dem Rücken, den ganzen Tag mit schweren Schritten auf dem Deck umher – gleich einem Wildeber, der sich in der Hitze nach einem schattigen Winkel umsieht. Am Büfett prangt seine Ehefrau, eine Dame jenseits der Vierzig, schön, aber zerknittert und so stark gepudert, daß der klebrige weiße Staub ständig von ihren Wangen auf das grellfarbige Kleid rieselt.

In der Küche schwingt der hochbezahlte Koch Iwan Iwanowitsch das Szepter; er heißt mit Spitznamen »Medweshonok«, das »Bärchen«, ist klein und rundlich und hat eine Habichtnase und spöttische Augen. Er ist ein Stutzer, trägt gestärkte Kragen, rasiert sich jeden Tag, hat bläuliche Wangen und einen auf gezwirbelten Schnurrbart; in jedem freien Augenblick geht er mit den verbrühten Fingern unruhig über den Schnurrbart hin, streicht ihn zurecht und spiegelt sich in einem kleinen runden Taschenspiegel.

Der interessanteste Mann auf dem Dampfer ist der breitbrüstige, vierschrötige Heizer Jakow Schumow. Sein stupsnäsiges Gesicht ist platt wie eine Schaufel, die Augen, klein wie die eines Bären, verbergen sich unter dichten Brauen, die Wangen sind von kleinen Haarringeln bedeckt – sie erinnern an Sumpfmoos und wachsen auf seinem Kopf zu einer dicken Filzmütze zusammen, durch die er nur mit Mühe die krummen Finger zwängt.

Er spielt mit viel Geschick Karten um Geld und setzt alle durch seine Gefräßigkeit in Erstaunen; wie ein hungriger Hund treibt er sich ständig in der Nähe der Küche herum und erbettelt ein Stück Fleisch oder Knochen. Abends trinkt er mit Medweshonok Tee und erzählt allerlei erstaunliche Geschichten aus seinem Leben.

In seiner Jugend ist er Hirtenjunge beim Stadthirten von Rjasan gewesen, dann verlockte ihn ein vorüberziehender Mönch, ins Kloster zu gehen; er hat dort vier Jahre als Novize verbracht.

»So wäre ich denn auch Mönch, ein schwarzer Gottesstern, geworden«, scherzt er mit rascher Zunge, »aber es kam da so eine spaßige kleine Pilgerin aus Pensa zu uns ins Kloster, und die verleitete mich. ›Bist doch ein hübscher, kräftiger Bursche‹, sagte sie, ›und ich bin eine ehrsame Witwe und stehe allein, du solltest als Hausknecht zu mir kommen, ich habe‹, sagte sie, ›ein eigenes Häuschen und handle mit Vogelfedern und Daunen . . .‹

Also gut, ich gehe zu ihr als Hausknecht, werde ihr Liebster und habe drei Jahre lang mein Brot und meine Wärme . . .«

»Kannst ganz schön schwindeln«, unterbricht ihn Medweshonok, der besorgt einige Pickel auf seiner Nase im Spiegel betrachtet. »Wenn man für Lügen Geld bekäme – du wärst ein reicher Mann!«

Jakow kaut, auf seinem augenlosen Gesicht bewegen sich die grauen Haarringel, auch seine zottigen Ohren bewegen sich; er läßt den Koch ausreden und fährt ebenso rasch und wohlgesetzt wie vorher fort: »Sie war älter als ich, ich langweilte mich allmählich, ich hatte sie über und ließ mich mit ihrer Nichte ein, sie aber kam dahinter und jagte mich Knall und Fall aus dem Haus . . .«

»Hattest du auch verdient, warst gut damit bedient«, wirft der Koch ebenso leicht und gewandt wie Jakow ein.

Der Heizer schiebt ein Stück Zucker hinter die Wange und fährt fort: »Ich trieb mich einige Zeit in Wind und Wetter herum und hängte mich schließlich an einen alten Hausierer aus Wladimir, mit dem zog ich über die ganze Erde – auf die Balkanberge, bis zu den Türken und den Rumänen, den Griechen und allerlei Österreichern – bei allen Völkern sind wir gewesen, beim einen kauft man was, beim anderen verkauft man es wieder . . .«

»Habt ihr auch gestohlen?« erkundigt sich der Koch.

»Das gab es bei dem Alten nicht! Auch zu mir sagte er: ›In fremden Ländern bleibe ehrlich, hier herrscht nun einmal so eine Ordnung – für jede Kleinigkeit reißen sie dir den Kopf ab.‹ Ich habe ja versucht zu stehlen, das schon, nur kam dabei nicht viel Erfreuliches heraus. Da wollte ich einem Kaufmann das Pferd vom Hofe wegstehlen, nun – es ging schief, man erwischte uns, verprügelte uns natürlich und schleppte uns zur Polizei. Wir waren nämlich zwei, der eine ein richtiger, zünftiger Pferdedieb, während ich einfach so, eigentlich mehr aus Neugier mitmachte. Beim Kaufmann aber hatte ich gearbeitet – ich hatte im Badehaus einen neuen Ofen gesetzt –, und der Kaufmann nun wurde krank und hatte einen bösen Traum, er sah nämlich mich im Traum; da erschrak er und bat die Obrigkeit: Laßt ihn – mich also – laufen, sonst erscheint er mir wieder im Traum; solange man ihm nicht verzeiht, werde ich nicht gesund, er scheint ein Zauberer zu sein – ich, und ein Zauberer! Nun, er war ja ein angesehener Kaufmann, und da ließen sie mich eben laufen . . .«

»Nicht laufen, saufen lassen sollte man dich – drei Tage lang unter Wasser, damit dir die Raupen vergehen«, flicht der Koch ein.

Jakow greift seine Worte sogleich auf: »Da hast du recht, Raupen im Kopf hab ich genug, man könnte sagen – es reicht für ein ganzes Dorf . . .«

Der Koch steckt den Finger hinter den engen Kragen, versucht ihn zu weiten, schlenkert erbittert mit dem Kopf und beklagt sich ärgerlich: »So was von Blödsinn! Da lebt dieser Arrestant auf unserer Erde, frißt, trinkt, streunt umher, und wozu das alles? So sage mir doch, wozu du lebst?«

Der Heizer schnalzt mit der Zunge und entgegnet: »Das ist mir nicht bekannt. Ich lebe eben. Der eine rührt sich nicht vom Fleck, der andere streunt umher, und der Beamte wiederum, der hockt und hockt, aber essen müssen wir alle.«

Der Koch wird immer ärgerlicher.

»Das heißt, du bist ein solches Schwein, daß man es einfach nicht ausdrücken kann! Geradezu – ein Schweinehund.«

»Was schimpfst du eigentlich?« wundert sich Jakow. »Wir Bauern sind alle Eicheln vom gleichen Stamm. Hör auf zu schimpfen, ich werde davon nicht besser . . .«

Ich war von diesem Menschen sofort sehr eingenommen; ich staunte ihn immerfort an und lauschte ihm mit offenem Munde. Er hatte, wie mir schien, eine eigene, feste Meinung vom Leben. Zu allen sagte er »du«, sah jedermann mit der gleichen Offenheit, der gleichen Unbestechlichkeit unter den zottigen Brauen hervor an und ordnete alle – den Kapitän, den Büfettier, die vornehmen Passagiere der ersten Klasse gleichsam derselben Reihe ein wie auch sich selbst und die Matrosen, das Büfettpersonal und die Deckpassagiere.

Da steht er manchmal, die langen Affenarme auf dem Rücken verschränkt, vor dem Kapitän oder dem Maschinisten und hört sich schweigend an, wie man ihn schilt – weil er faul ist oder, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen, mit jemand Karten gespielt und ihn gehörig ausgeplündert hat; man sieht, daß alles Schelten nicht den geringsten Eindruck auf ihn macht und auch die Drohung, ihn auf der nächsten Anlegestelle abzusetzen, ihn nicht schreckt.

Er hat etwas an sich, das allen fremd ist – wie das bei »Gar nicht übel« der Fall war –, und offenbar ist er auch selbst von seiner Außergewöhnlichkeit überzeugt, überzeugt, daß ihn die anderen nicht verstehen können.

Ich habe ihn nie gekränkt oder nachdenklich gesehen, ich kann mich nicht erinnern, daß er je lange geschwiegen hätte – immer floß, vielleicht sogar gegen seinen Willen, ein ununterbrochener Strom von Worten aus seinem zottigen Mund. Wenn man ihn schalt oder wenn er einer fesselnden Geschichte zuhörte, bewegten sich seine Lippen, als wiederhole er im stillen das Gehörte oder murmele etwas vor sich hin. Jeden Tag kletterte er nach Beendigung seiner Wache durch die Kesselraumluke an Deck – barfuß, schweißtriefend und mit Heizöl beschmiert, in nassem Hemd ohne Gürtel, mit offener, von dichtem Kraushaar bedeckter Brust, und sogleich strömte seine gleichmäßige, eintönige, etwas heisere Stimme dahin und rieselten seine Worte wie Regentropfen aufs Deck herab.

»Tag, Mutter! Wo fährst du denn hin? Nach Tschistopol? Kenne ich, bin dort gewesen, habe bei einem reichen Tataren als Knecht gedient. Er hieß Ussan Gubaidulin und hatte drei Frauen, war so ein strammer Alter mit roter Schnauze. Mit der einen von seinen Frauen, einer spaßigen kleinen Tatarin, habe ich was gehabt . . .«

Er ist überall gewesen, hat mit allen Frauen auf seinem Wege »etwas gehabt«, von allem spricht er gutmütig und ruhig, als hätte er in seinem Leben nie eine Kränkung oder Beschimpfung erfahren. Einen Augenblick später hört man seine Stimme irgendwo am Heck.

»He, gute Leute, wer von euch spielt Karten? Siebzehn-und-vier, Kümmelblättchen, Stukolka? Eine erfreuliche Sache, die Karten; man kann im Sitzen zu Gelde kommen wie so ein Kaufmann . . .«

Ich hatte bemerkt, daß er nur selten sagte »gut, schlecht, schlimm«, sondern fast immer »spaßig, erfreulich, fesselnd«. Eine hübsche Frau war für ihn – ein spaßiges Weibchen, ein heiterer, sonniger Tag – erfreulich. Am häufigsten aber sagte er: »Schwamm drüber!«

Alle hielten ihn für einen Faulpelz, doch mir schien, er verrichte seine schwere Arbeit vor der Feuerung, in der stickigen, stinkenden Höllenglut ebenso gewissenhaft wie alle anderen; ich kann mich jedoch nicht erinnern, daß er sich je über Müdigkeit beklagt hätte, wie es die anderen Heizer taten.

Eines Tages wurde einer alten Passagierin der Geldbeutel mit ihrem ganzen Geld gestohlen; das geschah an einem heiteren, stillen Abend, als alle Menschen gutmütig und friedlich gestimmt waren. Der Kapitän schenkte der Alten fünf Rubel, die Passagiere sammelten und brachten ebenfalls einiges auf; als man der Alten das Geld übergab, bekreuzigte sie sich, verneigte sich tief nach allen Seiten und sagte: »Ihr Guten, es sind drei Rubel und zehn Kopeken mehr zusammengekommen, als ich gehabt habe!«

Jemand rief fröhlich dazwischen: »Nimm's mit, Großmutter, wozu unnötig posaunen? Drei Rubel mehr – kann man schon brauchen . . .«

Ein anderer flocht zungenfertig ein: »Rubel sind keine Menschen, sie sind nie überflüssig.«

Jakow dagegen trat auf die Alte zu und schlug ihr allen Ernstes vor: »Gib, was zuviel ist, mir, ich spiele damit Karten!«

Die Leute lachten, im Glauben, der Heizer habe gescherzt, aber der redete eigensinnig auf die verlegene Alte ein: »Gib her, Großmutter! Was willst du schon mit dem Geld? Für dich heißt's morgen – auf den Friedhof.«

Man schalt ihn aus und jagte ihn davon; er schüttelte nur den Kopf, während er verwundert zu mir sagte: »Käuze! Mischen sich in fremde Angelegenheiten ein! Sie hat doch selber erklärt, daß sie das Geld nicht braucht! Für mich wären diese drei Rubel ein Trost gewesen.«

Der Anblick des Geldes machte ihm augenscheinlich viel Spaß – er liebte es, während er sich unterhielt, Silber oder Kupfer an seiner Hose zu reiben, hielt die Münze, nachdem sie blitzblank geputzt war, mit krummen Fingern vor das stupsnäsige Gesicht und sah sie sich, die Brauen hin und her bewegend, an. Er war jedoch nicht geldgierig.

Eines Tages schlug er mir vor, »Stukolka« mit ihm zu spielen; ich kannte das Spiel nicht.

»Du kannst es nicht?« wunderte er sich. »Wie ist das möglich? Du kannst doch lesen und schreiben! Du mußt es lernen! Spielen wir zum Spaß um Zucker . . .«

Er gewann ein halbes Pfund von meinem Würfelzucker und ließ die Würfel sogleich hinter den zottigen Wangen verschwinden, fand schließlich, daß ich schon spielen könne, und schlug mir vor: »Jetzt spielen wir aber richtig, um Geld! Hast du Geld?«

»Ich habe fünf Rubel.«

»Und ich zwei Rubel und noch etwas.«

Natürlich knöpfte er mir mein Geld im Handumdrehen ab. Ich setzte, im Wunsche, es zurückzugewinnen, meine Unterjacke für fünf Rubel und verlor, dann ein Paar neue Stiefel für drei Rubel und verlor auch die. Da sagte Jakow unzufrieden, beinahe ärgerlich zu mir: »Nein, du kannst nicht spielen, du bist zu hitzig – die Unterjacke, die Stiefel . . . immer gleich fort damit! Das will ich nicht. Hier, nimm die Kleidungsstücke und dein Geld zurück, vier Rubel, einen behalte ich als Lohn für die gute Lehre . . . Bist du's zufrieden?«

Ich war ihm sehr dankbar.

»Schwamm drüber!« gab er mir auf meine Dankesworte zur Antwort. »Spiel ist Spiel, also mehr Spaß, während du rangehst, als ob du dich schlagen wolltest. Man soll sich auch da nicht erhitzen, schlag zu, aber tu's mit Verstand! Wozu erhitzen? Du bist noch jung, du mußt dich selber fest an die Kandare nehmen. Einmal daneben – gut, fünfmal daneben gut, beim siebenten – pfeif drauf! Tritt beiseite! Erst wenn du dich abgekühlt hast – leg wieder los! Das erst ist Spielen!«

Er gefiel und mißfiel mir zugleich immer mehr. Manchmal erinnerten mich seine Erzählungen an die Großmutter. Es gab vieles an ihm, das mich anzog, während mich seine tiefe Gleichgültigkeit gegen die Menschen heftig abstieß – sie hatte sich offenbar fürs Leben in ihm festgesetzt.

Eines Abends, bei Sonnenuntergang, fiel ein betrunkener Passagier der zweiten Klasse – es war ein wohlbeleibter Kaufmann aus Perm – über Bord und trieb, aufgeregt rudernd, im rotgoldenen Kielwasser dahin . . . Die Schiffsmaschine wurde rasch gestoppt, der Dampfer blieb liegen und stieß eine Wolke von Schaum unter den Schaufelrädern hervor – die roten Strahlen der sinkenden Sonne verwandelten den Schaum in Blut; in diesem brodelnden Blut zappelte krampfhaft, nun schon weitab vom Heck, ein dunkler Körper, und wilde, erschütternde Schreie gellten über den Fluß. Auch die Passagiere lärmten, stießen sich, drängten zur Reling, sammelten sich am Heck.

Ein Freund des Ertrinkenden – rothaarig, glatzköpfig und ebenfalls betrunken – schlug mit den Fäusten um sich, um an die Reling zu kommen, und brüllte: »Weg da! Ich werde ihn gleich haben . . .«

Zwei Matrosen waren über Bord gesprungen und schwammen in langen Stößen auf den Ertrinkenden zu, vom Heck wurde eine Schaluppe zu Wasser gelassen, während durch das Rufen der Besatzung, durch das Kreischen der Frauen hindurch ruhig und gleichmäßig Jakows ein wenig heisere Stimme dahinfloß wie ein murmelnder Bach: »Er wird ertrinken, er wird bestimmt ertrinken, er hat doch eine lange Jacke an! In langen Sachen geht man unvermeidlich zugrunde. Zum Beispiel die Weiber – warum gehen sie eher unter als ein Mann? Alles der Röcke wegen! Sobald ein Weib ins Wasser gerät, geht es auf den Grund wie so ein Pudgewicht . . . Da seht, jetzt ist er ertrunken, ich weiß schon, was ich sage . . .«

Der Kaufmann ertrank tatsächlich; man suchte etwa zwei Stunden nach ihm, konnte ihn aber nicht finden. Sein Freund saß, nüchtern geworden, am Heck, rang nach Atem und jammerte vor sich hin: »Da hat man's! Soweit mußte es kommen! Was soll jetzt werden? Was sage ich seinen Verwandten? Er hat doch Verwandte . . .«

Jakow baute sich vor ihm auf, verbarg die Hände hinter dem Rücken und suchte ihn zu trösten: »Was soll man machen, Kaufmann, schließlich weiß niemand, wo ihm zu sterben beschieden ist. Da ißt einer Pilze und – aus! Tausende von Menschen essen Pilze, und es bekommt ihnen, doch dieser eine stirbt daran. Aber was sind schon Pilze?«

Breit und kräftig, stand er vor dem Kaufmann wie ein Mühlstein und ließ die Worte auf ihn niederrieseln wie Kleie. Der Kaufmann weinte anfangs leise vor sich hin und wischte sich mit breiten Händen die Tränen aus dem Bart, hörte dann aber genauer hin und heulte laut auf: »Du Satan! Zieh mir die Seele nicht aus dem Leibe! Ihr Rechtgläubigen, schafft ihn mir vom Halse, sonst geschieht noch ein Unglück!«

Jakow trat gelassen beiseite und sagte: »Komische Käuze! Man will ihr Bestes, und sie kommen dir mit Knüppeln und Ruten . . .«

Manchmal erschien mir der Heizer ein bißchen dumm, viel öfter jedoch dachte ich mir, er stelle sich nur so. Ich hatte den hartnäckigen Wunsch, ihn danach zu fragen, wie er auf dieser Erde umhergezogen sei und was er gesehen habe; doch das gelang mir nur schlecht; er warf den Kopf zurück, öffnete ein wenig die dunklen Bärenaugen, strich mit der Hand über das stopplige Gesicht, versuchte sich zu erinnern und sagte mit gedehnter Stimme: »Menschen, mein Freund, gibt's überall wie Ameisen! Menschen hier, Menschen da – es wimmelt nur so von Menschen, kann ich dir sagen! Am meisten gibt es natürlich Bauern, mit Bauern ist die Erde geradezu übersät wie, sagen wir, im Herbst mit Blättern. Die Bulgaren? Ich habe sie gesehen, und die Griechen auch, dazu noch Serben und Rumänen und was es sonst an Zigeunern gibt! Wie diese Menschen sind? Wie sollen sie schon sein? In den Städten städtisch, auf dem Lande ländlich, ganz wie bei uns. Überhaupt viel Ähnlichkeiten. Manche sprechen sogar unsere Sprache, nur schlecht, ähnlich wie die Tataren oder Mordwinen. Die Griechen können unsere Sprache nicht, die plappern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, hört sich ja an wie Wörter, aber wie, wo, was – versteht man nicht. Da kann man nur mit den Fingern reden. Mein Alter aber tat, als ob er auch sie verstehe, und brabbelte wie sie – immer nur ›Karamara‹ und ›Kalimera‹. War schlau, der Alte, der hat es ihnen gegeben . . . Du möchtest wieder wissen, wie sie wohl sind? Kauz, wie können Menschen schon sein? Nun ja, sie sind natürlich dunkelhaarig, das sind die Rumänen auch, haben ja alle den gleichen Glauben. Auch die Bulgaren sind dunkelhaarig, aber die haben den gleichen Glauben wie wir. Während die Griechen so was wie Türken sind . . .«

Mir schien, er sage nicht alles, was er wisse, es sei da noch etwas, wovon er nicht sprechen wolle.

Aus Abbildungen in den Zeitschriften wußte ich, daß die Hauptstadt Griechenlands Athen war – eine sehr alte, sehr schöne Stadt, aber Jakow schüttelte zweifelnd den Kopf und ließ es nicht gelten.

»Da hat man dir einen Bären aufgebunden, mein Freund, Athen – so etwas gibt es nicht, wohl aber gibt es Athos, nur ist das keine Stadt, sondern ein Berg, und auf dem Berge ist ein Kloster. Und weiter nichts. Das nennt sich dann ›Der heilige Berg Athos‹, es gibt so kleine Bilder davon, der Alte hat mit ihnen gehandelt. Es ist da auch eine Stadt Belgorod, die liegt an einem Fluß, der Donau, ähnlich wie Jaroslawl oder Nishnij. Die Städte bei ihnen sind unansehnlich, aber die Dörfer dafür – das ist was anderes! Die Weiber auch, nun ja, die Weiber sind einfach zum Sterben erfreulich! Ich bin wegen einer von ihnen beinahe dageblieben – wie hieß sie doch noch?«

Er reibt sich kräftig das augenlose Gesicht, man hört die borstigen Haarringel rascheln, tief hinten in seiner Kehle erklingt ein Lachen, das an das Klirren einer gesprungenen Schelle erinnert.

»Der Mensch ist eben vergeßlich! Und dabei – wie haben wir uns damals . . . Als wir Abschied nahmen, hat sie geweint, ich auch, sogar ich, Ehrenwort . . .«

Er belehrte mich mit gelassener Schamlosigkeit, wie man mit Frauen umgehen müsse.

Wir sitzen am Heck, die warme Mondnacht gleitet auf uns zu, das Wiesenufer hinter dem silbrigen Wasser ist kaum zu sehen, vom Steilufer zwinkern gelbe Lichter zu uns herüber – wie Sterne, die die Erde gefangenhält. Alles ringsum regt sich, findet keinen Schlaf, lebt leise, aber hartnäckig fort. In die liebe, schwermütige Stille tropfen heisere Worte: »Da breitet sie manchmal die Arme aus, streckt sich hin . . .«

Was Jakow erzählt, ist schamlos, wirkt aber nicht abstoßend, es ist keine Prahlerei, keine Roheit darin, eher schwingt etwas Treuherziges und auch ein wenig Wehmut in seinen Worten mit. Auch der Mond am Himmel ist schamlos nackt, auch er erregt wehmütige Gedanken. Ich denke nur an das Schöne, das Schönste – an die Königin Margot und die so unvergeßlich wahren Verse:

Zwar bedarf das Lied der Schönheit,
Doch die Schönheit nicht des Lieds . . .

Ich schüttele diese träumerische Stimmung wie einen leichten Schlummer von mir ab und frage den Heizer aufs neue nach seinem Leben, nach dem, was er gesehen hat.

»Bist ein komischer Kauz«, sagt er, »was soll ich dir noch erzählen? Ich habe alles gesehen. Frage mich, ob ich Klöster gesehen habe. Habe ich. Und Kneipen? Auch die. Ich habe ein herrschaftliches Leben geführt und wie ein Bauer gelebt. Ich habe satt zu essen gehabt und manchmal auch gehungert . . .«

Langsam, als überquerte er einen tiefen Bach auf einer schwankenden, gefährlichen Brücke, erinnert er sich: »Nun ja, ich sitze also wegen des Pferdediebstahls auf dem Polizeirevier – Sibirien ist dir sicher, denke ich mir! Der Reviervorsteher aber schimpft, in seinem neuen Hause rauchen die Öfen. Ich sage: ›Dem, Euer Wohlgeboren, könnte ich abhelfen!‹ Er fährt mich an: ›Mund halten, du! Da hat der beste Meister nichts machen können . . .‹ Und ich wieder zu ihm: ›Es soll schon vorgekommen sein, daß sich ein Hirt klüger erwiesen hat als ein General‹ – ich war damals in allem sehr dreist geworden, einerlei – Sibirien war mir ja sicher! Er sagt: ›Also gut, dann mach es, aber wenn es noch schlechter wird, dann schlage ich dir die Knochen zu Brei!‹ In zwei Tagen hatte ich die Sache in Ordnung – der Reviervorsteher aber staunt und ruft: ›Hach, du Dummkopf, du Tölpel! Bist ein richtiger Meister und gehst Pferde stehlen – wieso denn das?‹ Ich gebe zur Antwort: ›Das, Euer Wohlgeboren, kommt einfach von der Dummheit!‹ – ›Richtig‹, sagt er, ›kommt alles nur von der Dummheit, du tust mir‹, sagt er, ›leid!‹ Jawohl. Das hat er gesagt. Hat man schon so was gehört! Ein Polizeibeamter, der doch von Amts wegen kein Mitleid zu kennen hatte, und ich tat ihm leid . . .«

»Nun, und was war?« frage ich.

»Nichts. Ich tat ihm eben leid. Was soll schon gewesen sein?«

»Was brauchst du jemand leid zu tun, wo du doch – wie ein Stein bist!«

Jakow bricht in ein gutmütiges Lachen aus. »Kauz! Ein Stein, hast du gesagt? Auch mit dem Stein muß man behutsam umgehen, denn auch der Stein ist an der rechten Stelle von Nutzen, mit Steinen pflastert man Straßen! Jegliches Material soll man schonen, alles, was da herumliegt, hat seinen Sinn. Was ist schon Sand? Doch auch auf Sand wächst da und dort ein Grashalm . . .«

Wenn der Heizer so spricht, wird mir besonders klar, daß er irgend etwas wissen muß, das mir unbegreiflich bleibt.

»Wie denkst du über den Koch?« frage ich.

»Über Medweshonok?« entgegnet er gleichgültig. »Was soll man schon über ihn denken? Da gibt es überhaupt nichts zu denken.«

Das stimmt. Iwan Iwanowitsch ist so zuverlässig und glatt, daß der Gedanke einfach nicht an ihm haftet. An ihm ist nur eines interessant – er mag den Heizer nicht, schimpft immerfort mit ihm und lädt ihn immerfort zum Tee ein.

Eines Tages sagte er zu ihm: »Hätten wir noch die Leibeigenschaft und ich wäre dein Gutsherr, ich würde dich Schmarotzer siebenmal in der Woche prügeln lassen.«

Jakow bemerkte ernst: »Siebenmal wäre ein bißchen viel!«

Der Koch schimpft mit dem Heizer, läßt ihm aber dabei manches zukommen; er steckt ihm grob etwas zu. »Da, friß!«

Jakow kaut bedächtig und entgegnet: »Ich werde durch dich, Iwan Iwanowitsch, viel Kraft sammeln!«

»Was willst du Faulpelz mit der Kraft?«

»Was heißt – was ich will? Lange leben . . .«

»Wozu willst du denn leben, du Satan?«

»Auch der Satan lebt. Oder willst du vielleicht sagen, leben macht keinen Spaß! Daß Leben, Iwan Iwanowitsch, ist etwas sehr Erfreuliches . . .«

»So ein Ediot!«

»Was hast du gesagt?«

»E – di – ot.«

»Schau an – was für ein Wort«, wundert sich Jakow, während Medweshonok zu mir sagt: »Mach dir das klar: Wir stehen in der Höllenglut am Herd, das Blut gerinnt uns, die Knochen dörren uns aus, und er – bitte sehr, sieh dir das an kaut in aller Seelenruhe sein Futter, das Schwein!«

»Jedem das Seine«, entgegnet der Heizer und kaut.

Ich weiß, es ist an der Feuerung viel heißer, man schuftet dort viel schwerer als vor dem Herd, ich habe nachts mehrmals mit Jakow zu »schüren« versucht, und ich wundere mich, daß er dem Koch nicht entgegenhält, wie schwer seine Arbeit ist. Nein, dieser Mensch muß etwas Besonderes wissen . . .

Alle schalten auf ihn – der Kapitän, der Maschinist, der Bootsmann, jeder, der nicht zu faul dazu war, und es blieb unerfindlich, weshalb man ihn nicht entließ. Die Heizer dachten entschieden besser von ihm als alle anderen, wenn sie sich auch über sein Geschwätz und sein ewiges Kartenspiel lustig machten. Ich erkundigte mich bei ihnen: »Ist Jakow ein guter Kerl?«

»Der Jakow? Es geht. Er ist sehr gutmütig, man kann mit ihm machen, was man will, und wenn man ihm glühende Kohlen unter die Jacke schiebt . . .«

Trotz der schweren Arbeit im Kesselhaus und trotz seines Pferdeappetits schlief der Heizer sehr wenig – er beendete seine Wache und blieb, häufig, ohne sich umzukleiden, verschwitzt und schmutzig, wie er war, auf dem Heck, spielte Karten oder unterhielt sich mit den Passagieren.

Er stand wie eine verschlossene Truhe vor mir, in der, wie ich fühlte, etwas verborgen war, das ich brauchte; und ich suchte hartnäckig nach dem Schlüssel, der sie mir öffnen könnte.

»Was willst du eigentlich, mein Freund? Ich kann es einfach nicht verstehen«, fragte er und blickte mich aus Augen an, die man vor lauter Augenbrauen nicht sehen konnte. »Nun ja, die Erde, ja doch, es stimmt, ich bin ein ganzes Stück auf ihr herumgekommen. Aber was weiter? K–kauz! Hör zu, ich will dir lieber erzählen, was ich da einmal erlebt habe.«

Und er erzählt. »Es lebte in einer Kreisstadt ein junger schwindsüchtiger Richter, und seine Frau, eine Deutsche, war kerngesund und kinderlos. Und sie, die Deutsche, verliebte sich in einen Kaufmann, einen Kurzwarenhändler; der Kaufmann nun war verheiratet und hatte drei Kinder und eine schöne Frau. Als er bemerkte, daß die Deutsche sich in ihn verliebt hatte, beschloß er, sich einen Spaß mit ihr zu machen. Er lud sie nachts in seinen Garten ein, versteckte dabei aber zwei Freunde in den Büschen.

Ausgezeichnet! Nun ja, die Deutsche kam, mit einem Wort: ›Hier bin ich!‹ Und plötzlich sagte er zu ihr: ›Ja, meine Dame, ich kann deine Gefühle nicht erwidern, ich bin verheiratet, aber ich habe dir zwei Freunde mitgebracht, der eine ist verwitwet, der andere ledig.‹ Die Deutsche – ›Hach!‹ und haut ihm einfach in die Schnauze; er fällt nach hinten über eine Bank, und sie tritt ihn noch mit dem Absatz. Ich nun hatte sie zu begleiten – ich war beim Richter als Hausknecht angestellt; ich spähe also durch eine Zaunlücke und sehe, die Suppe wird immer heißer. Die Freunde des Kaufmanns stürzten sich auf sie und packten sie an den Zöpfen; da setzte ich über den Zaun hinweg und drängte sie zurück. ›Nein, ihr Herrn Kaufleute, so geht es nicht!‹ sage ich. Meine Herrin war schließlich ahnungslos zu ihm gekommen, und er denkt sich etwas so Schändliches aus! Während ich sie rasch hinausschaffte, schlugen sie mir einen Ziegelstein auf den Kopf . . . Sie wurde schwermütig, irrte immerfort fassungslos auf ihrem Hof umher und sagte zu mir: ›Ich fahre zu den Meinen zurück, zu den Deutschen, Jakow! Sobald mein Mann tot ist, geh ich hier fort!‹ Ich sage: ›Natürlich, das müssen Sie!‹ Der Richter starb, und sie fuhr fort. War immer so freundlich, so vernünftig gewesen. Auch der Richter war immer freundlich gewesen, Gott hab ihn selig . . .«

Ich bin verlegen, verstehe nicht, worauf die Geschichte hinauswill, und schweige. Ich fühle zwar etwas mir gut Bekanntes, Erbarmungsloses, Sinnloses in ihr, aber – was soll ich dazu sagen?

»Gefällt dir die Geschichte?« fragt Jakow.

Ich sage etwas, bin empört und schelte, doch er erläutert gelassen: »Es sind eben satte, mit allem zufriedene Menschen; sie möchten sich da manchmal einen Spaß machen, doch es gelingt ihnen nicht, sie verstehen sich nicht darauf. Natürlich, so ernste, gediegene Kaufleute! Der Handel verlangt nicht wenig Verstand, und vom Verstand leben ist sicherlich langweilig, da will man eben seinen Spaß . . .«

Hinter dem Heck schießt, ganz voller Schaum, der Fluß dahin, man hört die fliehende Welle, brodeln, zögernd folgt ihr das dunkle Ufer. Auf dem Deck schnarchen die Passagiere, langsam bewegt sich zwischen den Bänken, an schlafenden Körpern vorbei, eine große, dürre Frau auf uns zu, in schwarzem Kleid und mit unbedecktem, grauem Haar – der Heizer stößt mich an und sagt mit leiser Stimme: »Schau her – die ist schwermütig . . .«

Und mir scheint, er hat Spaß an dem fremden Leid.

Er erzählte viel, ich hörte begierig zu und habe alle seine Geschichten behalten, erinnere mich jedoch an keine, die heiter gewesen wäre. Er sprach ruhiger als die Bücher – in den Büchern hörte ich off die Gefühle des Schriftstellers mitschwingen, seinen Zorn, Freude, Trauer oder Spott. Der Heizer lachte über niemand, verurteilte niemand, nichts kränkte ihn, nichts machte ihm merklich Freude; er sprach wie der teilnahmslose Zeuge vor dem Richter, wie ein Mensch, dem die Angeklagten, die Kläger, die Richter alle gleich fremd sind . . . Diese Gleichgültigkeit rief einen immer böseren Verdruß, eine ärgerliche Abneigung gegen Jakow in mit hervor.

Das Leben loderte vor ihm wie die Flamme in der Feuerung unter den Kesseln, er stand davor, in der knotigen Bärenpranke den Holzhammer, mit dem er leicht gegen den Düsenhahn klopfte, um bald mehr, bald weniger Heizstoff einzulassen.

»Hat man dich öfter gekränkt?«

»Wer wird mich schon kränken? Ich bin doch stark; wenn ich einmal richtig zuschlage . . .«

»Ich spreche nicht von Schlägen, ich meine, ob man dich in der Seele gekränkt hat?«

»Die Seele kann man nicht kränken, die Seele ist gegen Kränkungen gefeit«, entgegnet er. »An die menschliche Seele kommt man auf keine Weise heran, durch nichts . . .«

Die Deckpassagiere, die Matrosen, alle Menschen sprachen von der Seele ebensooft und ebensoviel wie vom Land, von der Arbeit, vom Brot und von den Frauen. Seele – so heißt jedes zehnte Wort in den Reden der einfachen Leute, ein Wort, das verbreitet ist wie ein Fünfkopekenstück. Es gefällt mir nicht, daß dieses Wort den glitschigen Zungen der Menschen so vertraut ist, und wenn die Bauern, ob nun im Bösen oder im Guten, unflätig schimpfen und die Seele besudeln, versetzt es mir einen Stich ins Herz.

Ich weiß noch sehr gut, wie vorsichtig die Großmutter von der Seele sprach, diesem geheimnisvollen Gefäß der Liebe, Schönheit und Freude, und glaubte auch, daß die Seele eines guten Menschen nach dem Tode von weißen Engeln in den blauen Himmel zum guten Gott meiner Großmutter entführt wird, der sie mit freundlichen Worten empfängt: »Was ist, du Liebe, was ist, du Reine, hast du dich nun genug gequält und ausgelitten?«

Und er verleiht der Seele Seraphsflügel – sechs weiße Flügel.

Jakow Schumow spricht von der Seele ebenso vorsichtig, wenig und ungern wie die Großmutter. Wenn er schimpft, verletzt er die Seele nicht, und wenn sich die anderen von ihr unterhalten, dann schweigt er und beugt den roten Stiernacken. Frage ich ihn, was die Seele sei, entgegnet er: »Der Atem, der Odem Gottes . . .«

Das ist mir zuwenig, ich forsche weiter, aber der Heizer senkt nur den Kopf und meint: »Von der Seele, mein Freund, verstehen sogar die Popen nicht allzuviel, das ist eine geheimnisvolle Sache . . .«

Er zwingt mich, in einem fort über ihn nachzudenken, mich hartnäckig anzuspannen, um ihn zu verstehen, doch diese Anspannung bleibt erfolglos. Ich sehe nichts außer ihm, alles ist mir durch seine breite Gestalt verstellt.

In verdächtiger Weise freundlich behandelt mich die Dame vom Büfett – ich muß sie morgens beim Waschen bedienen, obwohl das eigentlich Luscha zukäme, dem blitzblanken fröhlichen Zimmermädchen aus der zweiten Klasse. Wenn ich in der engen Kabine neben der bis an den Gürtel entblößten Büfettdame stehe und ihren gelben Körper, sehe, der schlaff ist wie übersäuerter Teig, steht mir der gleichsam aus Bronze gegossene Körper der Königin Margot vor Augen, und die Büfettdame widert mich an. Sie aber redet in einem fort bald über dies, bald über das, bald klagend oder brummig, bald ärgerlich und spöttisch.

Der Sinn ihrer Worte kommt mir nicht recht zum Bewußtsein, wenn ich ihn auch ahne – er ist dürftig, schal und beschämend. Doch ich entrüste mich nicht, ich lebe weit entfernt von der Büfettdame, weit weg von allem, was sich auf unserem Dampfer tut – hinter dem großen, moosüberwucherten Stein, der mir diese ganze, Tag und Nacht irgendwohin schwimmende Welt verdeckt.

»Unsre Gawrilowna ist bis über beide Ohren in dich verliebt«, höre ich wie im Traum die spöttischen Worte Luschas. »Staune und packe es an, das Glück . . .«

Nicht sie allein macht sich über mich lustig, das ganze Büfettpersonal weiß von der Schwäche der Herrin. Der Koch jedoch rümpft die Nase und meint: »Hat von allem gekostet, das Weibsbild, aber nein, sie braucht plötzlich Kuchen, Baisers! Menschen sind das! . . . Halte die Augen offen, Peschkow, paß auf – für drei . . .«

Auch Jakow belehrt mich väterlich-sachlich: »Natürlich, wenn du zwei Jähre älter wärst, würde ich dir vielleicht zu etwas anderem raten, aber so, bei deiner Jugend, ist es wohl doch schon besser, nicht nachzugeben! Im übrigen – wie du willst.«

»Hör auf«, entgegne ich, »das ist doch widerlich.«

»Natürlich . . .«

Aber gleich darauf versucht er, mit den Fingern seine verfilzten Kopfhaare zu entwirren, und läßt die wohlgesetzten Worte auf mich niederrieseln: »Andererseits muß man auch sie verstehen, das ist so eine ärmliche Sache, man möchte schon sagen . . . winterlich . . . Auch der Hund hat es gern, wenn man ihn streichelt, um wieviel mehr ein Mensch! Das Weib lebt von der Zärtlichkeit wie der Pilz von der Feuchtigkeit. Sie schämt sich sicherlich selber, aber was soll sie machen? Der Körper verlangt das Seine, du weißt schon, was ich meine . . .«

Ich blicke angespannt in seine unbestimmbaren Augen und frage ihn: »Tut sie dir leid?«

»Mir? Ist sie vielleicht meine Mutter? Nicht einmal Mütter tun den Menschen leid, während du . . . so ein Kauz!«

Er bricht in ein leises Lachen aus, das wie eine gesprungene Schelle klirrt.

Manchmal, wenn ich ihn anblicke, glaube ich in eine stumme Leere, in Dunkelheit, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen.

»Alle heiraten, warum nicht du, Jakow?«

»Und wozu? Ein Weib kann ich jederzeit auch so haben, das ist gottlob einfach . . . Der Verheiratete muß seßhaft sein, als Bauer leben, ich habe aber schlechtes Land, dazu nur wenig, und auch das hat mir mein Onkel fortgenommen. Als mein jüngerer Bruder von den Soldaten zurückkam, begann er mit dem Onkel Streit, ging vor Gericht und hieb ihm schließlich einen Pfahl auf den Kopf. Vergoß also Blut. Man sperrte ihn für anderthalb Jahre ins Gefängnis, aus dem Gefängnis aber gibt es nur einen Weg – wieder zurück ins Gefängnis. Seine Frau war eine erfreuliche junge Person . . . was ist da schon zu reden! Bist du verheiratet, dann sitz auch bei deiner Hütte und sei dein eigener Herr, ein Soldat aber ist nicht sein eigener Herr.«

»Betest du?«

»K–kauz! Natürlich bete ich.«

»Und wie?«

»Das ist verschieden.«

»Welche Gebete sprichst du denn?«

»Gebete kenne ich keine. Ich, mein Freund, mache es einfach: Herr Jesus, erbarme dich der Lebenden, gibt Frieden den Toten, bewahre mich, Herr, vor Krankheit . . . Und dann noch irgend etwas . . .«

»Was denn?«

»Nun so . . . Was du ihm sagst, ist einerlei, er versteht alles!«

Er behandelt mich freundlich, mit einiger Neugier – wie einen gescheiten jungen Hund, der allerlei spaßige Kunststücke kann. Da sitze ich nachts neben ihm, er riecht nach Heizöl, nach Rauch, nach Zwiebeln – er ißt gern Zwiebeln und knabbert sie roh wie Äpfel; plötzlich bittet er: »Los mal, Oljoscha, sag ein paar Verse auf!«

Ich weiß viele Verse auswendig, außerdem besitze ich ein dickes Heft, in das ich meine Lieblingsgedichte schreibe. Ich lese ihm den »Ruslan« vor, er hört regungslos zu, ist blind für alles und stumm und hält den pfeifenden Atem an; dann sagt er mit gedämpfter Stimme: »Ein hübsches, erfreuliches Märchen! Hast du es selber ausgedacht oder wer? Puschkin? Ja, es gibt so einen großen Herrn, den Muchin-Puschkin, ich habe ihn gesehen . . .«

»Das ist ein anderer, den Dichter haben sie längst umgebracht!«

»Wofür?«

Ich erzähle es ihm mit den gleichen kurzen Worten, mit denen es mir die Königin Margot erzählte. Jakow hört es sich an und meint gelassen: »Kommt reichlich viel Volk um wegen der Weiber . . .«

Öfter erzähle ich ihm Geschichten, die ich aus Büchern habe; sie haben sich alle bei mir verwirrt und sind zu einer einzigen unendlich langen Geschichte von einem ruhelosen und schönen Leben zusammengeflossen, das mit feurigen Leidenschaften gesättigt und von wahnwitzigen Heldentaten, purpurnem Edelmut, fabelhaften Erfolgen, Duellen und Toden, noblen Worten und niederträchtigen Handlungen erfüllt ist. Rocambole nahm bei mir die ritterlichen Züge eines La Mole oder Hannibal de Coconnas an; Ludwig XI. die Züge des Vaters Grandet; der Kornett Otletaljew verschmolz mit Heinrich IV. Diese Geschichte, in der ich – je nach Eingebung – die menschlichen Charaktere veränderte und die Ereignisse vertauschte, war für mich eine Welt, in der ich schaltete und waltete wie Großvaters Gott – auch er spielte mit allem, was ihm gefiel. Ohne mich daran zu hindern, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie war, ohne meinen brennenden Wunsch, die lebendigen Menschen zu begreifen, abzukühlen, schützte mich dieses aus Büchern geborene Chaos gleich einer durchsichtigen, aber undurchdringlichen Wolke vor vielem ansteckenden Schmutz, vor den gefährlichen Giften des Lebens.

Ich war durch die Bücher gegen vieles gefeit; wenn man weiß, wie Menschen lieben und leiden, kann man nicht in ein Freudenhaus gehen; die billige Ausschweifung erregte bei mir Ekel, erregte Mitleid mit den Menschen, denen sie als Genuß erschien. Rocambole lehrte mich standhaft sein, mich der Macht der Verhältnisse nicht zu beugen, die Helden Dumas flößten mir den Wunsch ein, mich einer wichtigen, großen Sache hinzugeben. Mein Lieblingsheld war der fröhliche König Heinrich IV., und mir schien, eben von ihm singe das hübsche Lied Berangers:

Doch war nicht ganz so tugendfest
Sein Hang zum Saft der Reben,
Was tat's! – Wer andre leben läßt,
Solch Fürst soll selber leben!

Die Romane schilderten Heinrich IV. als gutmütigen, seinem Volk verbundenen Menschen; heiter und klar wie die Sonne, gab er mir die Überzeugung ein, Frankreich sei das schönste Land der Welt, ein Land von lauter Rittern, die alle gleich hochherzig waren – einerlei, ob sie im Königsornat oder in Bauerntracht daherkamen: Ange Pitou war ebensosehr ein Ritter wie d'Artagnan. Als ich erfuhr, wie Heinrich IV. ermordet wurde, brach ich in finstere Tränen aus und knirschte aus Haß gegen Ravaillac mit den Zähnen. In den Geschichten, die ich dem Heizer erzählte, erschien dieser König fast immer als ihr eigentlicher Heid, und ich glaube, auch Jakow hatte Frankreich und »Henri« ins Herz geschlossen.

»War ein guter Kerl, der König Henri – mit dem hätte man Pferde stehlen oder sonstwas anstellen können«, äußerte er.

Er ließ sich nicht hinreißen und unterbrach meine Erzählung nicht durch Fragen; er hörte schweigend zu, mit unbeweglichem Gesicht und heruntergezogenen Brauen – ein alter, bemooster Stein. Wenn ich jedoch in meiner Rede aus irgendeinem Grunde stockte, erkundigte er sich sogleich: »Zu Ende?«

»Nein, noch nicht.«

»Dann erzähl weiter.«

Von den Franzosen sagte er seufzend: »Die leben im Kühlen.«

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, bei uns geht es heiß zu, wir beiden leben mitten in der Arbeit, während sie – im Kühlen leben. Sie haben eigentlich nichts zu tun, sie trinken nur und vergnügen sich – ein erfreuliches Leben!«

»Sie arbeiten auch!«

»Das kann man aus deinen Geschichten nicht ersehen«, bemerkte der Heizer ganz richtig, und mir wurde plötzlich klar, daß in den meisten Büchern, die ich gelesen habe, so gut wie überhaupt nicht davon gesprochen wird, welche Arbeit die edlen Helden tun, wovon sie eigentlich leben.

»So, jetzt will ich mal ein bißchen schlafen«, sagte Jakow, sank, wo er gerade gesessen hatte, hintenüber und pfiff einen Augenblick später gleichmäßig durch die Nase.

Im Herbst, als sich die Ufer der Kama rotbraun, die Bäume goldgelb und die schrägen Strahlen der Sonne weißlich färbten, ging Jakow überraschend von Bord. Noch am Abend zuvor hatte er mir gesagt: »Übermorgen, Aljoscha, du Hitzkopf, sind wir in Perm, dort nehmen wir ein Dampfbad, daß uns das Herz im Leibe lacht, und ziehen in eine Kneipe mit Musik – das macht Spaß! Ich sehe so gern zu, wie die Mechanik spielt.«

Doch in Sarapul stieg auf unseren Dampfer ein dicker Mann zu, mit welkem, bartlosem Frauengesicht. Der lange, warme Rock und die Mütze mit Ohrenklappen aus Fuchsfell verstärkten seine Ähnlichkeit mit einer Frau noch mehr. Er setzte sich sogleich an den Tisch neben der Küche, wo es am wärmsten war, bestellte ein Teegedeck und trank die heiße, gelbe Flüssigkeit, ohne den Rock aufzuknöpfen oder die Mütze abzusetzen, so daß er heftig schwitzte.

Aus den herbstlichen Wolken ging ununterbrochen ein feiner Regen nieder, und wenn der Mann das schwitzende Gesicht mit dem karierten Taschentuch abwischte, schien der Regen nachzulassen, geriet er aber aufs neue ins Schwitzen, dann war es, als verstärkte sich auch der Regen.

Bald tauchte Jakow neben ihm auf; sie sahen sich eine Karte im Taschenkalender an – der Passagier fuhr mit dem Finger auf ihr herum, während der Heizer sagte: »Wennschon! Macht nichts. Darauf pfeife ich . . .«

»Desto besser«, entgegnete mit dünner Stimme der Passagier und schob den Kalender in den geöffneten Ledersack zu seinen Füßen. Dann unterhielten sie sich leise und tranken Tee.

Bevor Jakow die Wache antrat, fragte ich ihn, was das denn für ein Mensch sei. Er erwiderte mit spöttischem Lächeln: »Sieht so aus, als wär's ein Skopze, also ein Verschnittener. Aus Sibirien, weit her! Spaßiger Kauz, lebt streng nach den Regeln . . .«

Er ging davon, stapfte mit seinen schwarzen Fußsohlen über das Deck wie mit festen Hufen, blieb aber noch einmal stehen und kratzte sich die Seite.

»Ich hab mich als Knecht bei ihm verdingt; sobald wir in Perm sind, geh ich vom Dampfer, und dann – leb wohl, Aljoscha, du Hitzkopf. Erst fahren wir mit der Bahn, dann auf einem Fluß und schließlich mit Pferden; fünf Wochen, sagt er, werden wir unterwegs sein; da staunt man, wohin der sich verkrochen hat . . .«

»Kennst du ihn denn?« fragte ich und wunderte mich über Jakows überraschenden Entschluß.

»Woher soll ich ihn kennen? Ich sehe ihn zum erstenmal, ich habe doch noch nie in diesen Gegenden gelebt . . .«

Am nächsten Morgen drückte mir Jakow, der einen kurzen, speckigen Halbpelz, Schuhe über den bloßen Füßen und einen zerbeulten, randlosen Strohhut von Medweshonok trug, mit eisernen Fingern die Hand und sagte: »Willst du nicht mitkommen? Er nimmt dich auch, der Tauber, ich brauche es nur zu sagen; soll ich? Sie schneiden dir das Überflüssige ab und geben dir Geld dafür. Für sie ist es ein wahres Fest, den Menschen zu verstümmeln, darum belohnen sie dich auch dafür . . .«

Der Skopze stand mit einem weißen Bündel unter dem Arm heben der Reling und blickte unverwandt, mit unbeweglichen Augen zu Jakow, schwerfällig und aufgequollen wie ein Ertrunkener. Ich belegte ihn leise mit einem Schimpfwort, während der Heizer mir nochmals die Hand drückte.

»Laß ihn, Schwamm drüber! Jeder betet zu seinem Gott, was geht uns das an? Also – leb wohl! Werde glücklich!«

Und Jakow Schumow ging fort – er fiel wie ein Bär von einem Bein auf das andere über und ließ in meinem Herzen ein ziemlich bedrückendes, kompliziertes Gefühl zurück – der Heizer tat mir leid, und ich ärgerte mich über ihn; ich weiß noch, daß ich ihn auch etwas beneidete und mich beunruhigt fragte: Warum geht dieser Mensch ins Ungewisse?

Und was für ein Mensch ist er eigentlich – dieser Jakow Schumow?

 


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