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Die Ikonenwerkstatt war in zwei Zimmern eines großen, zur Hälfte steinernen Hauses untergebracht; das eine Zimmer hatte drei Fenster zum Hof und zwei zum Garten, das andere eins zum Garten und eins zur Straße. Die Fenster waren klein und quadratisch, die Scheiben, regenbogenfarben vor Alter, ließen das zerstreute Licht der Wintertage nur spärlich in die Werkstatt ein.
Beide Zimmer stehen voller Tische, an jedem sitzt vornübergebeugt ein Ikonenmaler, an manchem sind es auch zwei. Von den Decken hängen Glaskugeln an Schnüren herab; sie sind mit Wasser gefüllt, sammeln das Licht der Lampe und werfen einen kalten weißen Strahl auf die quadratische Ikonentafel zurück.
In der Werkstatt ist es heiß und stickig; etwa zwanzig »Gottespinsler« aus Palech, Cholui, Mstjora arbeiten in ihr; alle sitzen in Baumwollhemden mit aufgeknöpftem Kragen, in Drillichhosen, barfuß oder mit alten Schuhen an den Füßen da. Über den Köpfen der Meister hängt ein graublauer Schleier von verbranntem Machorka, ein schwerer Geruch von Ölfirnis, Lack und faulen Eiern. Langsam wie Teer strömt das schwermütige Wladimirer Lied dahin.
»Wie gewissenlos das Volk doch heutzutage ist?
Hat ein Bursch vor allem Volk ein Mägdelein geküßt . . .«
Man singt auch andere Lieder, die ebenfalls nicht heiter sind, aber dieses am häufigsten. Seine schleppende Melodie hindert nicht zu denken, hindert nicht, mit dem feinen Hermelinpinsel über die Zeichnung hinzugleiten, die Gewänder des »Beiwerks« auszuführen oder den knochigen Gesichtern der Heiligen dünne Leidensfältchen aufzumalen. Draußen vor dem Fenster klirrt der Treibziseleur Gogolew, ein ewig betrunkener alter Mann mit riesiger blauer Nase, mit seinem Hämmerchen; ununterbrochen mischt sich der trockene Klang des Hammers in die träge dahinfließende Melodie – es ist, als nagte im Holz der Wurm.
Das Ikonenmalen begeistert niemand; irgendein weiser, böser Mann hat die Arbeit in eine lange Reihe von Vorgängen zerlegt, die der Schönheit beraubt sind und keine Liebe zur Sache, kein Interesse an ihr aufkommen lassen. Der schielende Tischler Panfil, böse und giftig, liefert die gehobelten, fertig zusammengeleimten Zypressen- und Lindenholzbrettchen in den gewünschten Abmessungen bei uns ab; Dawidow, ein schwindsüchtiger Bursche, grundiert sie; sein Arbeitskamerad Sorokin legt den »Lewkas«, ein feines Gips- oder Alabasterpulver, auf; Miljaschin paust mit Bleistift die Zeichnung der Vorlage ab; der alte Gogolew legt die Vergoldungen auf und prägt ihnen die Ornamente ein; die »Dolitschniki«, die Beiwerkmaler, malen die Landschaften und die Gewänder, wonach die Ikone – noch ohne Gesicht und Hände – an der Wand lehnt und auf den »Litschnik«, den Inkarnatmaler, wartet.
Die großen, für Bilderwände und Altarraumtüren bestimmten Ikonen wirken, solange sie ohne Gesicht, Hände und Füße an der Wand lehnen, sehr unangenehm – man sieht nur die Metallverkleidung und die kurzen Hemdchen der Erzengel. Von diesen bunt bemalten Tafeln weht einen etwas Totes an; das, was sie beleben sollte, ist nicht vorhanden, es scheint aber, als sei es schon dagewesen und – unter Zurücklassung der schweren Hülle – durch irgendein Wunder entschwunden.
Nachdem der »Litschnik« das Inkarnat gemalt hat, wird die Ikone dem Meister übergeben, der das vertiefte Muster der Metallverkleidung mit Email ausfüllt; auch die Inschriften malt ein besonderer Meister, während der Lacküberzug vom Werkstättenleiter, dem stillen Iwan Larionytsch, persönlich besorgt wird.
Sein Gesicht ist grau, grau auch das Bärtchen, das aus feinen seidigen Haaren besteht; die grauen Augen wirken sonderbar tief und traurig. Er hat ein angenehmes Lächeln, doch kann man sich nicht entschließen, es zu erwidern – das scheint irgendwie nicht schicklich. Er erinnert an eine Ikone des Säulenheiligen Simeon – ebenso mager und dürr wie er, blickt er mit unbeweglichen Augen abwesend in die Ferne, über Menschen und Wände hin.
Wenige Tage nachdem ich meinen Dienst in der Werkstatt angetreten hatte, kam der Meister für Kirchenfahnen, der Donkosak Kapendjuchin, ein hübscher, kraftstrotzender Bursche, betrunken zur Arbeit, biß die Zähne aufeinander, kniff die schmachtenden Weiberaugen zusammen und hieb mit eisernen Fäusten wortlos auf alle ein. Schlank und keineswegs groß, schoß er in der Werkstatt wie ein Kater zwischen Kellerratten umher; die Leute verbargen sich verstört in den Ecken und riefen sich von dort aus zu: »Haut ihn!«
Dem Inkarnatmaler Jewgenij Sitanow gelang es schließlich, den wild gewordenen Raufbold außer Gefecht zu setzen er hieb ihm einen Hocker über den Kopf. Der Kosak setzte sich auf den Fußboden, man warf ihn kurzerhand auf den Rücken und fesselte ihn mit Handtüchern; er biß wie ein wildes Tier auf ihnen herum. Plötzlich geriet Jewgenij außer sich – er stieg auf einen Tisch, drückte die Ellenbogen an die Hüften und schickte sich an, auf den Kosaken hinunterzuspringen; groß und sehnig, wie er war, hätte er durch einen solchen Sprung Kapendjuchin unvermeidlich den Brustkorb eingedrückt, doch in diesem Augenblick tauchte in Mantel und Mütze Larionytsch neben ihm auf, drohte Sitanow mit dem Finger und sagte ruhig und sachlich zu den Meistern: »Schafft ihn in den Flur hinaus, soll er dort zu sich kommen . . .«
Man schaffte den Kosaken aus der Werkstatt, rückte Tische und Stühle zurecht und machte sich aufs neue an die Arbeit, wobei man kurze Bemerkungen über die Kraft des Arbeitskameraden austauschte und ihm verhieß, er werde früher oder später bei einer Rauferei erschlagen werden.
»Den erschlagen ist gar nicht einfach«, sagte Sitanow sehr ruhig, wie man von einer Sache spricht, die man gut kennt.
Ich blickte auf Larionytsch und wunderte mich, warum sich diese starken, ungestümen Menschen so willig seinen Worten fügten.
Er zeigte allen, wie man zu arbeiten habe, und selbst die besten Meister folgten gern seinem Rat; wortreicher und eifriger als die anderen belehrte er Kapendjuchin: »Du, Kapendjuchin, nennst dich einen Maler, du mußt lebendig malen können, in italienischer Manier! Die Ölmalerei verlangt eine Einheit von warmen Tönen, während du hier allzuviel Bleiweiß aufträgst – die Augen der Muttergottes sind kalt und frostig geworden. Die Wangen sind rot wie Äpfelchen gemalt, die Augen passen nicht zu ihnen. Auch sind sie nicht richtig gemacht – das eine blickt auf die Nasenwurzel, das andere ist näher zur Schläfe gerückt, und das Gesicht erscheint infolgedessen nicht heilig und rein, sondern irdisch und listig. Du bist mit den Gedanken nicht bei der Arbeit, Kapendjuchin.«
Der Kosak hört zu und verzieht das Gesicht, dann lächelt er schamlos mit seinen Weiberaugen und entgegnet mit angenehmer, vom Trinken ein wenig heiserer Stimme: »Hach, Iwan Larionytsch, Vater, das ist keine Arbeit für mich. Ich bin zum Musikanten geboren, aber sie stecken mich unter die Mönche!«
»Mit Fleiß bewältigt man jede Arbeit.«
»Nein, nein, wer bin ich denn? Ich müßte Kutscher sein und ein feuriges Dreigespann lenken, ha . . .«
Und er stimmt mit vorgewölbtem Adamsapfel verwegen an:
»Hei und hach, ich schirre an der dunkelbraunen
Gäule feurig Dreigespann,
Und hinaus, hinaus in Nacht und Frostgeklirre
Zu der Liebsten mein jage ich dann!«
Iwan Larionytsch rückt mit ergebenem Lächeln die Brille auf seiner grauen, melancholischen Nase zurecht und verzieht sich, während ein Dutzend Stimmen einmütig in das Lied einfällt, zu einem mächtigen Strom anschwillt, gleichsam die ganze Werkstatt in die Luft erhebt und sie im Rhythmus des Liedes wiegt.
»Altgewohnt die Pferde wissen,
Wo die Allerliebste lebt . . .«
Der Lehrling Paschka Odinzow vergißt das Eigelb abzugießen und führt, eine Eierschale in jeder Hand, mit prächtigem Diskant die zweite Stimme an.
Alle sind von den Klängen berauscht und mitgerissen, atmen aus einer Brust, leben aus einem Gefühl, während sie aus den Augenwinkeln auf den Kosaken blicken. Wenn er sang, war er der anerkannte Herr über die Werkstatt; alle waren von ihm gebannt, alle folgten dem ausladenden Schwung seiner Arme – es sah so aus, als wollte er sich in die Luft erheben. Ich bin überzeugt, wenn er mitten im Lied gerufen hätte: »Schlagt zu, haut alles entzwei!« – alle, selbst die gediegensten Meister, hätten mitgemacht; die Werkstatt wäre in Minuten auf den Kopf gestellt worden.
Er sang nur selten, doch die Gewalt seiner wilden Lieder war immer gleich sieghaft und unwiderstehlich; so bitter die Leute gestimmt sein mochten – er riß sie mit und entflammte sie, alle spannten sich an, verschmolzen im glühenden Zusammenschluß der Kräfte zu einem einzigen, gewaltigen Klang.
Bei mir riefen diese Lieder ein lebhaftes Gefühl des Neids auf den Sänger und seine Macht über die Menschen hervor; etwas unheimlich Bewegendes erfüllte schmerzhaft mein Herz und drohte es zu sprengen; am liebsten hätte ich geweint und den Menschen, die sangen, zugerufen: »Ich liebe euch!«
Auch der schwindsüchtige, gelbe Dawidow, überall voller Haarbüschel, öffnete den Mund und nahm eine seltsame Ähnlichkeit mit einem eben ausgeschlüpften Dohlenjungen an.
Fröhliche, wilde Lieder wurden nur gesungen, wenn der Kosak sie anstimmte, meist sang man schwermütige, gedehnte wie jenes »vom gewissenlosen Volk«, »Gleich am Wald, am Wäldchen« oder das vom Tode Alexanders I. – »Eines Tags, als Alexander sich begab zur Truppenschau«.
Manchmal versuchte man auf Vorschlag Shicharews, des besten Inkarnatmalers unserer Werkstatt, Geistliches zu singen, doch das gelang nur selten. Shicharew war stets darauf aus, eine besondere, ihm allein vorschwebende Harmonie zu erreichen, und störte alle beim Singen.
Er war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mager, mit beinah kahlem, von einem Halbkreis schwarzen, zigeunerhaften Kraushaars umgebenem Schädel und schwarzen Augenbrauen, dick wie ein Schnurrbart. Das dichte, spitze Bärtchen paßte gut zu seinem dunklen, schmalen Gesicht, während der harte Schnurrbart, der unter der Hakennase starrte, bei seinen Brauen überflüssig schien. Die blauen Augen waren ungleich – das linke merklich größer als das rechte.
»Paschka«, rief er mit Tenorstimme meinem Lehrkameraden zu, »stimme doch mal das ›Rühmet‹ an! Hört zu, Leute!«
Paschka wischte sich die Hände an der Schürze ab und intonierte: »Rüüühmet!«
». . . den Namen des Herrn«, fielen mehrere Stimmen ein, während Shicharew aufgeregt dazwischenrief: »Jewgenij, tiefer! Senk deine Stimme bis auf den Grund der Seele . . .«
Sitanow klagt dumpf, als schlüge er an ein Faß: »Ihr Knechte Gottes . . .«
»Nicht sooo! Hier muß man einfallen, daß die Erde erbebt und Fenster und Türen aufspringen!«
Shicharew zuckt in unverständlicher Erregung an allen Gliedern, seine erstaunlichen Brauen heben und senken sich, die Stimme versagt, die Finger gleiten wie über unsichtbare Guslisaiten hin.
»Knechte Gottes – verstehst du?« sagt er bedeutungsschwer. »Das muß man durch alle Schale hindurch in seinem Herzen erfassen. ›Knechte, rühmet den Herrn!‹ Wieso begreift ihr das nicht, die ihr lebendige Menschen seid?«
»Das kommt bei uns, wie Sie wissen, nie recht heraus«, bemerkt Sitanow höflich.
»Also gut, lassen wir es!«
Shicharew macht sich gekränkt an seine Arbeit. Er ist der Beste unter den Meistern, er kann die Gesichter byzantinisch, flämisch oder »lebensnah«, in italienischer Art, malen. Wenn Larionytsch einen Auftrag für einen »Ikonostas« eine Bilderwand, entgegennimmt, berät er sich mit ihm – Shicharew ist ein feiner Kenner der Originale, alle teuren Kopien von wundertätigen Ikonen gehen durch seine Hand – die der »Feodorowskaja«, der Muttergottes von Smolensk, der von Kasan und vielen anderen. Dennoch brummt er, während er in den Vorlagen wählt, laut vor sich hin: »Alle diese Vorlagen engen uns nur ein. Man muß es unumwunden sagen sie engen uns ein!«
Trotz seiner wichtigen Stellung in der Werkstatt ist er weniger anmaßend als die anderen und behandelt uns Lehrlinge – mich und Pawel – freundlich; er will uns das Handwerk beibringen – damit gibt sich sonst niemand ab.
Er ist nicht leicht zu verstehen; auch sonst ist er nicht gerade heiter und arbeitet manchmal die ganze Woche hindurch wortlos wie ein Stummer; erstaunt und fremd blickt er alle an, auch Menschen, die er gut kennt, als sähe er sie zum ersten Male. Obwohl er Gesang sehr liebt, singt er an solchen Tagen nicht mit und scheint die Lieder nicht einmal zu hören.
Alle beobachten ihn und zwinkern einander zu. Er beugt sich über die schräg gestellte Ikone, die Tafel steht, mit der Mitte an den Tischrand gelehnt, auf seinen Knien, der feine Pinsel führt sorgsam ein dunkles, fremd wirkendes Antlitz aus, und auch er selbst wirkt dunkel und fremd.
Plötzlich sagt er deutlich und gekränkt: »Der Vorläufer – was ist das? Der, der Christus voranging, und nichts anderes . . .«
Die Werkstatt verstummt, alle schielen spöttisch zu ihm hinüber, während in der Stille die seltsamen Worte klingen: »Man muß ihn nicht im Schaffell malen, sondern mit Flügeln . . .«
»Mit wem redest du?« fragt man ihn.
Er schweigt, er hat die Frage nicht gehört, oder er will nicht antworten, bis dann aufs neue seine Worte in die erwartungsvolle Stille fallen: »Man müßte die Heiligenlegenden kennen, aber wer kennt sie? Was wissen wir denn? Wir leben ohne Schwingen . . . Wo bleibt die Seele? Wo? Vorlagen – ja! – die haben wir. Aber das Herz fehlt . . .«
Diese laut ausgesprochenen Gedanken rufen bei allen außer Sitanow ein spöttisches Lächeln hervor; fast immer wird schadenfroh geflüstert: »Am Sonnabend fängt er wieder zu trinken an . . .«
Der lange, sehnige Sitanow, ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, mit rundem Gesicht ohne Brauen und Schnurrbart, starrt ernst und traurig in die Ecke.
Ich erinnere mich, wie Shicharew, nachdem er eine Kopie der Muttergottes »Feodorowskaja«, wenn ich nicht irre – für Kungur, beendet hatte, die Ikone auf den Tisch legte und bewegt, mit lauter Stimme sagte: »Fertig das Mütterchen! Du bist wie ein Kelch, eine bodenlose Schale, in die nunmehr die bitteren Herzenstränen der Menschen fließen werden . . .«
Und er warf sich den ersten besten Mantel um und ging in die Kneipe. Die Jugend lachte und pfiff, die älteren Leute seufzten ihm neidisch nach, während Sitanow auf die Arbeit zutrat, sie aufmerksam ansah und erklärte: »Natürlich, er wird jetzt trinken, weil es ihm leid tut, die Arbeit fortzugeben. Das begreift nicht jeder . . .«
Shicharews Trunksuchtsanfälle begannen immer sonnabends. Es waren wohl nicht die üblichen Anfälle eines dem Alkohol verfallenen Handwerkers; es fing damit an, daß er morgens einen Zettel schrieb und Pawel mit diesem Zettel losschickte; vor dem Mittagessen sagte er dann zu Larionytsch: »Ich gehe heute ins Dampfbad!«
»Für lange?«
»Bitte jedenfalls nicht länger als bis Dienstag!«
Shicharew nickte zum Zeichen seines Einverständnisses mit dem kahlen Schädel, seine Brauen zitterten.
Aus dem Dampfbad zurückgekehrt, warf er sich in Schale, legte Chemisett und Halstuch an, ließ eine lange Silberkette über die Atlasweste fallen und fuhr schweigend davon, nachdem er mir und Pawel befohlen hatte: »Räumt zum Abend schön sauber auf; wascht und scheuert den großen Tisch!«
Alle kamen in eine feiertägliche Stimmung, alle strafften sich, säuberten sich, liefen ins Dampfbad und aßen in aller Eile zu Abend; nach dem Abendessen aber tauchte Shicharew mit Imbißtüten, Bier und Wodka auf, in seinem Gefolge eine Frau, deren Dimensionen fast schon unförmig wirkten. Sie mag zwei Arschin zwölf Werschok groß sein, alle unsere Stühle und Hocker werden zu Spielzeug, selbst der lange Sitanow erscheint wie ein Halbwüchsiger neben ihr. Sie ist sehr gut gebaut, nur ragt der Busen wie ein Hügel zum Kinn empor, und die Bewegungen sind ungeschickt und langsam. Sie mag über vierzig sein, aber ihr rundes, unbewegliches Gesicht mit den riesigen Pferdeaugen ist frisch und glatt, der kleine Mund scheint aufgemalt wie bei einer billigen Puppe. Sie streckt uns mit geziertem Lächeln die breite, warme Hand entgegen und macht allerlei unnütze Worte: »Guten Tag! Kalt ist es heute. Wie dumpf es hier riecht! Es riecht nach Farbe. Guten Tag!«
Ruhig und stark wie ein großer, wasserreicher Strom, ist sie angenehm anzuschaun, doch ihre Reden haben etwas Einschläferndes, sind alle unnötig und ermüden. Sie bläst, bevor sie ein Wort sagt, die ohnehin runden, feuerroten Wangen auf.
Die Jugend schmunzelt und raunt sich zu: »So eine Maschine!« – »Der reinste Glockenturm!«
Die Lippen zierlich geschürzt, die Arme unter den Brüsten verschränkt, setzt sie sich neben den Samowar an den gedeckten Tisch und blickt alle der Reihe nach gutmütig mit ihren Pferdeaugen an.
Alle behandeln sie respektvoll, die Jugend fürchtet sich sogar ein wenig vor ihr; da blickt ein Jüngling gierig auf diesen üppigen Körper, senkt aber, wenn sein Blick ihrem gleichsam umarmenden Blick begegnet, verlegen die Augen. Auch Shicharew ist zu seinem Besuch sehr höflich, sagt zu ihr »Sie«, nennt sie Gevatterin, verneigt sich tief, wenn er ihr etwas anbietet.
»So bemühen Sie sich doch nicht«, sagt sie süßlich-gedehnt, »wirklich, Sie bringen sich noch um!«
Sie selbst rührt sich nicht viel, ihre Arme bewegen sich nur vom Ellenbogen an, die Ellenbogen selbst sind an die Seiten gepreßt. Sie strömt eine Art Alkoholgeruch aus – wie heißes Brot.
Der alte Gogolew ergeht sich, vor lauter Begeisterung stotternd, in Lobeshymnen auf die Frauenschönheit – als verläse ein Psalmensänger die Lobeshymnen auf die Heilige Jungfrau, während sie zuhört, wohlwollend lächelt und, als er sich schließlich ganz in seinen Worten verstrickt, über sich selber sagt: »Wir sind als junges Mädchen keineswegs hübsch gewesen, das ist uns erst später zugeflogen, als wir zur Frau wurden. Mit dreißig Jahren waren wir so bemerkenswert, daß sich selbst Männer vom Adel für uns interessierten. Ein Kreismarschall hat uns einen doppelspännigen Wagen versprochen . . .«
Kapendjuchin, zerzaust und angeheitert, sieht sie haßerfüllt an und fragt in grobem Ton: »Versprochen? Ja, wofür denn?«
»Für unsere Liebe natürlich«, .erläutert sie.
»Liebe«, murmelt Kapendjuchin und wird verlegen, »was heißt hier Liebe?«
»Sie, ein stattlicher junger Mann, werden das alles sicher gut kennen«, entgegnet sie schlicht.
Die Werkstatt biegt sich vor Lachen, während Sitanow Kapendjuchin ins Ohr brummt: »Eine dumme Gans, wenn nicht schlimmer! So eine kann man, wie jeder versteht, nur lieben, wenn man sehr einsam ist.«
Er wird vom Wodka blaß, auf seinen Schläfen treten Schweißperlen hervor, erregt glühen die klugen Augen. Der alte Gogolew aber wiegt die häßliche Nase, wischt mit den Fingern die Tränen aus seinen Augen und fragt: »Wie viele Kinderchen hast du gehabt?«
»Eins, mehr hatten wir nicht . . .«
Über dem Tisch hängt eine Lampe, hinter der Ofenecke eine zweite. Sie geben nur wenig Licht, in den Ecken sammeln sich tiefe Schatten, und unvollendete Gestalten ohne Köpfe sehen aus ihnen hervor. Die ausgesparten grauen Flecken anstelle der Hände und Köpfe haben etwas Unheimliches – stärker als sonst will einem scheinen, die Körper dieser Heiligen seien auf geheimnisvolle Weise aus ihren bunten Kleidern, aus diesem Kellerraum entschwunden. Die Glaskugeln sind bis an die Decke hochgezogen, hängen an ihren Haken und schimmern bläulich in einem Wölkchen von Rauch.
Shicharew streicht unruhig um den Tisch herum und bemüht sich um die Gäste; sein kahler Schädel neigt sich bald dem, bald jenem zu, immerfort spielen die schlanken Finger. Er scheint magerer geworden, die Habichtnase zeichnet sich schärfer ab; wenn er seitlich zum Licht steht, fällt ein schwarzer Schatten von ihr auf seine Wange.
»Eßt, Freunde, trinkt«, sagt er mit seinem klangvollen Tenor.
Die Frau, auf Haushalten bedacht, ermahnt ihn in singendem Tonfall: »Weshalb, Gevatter, bringen Sie sich um? Jeder hat seine Hand und seinen Appetit; mehr, als er mag, kann niemand essen!«
»Feiert, Leute!« ruft Shicharew angeregt. »Wir alle, meine Freunde, sind Knechte Gottes, kommt, singen wir ›Rühmet den Namen‹ . . .«
Mit dem Singen will es nichts werden; alle sind vom Essen erschlafft, alle berauscht vom Wodka. In Kapendjuchins Händen blitzt eine doppeltourige Harmonika, der junge Wiktor Salantin, schwarz und ernst gleich einem Krähenjungen, hat sich die Schellentrommel gegriffen und fährt mit dem Finger auf ihr herum – das straff gespannte Fell beginnt dumpf zu summen, übermütig klirren die Schellen.
»Einen »Rrrussischen!« kommandiert Shicharew. »Gevatterin, darf ich bitten!«
»Ach«, seufzt die Frau und erhebt sich, »Sie bringen sich noch um!«
Sie tritt an eine freie Stelle vor und steht unerschütterlich da wie eine Kapelle. Sie trägt einen weiten braunen Rock und eine gelbe Batistbluse, dazu ein feuerrotes Kopftuch.
Aufreizend plärrt die Harmonika, die Glöckchen an ihr klingeln, die Schellen klirren; das Fell der Schellentrommel gibt ein schweres, dumpf seufzendes Dröhnen von sich; das hört sich unangenehm an – als hätte ein Mensch den Verstand verloren und schlüge, stöhnend und schluchzend, mit dem Kopf gegen die Wand.
Shicharew kann nicht tanzen, er trippelt einfach dahin, stampft hier und da mit dem Absatz des blitzblank polierten Stiefels und springt umher wie ein Bock – alles gegen den Takt der aufreizenden Musik. Es ist, als hätte er fremde Beine, der Körper ist unschön verrenkt, er zappelt wie eine Wespe im Spinngewebe oder der Fisch im Netz – das anzusehen macht nicht froh. Doch alle, selbst die Betrunkenen, sehen seinen Zuckungen aufmerksam zu, alle verfolgen schweigend sein Gesicht und seine Hände. Shicharews Mienenspiel ist erstaunlich – bald scheint er freundlich und verwirrt, dann plötzlich stolz und finster; er wundert sich über etwas, staunt, schließt eine Sekunde lang die Augen, öffnet sie wieder und – ist traurig. Er ballt die Fäuste, schleicht auf die Frau zu, stampft plötzlich mit dem Fuß und sinkt vor ihr auf die Knie, die Arme weit ausgebreitet, die Brauen gewölbt, mit einem herzlichen Lächeln. Sie blickt wohlwollend auf ihn herab und mahnt gelassen: »Sie werden sich überanstrengen, Gevatter!«
Sie versucht, gerührt die Augen zu schließen, doch diese Augen, groß wie Dreikopekenstücke, klappen einfach nicht zu, und ihr Gesicht verzieht sich, nimmt einen unangenehmen Ausdruck an.
Auch sie versteht nichts vom Tanzen; sie wiegt nur langsam den wuchtigen Körper hin und her und bewegt sich geräuschlos von einer Stelle zur anderen. In ihrer linken Hand hält sie ein Tüchlein, mit dem sie sich träge zufächelt; die rechte ist in die Hüfte gestemmt das erinnert an einen riesigen Krug.
Und Shicharew umkreist dieses steinerne Götzenbild und wechselt ständig die Miene – es ist, als tanzte nicht einer, als wären es zehn, und alle verschieden; der erste still und ergeben, der zweite böse und schreckenerregend; der dritte fürchtet sich vor etwas und versucht unter leisem Seufzen, der großen, unangenehmen Frau zu entgehen. Dann taucht noch ein vierter auf – er bleckt die Zähne und verrenkt sich wie ein verwundeter Hund. Dieser langweilige, unschöne Tanz macht mich trübsinnig und weckt ungute Erinnerungen an die Soldaten, Wäscherinnen, Köchinnen und an die »Hundehochzeiten« in mir.
Ich denke an Sidorows leise Worte: »In diesen Dingen machen sich alle etwas vor, es ist nun einmal so eine Sache, alle schämen sich, keiner liebt jemand, alles nur Flausen . . .«
Ich kann nicht glauben, daß »sich alle in diesen Dingen etwas vormachen«. Und die Königin Margot? Auch Shicharew macht natürlich niemand etwas vor. Ich weiß, daß Sitanow ein »lockeres« Mädchen liebt und sich eine häßliche Krankheit bei ihr geholt hat, aber er schlägt sie nicht dafür, wie ihm die Kameraden raten, sondern hat ein Zimmer für sie gemietet, sorgt für ärztliche Behandlung und spricht stets ungewöhnlich zärtlich und etwas verlegen von ihr.
Die Riesin wiegt sich weiter mit leblosem Lächeln und fächelt sich mit ihrem Tüchlein; Shicharew springt krampfhaft um sie herum, ich sehe zu, und frage mich: Hat Eva, die den Herrgott täuschte, so ausgesehen wie dieses Pferd? Ein Gefühl, das an Haß erinnert, kommt in mir auf.
Von den Wänden blicken antlitzlose Ikonen, an die Fensterscheiben schmiegt sich die dunkle Nacht. Matt leuchten die Lampen in der stickigen Luft der Werkstatt; hört man genauer hin, dann klingt durch das schwere Stampfen, durch das Lärmen der Stimmen ein hastiges Tropfen – aus dem kupfernen Behälter tropft in den Spülichtkübel Wasser.
Wie wenig alles das dem Leben ähnelt, von dem ich in den Büchern gelesen habe! Unheimlich wenig. Alle beginnen sich schließlich zu langweilen. Kapendjuchin drückt die Harmonika Salantin in die Hand und ruft: »Spiel du! Mach ihnen Dampf!«
Er tanzt wie Wanka Zygan – als flöge er dahin; dann wirbeln verwegen und gewandt Pawel Odinzow und Sorokin umher; auch der schwindsüchtige Dawidow bewegt die Beine – er schleppt sich über den Fußboden hin und hustet von all dem Staub und Qualm, vom scharfen Geruch des Wodkas und der Räucherwurst – der Geruch der Räucherwurst erinnert mich immer an frisch gegerbte Häute.
Man tanzt, man singt, man lärmt, aber jedermann bleibt sich bewußt, daß man sich zu vergnügen hat – es ist, als lege man voreinander eine Prüfung ab, eine Prüfung in Geschicklichkeit und Ausdauer.
Der angeheiterte Sitanow wendet sich bald an den, bald an jenen: »Kann man so eine lieben? Wie?« Man hat das Gefühl, er werde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Larionytsch zuckt die spitzen, knochigen Schultern und entgegnet: »Eine Frau wie alle anderen. Was willst du eigentlich?«
Die, von denen gesprochen wird, sind unbemerkt verschwunden. Shicharew wird in zwei, drei Tagen in die Werkstatt zurückkehren, rasch das Dampfbad aufsuchen und seine zwei Wochen hindurch schweigend, entrückt und allen fremd in seiner Ecke arbeiten.
»Sie sind fort?« fragt Sitanow sich selbst und blickt sich mit traurigen, blaugrauen Augen in der Werkstatt um. Sein Gesicht wirkt unschön, irgendwie greisenhaft, doch die Augen sind klar und voller Güte.
Sitanow behandelt mich als Freund – das verdanke ich dem dicken Heft, in dem ich Gedichte festhalte. Er glaubt nicht an Gott; überhaupt läßt sich schwer sagen, wer – von Larionytsch abgesehen – an Gott glaubt und ihn liebt; alle reden leichtfertig, ja spöttisch über ihn – so, wie sie von der Inhaberin reden. Dennoch schlagen sie ein Kreuz, wenn sie sich zum Mittag- oder Abendessen niedersetzen, beten, bevor sie sich schlafen legen, und gehen feiertags zur Kirche.
Alles das tut Sitanow nicht, und alle halten ihn für einen Gottlosen.
»Es gibt keinen Gott«, behauptet er.
»Wo kommt denn alles her?«
»Das weiß ich nicht . . .«
Als ich ihn einmal fragte, wieso denn das möglich sei – keinen Gott, erklärte er es mir so: »Siehst du, Gott – das ist dort oben!«
Und er hielt den langen Arm hoch über seinen Kopf, ließ ihn dann bis auf einen Arschin über dem Fußboden sinken und sagte: »Der Mensch – das ist hier unten! Stimmt's? Dabei steht aber geschrieben: ›Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn‹, wie dir bekannt sein wird! Und wem gleicht Gogolew?«
Das wirft mich um – der schmutzige, ewig betrunkene Gogolew huldigt trotz seines Alters der Sünde des Onan; ich denke an den Soldaten aus Wjatka, an Jermochin, an Großmutters Schwester – was ist Gottähnliches an ihnen?
»Die Menschen sind, wie dir bekannt sein wird, Schweine«, sagt Sitanow, versucht mich aber gleich darauf zu trösten: »Macht nichts, Maximytsch, es gibt auch gute unter ihnen, ja doch, das gibt es!«
Mit ihm fühlt man sich einfach und unbeschwert. Wenn er etwas nicht weiß, gesteht er offen ein: »Das weiß ich nicht, darüber habe ich nicht nachgedacht!«
Auch das ist ungewöhnlich – bevor ich ihm begegnete, habe ich immer nur Menschen gesehen, die alles wußten und über alles redeten.
Es befremdet mich, in seinem Notizheft neben guten Gedichten, die an die Seele rühren, auch viele schmutzige Verse zu finden, daß man sich einfach schämen muß. Als ich von Puschkin zu ihm sprach, wies er mich auf die »Gabrieliade« hin, deren Abschrift er in seinem Heft bewahrte.
»Wer ist schon Puschkin? Nichts weiter als ein Spaßmacher, Maximytsch, beachtet zu werden verdient vor allem Benediktow!«
Er schloß die Augen und rezitierte mit leiser Stimme:
»Schau her – des wunderschönen Weibes
Entzückend hinreißende Brust . . .«
Und er hob mit stolzer Freude aus irgendeinem Grunde besonders die drei folgenden Zeilen hervor:
»Doch auch des Adlers scharfe Blicke
Vermögen durch der Schlösser Tücke
Nicht bis ins Herz hinein zu dringen . . .«
»Verstehst du?«
Es war mir sehr peinlich, zuzugeben, daß ich nicht recht verstand, worüber er sich freute.