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Unser Held nahm in der Regel jetzt alle Tage den Nachmittagskaffee im Salon der Domtanten ein. Er wollte mit Muße in dem verschlossenen Buche lesen,. welches den Titel Isabella von Pogarell führte. Nicht im Sturme wollte er das Herz des schönen Mädchens erobern; er wollte sich erst klar werden über sein eigenes Empfinden. Denn so wichtig schien ihm auch die Rücksicht auf den Proceß nicht, daß er ihm zu Liebe ein Gefühl geheuchelt oder gar sein ganzes Leben ihm zum Opfer gebracht hätte.
Der tägliche Besuch und der gesellschaftliche Verkehr, der dadurch in dem sonst abgesperrten Hause hervorgerufen wurde – denn auch der Pater Maurus hielt es für geboten, sich öfter einzufinden – drohten die ganze Hausordnung umzustürzen, zum größten Schrecken ihrer treuen Wächterin, Ursula, und zur 103 großen Freude der leichtfertigen Thierwärterin Sidonie. Es konnte vorkommen, daß nicht nur Tulifäntchen als courfähig in den Salon mit aufgenommen wurde und seine Freude über diese Auszeichnung durch eine Menge von Unarten zu erkennen gab, ja daß sich der Waldmensch in sauberem Rocococostüm neben Isabella und Arthur an den Tisch setzte und dem liebenswürdigen Fräulein mit melancholischem Grinsen wie ein unglücklicher Liebhaber ins Gesicht starrte. Keinesfalls störte er die Beiden im Ausdrucke ihrer Empfindungen! Das Eis von Isabellas Herzen wollte dem Anscheine nach nicht schmelzen, und Arthur war weit davon entfernt, die Rolle eines leidenschaftlichen Liebhabers zu spielen.
Nur eines Tags, als Ursula sich unwohl in ihr Boudoir zurückgezogen, schien es ihm, als ob eine eigenthümliche Wärme sich in Isabellas ganzem Wesen fühlbar machte, ähnlich der milden Frühlingsluft, welche draußen im stillen Gärtchen die Triebe und Knospen entfaltete. Ihre Augen ruhten mild und feuchtschimmernd auf ihm! Sie sprach von den Erinnerungen ihrer Kindheit mit Wärme, drückte ihre Hoffnung auf eine Versöhnung der streitenden Familien mit großer Innigkeit aus und ließ bei dem Abschiede ihre Hand länger in der seinigen ruhn, als es gerade, wenn man das Verwandtschaftsverhältniß von Cousin 104 und Cousine in's Auge faßt, unumgänglich nöthig gewesen wäre. Sidonie, welche in der Abwesenheit ihrer grämlichen Schwester ihren ganzen »Hofstaat« in den Salon gezogen hatte und daher hinlängliche Beschäftigung darin fand, die verschiedenen oft widerstreitenden Neigungen ihrer Zöglinge in Einklang zu bringen und die zerbrechlichen Schätze des Staatszimmers vor den ungebildeten Gästen zu schützen, bemerkte dennoch die wohlthuende Veränderung im Tone ihrer Nichte und unterließ es nicht, nachdem Arthur das Zimmer verlassen, ihr einen vielsagenden Kuß auf die Lippen zu drücken.
Arthur war an diesem Tage von Isabella bezaubert! Zum ersten Male erschien sie ihm liebenswürdig – ihre fremdartige Hoheit war verschwunden! Er brauchte nicht zu ihr emporzusehen, wie zu einem in der Nische erhöhten Heiligenbild! Sie hatte ihren Heiligenschein beiseite gelegt; er fühlte sich so menschlich verwandt! Kein geistlicher Anklang störte den schlichten Ausdruck ihrer Empfindung. War es ein Traum, dies Marmorbild, in dessen Augen plötzlich ein wunderbares Empfinden aufleuchtete und all die Schönheit der vollendeten Formen siegend überstrahlte?
In solchen überschwänglichen Empfindungen wiegte sich Arthur selig nach diesem Besuche! In seinen Träumen erschienen ihm Genien mit Palmen in der 105 Hand, welche die Wappen der Seidlitze und Pogarell dicht neben einander rückten. Am andern Morgen machte er schon in aller Frühe einen Spaziergang durch das Ziegelthor auf die rings vom Wasser der Oder umfluteten Dämme und wunderte sich, daß noch keine Lerche eingetroffen war, um seine Gefühle den Wolken vorzusingen, und daß die Bäume noch kein schattiges und duftiges Versteck für die Nachtigallen eingerichtet! War doch in seiner Brust schon Pfingsten mit Blüthenschnee, und Lerchen und Nachtigallen trillerten in ihr um die Wette!
Mit dem Gefühl, als müsse an diesem Nachmittag eine wichtige Entscheidung eintreten, begab er sich zu den Domtanten und brachte in seinem Gesicht den ganzen heiteren Frühling mit. Doch wie schmerzlich war seine Enttäuschung! Niemals war der Empfang von allen Seiten kälter, ja schroffer gewesen! Ursula beherrschte als sein feindlicher Dämon die Stimmung. Isabella war ganz wieder in ihrer Nische, schlug die Augen nieder und erwiderte kaum seinen Gruß. Hatte er gestern geträumt, oder war das heute ein Passionsschauspiel, mit allen Märtyrerstationen, nur um ihn zu foltern? Waren unglückliche Proceßacten angekommen, welche den Familiengroll wieder wachgerufen?
Seine ganze Siegesgewißheit war verschwunden. Er fühlte sich diesen feindlichen Einflüssen gegenüber 106 so schwerfällig und geistverlassen, daß er nur mit Mühe den Faden des Gespräches weiterspann. Hierzu kam, daß er sich vorgenommen, mit einer Eröffnung, die er lange verschwiegen, nun nicht länger zurückzuhalten. Er hatte bisher die Tanten und Isabella in dem schmeichelhaften Wahne gelassen, seine Reise nach Breslau habe nur den Zweck eines Besuches bei ihnen; er hatte es verschwiegen, daß er sich nur auf der Durchreise nach Rheinsberg befinde, um so sorgfältiger verschwiegen, als er vorher wußte, daß diese Mittheilung nicht dazu beitragen konnte, ihn in den Domkreisen heimischer zu machen. Denn wie er sie auch erklären wollte: es blieb die unerfreuliche Thatsache übrig, daß der Junker, der als Protestant schon eine hinlängliche Sündenschuld auf sich geladen, nun gar an den Herd der Ketzerei und Freigeisterei sich begebe und dann als ganz verloren zu betrachten sei.
Gestern im trügerischen Sonnenscheine des Glückes wäre diese Mittheilung vielleicht minder gefährlich gewesen. Heute hatte Arthur Wind und Wellen gegen sich! Dennoch beschloß er, unerschrocken damit vorzugehen, und von der Aufnahme, die sie finden würde, wollte er es abhängig machen, ob er morgen noch einmal wiederkommen oder schon heute Abschied nehmen sollte. Denn am morgenden Abend war das Verlobungsfest seines Freundes, und den Tag 107 darauf hatte er seine Abreise nach Rheinsberg festgesetzt.
In der That wirkte diese Eröffnung wie ein Wetterschlag! Sidonie blickte höchst betroffen; Isabella wurde todtenbleich, vielleicht weniger, weil Arthur sich in die Kreise der berüchtigten Ketzer begab, als weil es ihr plötzlich klar wurde, daß nicht sie sein letztes Ziel, sondern nur eine beiläufige »Reisestation« sei; Ursula aber krächzte empört: »Da haben wir's! Der Junker wird als Junker Voland mit der Hahnenfeder zurückkehren! Rheinsberg – heiliger Gott! Das sind ja nicht Ketzer – das sind ja die puren blanken Heiden, die sich ganz aus dem christlichen Glauben herausgeschält haben! Rheinsberg – zum Kronprinzen von Preußen! Nun, ich gratulire! Das wäscht kein Weihwasser mehr ab! Lieber beim Hexensabbath auf dem Blocksberg!« Dabei bekreuzigte sie sich auf das Eifrigste. Arthur hoffte vergebens auf Unterstützung bei den milder gesinnten Freundinnen, und beschloß, schon heute seinen Abschied zu nehmen. Er küßte den Tanten und der Cousine die Hand – und mußte sehr zufrieden sein, daß sich alle drei in die von Gott verhängte Schickung, einen mit solchen Rechten ausgestatteten Verwandten zu besitzen, ohne Murren fügten. Isabella zog indeß ihre Hand so rasch zurück, daß sie nur einen Streifkuß erhielt, und nur Sidonie 108 konnte eine gewisse Wehmuth nicht unterdrücken, da sie zu den erregbaren Gemüthern gehörte, welche von jedem Abschied tief ergriffen wurden. Arthur verließ das Haus so rasch wie möglich, und wäre auch das Domviertel ein Buchenhain oder ein Rosengebüsch gewesen, er hätte heute doch nicht die Nachtigallen in demselben vermißt.
Um Isabellas rasche Wandlung zu begreifen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit wieder dem Pater Maurus zuwenden, welcher in diesen Tagen nicht müssig geblieben war.
Er hatte, nachdem er von seiner Entdeckung nach Hause gekehrt, gleich seinen Anastasius gerufen. Anastasius erschien, eine breite Figur mit einem dicken Kopf, der man durchaus nicht ansehen konnte, welches Lebensalter dem Besitzer zukomme. Es war gleichsam eine Intrigue der Natur, welche diesen flachshaarigen Tölpel mit dem breitgrinsenden Mund und den vorstehenden Zähnen auch der muthmaßlichen Schätzung entzog, ob er sich im Lenz, Sommer oder Spätherbst des Lebens befinde und ihn so nach Bedarf in den verschiedensten Jahrgängen verwendbar machte. Der Famulus des Paters, ein Pensionär jener Anstalt, welche die Jesuiten unterhielten und welcher auch zahlreiche Adelige angehörten, war trotz seines 109 anscheinend bäurischen Wesens keineswegs ein täppischer Geselle, sondern einer der verschlagensten Burschen, welche die Ringmauern Breslaus in sich schlossen. Hervorgegangen aus jenen oberschlesischen Wäldern an der Oder, in denen das Slawenthum, von der deutschen Behäbigkeit angesteckt, seine feinen, ritterlichen Eigenschaften verloren hat, ohne dafür sonderliche Vortheile einzutauschen, war er ein slawisch-deutscher Mischling aus einer niederen Bauernhütte, und so sehr er sich durch seinen Fleiß emporgearbeitet, blieb doch sein Standpunkt der väterliche Düngerhaufen, mochte er noch so viele Kreuze und Heiligenbilder auf demselben errichten. Er betrachtete die Welt ohne allen Schwung nur vom Gesichtspunkte des allergemeinsten Nutzens. Pater Maurus hatte rasch erkannt, welch ein brauchbares Werkzeug eine so geartete Natur für ihn sei. Die Maske der Ehrlichkeit, welche sich sonst feine und hochstrebende Geister mit vieler Mühe aneignen müssen, besaß dieser Schlaukopf schon von Natur. Das Volk hielt ihn für seines Gleichen und zog den biederen Jüngling gern in sein Vertrauen.
Anastasius erhielt den Auftrag, das Geheimniß jenes, ihm genau beschriebenen Häuschens auszuspähen, in welches Arthur verschwunden war, und entledigte sich dieses Auftrags mit anerkennenswerther Geschicklichkeit. Er brauchte seinen Anzug nicht sonderlich 110 volksthümlich zu machen, denn er war grob genug und saß ihm so knapp um die breiten Schultern, daß eine oder die andere Nath stets auseinander platzte. Auch war er Besitzer mehrerer dicknägeliger Wasserstiefel, mit denen er durch seine heimatlichen Sümpfe zu wandeln pflegte. Durch ein solches Paar von unüberwindlicher Derbheit, welches auf dem Breslauer Straßenpflaster Funken stob, vervollständigte er seinen Anzug, und begab sich dann vor das Ziegelthor, wo er mit den Ziegelschiffern und Abladern nähere Bekanntschaft machte und dafür Sorge trug, daß er von Kopf zu Fuß mit dem rothen Ziegelstaub dichter angepudert wurde, als die Allongenperücke des Rathssyndikus mit dem feinsten Pariser Modestaub. Dann setzte er sich in einen Kahn, fuhr an dem bischöflichen Palast vorüber, nicht ohne demselben einige verständnißinnige Blicke zuzuwerfen, welche sagen wollten: er befinde sich erst am Anfange seiner Laufbahn, aber kommen werde der Tag, an welchem er seine Schafspelzmütze mit der bischöflichen Mitra vertausche, glitt zwischen den Pfeilern der Sandbrücke hindurch und landete in der Nähe des Häuschens, das er zu beobachten ausgeschickt war. Er gab sich für einen Ziegellader aus und erkundigte sich bei diesem und jenem Schiffer, ob es nicht eine Herberge sei, in welcher er Quartier finden könnte, und erhielt eine so erschöpfende Auskunft, 111 indem der Eine dies, der Andere jenes von dem Häuschen zu erzählen wußte, daß Anastasius nicht umhin konnte, seinen breiten Mund zu einem wohlgefälligen Grinsen zu verziehen, wenn er Muße fand, unbemerkt seine Erfolge zu überlegen. Natürlich blieb ihm auch die Thatsache nicht verborgen, daß ein vornehmer Junker hier ein aus der Oder gerettetes Mädchen untergebracht habe und oft besuche: eine Thatsache, die ihm noch werthvoller erschien, als Alles, was er von dem Treiben der Wahrsagerin erfahren. Er beschleunigte daher seine Rückkehr in die Burg, indem seine Wasserstiefeln bei der raschen Berührung mit den Pflastersteinen eine Saat von Funken ausstreuten.
Pater Maurus belobigte den Sendling nach Verdienst, und erschien am nächsten Abend selbst in der Tracht eines Cavaliers bei Frau Leuschner, um sich seine Zukunft prophezeien zu lassen. Er gab sich dabei für einen Freund Arthurs von Seidlitz aus, zeigte sich mit den ganzen Familienverhältnissen und auch mit dem letzten Abenteuer des Junkers vollkommen vertraut. Da der Kaffeesatz der Prophetin für die Zukunft sehr lesbare Offenbarungen gab, dagegen in Bezug auf Gegenwart und Vergangenheit nicht das Geringste zu enthüllen vermochte: so ließ sie sich arglos von dem Jesuiten täuschen und plauderte mit ihm, wie mit einem Eingeweihten. Sie 112 theilte ihm mit, daß das Mädchen sich jetzt wohler befinde, aber jede nähere Auskunft über ihr früheres Lebensgeschick verweigere. Dem Wunsch des Paters, sie zu sehen und zu sprechen, setzte sie freilich einen hartnäckigen Widerstand entgegen, indem gerade hierdurch ein gewisses Mißtrauen in ihr wachgerufen wurde. Indeß war Maurus auch so mit seinen Erfolgen nicht unzufrieden – ja das Geschick schien seine Bestrebungen noch in einer ganz unerwarteten Weise zu krönen. Denn als er die freie, hölzerne Treppe herunterstieg, glaubte er unten in einer Seitenthüre einen langen Silberbart verschwinden zu sehn, der ihm ausnehmend bekannt vorkam und alle seine Gedanken plötzlich auf eine neue Fährte brachte. Wenn der Eigenthümer dieses Silberbartes jener »Emanuel« war, nach welchem die Schergen des Ordens seit langer Zeit in der ganzen Provinz auslugten: so waren die Mittheilungen des schlauen Anastasius dennoch sehr unvollständig geblieben und der köstlichste Schatz ihm entgangen, welchen dies unscheinbare Häuschen verbarg. »Vielleicht kann ich die ganze Brut mit einem Schlage ausheben: Zauberei, Kuppelei, Apostasie und Gotteslästerung – kein Paragraph des Gesetzbuches, der hier nicht zur Geltung käme!« murmelte er bei sich; »ich werde diese Spur nicht wieder aus dem Auge lassen.«
113 Zunächst begnügte er sich indeß damit, Arthurs Besuche bei der unbekannten Schönen den Domfräulein mitzutheilen, nicht ohne sich eine kleine phantasievolle Ausschmückung zu erlauben, indem er jene als eine verlassene Geliebte Arthurs darstellte, welche sich habe das Leben nehmen wollen, aber von Arthur selbst errettet worden sei. Nach diesem »kalten Bade« sei die Liebe wieder recht erfrischt worden und blühe mit »ganzer Lenzeswärme!« Er träufelte das Gift den alten Freundinnen allmälig und sachte, aber desto wirksamer zu, und überließ es ihrer mütterlichen Fürsorge, die geeignete Dosis davon an Isabella zu verabreichen. Die Wirkung war anfangs sehr heftig, denn die Neigung zu Arthur war, so wenig es den Anschein hatte, eine innige und leidenschaftliche geworden. Das Mädchen tröstete sich indeß mit der Hoffnung, Arthur werde sich später gegen unbegründete Gerüchte und Verleumdungen, deren Opfer der Pater geworden, rechtfertigen können. Vorläufig beschloß sie aber, so kalt und ablehnend gegen den Vetter zu sein, als ob das Alles mit eidlichen Zeugenaussagen vor Gericht erhärtet worden wäre. Wie viel oder wie wenig in diesem Berichte begründet sein mochte – es blieb doch immer ein zweideutiger Rest übrig, der ihrem Herzen die größte Vorsicht gebot! Darum erfreute sich Arthur bei seinem letzten Abschiedsbesuche 114 eines so unheimlichen Empfanges, und alle seine Luftschlösser stürzten so plötzlich zusammen, nachdem Isabella noch Tags vorher daran geholfen, sie auf Rosenwolken aufzubauen, auf denen sich die Genien der Liebe mit den zartesten Blumenstengeln wiegten! Hier hatte Pater Maurus den gewünschten Erfolg erreicht und durch eine Art von canonischem Hinderniß zwei Herzen getrennt, welche von der Gefahr einer aufkeimenden Neigung bedroht waren. Er konnte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit seinem zweiten Funde zuwenden.
Bald klapperten die Stiefeln des Anastasius wieder über das Pflaster des Ritterplatzes der Sandbrücke zu. Diese Stiefeln erfreuten sich unter der akademischen Jugend und der jungen Geistlichkeit einer großen Volksthümlichkeit, welche, wäre sie in weiteren Kreisen verbreitet gewesen, die geheimen Sendungen ihres Inhabers gefährdet hätte. Sie galten für »feuerfest,« und die Sage erzählte, daß sie bei einem Brande, welcher die übrige, nur in einem Stiefelknecht und dem Folio des Pater Sanchez bestehende Habe des Jesuitenzöglings verzehrt hatte, allein unversehrt aus den Flammen hervorgegangen seien. Und wenn an stillen Abenden fernher über einen Platz oder aus einer etwas entlegenen Seitengasse ein geheimnißvoller Klang sich vernehmen ließ, der dem 115 Aufeinanderschlagen zweier mächtigen Ritterschwerter nicht unähnlich war und furchtsame Gemüther mit gespenstigen Ahnungen erfüllte, da riefen sich die kundigen Freunde im vollsten Gefühle der Sicherheit und stolz auf ihre erleuchtete Einsicht zu: Das ist der Anastasius!
Diesmal hatte es der wackere Oberschlesier nicht für nöthig befunden, sich mit Ziegelstaub zu bestreuen; er hatte die Aufgabe, einen verfolgten Anhänger der Schwenckfeld'schen Gemeinde zu spielen. Hierzu bedurfte es weniger der Verkleidung, als des ächten Schauspielertalentes, das Anastasius in den Jesuitenkomödien, trotz seiner schwer zu verleugnenden äußeren Erscheinung, stets auf das Glänzendste bewährte. Wegen des kräftigen Basses, über den er gebot, konnte er die zarteren weiblichen Erscheinungen, die heilige Jungfrau, die Pietas, die Daphne und Andromeda nicht darstellen, wohl aber war es ihm oft vergönnt, die Stimme Gottes zur Geltung zu bringen. Bei den öffentlichen Aufzügen war er umübertrefflich als »Bratwurst,« namentlich aber wußte er die Casus der Grammatik mit vielem Humor darzustellen. Von einer solchen Meisterleistung als »Vocativus« war ihm bei seinen Mitschülern als besondere Auszeichnung dies Stichwort geblieben – und in der That hatte er sein ganzes Talent auf die weitere und mannigfache Ausbildung derselben verwandt. Der Vocativus schien 116 in ihm seine Menschwerdung zu feiern. Heute als schwärmerischer Stoßseufzer, ein anderes Mal als demüthige Anrede, dann wieder als Ausruf des Entsetzens, es war keine Frage: Anastasius hatte das Geheimniß des Vocativus erschöpft, der als der vielseitigste und empfindungsreichste Casus schon an und für sich den Nominativ und Accusativ in den Schatten stellen muß.
Sehr viel von der hier gelernten Darstellungskunst konnte der jugendliche Künstler bei seiner heutigen Rolle verwerthen, der es an Ausrufungszeichen nicht fehlen durfte; denn er kam als Mitglied einer verfolgten Gemeinde, als ein Hilfeflehender! Sein Rock war das heimatliche Gewand, in welchem er in Wasserpolen durch die Sträucher zu kriechen und auf die Bäume zu klettern pflegte, und welches daher die Spuren dieser freien Künste trug. In der That gelang es ihm, in seinem zerrissenen Aufzuge und mit seinen kläglichen Mienen die Kassandra des Schifferviertels zu täuschen und Zutritt zu dem würdigen Greise zu erhalten. Unten links an der Treppe, in einem bescheidenen, mit dürftigem Hausrath ausgestatteten Gemache saß dieser in tiefem Nachsinnen über einem zerlesenen Buche, welches die Censur des Bischofs und des Oberamtes nicht vertragen hätte.
117 »Ach würdigster Emanuel,« redete der Eindringling alsbald den Alten mit einem Vocativus an, in welchem das ganze Elend eines Menschenlebens zu zittern schien, während er mit verwegener Dreistigkeit jenem die Pistole der Inquisition auf die Brust setzte, »ich bin ein Jünger Schwenckfelds wie Du, ich bin auf dem Wege nach dem Goldbergischen und komme anzufragen, ob Du mir Aufträge an die Gemeinde mitzugeben hast, die ihre geheimen Versammlungen auf dem Spitzberge hält!«
»Frieden sei mit Dir!« entgegnete der Greis, »von wannen kommst Du?«
»Von wannen kommen wir, wir armen Gejagten und Verscheuchten? Wo ist eine Stätte, die uns gehört? O Emanuel,« fuhr Anastasius mit einem noch seelenvolleren Vocativus fort, »wir sind der Verzweiflung nahe. Ich und Andere werden wegen Theilnahme an einer geheimen Versammlung am Fuße des Zobtens ruhelos verfolgt! Ich glaube, in Europa ist unseres Bleibens nicht. Folgen wir unseren bereits ausgewanderten Brüdern über den Ocean nach Amerika!«
»Nein,« entgegnete Emanuel, »nicht die Flucht ist unsere Aufgabe, wir haben eine große Sendung zu erfüllen! Es ist wahr, ganze Gemeinden sind, müde 118 der fortwährenden Verfolgungen, ihrem Vaterlande untreu geworden, um für ihren Glauben eine neue Heimat im fernen Westen zu suchen. Doch der Glauben erstarkt nur im Kampfe mit seinen Gegnern! Auch die Lehre Caspar Schwenckfelds darf nicht als eine feststehende Satzung unumschränkte Macht über die Geister gewinnen; sie ist der Fortbildung fähig und bedürftig. Die Jahrhunderte schreiten fort – gerade in Europa erwacht der Kampf der Geister! Drüben in Frankreich gährt es gewaltig – und wenn sie, die dort das Wort führen, auch nur im Rathe der Spötter sitzen, es sind die Vorboten einer freieren Zeit! Auch in Deutschland giebt es tiefe Denker, welche die Geheimnisse des Glaubens und Lebens einer neuen Prüfung unterwerfen. Die Schwenckfeldsche Gemeinde, losgerissen von alt- und neukirchlicher Satzung, festruhend auf der Ueberzeugung, daß der Mensch mit denselben wesentlichen Tugenden der Gerechtigkeit und Weisheit begabt sei, die in Gott sind, ist das geeignete Gefäß für den neuen geistigen Inhalt, den diese Zeit gebären wird.«.
Anastasius mußte seinen innern Abscheu vor diesen Lehren hier hinter einem Räuspern verstecken! Dann suchte er unter allen seinen Vocativen den sanftesten hervor, der geeignet gewesen wäre, als flüsternder Vorbote einer Liebeserklärung zu dienen.
119 »O Emanuel – und dies soll ich den Brüdern verkünden?«
»Verkünde ihnen, daß sie ausharren hier im Lande, daß sie tragen, was über sie verhängt ist! Sie sollen nicht Glück und Frieden suchen in fernen Urwäldern, wo bald in einförmigem Tact, wie des Siedlers Axt, welche die Stämme fällt, ihr Leben und ihr Glauben sich verflachen wird; sie sollen mitbauen helfen, in Noth und Gefahr, an dem Tempel des Geistes, zur Abwehr das Schwert in der Hand, wie die Bauleute, die den Tempel zu Jerusalem errichteten!«
Anastasius versprach, der Gemeinde des Spitzberges diese Botschaft zu verkünden und frug dann mit dem Tone innigen Antheils: »Doch was führt Dich hierher in die Höhle des Löwen? Denn, o Bruder, ich darf Dir's nicht verhehlen, daß die Geistlichkeit, daß die Jesuiten hier mächtig sind, und daß wir hier leicht in ihre Schlingen fallen können!«
»Vor den Jesuiten von Gitschin über das Gebirge fliehend, konnte ich weder in Schmiedeberg noch in Hirschberg eine sichere Freistatt bei den Gleichgesinnten finden. Hier lebt eine Freundin, die sie mir gewährt. Es waren Anzeichen vorhanden als könnte ich hier die Lösung eines Räthsels finden, das meine Seele, trotz des wechselnden Geschickes langer Jahre, unablässig beschäftigt. Doch so eifrig ich die Spuren 120 verfolge, die sich mir darbieten – noch ist mir's nicht gelungen, dem Ziele näher zu kommen!«
»Und wie lange gedenkst Du noch hier in dieser Stadt zu verweilen?« frug Anastasius weiter mit besorgten Mienen.
»Bis sich's entschieden hat, ob ich dies Ziel zu erreichen vermag!«
Anastasius war mit dem Ergebniß seiner Forschungen vollkommen zufrieden, verbarg aber diesen Triumph tief in seiner Seele und suchte seinem Lieblingscasus eine hülfeflehende Färbung zu geben, indem er Emanuel um einen Zehrpfennig auf seine Reise anbettelte. Er hielt diesen letzten Zug zur Durchführung seiner Rolle für unentbehrlich. Der Prediger suchte hülfebereit auch rasch noch einiges Geld zusammen, welches, wie es schien, bereits zum letzten Rest seiner Baarschaft gehörte, und der breite Mund des Jesuitenzöglings verzog sich zu einem Lächeln, durch welches er seine Dankbarkeit ausdrücken wollte, das aber für Eingeweihte noch eine ganz andere Bedeutung hatte. Er verabschiedete sich, indem er an Emanuel noch den de- und wehmüthigsten Vocativus richtete, den er in Scene zu setzen vermochte. Vergnügt klapperten die »Unverbrennlichen« wieder der Burg zu. 121