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»Hast' auch wirklich alles, Traudl?«
Sie greift unter ihren Mantel nach der Kleidertasche, in der sich in einem Papier verschiedene harte, kleine Gegenstände bauschen. »Da sind auch noch ein' drinnen!«
»Wie viele? Nur so ung'fähr?«
»O, ein Dutzend gewiß!«
Ludwig Degenhardt, der für seine vierzehn Jahre ein ellenlanger Bengel ist, nickt zufrieden. Sein hübsches, noch ganz kindliches Gesicht nimmt einen schlauen, belustigten Ausdruck an.
»Du, – fein ist's, daß wir die Sengers da draußen wohnen haben und immer sagen können, daß wir zu ihnen gehen!«
»So, – und wenn's dann 'raus kommt? Es braucht doch nur eins von der Familie zur Unzeit jemandem von unsere Leut' zu begegnen, dann –«
»Geh', – wem denn?!«
»No, – der Hela zum Beispiel!«
»Die Gans, – die g'schupfte!«
»Ein bißl g'schupft ist s' wirklich. – Und die tät' dann einen Mordsskandal machen,« meint Traudel naiv.
»Bei ihrem langweiligen Mann soll s' bleiben und sich nicht immer bei uns in alles einmischen. Autsch, – weißt', die Mama hat's scho lang dick, – und der Papa auch; dene is s' auch z' fad!«
»Aber der Otto mag s'; und hinter den steckt sie sich.«
»Ja, das ist auch so ein Tugendprotz. Wenn mich der aber verhauen wollt', – jetz' is's vorbei mit dene Sach'n. ›Sie' sagen s' zu uns in der Klass'‹, – und überhaupts! –«
Traudl kann dem Bruder gut nachfühlen, daß dieser fest entschlossen ist, sich von nun an männlich gegen derartige Angriffe zu wehren. Die um fünfzehn Jahre ältere, seit fast sieben Jahren verheiratete Schwester Hela kannte sie eigentlich kaum. Bei solchen Altersunterschieden kann unter neun Kindern nur besondere Sympathie eines dem andern zuführen. Auch der fünfundzwanzigjährige Bruder Otto ist ihr so ganz fremd. Mit seinen mißtrauischen Blicken, seinem bissigen, zersetzenden Wesen versteht er es, kalten Reif über alles zu legen, was um sie blüht und duftet. Daß der und Hela sich auf einmal verbündet, im Elternhaus und unter den Geschwistern Ordnung zu schaffen und sich letzterer anzunehmen, wirkt durchaus nicht günstig. Ihre Art ist so verfehlt, daß das Ziel völlig unerreichbar wird. Im Grunde brave und gerade Menschen, ehrenhaft bis ins Mark. Selbstherrlich und von geradezu naiver Einbildung auf ihr Bessersein. ›Anders‹ sind sie jedenfalls! Völlig aus der Art geschlagen, so, als könnten sie nie und nimmermehr von diesem Elternpaar abstammen. Ein engherziger, philisterhafter Zug verbündet sie miteinander. Wirklich zu vertragen wissen sie sich aber dennoch nie. Halsstarrig anerkennt jedes nur die eigene Auffassung und das eigene Urteil. Beiden fehlt durchaus der weite Blick. Sie leben in einer engen inneren und äußeren Welt, und das München um sie herum ist ihnen nur ein Dorf. Das Draußen existiert nicht für sie. Allein in diesem Dorf fühlen sie sich Herrscher. Der geniale, ja wirklich zu freie Zug, der durchs Elternhaus geht, empört sie geradezu und nicht selten mit Recht. Für den Vater hegen sie natürlich innerlich Verachtung, für die Mutter, deren Natur ihnen ewig rätselhaft bleibt, haben sie kein Verständnis. Sie, die akkuraten, propren Menschen, denen Ordnung Lebensbedürfnis ist, ekelt der Mutter Hang zur Unordnung besonders an. Hela hatte, zwar ohne tiefere Liebe oder gar Leidenschaft, zu der ihre Natur auch gar nicht fähig gewesen wäre, mit tausend Freuden dem Landgerichtsrat Eckeberg ihre Hand gegeben. Sie hofft stets auf Versetzung, um möglichst weit von ihrer Familie leben zu können. Otto aber bleibt im Hause eigentlich aus Pflichtgefühl. Er hat sich dem Baufach zugewendet und will sich dem Staat als gewissenhafter Beamter widmen. Eine ganz besondere Qual und Unruhe bereiten ihm dauernd die beiden Schwestern Isolde und Emmy, achtzehn und siebzehn Jahre alt. Da wollte er noch lieber eine Schüssel voll Ungeziefer hüten als solche Mädchen. Und eben! Weiber taugen ja doch alle nichts. Höchstens noch die Mutter, Hela und die Frau eines Freundes, die er heiß verehrt und auch begehrt hat, die aber ihren Gatten ihm vorgezogen hatte. Während er zu Hause darüber wacht, daß die zwei Schwestern nicht zu tief dekolletiert in Gesellschaft gehen, sitzen die Kleinen, wie Traudl und Ludl genannt werden, fröhlich in der Pferdebahn, um die Nubier zu besuchen. Längst ziehen sie nicht mehr die Vorstellungen dorthin. Die kennen sie ja seit Wochen von A bis Z. O nein! Die braunen Menschen selbst sind es. Jeden einzelnen der prächtig gewachsenen Männer und die einzige Frau, die bei der Truppe ist, kennen sie mit Namen. Der Häuptling, der Schönste von allen, der auf seinem kurzen Kraushaar immer ein weißledernes, gesticktes Mützchen trägt, ist ihr besonderer Freund. Wenn sie kommen, dürfen sie ungeniert in die Zelte und in die durchheizte Holzbehausung hinein, und sie bewegen sich darin völlig frei und ungezwungen. Den Unternehmer selbst haben sie ganz zu gewinnen verstanden. Entree wird auch lange schon keines mehr bezahlt. Seit Wochen wird jeglicher Vorrat kleiner Modeschmucksachen von Gertrud aufgebraucht als Geschenke für die exotischen Freunde. Tritt Ebbe ein, und etwa auch in der Kasse, für deren Inhalt sie allerlei bunten Tand erstehen, dann kommen Isolde und Emmy alle Augenblicke Broschen, Nadeln, Armbänder und Ketten, – freilich relativ wertlose, unechte Schmucksachen, – abhanden. Ob alt oder neu, Ludwig stiehlt sie und eifert kaltblütig auch die Schwester dazu an. Sie fühlen es empfindlich, daß ihnen keines mehr Geld gibt, und der gute Papa ist gerade jetzt verreist. Heute aber haben sie einen neuen Vorrat an Geschenken. Die Gunst Onkel Tonis, wie sie Professor Buchlehner, der Gertruds Pate ist, nennen, verhalf ihnen zu einem reichen Vorrat. Die Junggesellenwirtschaft der beiden Brüder wird von einer ältlichen Haushälterin versorgt. Diese öffnete eines Tages auf Antrieb des Professors ihre Schatzkammer und schenkte ihrem lieben Trauderl, ahnungslos zu welchem Zweck, eine Anzahl altmodischer, wertloser Schmucksachen. Damit ist die beseligte Kleine heute beladen, als sie mit dem Bruder bei den Nubiern anrückt. Die Vorstellung ist eben zu Ende. Die braunen, malerisch in ihre weißen Tücher gehüllten Männer stehen an der niederen Brüstung und unterhalten sich mit dem neugierig andrängenden Publikum. Ihr mit englischen und französischen wie auch deutschen Brocken vermischtes Kauderwelsch erregt allgemeine Heiterkeit. Das Weib hockt in der Mitte bei Trommeln, Waffen und Gerätschaften. Sie stiert vor sich hin und kraut mit dem Fuße das schmutzfarbene Fell eines neben ihr lagernden Kamels. Ein beißender Geruch durchweht den Raum. Immer lichter wird der Zuhörerkreis. Drüben am Eingang, der vom Holzbau in den manegenartigen Raum führt, stehen fast alle Mitglieder der Truppe um Ludwig und Gertrud Degenhardt herum. Die braunen Männer, deren wundervolle Haut wie Sammet aussieht, äußern kindlich ihre Freude über die Herrlichkeiten, die sie geschenkt bekommen. Sie legen sich gegenseitig Armbänder und bunte Glasketten an und bestecken ihre weißen Tücher mit Broschen und Nadeln. Ludwig geht dann auf die einsam kauernde Frau zu. Aus seinem Mantel zieht er ein Kästchen aus Pappe, das ganz mit perlmutterartigen Schneckenhäuschen beklebt ist und auf dem Deckel ein Nadelkissen aus rotem Plüsch trägt. Er legt es mit erwartungsvoller Miene auf die Kniee des Weibes. Das greift danach, langsam, – ungläubig, – dann stößt es einen hellen Schrei der Wonne aus und springt auf. Es faßt nach den Händen des Knaben und wiederholt immer nur ein halb unverständliches Wort. Dann birgt die Frau das Geschenk unter dem Mantel, den sie um die Schultern trägt, und flüchtet förmlich in großen Sätzen durch die Runde in ihr Zelt. Aber das Traudl hat auch ihrerseits noch etwas Besonderes in petto. Sie zieht den Häuptling am Ärmel beiseite. Mit strahlenden Augen enthüllt sie aus buntem Seidenpapier ein aus keilförmigen Lederstückchen zusammengesetztes Mützchen mit englischer Stickerei in hübschem Muster verziert. Das hat sie im Institut in der Handarbeitsstunde unter Anleitung der Lehrerin gemacht, die wirklich glaubte, es solle dies den äußeren Teil eines Tabaksbeutels geben. Mein Gott, die Degenhardt muß ja immer so was Besonderes haben! Hocherfreut stülpt der Nubier die Mütze statt seiner alten defekten auf das wollige Haupt und bedankt sich tausendmal. Seine schlanken und fein geformten Finger spielen dann mit dem krausen, langen Haar, das unter dem roten Filzhut Gertruds auf deren gleichfalls roten Mantel fällt. An den Spitzen goldig glänzend wird es nach dem Kopfe zu dunkler. An den Schläfen zittern wieder bernsteinfarbene Löckchen. Graublaue, dicht und dunkel bewimperte Augen mit fast schwarzen, noch zarten Brauen blicken feurig aus dem rosigen, feinen Gesichtchen. Ein trotziger, sehr roter Mund, mit noch etwas mangelhaft gepflegten Zähnen ist lachend geöffnet. Sie hält ganz still. Bei den Liebkosungen des exotischen Freundes überrieselt es sie warm und behaglich. Wie ein Kätzchen gibt sie nach und schmiegt ihre glühende Wange an dessen schlanken, sehnigen Arm.
Außerhalb der Brüstung steht ein nachlässig elegant gekleideter sehr junger Mann mit etwas scharfen, aber nicht unsympathischen Zügen und betrachtet sich das reizende Bild. Keine Bewegung des geschmeidigen Körpers der Zwölfjährigen entgeht ihm. Von dem malerischen Hut, den sie trägt, gleitet sein Blick herab zu den feingeformten Beinen und Füßen. Die Kleidung Traudls ist zwar schick, aber schlecht gehalten. An den eleganten Chevreau-Stiefelchen fehlen viele Knöpfe und das Unterröckchen sieht in einem nicht sehr sauberen Zipfel unter dem ausgewachsenen Kleid hervor. Den braunen Kerl beneidet er, und das süße Gesicht fasziniert den blutjungen Menschen. In ihm wird der Dichter wach. Er sieht mit tausend Augen, hört mit tausend Ohren. Seine tiefpoetischen Arbeiten, oft kaum mehr Skizzen zu nennen und mit vielen Gedankenstrichen versehen, behandeln fast ausschließlich ›das Kind‹. Wenige Leser verstehen die Arbeiten, und die meisten lachen und spotten. Von Kunz Manzingers Leben weiß man fast nichts; nur, daß er zeitenweise, fast Tag und Nacht im Café Viktoria einen Fensterplatz besetzt hält. Monatelang verschwindet er auch oft, ohne daß ein Mensch weiß, wohin.
Der Manager schlendert, die dunkelblaue Kappe im Genick, zuerst an dem Dichter vorüber, der in sein Notizbuch schreibt: »Naiv sind sie, – ganz ruhig und sicher. Sie gleichen dem herrlichen Adler, wie er in den Lüften schwebt, oder einem Schwan, der lautlos über die Flut dahingleitet. So ist ihr Tun. Sie stehen über dem Leben. ›Ich gebe‹ sagt das kleine Mädchen; es gibt. Es gibt dem braunen Manne einer fremden Welt etwas Schönes, was diesen erfreut; das kleine Mädchen sieht wieder dessen Schönheit und trinkt sie unbewußt. Die Märchenaugen saugen sie ein. Das Kind atmet den herben Duft dieser braunen Leiber.«
»Entschuldigen Sie, mein Herr, einen Augenblick nur!«
Der Schreibende tritt beiseite. Zwei Männer tragen vom Manager dirigiert eine große Kiste vorüber. Dann bleibt dieser stehen, neugierig, was der Herr wohl kritzeln mag. Ein Zeitungsschreiber jedenfalls. Kunz Manzinger deutet mit dem Bleistift auf die zwei Kinder, die eben lachend der Gruppe sie Umstehender Lebewohl sagen. Viele kaffeefarbene, schlanke Hände strecken sich nach ihnen aus.
»Das hübsche Pärchen gehört natürlich Ihnen?«
Der Manager ist ganz erstaunt über diese Frage. In leidlichem Deutsch antwortet er: »O nein, fremde Kinder sind es. Sie kommen sehr oft; schon seit Wochen und sind ganz toll mit meinen Leuten.«
»Wer sind sie – und wie heißen sie?«
»Keine Ahnung! Well, – wozu auch? Niedlich sind sie aber!« Er lüpft höflich die Mütze und geht. Der Dichter verfolgt mit den Augen die Degenhardts, wie sie in elastischen Sprüngen die Manege überqueren, um dann flott über die Brüstung zu springen und dem Ausgange zuzueilen.
Über der Theresienwiese hängt ein hellgrauer, feuchter Schleier. Er verhüllt die Bavaria völlig bis auf den Arm, der frei mit dem Kranze, den er hält, daraus hervorragt. Die kalte, rauhe Märzluft dringt bis auf die Knochen. An den Büschen zeigen sich noch kaum die ersten lichtgrünen Pünktchen. Wie die Kinder zur Haltestelle der Tram kommen, geht eben ein Wagen weg. Eine Weile bleiben sie ruhig stehen. Traudl fröstelt, ihr feines Näschen wird rot, unter ihre Augen treten Schatten. Ludl sieht die hübsch und bunt arrangierte Auslage einer Kolonialwarenhandlung im nächsten nagelneuen Eckhaus, sucht in der Tasche nach Geld, findet auch ein paar Nickel und läuft damit hinüber. Lachend hält er dann eine mit Drops gefüllte Düte seiner Schwester unter die Nase. Sie stehen in der feuchten Kälte, lutschen aber ganz behaglich die Bonbons. Wenn Kunz Manzinger dicht an ihnen vorüber streift, verspürt er den intensiven Obstäthergeruch, der von ihren frischen Lippen weht. Am liebsten hätte er abermals sein Notizbuch genommen, um zu notieren, was sich ihm schon wieder aufdrängt. Die Pferdebahn kommt klingelnd träge heran. Alle drei laufen zugleich dem Wagen entgegen. Mit bewunderndem Lächeln unterstützt Kunz die Kleine beim Einsteigen, obwohl sie mit ihrer geschmeidigen Gewandtheit das gar nicht nötig hätte. Halb verlegen, halb neugierig blickt sie ihn an, dann dankt sie wie eine Dame. Ein gewöhnliches Weib, unsauber und herabgekommen, setzt sich später neben Traudl, die ihre Nasenflügel einzieht und die nächste Gelegenheit wahrnimmt, um ihren Platz zu wechseln. Prinzessin, – zarte, – süße, – denkt der junge Dichter und ist ordentlich empört, daß die Kleine keine Equipage besitzt. Mit weichen Atlaskissen, dunkelblau, – diskrete Wohlgerüche in ihren Falten!
Das kleine Mädchen sitzt jetzt neben dem Bruder und flüstert mit ihm, indem sie die Beine übereinander schlägt.
»Wir fahren bis zur Löwengruben, dann kannst du hinüber; ich geh' ans Institut; gelt, um fünf Uhr ist der Lilli ihr' Stund' aus?«
Traudl bejaht. Lilli ist eine Freundin von ihr und die ›Braut‹ Ludwigs. Sie protegiert dieses Verlöbnis, denn sie liebt Lilli Brandt so, daß die Idee, sie dereinst zur Schwägerin zu bekommen, ihr eine äußerst sympathische ist.
»Bleib net zu lang in der Kirch',« mahnt der Bruder sie kurz vor dem Aussteigen. Rasch fühlt er in seiner Tasche nach der sehr mager gewordenen Düte, ob nach der redlichen Teilung auch noch genügend Bonbons für die Angebetete vorhanden seien.
»Wenn wir uns um sechs Uhr an der Feldherrnhalle treffen, kommen wir noch so früh heim, daß wir mit die Aufgaben fertig werden. Ich hab' scheußlich viel! Du auch?«
Die Kleine seufzt tief. Sie ist durchaus keine sehr pflichttreue und eifrige Schülerin.
»Furchtbar viel und gräßlich fad!«
In der Kaufingerstraße steigen sie aus. Im Eifer etwas zu früh; aber das macht ihnen nichts.
»Also adje!«
»Adje, Ludl!«
Der elegante Herr folgt der ahnungslosen Traudl.
Mit kurzen, trippelnden Schritten geht sie weiter und biegt gegen die Frauenkirche ein. Sie klemmt ihren schlanken Leib durch die außen angebrachten, sogenannten Wintertüren, um ihn dann an das schwere Portal zu pressen, durch dessen schmale Öffnung sie in das kühle Dämmer des Domes schlüpft. Sie nimmt kein Weihwasser. Langsam, mit auf den Rücken gelegten Händen schlendert sie über die steinernen Fliesen des mächtigen, dreischiffigen Hallenbaues. Vor dem Grabmal Kaiser Ludwig des Bayern, das so unpraktisch den freien Platz vor dem Hochaltar verstellt, bleibt sie etwas stehen. Dann wieder gegenüber dem Hauptaltar, dessen prächtiges Schnitzwerk Maria Himmelfahrt sie ebenso bewundert wie Meister Schwinds Flügelgemälde, die Geburt Christi darstellend. Als hätte sie noch nie all diese Schönheit genossen, so zäh haften ihre Augen an der reich verzierten Kanzel und dem Bischofsthron, unvergänglichen Meisterwerken in gotischem Stil. Ab und zu nimmt die Kleine einen der Bonbons aus dem Vorrat, den ihr Ludl großmütig überlassen und steckt ihn in den Mund. Durch die alten, herrlich gemalten Fenster lugt eine wässerige und kühle Sonne, die sich jetzt zwischen Wolkenfetzen Bahn gebrochen hat. Traudl verfolgt deren Weg über die Steinfliesen, über das feine, mit reicher Klöppelspitze versehene Tuch eines Seitenaltars und dann weiter, wie die Strahlen den blanken Messingbeschlag der Betstühle überflitzen. Sie setzt sich in den ersten hinein und sieht mit vergnügtem Lächeln auf dieses fröhliche Spiel. Dann nimmt sie den Hut ab, läßt die scheckigen Locken, wie der Bruder sie nennt, durch die Finger gleiten und freut sich auch über diese bunt schimmernden Lichteffekte. Im weiten Dom sind nur einzelne Betende zerstreut. Eine friedliche Stille herrscht, bloß durch das leise Schrubben einer Stielbürste gestört, mit der eine vom Alter gekrümmte Frau in einem Winkel die Fliesen scheuert. Nicht sehr weit von dem Kind entfernt sitzt ein bettelhaftes Weib, das eine zerknüllte, schwarze Spitzenhaube nach alter Mode trägt und ein verschossenes, kariertes Umschlagetuch. Ein zerrissener Korb steht neben ihr, aus dem auf der Straße aufgelesene Holzstücke und ekelhafte Speisenreste lugen. Sie betet rastlos und mechanisch und ihren irrenden Augen sieht man an, daß ihr Geist nicht weiß, was die schlaffen Lippen murmeln. Sie verfolgt das Gebaren der Kleinen mit wachsender Entrüstung. »A schöne Andacht dös von dem Fratzen!«
Eine heilige, tiefe Andacht, denkt Kunz Manzinger, der hinter einem Pfeiler steht und Traudl nicht aus den Augen läßt. Glaube! Der Glaube an die Schönheit! Und so kann er leben in einem Kinde! Oder haben sie es hergeschickt zur Erfüllung einer Pflicht? Soll es beten? Und siehe, es betet auf seine Art!
Ein Kirchendiener kommt im Arbeitskleid an der Kleinen vorbei; er sieht, erkennt sie und lacht ihr zu. Sie tritt heraus und gibt ihm die Hand. Flüchtig ergreift dieser die zarten Finger und geht unter nochmaligem freundlichem Gruß mit seinen Gerätschaften weiter.
»Sie teilet jedem ihre Gaben,« zitiert der Dichter und verfällt dabei auf Schiller, dem er sonst durchaus abgeneigt ist. Er beneidet diesen Diener ebenso wie vorher die Nubier. Traudl gräbt in der Tasche nach neuen Bonbons, findet aber nichts mehr. Kunz Manzinger, der es wohl bemerkt, möchte wegstürzen und für sie am liebsten einen Konditorladen plündern. Ruhig, die Hände im Schoß, mit aufgestützten Füßen sitzt das Kind dann da. Ein unendlich wohliges Gefühl durchzieht es. Seinen sensiblen Nerven tut die Stille wohl; es liebt dieses Gemisch von Gerüchen, das den Wachskerzen und den feuchten Steinplatten entströmt, um sich mit dem schwachen, halbverflogenen Duft des Weihrauchs zu vermengen. Traudl liebt Kirchen überhaupt; aber nur, wenn sie leer von Menschen sind. Einmal hat sie gehört, daß der König sich einsam dem Genuß der Musik hinzugeben pflege und sich ganze Opern aufführen ließe, ohne daß ein weiterer Sterblicher das Theater betreten dürfe. Das begreift sie. So würde sie sich das mystische Opfer der Messe, so pompöse Hochämter halten lassen. Ein seltsamer Zauber liegt für sie darin, eine Ahnung höchster Poesie. Von der Religion als solcher in ihrer Bedeutung hat sie eigentlich keine Vorstellung. Zu Hause spricht niemand über dergleichen Dinge. Nur einen Gott-Begriff erfaßt sie. Der Religionsunterricht in der Schule ekelt sie eher an, aber sie ist doch stolz, Katholikin zu sein. Dadurch gehören ihr ja rechtmäßig all diese herrlichen Kirchen, vor allen ihr lieber Dom! Sie bedauert ihre protestantischen Freundinnen, die stundenlang in dem nüchternen Kasten der Kirche hocken müssen. Lilli auch! Ach Gott, – Lilli, – Ludl, – das Rendezvous bei der Feldherrnhalle! Sie stülpt schleunig den Filzhut auf, der nachlässig ganz hinten am Kopfe sitzt und mit seiner breiten Krempe wie ein roter Heiligenschein ihr Gesichtchen umrahmt. »Sancta iuventus, murmelt Kunz Manzinger und folgt langsam der Kleinen, die wie ein Bachstelzchen mit hüpfenden, kurzen Schritten über die Fliesen tänzelt. Lebhaft und beweglich dreht sie das Köpfchen, in dem die Augen nach allen Seiten zu blicken scheinen. Den Herrn gewahrt sie aber doch nicht. Eine Flut mattgelben Sonnenlichtes übergießt sie draußen, aber ein schneidender Ost fegt dazu jetzt um den mächtigen Kirchenbau. Schwer und klangvoll dröhnen nacheinander die Schläge der Uhren. Traudl sieht noch flüchtig hinauf zu den Türmen und lacht vor sich hin: »Alte Kerls, ihr!«