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Elftes Kapitel.

Jetzt liegt das Buch vor Roland Halliger. Der helle, geschmackvolle Einband leuchtet ihm freundlich entgegen in dem weißgrellen Licht, das die endlos gleichmäßige Schneedecke draußen hereinwirft. Ein Groß-Oktavband. Noch etwas umfangreicher als der erste, den er vorher aus dem Bücherschrank geholt. Ein matter, langer Strahl der kalten Wintersonne legt sich quer über den Titel, der sich dunkel von dem glänzenden Papier abhebt: ›Reise durch Japan und Siam‹. Anspruchslos und bescheiden verrät er nicht ohne weiteres die gründliche Tiefe des Werkes, eine Frucht der ausgedehnten müh- und sogar gefahrvollen Forschungsreisen, die der Professor gemacht. Ursprünglich hatte der Verfasser kurze Zeit Medizin studiert, indessen interessierte er sich später doch viel mehr für Geologie und Geographie. Eine Reise um die Welt hatte ihn seinen allerersten Studien völlig untreu werden lassen. Immer tiefer, immer ausschließlicher kam er hinein in das andere Gebiet. Für das bedeutende Werk, das großes Aufsehen erregte, verlieh ihm die preußische Regierung einst den Professortitel. Sein Name war längst vollklingend bekannt gewesen, als er sich, später wie die meisten Männer, verheiratete und mit Gertrud in Seedland eingezogen war. Das war eines der zwei Güter gewesen, die weder hervorragend groß noch besonders wertvoll, den Hauptbesitz seiner Eltern ausgemacht hatten. Das eine war von ihm längst verkauft worden. Von Seedland aber, wo er den größten Teil seiner Jugend verbracht, hatte er sich nicht trennen mögen. Den Hauptteil des Gutes hatte er verpachtet und sich dadurch von der Bewirtschaftung befreit. Nur soviel behielt und betrieb er, als für den eigenen Haushalt nötig war. Es freute ihn gar nicht, den Landwirt zu spielen. In dem vollen Glück einer harmonischen Ehe, in der er keinen Schatten empfindet, hat er die ländliche Stille benutzt und, die Früchte seiner Reisen erntend, sowohl frühere Arbeiten vollendet als auch neue ausgeführt. Heute war vom Verleger der zweite und letzte Band seiner ›Reise durch Siam und Japan‹ geschickt worden. Das graue Packpapier liegt mit der zerschnittenen Schnur noch am Boden. In tiefen Gedanken dreht und wendet der Professor den gelben Postabschnitt in den überschlanken Händen, die in ihrer durchsichtigen Blässe und Form etwas Durchgeistigtes haben, aber nicht von Gesundheit zeugen. Über der hohen, bleichen Stirn lichtet sich das graumelierte Haar, und Silberfäden durchziehen auch den ziemlich langen, etwas spitz verschnittenen Bart. Die grauen Augen leuchten intensiv. Die Lidränder sind etwas rötlich entzündet. In einem schlanken Glas, das er selbst aus Japan mitgebracht hat und das den emporgereckten Leib einer schillernden Schlange vorstellt, duften stark einige Tuberosen. Über dem Stückchen blanken, unbedeckten Parketts treibt die Sonne ihr Spiel. Im mächtigen, aus alter Zeit stammenden Ofen, dessen Kacheln einen hervorragenden Wert repräsentieren, krachen die Buchenklötze. Eine wohlige, gleichmäßige Wärme entströmt ihm, der Feuerschein erreicht noch die Tatze eines prachtvollen Tigerfells. Wertvolle Sammlungen aller Art füllen Schränke und Gestelle an der grün bezogenen Wand. Eine kleine, aber sehr gute und feine Porträt-Skizze, die Ludwig Degenhardt für den Schwager von der Schwester gemacht, hängt an der Wand; sinnend bleibt Halliger davor stehen. So schön, so jung ist sein Traudl. Und dabei klug und gut! Sie ist so anders als alle Frauen, die der Professor je gekannt. Ihre natürliche Frische den Männern gegenüber sticht so vollständig ab von der üblichen Art der meisten Mädchen und Frauen. Da ist kein Schatten von jener heuchlerischen oder echten Zaghaftigkeit, verlegenem Wesen, verhaltener Bewunderung und verliebter Begierde. Für Gertrud Degenhardt, die von Kindesbeinen an unter Männern gelebt hat und soviele zu ihren intimsten, treuesten Freunden zählt, kann der Mann unmöglich dieses behoste Fabeltier sein, das er im Grunde genommen allen jenen weiblichen Wesen bedeutet, die ihn bei der üblichen Mädchenerziehung so lange Zeit nur aus der Entfernung kennen. Auf dem großen Markt aber, wo sie sanktionierter- und berechtigtermaßen seine Bekanntschaft machen, sehen sie ihn in jeder Beziehung nur im Salonanzug. Sein innerstes Wesen bleibt ihnen fremd. Das lernen sie dann entweder bei üblen, gerade diesen Erziehungsmethoden entspringenden Erfahrungen, oder, was noch schlechter ist, erst in der Ehe kennen. Das Schicksal hat dieser Frau weit weniger weibliche Menschen von Bedeutung in den Weg geführt als männliche. Ein paar Jugend- und spätere Pensionsgenossinnen abgerechnet, die keinen großen Platz in ihrem Herzen einnehmen, hat sie eigentlich keine Freundinnen. In ihr aber lebt eine große, geheime Sehnsucht nach einer solchen, nach deren Verständnis und zärtlicher, treuer Liebe. Und alles das scheint ihr nun in Grete Mannes zu erblühen. Der Professor beobachtet es und freut sich dessen. Das junge Mädchen ist bei allem kindlichen Frohsinn über ihre Jahre reif und sehr intelligent. So kommen sich die beiden entgegen.

Während der Gelehrte rastlos und hingebend arbeitet, vergißt er doch nie seine jugendliche Frau. Sie darf bei ihm aus und eingehen, wie sie will, ihn fragen, stören, aus der Arbeit reißen, – nie wird er böse oder ungeduldig. Aber Waschlappen wird er darum keiner. Daß er hierzu durchaus keine Anlage besitzt, hat gar mancher seiner Umgebung, der dem Herrn nicht parieren wollte, zu fühlen bekommen. Seine Reisegenossen wissen genügend zu erzählen, wie energisch und streng Halliger sein konnte bei aller Einsicht und Gerechtigkeit. In seiner Traudl gipfelt sein Leben. Sie ist ihm mehr als Ruhm und Wissenschaft, auch mehr als seine beiden geliebten Kinder. Ohne Gertrud würde ihn ein ödes Nichts umgeben. Das alles fühlt die junge Frau auch, aber sie weiß nichts von Raffinement und Mißbrauch dieser Macht. Ihre vornehme Natur hätte keinen Gefallen und keine Lust daran gefunden, die unaussprechliche Güte des heiß verehrten und geliebten Mannes auszunutzen. Sie will seine feste Hand spüren und dadurch einen sicheren Rückhalt haben. Stets läßt der Gatte sie teilnehmen an seinem Schaffen. Sie hat regstes Interesse dafür und manche Winterabende hatte sie ihm bei dem Teil seines Werkes, der mechanisch vollbracht werden konnte, geholfen. Sie war nicht ermüdet in unendlicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Roland hält ebensoviel wie sie selbst darauf, daß sie bei ihrer großen Jugend sich weiterbilde in Sprachen, Kunst, Literatur und Musik, und er freut sich ihrer Vielseitigkeit. Sie hat kein ausgesprochenes, hervorragendes Talent und ist doch begabt für alles. Vielleicht wäre Gertrud mit ihren vielen schönen Anlagen im ödesten Dilettantismus verflacht, wenn nicht Robert Halliger ganz der Mann gewesen wäre, seine Frau ihrer Natur und Eigenart nach zu erziehen und zu vervollkommnen. Ihm gelang es, sie sanft zu leiten, ohne ihre Individualität zu brechen, ohne zu nörgeln und zu kritisieren. Die grünen, strotzenden Triebe ließ er voll an ihr wuchern, indem er nur wenige sanft und zur rechten Zeit beschnitt. Waren sie unschädlich und gesund, nur anders, als diejenigen, die andere zeitigen, und waren sie ihrer Eigenart entsprossen, so ließ er sie lustig wachsen und gedeihen.

Schreitet er mit seiner Frau durch den dichten, schönen Wald oder übers Heideland, so wandeln sie Hand in Hand. Sich selbst unbewußt sind sie ein Ehepaar, wie man es selten findet: gute Kameraden!

Halliger steht auf, legt die Hände auf dem Rücken zusammen und geht im Zimmer auf und ab. Seit einigen Wochen schon verspürt er zeitweise eine seltsame, prickelnde Unruhe in den Gliedern. In unbestimmten Zwischenräumen wiederholt sich das Gefühl, als überliefen ihn Tausende von Ameisen. Die Beine schlafen ihm öfter ein, und er meint manchmal, sie kaum gebrauchen zu können, so zerren und schmerzen die Muskeln. Manchmal erschlaffen sie ganz. Mit Willenskraft beseitigt er diese Zustände bisweilen fast völlig. Gestern hatte er sogar mit seiner Frau ohne Beschwerden einen mehrstündigen, anstrengenden Weg durch die herrliche, übersonnte Winterlandschaft gemacht. Spät waren sie dann durch dicken Nebel heimgekommen, hinter dem die untergehende Sonne wie eine rote Kugel versank. Gewiß hat er trotz aller Ermahnung Gertruds zuviel des Guten getan bei Fertigstellung seines Werks, zu der ihn sein Verleger sehr gedrängt. Nun will er sich Pflegen und die nervöse Überreizung bekämpfen. Gewiß, weiter war es nichts, konnte es nichts sein. Aber er mag die aufsteigenden, quälenden Gedanken fortwerfen, wie er will, sie kehren zurück zu ihm wie Vögel zu ihrem Nest. Und doch!

Der Professor bleibt stehen und blickt hinüber zum Wald, der schweigend und ernst dasteht und durch den bis vor wenigen Tagen anhaltenden Schneefall zu einer ganz weißen Mauer geworden ist. So scharf begrenzt scheint er eine weite, stille Stätte zu schützen.

Halliger streicht sich über die Stirn. Seine medizinischen Studien sind nicht so sehr vergessen, als daß er nicht klar hätte sehen können. Allein er kann sich ja täuschen! Am eigenen Leib am leichtesten!

Draußen jagt Gertrud, die mit Grete und den Kindern einen prachtvollen Schneemann gemacht hat, von Pluto bellend verfolgt, ums Haus. Ohne Hut, das Haar halb gelöst. So jung, schlank wie ein Mädchen, mit leuchtenden Augen, lachendem Mund und roten heißen Backen gleich den Kleinen! Jäh durchströmt eine rasche Blutwelle den blassen Mann in der durchsonnten, behaglichen Stube. Ein heißer, sehnsüchtiger Wunsch, leben, gesund und froh weiterleben zu können, ergreift ihn. Der feste, energische Wille dazu äußert sich in seinen gespannten Zügen, die sich nur weich auflösen beim Anblick der Seinigen. Kurz entschlossen setzt er sich an den Schreibtisch und bittet einen ihm befreundeten, berühmten Spezialarzt in Berlin um dessen Besuch. Er schließt den adressierten Brief und steckt ihn zu sich. Dann fällt sein Blick auf ein geöffnetes Schreiben, das die Post heute gebracht. Nur den Anfang hat er erst gelesen. Es ist von Freund Buchlehner und für dessen Gepflogenheit sehr lang. Er bedankt sich darin für eine erhaltene Geburtstagsgabe, die aus einem prachtvollen ausgestopften Uhu mit entfalteten Flügeln von großer Spannweite bestanden hatte. Er war von Halliger selbst hier draußen auf Seedland erlegt worden.

Da Onkel Toni weiß, daß die gesamte Familie Degenhardt sich nicht allzuviel mit Briefschreiben abzugeben pflegt, hatte er eine Art Generalbericht verfaßt, um Halligers doch über das Wichtigste auf dem Laufenden zu erhalten. Wie der Papa als unverwüstlicher Uz lustig lebe und emsig dabei schaffe und Mama Thildens ›Märchen einer Einsamen‹ im Buchhandel vortrefflich gingen. Recht still sei es im alten Haus der Königin-Straße aber nun geworden. Selbst die Eckebergschen Jungens kämen kaum mehr länger als auf Viertelstunden zu den Großeltern. Vom Bavariaring, wo sie wohnten, sei es eben doch recht weit. Aber das habe auch wieder sein Gutes. Otto, der sich selbst durch seine Würde als Bauamtmann durchaus nicht verändert habe, lagere seine brachliegenden Vatergefühle ganz bei ihnen ab und sei, da er ja der Schwester nahe stehe, deren Söhnen wirklich ein treuer, hingebender Onkel. Zu wunderbar, welches Gemisch er repräsentiere durch seine extremen Eigenschaften. Aber ein famoser, kreuzguter und höllisch kluger Mensch sei und bleibe er eben doch im Grund. Frau Hela Eckeberg wurde von Onkel Toni wie von jeher als höchst brave und ehrenwerte Frau anerkannt, der aber zu begegnen ihm immer als eine Art Pech erscheinen wolle. Über Gertruds Schwestern Emmy und Isolde schwieg sich Buchlehner fast ganz aus. Daß erstere recht unglücklich verheiratet und ganz ›unverstandene Frau‹ ist, wissen Halligers so gut wie leider auch, daß Isi nach ihrer eigenen Ansicht immer moderner werde und ein ganz ungebundenes Leben führe.

Ob sich Gertrud nicht auch über Bruder Max wundere, der ja als Kinderarzt in Berlin geradezu auf dem Weg zum Berühmtwerden sei? Wer hätte das dem jungen Windhund von einst zugetraut? Famos sei auch der Carlo nun in seiner Künstlerschaft, seit er sich ganz dem Kunstgewerbe zugewendet habe. Da strahle seine reiche Begabung nach allen Seiten. Er komme mit Ludl, dem Bummelando, oft zu ihm. So lange man in Deutschland dessen Arbeiten noch nicht genügend schätze, müsse Ludl eben, wolle er sein Spezialtalent ausnutzen, für ausländische Blätter arbeiten. Ein genialer Kerl, der ihm viel Freude bereite. Fräulein Finchen von Hartmann lasse besonders grüßen. Ihre Gichthanderln seien jetzt völlig krumm, aber sie wäre trotzdem noch ganz die alte in Fleiß und Rührigkeit, so daß das Degenhardtsche Haus stets musterhaft in Ordnung sei. Es lasse grüßen und auch der große, nun so stille Garten, wie eben die ganze Münchener Stadt, besonders aber der alte Dom sein liebes Trauderl.

Der Professor legt den Brief auf das grüne Tuch des Schreibtisches zurück. Mit Buchlehner verband ihn eine herzliche tiefe Freundschaft. Er hatte ihn vor vielen Jahren, seltsamerweise in Odessa, kennen gelernt. Bei jedem Wiedersehen hatte der Freund erneut versprochen, ihn zu Degenhardts zu führen; als er aber dann mehrfach und nicht einmal kurz in die Isarstadt gekommen war, wollte es der Zufall, daß er Gertrud, das von Buchlehner am meisten geliebte Glied dieser Familie, dennoch nicht gesehen. Der Professor hatte sie dann am jenem bunten heiteren Herbsttag voll sommerwarmen Sonnenscheins im Schweizer Eisenbahncoup é zuerst kennen gelernt. Wie hatte sich alles dann so rasch und folgerichtig entwickelt, wie schön und froh sich sein Leben gestaltet! Und nun sollten sich seine Schwingen müde senken? Nein, sie dürfen nicht!

Der Gong gibt das Tischzeichen. Vier regelmäßige Schläge in genauen Zwischenräumen. Lise holt sich dazu immer einen kleinen Schemel und besorgt dann das übertragene Geschäft des Zutischläutens so genau und gewissenhaft wie möglich. Übernimmt es einmal der kleine To, wie der Junge nach Anton Buchlehner genannt wird, dann gibt es ein ohrenzerreißendes, gellendes Durcheinander.

Unten rufen die Kinder schon: »Vater, – Vater!!« Schrittchen auf der Treppe, – Lises ungemein helle, laute Stimme. Dann unten eine, – klar, warm, – so unendlich warm und froh: »Roly, Roland, Vater, zu Tische!«

Halliger preßt eine Hand auf die Brusttasche, worin er den Brief an den Berliner Professor geborgen. Er will ihn später selbst auf die Seedlander Poststelle tragen. Ein Trostgefühl überkommt ihn, wenn er auf Buchlehners großen Bericht hinblickt. Durch den alten Freund erfahren sie immer am meisten von zu Haus, während sonst kein Familienmitglied mehr als Postkarten, oder einen kurzen Brief von höchstens einer Seite schreibt. Ludl ist auch der einzige, der öfter kommt. Klettenfest hängt er an der Schwester. Groß, fast plump, stehen die Buchstaben auf den umfangreichen Bogen. Ein Spiegelbild voll Treue und Wahrheit. Die Münchener Stadt und Buchlehner darin! Für Halliger bedeutet diese Vorstellung plötzlich einen wahren Hort der Beruhigung.

Ungeduldige kleine Finger klopfen an die Tür. »Vater, – komm doch endlich!« Lise ist's. »Da bin ich schon!« Ohne Beschwerden nimmt er sein kräftiges Töchterchen auf seinen Rücken und trägt es huckepack hinunter in die Eßstube. Seine Miene ist völlig heiter.

»Schmorbraten gibt's, Vater!« schreit To ihm entgegen, »und Sellerie-Salat! Muß ich wirklich erst die ganze Quatsch-Suppe da aufessen?«


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