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Achtzehntes Kapitel.

Ein weißer, weißer Winter! Fast seit das allerletzte grünende, blühende Leben in der Natur erstorben und erstarrt ist, fallen die weißen Flocken mit nur tageweisen Unterbrechungen. Schnee und wieder Schnee allüberall. Die breit ausladenden Buchen tragen ihn kraftvoll und geduldig. Aber die feinen Birken, die anfangs die gepuderten Zweige so kokett gewiegt, beugen sich nun wie in schwerer Trauer. Ergeben, aber doch als wären sie sich bewußt, nicht darunter zusammenzubrechen, halten die schwarzen, ernsten Tannen ihre weiße Last fest. Das Heideland sieht aus wie ein einziges mächtiges Federbett, und da, wo der jetzt erstarrte Torfbach dahin rann, zeigt es klaffende Riffe und Wunden. Im Wasser türmen sich bläuliche Eisquadern. Sie knirschen und ächzen unter dem Hacken der Arbeiter, die sie dann auf Schlitten laden, um sie nach der Brauerei Blankdorffen zu bringen. Dem herrlichen, blinkenden Weihnachtswetter, das mit festlichem Sonnenglanz den glitzerigen Reif übergossen und dem Schnee ein tausendfältiges Funkenspiel entlockt hatte, ist eine unendlich trostlose Witterung gefolgt, die noch immer anhält. Höchstens Schneestürme, und bei vorübergehendem leichten Tauwetter eisige Regengüsse, unterbrechen die Reihe trübseliger Tage und Wochen. Seit dem Christfest hatte die Sonne nie mehr in strahlender Himmelsbläue oben gehangen. Und nun hat der Februar schon begonnen. Ein naßkalter, dicker Nebel umwebt mit grauem Schleier die Landschaft. Über dem kleinen Friedhof Seedlands senkt und hebt er sich als zähe Masse, aus der sich nur einzelne lange Fetzen ziehen wie die verschlissenen Fransen eines Umschlagtuches. Aber welches Wetter auch sein mag, Grete Mannes ist nicht abzuhalten, zu Willy Wedekamps Grab zu pilgern. Täglich seit dem schrecklichen Oktobertag, als sie den Ermordeten da bestattet. Wie oft verläßt sie vom Frost geschüttelt die traurige Stätte, die sie in emsigem Streben rein von Schnee und stets mit Blumen geschmückt zu erhalten sucht. Ihre robuste Natur aber widersteht glücklich allen Attacken des Wetters. Das Treibhaus von Seedland liefert immer aufs neue duftenden Schmuck für das Grab. So oft Frau Halliger die junge Freundin sieht oder ihr schriftlich mit Blumensendungen einen Gruß schickt, mahnt sie: »Grete, nicht so oft! Nicht mehr täglich auf den Friedhof gehen, bitte!« Aber diese läßt sich nicht abhalten, obwohl sie nach und nach immer trostloser von Willys Ruhestätte nach Haus kommt. Nichts, gar nichts anderes sagt diese ihr mehr als: ›Da unten liegt dein Liebstes begraben, und seinen faulenden Leib fressen die Würmer!‹ Stündlich sieht sie den Geliebten vor sich in seiner frischen, heiteren, schönen Manneskraft, wie er sie mit ausgebreiteten Armen an sein Herz drückt. Immer und immer muß sie dieses letzten Abends gedenken, der heißen Küsse, mit denen der Gute, Treue ihr Antlitz bedeckte. So ganz sein, so völlig in ihm aufgegangen hatte sie sich gefühlt. In welch sonnige Zukunft hatten sie geblickt! Dieses Weihnachtswetter hatte ihr weh getan. Das schlechte all der vergangenen Wochen paßte so viel besser zu ihrer Stimmung. Da, – da unten in diesem Grab! Wär doch erst alles Moder, – Staub, – – endlich!! Aber noch lange, lange wird das nicht sein. Wie gut kann sie begreifen, daß viele Menschen sich die endliche Verbrennung wünschen. Vom Feuer zum Feuer! Wäre doch auch unter jenem Hügel nur ein Häuflein Asche gebettet statt des verwesenden Leibes! Die schauerliche Vorstellung verfolgt sie überall, manchmal meint sie verrückt darüber zu werden.

Nun hatte das Forsthaus monatelang kein Lachen mehr gehört. Auch kein Poltern und Schelten des Oberförsters und Annemariens. Aber auch keine Klagen. Ganz, ganz still ist's dort. Stumm und ernst, mit blassem, schmal gewordenem Gesicht hatte das junge Mädchen, nachdem die erste Erstarrung und darauf der wildeste Schmerz überwunden waren, seine kleinen häuslichen Pflichten wieder ausgenommen. Die ganze übrige Zeit verbrachte es in dumpfem Hinbrüten, vollständiger Gleichgültigkeit und Erschlaffung. Nur für die Erhaltung des Grabs zeigte es Interesse. Mit tiefem Schmerz blickte der Oberförster auf sein armes, blutjunges Kind. Aber Worte fand er wenig. Nur stumm streicheln konnte er meist das blonde Haupt, das er zärtlich an sich drückte. »Du bist ja so jung noch, du wirst überwinden mit der Zeit, und das Leben liegt noch reich vor dir.« Grete schüttelte dann nur den Kopf. Sie sah bloß eine trostlose Öde vor sich, und mitten darinnen – das Forsthaus. Auch nicht die innige Freundschaft mit Gertrud Halliger konnte ihr etwas Trost bringen. Schon seit Beginn des Herbstes war diese nur mehr für Mann und Kinder heiter und gesprächig. Kaum allein gelassen, versank sie in schmerzliches Brüten, fast wie Grete nach dem Unglück. Des Professors Krankheit schritt eben stündlich fort. Kein Wunder, wenn seine Frau trauerte. Freilich schien es seit Willy Wedekamps Tod, als schüttelte Frau Gertrud die völlige Apathie mehr ab. Fast jeden der ersten Tage, – der Leidende hatte gerade eine bessere Zeit, – verbrachte sie im Forsthaus und bemühte sich um die Freundin. Aber sie wußte wohl, daß der Sturm, der erste, der das knospenhafte Geschöpf erfaßte, erst austoben mußte; die Sorge und Teilnahme an Gretens Schicksal betäubte die eigenen zwiefältigen Schmerzen in der jungen Frau. Sie halfen eine Flut verebben, die sie zu ersticken, zu vernichten gedroht hatte. Nur eines, das sie nach jener Mittagsstunde auf der Heide sicher erwartete, blieb zur eigenen Verwunderung aus: Die Reue! Sie zog nicht ein in dieses wunde, zerrissene Gemüt, sie zernagte nicht dieses erwachte Herz in all den schlaflosen Nächten, die folgten. War sie denn so gewissenlos? Hatte denn auch sie ein Teil von des Vaters Leichtsinn geerbt wie Emmy und Isolde? Oder doch wenigstens diese Potenzierte Leichtlebigkeit, die mit Ausnahme Ottos eigentlich alle Brüder besitzen? Aber nein, – nein! Schwerlebig war und ist sie ja, und sie leidet unter tausend Dingen, von denen andere kaum berührt werden. Und da fühlte sie, daß sie ohne Schuld gewesen, als das Schreckliche, das namenlos Süße, das Herrliche gekommen, und daß sie ihrem Mann nichts gestohlen hatte. An dem, was sie zu Detlev von Dombrowsky gezwungen, als würde sie fortgerissen und fortgeschwemmt von einem wildrasenden Strom, an dem hat Roland kein Teil. Nie hat er es besessen, – nie! Und völlig ahnungslos, daß es das überhaupt für sie geben könne, hatte sie dahingelebt. Die Liebe zu ihrem Mann hatte sie früher stets als den Höhepunkt betrachtet, als etwas, das durch nichts übertroffen werden könne. Nein, sie hatte nichts genommen, – nichts gestohlen! Aus all den Zweifeln und Nöten, aus all der Sehnsucht, den tausend Schmerzen und der Überfülle des Neuen, das in ihr Leben getreten, war nun endlich nach Wochen größter Qual der Segen herrlicher Erinnerung ersprossen. Über die schwere Zeit angestrengtester Pflege des Gatten, über die Sorge und das Mitleid um ihn half ihr dieses Gedenken. Einmal hatte sie ja nur getrunken aus dem goldenen Becher; nein, nicht getrunken in vollen Zügen, – aber genippt. Tropfen, heiße, süße, hatte sie schlürfen dürfen, und durch sie war sie stark geworden. So blieb, wie aus massiven Quadern errichtet, fest und unangetastet, das Gebäude ihrer Liebe zu Roland völlig getrennt neben dem mit Erinnerungsrosen geschmückten Grab ihrer einzigen, wirklichen Liebe bestehen. Detlev ist ja für sie tot, so gut wie Willy Wedekamp für seine Grete. Mit doppelter Hingebung und Zärtlichkeit widmet sich Gertrud Mann und Kindern. Wenn auch eine zunehmende Lähmung die Beine Halligers ergreift, so bleibt sein Oberkörper doch beweglich und sein Gesicht völlig unangetastet und frisch. Er arbeitet fleißig nach früher erworbenen und gemachten Aufzeichnungen und ist unverändert in sanfter Güte und klageloser Selbstbeherrschung. Wie ein kleiner Vogel unter die Fittiche der Mutter, flüchtet sich seine Frau, gedrängt und gequält vom Gemisch ihrer Gefühle, zu ihm. Und immer ist sie dann kraftvoller und getrösteter, wenn auch kein Wort zwischen ihnen gefallen. Von Detlev treffen ziemlich regelmäßig lange Briefe an den Professor ein, die zum Schluß stets freundlichste Grüße an Gertrud und die Kinder bestellen. Sieht sie diese große, deutliche Schrift, so klopft freilich gleich ihr törichtes Herz noch immer wild, und ihre Gesichtsfarbe wechselt jäh, von brennendem Rot zur tiefsten Blässe. Aber, – vorbei, – ganz vorbei! Was sie an freien Stunden erübrigen kann, widmet sie Grete Mannes. Über ein Vierteljahr ist seit des Bräutigams Tod vergangen; es ist an der Zeit, daß das junge Mädchen dem verzagten Hindämmern entrissen wird. Als einziges Mittel dafür betrachtet Gertrud deren frühere Interessen. Wenn es möglich wäre, das wieder in ihr zu erwecken! Zu Weihnachten war für Grete ein Prachtwerk hervorragender Bauwerke und Denkmäler als ein Geschenk Dombrowskys gekommen; bis jetzt hatte sie es noch nicht aufgeschlagen. Das erbittet Halliger sich leihweise von ihr. Am ersten Februar-Sonntag geht das junge Mädchen matt und langsam zum Herrenhaus hinüber und birgt den dicken Band, der ihm fast zu schwer werden will, unter dem Mantel. Es ist ein beinahe nebelloser, milder Tag, und lugte auch die Sonne nur eine halbe Stunde zwischen den Wolkenwänden herab, so glaubt man doch den noch fernen Lenz ahnen zu können.

Die Kinder stürmen Tante Grete längst nicht mehr, wie sie es früher getan, entgegen. Wie Tante jetzt war, wußten sie nichts mit ihr anzufangen. Lise kümmerte sich gar nicht mehr um sie, fand aber als Deckmantel ihres Benehmens stets irgend eine gute Ausrede. Der kleine To indessen ging zwar zuerst scheu um das junge Mädchen herum, spielte auch anfangs mehr abseits von ihr, aber seine Augen suchten doch immer wieder das bleiche, traurige Gesicht, und er konnte nicht fröhlich sein wie sonst.

Nachdem Grete dem Professor heute das Werk nur rasch abgegeben hatte und dann in die Kinderstube herausgegangen war, sitzt sie wieder stumm und geistesabwesend da. Jetzt aber hält sich To nicht länger. Er läßt seinen Hotte-Gaul halbgezäumt stehen und geht zaghaft auf Grete zu. Sie bemerkt ihn erst, als er seine blühende Wange in ihre im Schoß ruhenden Hände schmiegt, und schrickt zusammen.

»Ach Gott, Junge, du!«

»Haben ich dir weh getan und dir erseckt,« meint der noch nicht Vierjährige, altklug aber treuherzig fragend. Sie schüttelt nur wehmütig den Kopf.

»Tante Gete, – bist du all immer noch so betübt, weil der Ontel gestorben? Das waren doch vor so fubar viele, lange Zeit.«

Sie blieb stumm, aber ihre Lippen zuckten.

»Tante Gete, – is wahr, daß du 'n geheirat hättst? Die Bina hat's gesagt. Du mussn doch nich traurig sein so immerzu. Weiß du, wenn ich einmal einen ganz troßen Herr sein werden mögen, dann haben ich auch einen langen Hos, wie der tote Ontel gehabt, und dann heirat ich dis, – weiß du, Tante Gete!«

Er will sie um jeden Preis trösten; allein er scheint das Gegenteil zu erreichen. Krampfhaftes Schluchzen erschüttert plötzlich Gretens Körper. To aber erschreckt, trostlos und erzürnt zugleich stürzt hinunter zu den Eltern: »Mutti, Vata, – Tante Gete sitzt oben und heult fon wieder immerzu!«

Wie Gertrud die Stiege hinaufeilt, schließt Lise eben sacht die Tür zwischen dem Kinderzimmer und dem Schlafraum, wohin sie sich mit ihrem Spielzeug geflüchtet, sobald Grete Mannes in Sicht gewesen. Die junge Frau spricht der Trostlosen sanft zu und bittet sie aufs herzlichste, doch ins Wohnzimmer hinunterzukommen. Dort sitzt der Professor, der heute recht wohl aussieht, in seinem Fahrstuhl am Teetisch. In dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer, das Wohlstand und Behagen atmet, ist's mollig warm, und grüne Pflanzen mit einigen blühenden Blumen aus dem Treibhaus gemischt, zieren es.

»Nimm eine Tasse Tee, Grete, mein Liebling, das tut gut und regt an.«

Frau Halliger flößt dem Gast den aromatischen Trank fast ein und ruht nicht, bis er auch etwas gegessen. Wie sie fertig sind, fährt Gertrud ihren Mann sorglich zu dem großen Tisch, auf dem des Barons Geschenk aufgeschlagen ist. Ein freundliches, helles Licht fällt von draußen herein und läßt eine unendlich feine, byzantinisch gehaltene Marmor-Architektur auf dunklem Hintergrund besonders klar erscheinen und sich plastisch davon abheben. To, der sich doch wieder an die Tante gemacht und auf ihre Kniee geschmuggelt hatte, stößt ein »Ah!« der Bewunderung aus. Gretens müde, trübe Augen folgen dem ausgestreckten Finger des Kleinen, bleiben aber dann aufgehellt an dem Kunstwerk haften.

»Ja, Grete, sehen Sie sich das nur genauer an. Das ist ein herrliches Werk! Seite für Seite ist schön und interessant. Ich kenne das meiste im Original, und diese Bilder wecken in mir die Erinnerung aufs lebendigste.«

Mit seiner angenehmen, sympathischen Stimme, deren Klang an sich schon beruhigend zu wirken pflegt, erzählt Halliger dann von seinen Reisen. Zum ersten Mal seit dem Tod Wedekamps taut Grete mehr und mehr teilnehmend auf, und wirft sogar einige Fragen ins Gespräch. Spät und längst dunkel ist's, wie der Gärtnerbursche sie heimführt. –

Gertrud und Roland Halliger sehen eine Weile stumm ins Dunkel hinaus, wo Grete verschwand.

»Ich glaube, Roland, nun erholt und findet sie sich wieder!«

Er nickt, dann bittet er:

»Spiele mir doch mein Beethoven-Adagio, Traudl, ja?«

Er küßt sie noch auf die weiße, glatte Stirn; – dann setzt sie sich an den Flügel. Sie ist keine Künstlerin, hat aber ein feines Gehör und für das, was sie unternimmt, reicht ihre Technik aus. Ihr Vortrag beweist Empfinden und Verständnis. Als sie geendet, dankt er ihr herzlich und meint, daß sie nun wohl zu Bett müßten. Sofort springt sie auf und will das Prachtwerk vom Tisch nehmen und in den Bücherschrank, insbesondere vor Tos ewigen Schmutzfingern retten. Da fallen die Titelblätter auseinander. In Dombrowskys markanten Schriftzügen stehen auf der ersten Seite als Widmung die Worte Fontanes: »Lebe zu lernen, – lerne zu leben!«

Laut liest Halliger die Zeilen. Vor Gertruds Augen aber flimmert es. Ihr ist plötzlich, als stünde Detlev wieder vor ihr auf der einsamen Heide, und die Geigen und Flöten tönten von Sardennen herüber. Bleich tritt sie hinter den Stuhl und krampft die erkalteten Hände ineinander. Der Professor wiederholt die schöne, poetische Mahnung und dreht sich halb nach ihr um:

»Also auch der Vetter war betreffs unserer jungen Freundin der gleichen Ansicht, wie es sein Geschenk beweist.

Gertrud nimmt sich eisern zusammen, kann jedoch kaum die aufsteigenden Tränen hinunterwürgen.

»Ja, so scheint es!«

»Nun komm, Traudl, bring' deinen kranken Mann zu Bett. Wir wollen nun wirklich schlafen!«

»Ja, – schlafen, – schlafen!« – – –

– – – Schon nach zwei Tagen ist Grete Mannes wieder da. Sie hat im Hausgang Lise getroffen, die sich vergeblich bei dem Stubenmädchen Betty Rat zu holen versucht hatte, wie sie ihrer Puppe ein Kleid machen könne. Wirklich phantasievoll spielen kann das Kind nicht. Es will nur, nüchtern wie es ist, alles, was es unternimmt, der eignen Nüchternheit anpassen. Die Kleine bemerkt gleich, daß die Tante heute weder verweint ist, noch auch so jämmerlich aussieht als sonst. Aus der gebesserten Stimmung will sie sofort Kapital schlagen und bittet nun Grete um das, was ihr Betty versagt hatte. Geduldig schneidet dann die Tante an den bunten Stoffstückchen herum und zeigt der anstelligen Lise, wie sie die Teile zusammenzuheften habe. Dann erst klopft sie an des Professors Zimmertüre an.

»Ah! Gretelein! – Wie schön, daß Sie sich sehen lassen. Sie blicken heller aus den Blauaugen und haben auch wieder mehr Farbe. Das Wetter ändert sich auch und hilft gewiß mit, trübe Stimmungen zu bannen.«

Sie nimmt die feine, schlanke Männerhand in herzlichem Druck und setzt sich zu dem Professor.

»Ich dachte, – ich wollte, – ich, – ich –«

»Sie wollen das Geschenk des Barons wohl wieder zurückhaben?«

»Nicht doch, – das heißt hineinsehen, womöglich mit Ihnen, – wollte ich gerne wieder. Aber das ist's nicht allein, – ich brenne darauf, mir bei Ihnen einen Rat zu holen.«

»Gott sei Dank, daß Sie überhaupt nur wieder auf etwas brennen. Wissen Sie auch, liebe Gretel, daß uns bange um Sie war? Ihre tatenlose Apathie hat uns geängstigt!«

Die Augen des jungen Mädchens trüben sich schon wieder; aber tapfer bekämpft es seine Schwäche. Dann tritt Frau Gertrud ein, die Grete herzlich begrüßt. »Denke nur,« sagt Halliger, »Grete will Rat bei uns holen; wir werden natürlich unser Bestes tun. Also heraus mit allem, was Sie auf dem Herzen haben!«

Grete Mannes wird rot und blaß. Dann meint sie schüchtern, wie sie nie zuvor im Leben gewesen: »Glauben Sie, daß ich es verantworten könnte meinen Vater einige Zeit allein zu lassen?«

Frau Gertrud umarmt die Freundin stürmisch. »Gott, – endlich Gretel, – gerade das wollten wir dir ja immer empfehlen, denn es ist das einzig Richtige!«

Grete nickt traurig. »Ja, ich fühl' es selbst. Hier raffe ich mich nimmermehr auf. Mir ist, als stürbe mein ganzes Leben mein Inneres, mein Selbst, langsam ab. Auf Schritt und Tritt verfolgen mich die schrecklichen Erinnerungen, die völlig lähmend auf mich wirken; aber ich darf doch auch nicht egoistisch sein.«

»Ja!« Energisch nimmt der Professor das Wort. »Ja! Sie müssen es sogar sein, – Sie müssen von jetzt ab an sich denken. Ich meine, Ihr Herr Vater hätte ohnehin nicht allzuviel von Ihnen, so nimmt ihn sein Beruf und seine eigene Stimmung hin.«

»Sie haben recht. Des Abends, wenn er heimkommt, geht er fast gleich nach dem Essen wieder auf seine Stube und schreibt. Er spricht zwar nicht darüber, was es für eine Arbeit ist, aber ich glaube, er will eine lange, forstwissenschaftliche Schrift herausgeben; so bin ich also eigentlich allein, immer allein, Abend für Abend, wenn ich mich nicht zur mürrischen Annemarie setzen will oder nicht bei Ihnen herüben bin. Manchmal habe ich mich ins Pfarrhaus geflüchtet, aber, – wenn es auch schlecht von mir ist, denn es sind ja so gute, brave Menschen, – ich bin eben zu ungläubig für sie. Mit ihrer positiven Richtung kommen sie mir nicht nahe. Diese dogmatisch, christlich-religiöse Auffassung, die ihnen Herzensbedürfnis ist, bleibt mir fremd und gibt mir weder Ruhe noch Friede. Ich empfinde nur die schönen Grundgedanken und wohl noch Neid dazu gegen alle diejenigen, denen die heiligen Worte mehr sein können wie mir. Und die liebe, treue Frau fühlt es, glaube ich, so gut wie auch der Herr Pastor, daß sie tauben Ohren predigen. Vater ist auch dem allem fremd. Er ist seit Willys Tod so zerrissen und verbittert in seinem Gemüt. Immer zwar hat er eine stumme Zärtlichkeit für mich, aber bisweilen glaube ich, daß ihm mein Anblick eher wehtut!«

Halligers denken zu gleicher Zeit, daß der Herr Oberförster Mannes ein großer, wenn auch unbewußter und naiver Egoist ist. Dann sagt Frau Gertrud:

»Und mit einem Wort, Grete, die Situation ist zugespitzt genug, dich zu einem Entschluß zu bringen. Du hast ihn gewiß eigentlich schon gefaßt und willst nur mehr unsere Bestätigung, daß du im Begriff bist, das Rechte zu tun.«

Grete Mannes bleibt stumm.

»Möchten Sie unseren Rat, wohin Sie zuerst gehen könnten? Wenn Sie das selbst nicht wissen, ist es ja schon ein wenig schwieriger. Indessen überhastet braucht nichts zu werden, und wir werden schon etwas finden, nicht wahr, Frauchen?«

»Gewiß, – gewiß!« In Traudls Kopf kreuzen sich wirr eine Menge aufsteigender Pläne, die sie freilich gleich wieder innerlich verwirft.

»Ich wüßte schon, wohin ich mich wenden könnte,« meint Grete. »In der Pension habe ich mich damals sehr angefreundet mit einem jungen Mädchen, – Mina Weber, – ich habe Gertrud oft von ihr gesprochen. Man hat sie nur die Examen-Mina geheißen, weil sie so furchtbar strebte und alle Examina der Welt machen wollte; ihr Vater war Arzt, und sie lebt nun mit ihrer verwitweten Mutter in Charlottenburg. Jede Stunde würden sie mich aufnehmen, denn Mina schreibt in all ihren Briefen, sie wäre sicher, daß ich in ihrem Hause das Überwinden lernen würde.«

»Das ist ja aber reizend, Grete, – du gehst doch? Weiß dein Vater schon darum?«

»Noch nicht. Ganz neu, – sonderbarerweise erst seit ich vor ein paar Tagen hier war und das Werk angesehen habe, ist dieser Gedanke, aber hauptsächlich damit ein kühner Plan, in mir entstanden. Ich weiß selbst nicht, wie das so über mich kam. Es war, als strömte von den Blättern dieses Buches etwas Mächtiges, kraftvoll Befreiendes zu mir herüber. Eine solch große Sehnsucht kam über mich, – die Sehnsucht nach Arbeit! Ich glaube, nur durch die allein könnte ich wirklich frei werden.«

Halliger und seine Frau strecken ihre Hände impulsiv dem Mädchen entgegen.

»Brav, Grete! Nun gesunden Sie! Glauben Sie mir, großes Unglück lähmt immer den Geist, verhüllt der Seele die eigenen Lichtstrahlen und läßt uns nur empfinden statt denken. Das Leben, die ganze Welt scheint uns dann mit einem schwarzen Schleier überzogen, in die unsere überreizte Phantasie noch grauenvolle Bilder hineinwebt, die unsere Verzweiflung erhöhen. Der Gedanke an Tod und Sterben will uns gar nicht mehr verlassen, unser Geist schleicht nur mehr auf dunkeln Wegen, sucht und schaufelt sich selbst ein Grab, und das ganze Leben ekelt uns an. So ging es auch Ihnen, liebe kleine Freundin. Aber nun kam der Gottesfunke über Sie: die moralische Kraft. Jetzt ringt sich Ihre junge Seele durch die drohende Finsternis, und es entzündet sich in Ihrem Geist der belebende Lichtstrahl!«

Gertrud blickt mit feuchten Augen auf Roland. Der hält Grete Mannes Hände gefaßt. Wie gesund dieser Kranke ist! Plötzlich sieht das junge Mädchen frischer aus wie seit Monaten, und seine Haltung strammt sich wieder.

»Ich bitte Sie nun beide, – sagen Sie, – sag du mir, Gertrud, – ist das Wahnsinn, wenn ich glaube, ich, ein Mädchen, könne Architektur und das Baufach nicht nur studieren, sondern auch das Gelernte einstens praktisch verwerten?«

»Ei, Grete, sind Sie kühn! Gleich so hoch gehen Ihre Wünsche? Aber Sie fühlen wohl am besten, wie weit Sie Ihre Flügel spannen dürfen. Studieren Sie doch jedenfalls, so viel Sie Lust haben, Ihr Lieblingsfach, wenn Sie auch vorerst nicht an später dabei denken. Wenn Sie nur für jetzt etwas haben, das Sie ablenkt!«

»Ja, Gretel, das ist wohl die Hauptsache. Übrigens, – du hast gewiß doch endlich einen Blick in die Zeitschrift geworfen, die ich dir vor mehreren Wochen gab? Dein Entschluß und Plan können doch unmöglich allein davon herrühren, daß du des Barons Geschenk zu schätzen begannst?«

»Du hast recht, Gertrud! Müde und gleichgültig habe ich das Heft aufgeschlagen und mit wachsendem Eifer und Interesse habe ich dann darin gelesen. Es ist so viel in dem Artikel über die wahren Fesseln der Frau, was mich packte. Und dann der statistische Bericht, wie weit im Norden die Frau als arbeitende Kraft bereits in Betracht kommt. Bei uns ist leider noch wenig zu finden, was in Schweden und Norwegen fast für selbstverständlich gilt. Und dort betätigen sich seit einiger Zeit, wie ich in deinem Journal las, auch Frauen höchst erfolgreich im Baufach. Was da möglich ist, kann doch auch bei uns Gestalt gewinnen? Ich habe bestimmt kein anderes Talent und keine wirkliche andere Neigung. Da dachte ich –«

»Recht so,« ermuntert sie der Professor. »Nur aus der Erkenntnis unseres Wertes gewinnen wir Selbständigkeit. Und nun meinen Rat: Gehen Sie ruhig zuerst zu Ihrer Examen-Mina. Zunächst ruhen Sie sich aus, in anderer Umgebung und unter anderen Menschen. Dort können Sie auch besser überlegen. Daß Ihr Vater Sie ziehen läßt, dessen bin ich gewiß. Freilich wird es besser sein, wenn Sie zunächst bloß von Wochen sprechen. Und wir, – nicht wahr Traudl, – wir sondieren einstweilen das Feld und überlegen für Sie!«

»Ja, – liebe, gute Gretel, dessen sei gewiß. Wir tun, was wir können, dir zu helfen!«

»Dank, – Dank! Ich wußte es. Und nun gehe ich wirklich getröstet, zum ersten Mal getröstet, nach Haus. Ich meine, es muß von jetzt ab anders werden!« –

In dem wässerig-hellen Sonnenstreifen, der durch den Garten flitzt, geht Grete Mannes aufrecht und mit festem Schritt über den nassen, nun vom Schnee fast befreiten Kies. Überall sind schwarze Flecken in der weißen Decke der Landschaft, und ein milder Wind bringt die verhüllten Bäume zum Schwanken. Rhythmisch tropft es von ihnen herab in die Flaumkissen zu ihren Füßen, die ganz schaumig aussehen. Das Tauwasser bohrt schmutz-graue Löcher darein.


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